INTERVIEW MIT MARKUS MÜLLER
Der neue Intendant am Staatstheater Mainz
Foto: Andreas J. Etter
OF: Lieber Herr Müller, seit Beginn der aktuellen Spielzeit bekleiden Sie das Amt des Intendanten am Staatstheater Mainz. Zuvor hatten Sie seit 2006 das Staatstheater Oldenburg geleitet. Wie kam es zu Ihrem Wechsel an den Rhein?
M: Nach acht sehr schönen Jahren in Oldenburg, in denen wir einiges gewagt und viel erreicht haben, hatte ich Lust auf eine neue Herausforderung. Theater lebt vom Wechsel. Es ist gut, wenn die künstlerisch Verantwortlichen in Bewegung bleiben und immer wieder neuer Sauerstoff durch die Häuser geweht wird.
OF: Das Mainzer Angebot war nicht das einzige, das Sie auf dem Tisch hatten. Erheblich größere Häuser wollten Sie haben. Was hat letztlich den Ausschlag für Ihre Entscheidung gegeben, als Intendant nach Mainz zu gehen?
M: Ich fühle mich in Mehrspartenhäusern wohl. Die Möglichkeit, hier viele unterschiedliche Bedürfnisse und kreative Prozesse miteinander zu verbinden, reizt mich und entspricht meinen Kompetenzen. Das Staatstheater Mainz ist ein wunderbares Haus, es ist wichtig für die Stadt und die Region. In finanziell nicht leichten Zeiten für die Kunst möchte ich mich dafür einsetzen, dass es diese Bedeutung behält und ausbaut.
OF: Wie würden Sie rückblickend Ihre Zeit in Oldenburg beschreiben? Haben Sie dort alles erreicht, was Sie sich vorgenommen haben?
M: Natürlich erreicht man nie alles, was man sich vornimmt. Dafür gelingt einem manches, was man gar nicht vorgesehen hatte. Theater und Kunst sind nur sehr bedingt planbar, sonst wären sie ja nicht so aufregend. Aber wir haben durchaus auf uns aufmerksam gemacht. Während der umfangreichen Sanierung des Großen Hauses haben wir ein Jahr lang überwiegend in einer alten Flugzeugwerft am Stadtrand gespielt. Wir haben sie „Wahlheimat“ genannt. Insbesondere diese Zeit war voller beglückender Ergebnisse, sowohl aufgrund der künstlerischen Ergebnisse als auch wegen der Begeisterung des Oldenburger Publikums her. Die „Wahlheimat“ war fast durchgehend ausverkauft, die Oldenburger haben sie geliebt - und diese Euphorie haben wir dann in das frisch sanierte Stammhaus zurückgetragen. Wir waren zurück im Zentrum und genau so hat es sich auch angefühlt: Ein Theater, das von seiner Stadt lebhaft angenommen und geliebt wird. Eine sehr schöne Erfahrung.
OF: Gibt es grundlegende Unterschiede zwischen den Staatstheatern von Mainz und Oldenburg? Wenn ja, worin bestehen diese?
M: Der größte Unterschied liegt sicher darin, dass wir in Oldenburg praktisch kultureller Alleinversorger nicht nur für die Stadt, sondern auch für eine große, eher dünn besiedelte Region waren - mit der entsprechenden Verantwortung und den damit verbundenen künstlerischen Herausforderungen. Es war beispielsweise nicht immer einfach, überregionale Kritiker zu uns zu locken, für die ja Bremen schon sehr weit ist. Trotzdem ist uns auch das immer wieder gelungen. Und es war auch manchmal kein ganz schlechtes Gefühl, ohne zu großen Druck bestimmte Dinge ausprobieren zu können.
Mainz genießt viel mehr Aufmerksamkeit, nicht nur seitens der Medien. Die Region ist belebt, es gibt - zum Glück! - zahlreiche kulturelle Institutionen und ein reiches, vielfältiges Angebot. Wir müssen uns stärker messen (lassen), was wir unbedingt wollen und jetzt auch gern tun.
Foto: Andreas J. Etter
OF: Gibt es am Mainzer Theater irgendein Spezifikum, das Sie besonders schätzen und das Sie in Oldenburg nicht hatten?
M: Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich den Dom, das ist wunderbar. Und das Glashaus ganz oben im Theater ist eine Proben- und Spielstätte, die so wohl kein anderes Haus zu bieten hat. Mit dem Panoramablick dort auf der Dachterrasse nach den Premieren zu feiern, ist einzigartig.
OF: Wie ist es um die Finanzen am Staatstheater Mainz bestellt? Ist der Ihnen zur Verfügung stehende Etat größer als der in Oldenburg? Und wie wird er auf die verschiedenen Sparten verteilt?
M: Der Gesamtetat entspricht in etwa den Voraussetzungen, die wir auch in Oldenburg hatten. Dementsprechend haben wir auch die Verteilung auf die einzelnen Sparten ähnlich gestaltet.
OF: Am Nationaltheater Mannheim begannen Sie im Jahre 1997 als persönlicher Referent des damaligen Intendanten Ulrich Schwab Ihre berufliche Laufbahn. Dieses Haus wird oft als Fabrik bezeichnet, weil das Arbeitsaufkommen dort besonders hoch ist. Ich meine mich daran zu erinnern, dass Sie da mal gleich drei ausfüllende Tätigkeiten parallel zu bewältigen hatten. Sie waren zu dieser Zeit schon ein echtes Arbeitstier. Ist das heute noch genauso? Haben und hatten Sie als Intendant in Mainz und Oldenburg ebenso viel zu tun wie früher in Mannheim?
M: Bis vor kurzem hätte ich geantwortet, dass ich in Mannheim so viel gearbeitet habe, wie ich es konditionell heute nicht mehr durchhalten würde. Nach den ersten, sehr lebhaften Wochen der aktuellen Spielzeit muss ich das relativieren; sehr viel weniger ist es hier auch nicht. Aber tatsächlich arbeite ich gerne viel. Ich habe meinen Traumberuf.
OF: Wie lautet das Motto Ihrer ersten Spielzeit? Und aus welchen Überlegungen heraus ist es entwickelt worden?
M: Ein Motto gibt es nicht, dafür ist ein Mehrspartenhaus mit den unterschiedlichen Bedürfnissen und Möglichkeiten der einzelnen Sparten zu vielfältig. Aber es existiert in der Tat ein Leitmotiv, das uns während der gesamten Spielzeit (und sicher auch darüber hinaus) beschäftigen wird. Für mich ist es das wesentliche Thema unserer Zeit: die Frage nach Freiheit und Autonomie. Wer oder was bestimmt unser Leben? Auf welcher Grundlage, geleitet von welchen Maßstäben treffen wir unsere Entscheidungen? Treffen wir sie überhaupt selbst? Es liegt in der Logik der sprachlichsten Sparte, dass insbesondere im Schauspiel diese Fragen reflektiert werden (nehmen Sie etwa „Schinderhannes“, „Water by the Spoonful“, „Lilli/HEINER“ - lauter Freiheitsthemen). Aber auch in der Oper und im Tanz finden wir sie, so in „Simplicius Simplicissimus“, „Perelà“ oder „My Private Odyssey“. Das Theater spielt hier meiner Meinung nach eine wichtige Rolle. Denn wenn wir im aristotelischen Sinne unsere Urteilskraft bilden und schärfen wollen, dann ist hier genau der Ort, wo wir das können. Das Theater kann uns keine Antworten geben. Aber es vermag uns eine Grammatik an die Hand zu geben, mit den komplizierten Fragen unserer Gegenwart und mit den Manipulationen zur Konformität, die der Kapitalismus uns zumutet, umzugehen.
Foto: Martina Pipprich
OF: Wird der neue szenische Kurs am Staatstheater Mainz unter Ihrer Ägide eher moderner oder eher konventioneller Natur sein?
M: Das sind problematische Begriffe. Es geht einzig darum zu prüfen, was die verschiedenen Stoffe, egal ob klassisch oder modern, uns heute erzählen können. Wie die künstlerischen Teams das letztlich umsetzen, bleibt weitgehend ihnen überlassen. Wir haben ausnahmslos sehr selbstbewusste Künstler mit ihren ganz eigenen Handschriften engagiert. Wesentlich ist und bleibt, dass wir in dem, was auf der Bühne ästhetisch verwandelt wird (denn eine ästhetische Verwandlung ist es immer, ganz gleich, welche Form dafür gewählt wird), etwas entdecken, das uns beschäftigt. Selbstverständlich hat kluge Unterhaltung einen ebenso wesentlichen Stellenwert wie radikale, projekthafte Auseinandersetzungen. Das gehört zu unserem kulturellen Auftrag. In der Oper legen wir neben der musikalischen Qualität großen Wert auf die szenische Umsetzung. Wir haben ein exzellentes Ensemble aus Sängerdarstellern, die nicht nur brillant singen, sondern auch sehr gut spielen können. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass wir nicht nur im Abendspielplan zeitgenössisches Musiktheater wichtig finden, sondern auch für Kinder und Jugendliche dieses noch junge Genre ausdrücklich fördern und weiterentwickeln wollen.
OF: Mit welchen Regisseuren werden Sie zukünftig zusammenarbeiten? Wird Ihr altes Oldenburger Regieteam auch in Mainz eingesetzt? Werden die bisher hier erfolgreich tätigen Regisseure/innen wie Tatjana Gürbaca, Katharina Wagner, Vera Nemirova, Tilman Knabe oder Christof Nel auch weiterhin von Ihnen eingeladen werden?
M: Meinem ersten Spielplan kann man ja schon einige Regienamen entnehmen. Elisabeth Stöppler, die dem Team der Hausregisseure angehört, wird kontinuierlich in den nächsten Spielzeiten in Mainz arbeiten. Sie hat auch bei der Ensemblefindung mitgewirkt. Ebenfalls denkbar ist, dass wir anderen Hausregisseuren Operninszenierungen anvertrauen. Darüber hinaus werden Regisseurinnen wie Lydia Steier, mit der uns eine sehr gute Zusammenarbeit verbindet, auch in den nächsten Jahren bei uns arbeiten. Ansonsten sind wir mit verschiedenen Kollegen in Kontakt und dabei immer auf der Suche nach spannenden Regiehandschriften.
Foto: Martina Pipprich
OF: Haben Sie vor, einige der alten Mainzer Produktionen wieder aufzunehmen, beispielsweise die geniale „Tristan“-Inszenierung von Tilman Knabe?
M: Um Wiederaufnahmen zu planen, muss man anhand der bereits gespielten Vorstellungen einer Produktion und der Zuschauerzahlen überlegen, ob weitere Aufführungen sinnvoll sind. So haben wir am Anfang der Saison Vera Nemirovas Inszenierung von „La Traviata“ wiederaufgenommen. Manche der zahlreichen neuen Produktionen aus dem Opernprogramm der aktuellen Spielzeit werden wir sicher auch in der kommenden übernehmen. Allerdings finde ich, ganz abgesehen von der begrenzten Lagerkapazität, die eine Inszenierung hat, dass Theater von der Erneuerung lebt und daher auch immer wieder neu erfunden werden muss.
OF: Den Sänger/innenstamm haben Sie fast gänzlich ausgewechselt. Was für eine Ensemblepolitik verfolgen Sie?
M: Das Ensemble bildet für mich das Herz des Theaters. Ich halte bei einem Mehrspartenhaus wie unserem nichts davon, mit möglichst renommierten Gästen zu arbeiten. Vielmehr kommt es mir darauf an, ein Ensemble zu schaffen, dessen Mitglieder Identifikationsfiguren für Stadt und Region und damit zu Botschaftern des Theaters werden können. Operngeschäftsführer Stefan Vogel hat in enger Zusammenarbeit mit Generalmusikdirektor Hermann Bäumer und mir ein Ensemble zusammengestellt, das von Sängerdarstellern geprägt ist. Wie ich ja bereits sagte, halten wir es für ganz essentiell, mit Sängern zu arbeiten, die sowohl musikalisch als auch szenisch eine besondere Qualifikation mitbringen. Wir befürworten ein Ensemble, das neugierig ist auf alle Formen des Musiktheaters und insbesondere die Bereitschaft mitbringt, für ein junges Publikum zu singen und zu spielen.
OF: In den vergangenen Jahren waren es in erster Linie noch junge Gesangssolisten, die stark zum hohen vokalen Niveau des Mainzer Hauses beitrugen. Stellvertretend seien hier nur Tatjana Charalgina und Thorsten Büttner genannt. Liegt es auch in Ihrem Interesse, junge Sänger/innen in Mainz eine Chance zu geben, sich zu bewähren? Könnten Sie sich vielleicht vorstellen, so phantastische junge Künstler/innen wie Marysol Schalit, Sofia Kallio, Adrian Gans oder David Zimmer fest oder auch nur auf Gastbasis zu engagieren?
M: Wie Sie unserem Ensemble ansehen können, arbeiten wir mit jungen Sängern ebenso wie mit erfahrenen Kollegen. Die Mischung des Ensembles, die Möglichkeit seiner Mitglieder voneinander zu lernen und das Miteinanderarbeiten stehen für mein Team und mich im Vordergrund. Die von Ihnen genannten Sänger/innen kenne ich zum Teil sehr gut. So beispielsweise Marysol Schalit, die ich am Theater Bremen in vielen Produktionen erleben konnte. Ich schätze sie als hervorragende Sängerdarstellerin. Wir haben hier momentan indes ein Ensemble engagiert, mit dem wir weiter kontinuierlich arbeiten möchten. Sicherlich wird es aber in den kommenden Spielzeiten auch immer wieder mal neue Gesichter und Stimmen geben
Foto: Martina Pipprich
OF: Wie wird der Mainzer Opernspielplan in den nächsten Jahren aussehen? Wird er auch moderne Werke beinhalten?
M: Gemeinsam mit meinem Dramaturgieteam und Hermann Bäumer möchten wir Spielpläne erstellen, die nicht nur vielseitig sind, sondern mit denen wir auch verschiedene inhaltliche Linien verfolgen. Dazu gehört einerseits, dass wir, wie oben bereits formuliert, thematische Überlegungen anstellen, die sich in allen Sparten wiederfinden. Was die Frage nach der zeitgenössischen Musik betrifft: Wir werden ihr einen wichtigen Platz einräumen, sei es durch Erstaufführungen in Deutschland (wie in dieser Spielzeit Pascal Dusapins „Perelà“), Uraufführungen oder auch Beschäftigung mit der musikalischen Moderne. Werke vom Anfang des 20. Jahrhunderts, die wegbereitend für unsere heutige Musik waren. Für mich ist Theater eine Kunst der Gegenwart. Daher gehört die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts selbstverständlich dazu. Die Fragestellung aber, mit der wir uns Stücken vom Barock bis in die Gegenwart nähern, bleibt dieselbe: Was interessiert uns heute und jetzt daran? Einen Schwerpunkt werden sicher auch die Opern mit einem direkten Bezug zu Mainz und Umgebung bilden. Mit Richard Wagners „Meistersingern“ machen wir da einen Anfang. Die Entwicklung von Werken des Musiktheaters für junges Publikum ist uns ebenfalls ein Anliegen für die nächsten Jahre.
OF: Kennen Sie den Komponisten Mieczyslaw Weinberg? Wäre es eine Option für Sie, seine „Passagierin“, die ich persönlich für die bedeutendste Oper der Jetztzeit halte, in Mainz herauszubringen?
M: Weinberg gehört zu den Komponisten des 20. Jahrhunderts, die erst kürzlich wiederentdeckt wurden und nun häufiger gespielt werden. Ich denke aber, dass andere Tonsetzer der klassischen Moderne, wie Schostakowitsch, Prokofjew und Hindemith, die lange Zeit in Mainz nicht aufgeführt wurden, ebenfalls spannende Werke geschaffen haben, die das Mainzer Publikum interessieren könnten.
OF: Was erhoffen Sie sich langfristig von Ihrer Mainzer Intendanz?
M: Unser wichtigstes Ziel ist es, ein lebhafter künstlerischer Ort für die Stadt und die Region zu sein, ein offenes Haus, das von den Menschen zurecht als Stadtmitte wahrgenommen wird, in dem wir viel wagen und die Zuschauer dabei mitnehmen. In dem Spiel erlaubt ist das Ausprobieren von Möglichkeiten, aber auch das Scheitern. Wir wollen so relevant sein, das keiner, auch kein Bund der Steuerzahler, es noch einmal wagt, das Theater - oder Teile davon - aus finanziellen Gründen wegdiskutieren zu wollen.
OF: Vielen Dank für das Interview
Ludwig Steinbach, 20.11.2014