DER OPERNFREUND - 51.Jahrgang
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www.theater-hof.com/


 

MARIA DE BUENOS AIRES

Premiere: 28.1. 2022. Besuchte Vorstellung: 20.2. 2022 (Rosenthal-Theater Selb)

 

Die Zuschauer, vier Busse, gefüllt mit Mitgliedern der Theatergemeinde „Volksbühne“ und aus Bayreuth angedüst, sind begeistert. Dass Astor Piazollas und Horacio Ferrers „Tango-Operita“ so gut ankommt, obwohl sie auf den ersten Blick sperrig anmuten mag, weil die (in den Vokalpartien, nicht im Sprechpart) unübersetzte, hochpoetische Sprache des argentinischen Dichters zumindest dann unverständlich ist, wenn man nicht spanisch oder argentinisches Spanisch spricht – dass das einzige Bühnenstück des großen Tangoreformators Piazolla und seines langjährigen Weggefährten Ferrer das Publikum im Rosenthal-Theater berührt, obwohl „nicht alles verstanden“ wird: es ist auch ein Verdienst des Theaters Hof, das zum wiederholten Mal mit einem – zumindest in deutschen Landen – randständigen Meisterwerk beweist, dass auch und vielleicht gerade mit etwas anderen Stücken viele Theaterliebhaber erreicht werden können, die keine Theater- und Opern- und Ballettkenner im sog. eigentlichen Sinne sind.

 

 

Maria de Buenos Aires, der Titel ist schon christlich symbolisch; die Inszenierung verweist, darin nicht originell, aber folgerichtig, auf die biblische Maria, auf Leben, Leiden, Tod und Auferstehung. Werden Marias Herz und Körper von den „uralten Dieben“ und „Puffmüttern“ zum Tode verurteilt, wird sie so vom Ensemble getragen, dass ihre Arme ausgebreitet sind wie die des toten Christus am Kreuz: ein erster Tod, kein letzter, denn der Schatten der Getöteten darf / muss weiter durch die Stadt wandern, in der sie unerlöst und identitätslos umherirrt – was weniger christlich als symbolistisch anmutet.

 

 

Die Hure Maria umgibt ein undefinierbarer Schein von Unschuld und Heiligkeit. Kein Wunder: Sie ist eine argentinische Frau, die von zwei argentinischen, hochmusikalischen und schwer dichterischen Männern geschaffen wurde, bei denen sich das tiefe Verständnis für das Leiden der Prostituierten, in deren Umkreis der Tango recht eigentlich erfunden wurde, die leidenschaftliche Liebe zur Frau und der Machismo, in deren System die Frau letzten Endes Opfer der männlichen Begierden ist, zu einer uintrennbaren Mischung vereinigten. „Maria de Buenos Aires“ entwirft allerdings keine platte Passionsgeschichte, in der eine simple Beziehungsgeschichte im sozialen Prekariat im Mittelpunkt steht. „Maria de Buenos Aires“ ist eine geheimnisvolle Parabel, durchmischt mit Elementen der Mystik und einer zur Kunst gewordenen Realität, letzten Endes der Traum von einer Maria aus Buenos Aires. In Hof befindet man sich – auch dies ist herkömmlich und stimmig – in einer „abstrakten Tango-Bar“, die einen Namen trägt: Café Victoria. Man sieht die Aussenseite auf einem der schönen alten sepiabraunen Fotos, die die Bühnengestalterin Annette Mahlendorf als Projektionsprospekte nutzt. Mahlendorf entwarf auch die Kostüme; rouge et noir sind die Farben des Abends, der Weg Marias geht über Leben, Tod und Wiedererstehung, über Rot und Schwarz zu Rot. Der musikalische Leiter Michael Falk, die Sänger-Regisseurin Sandra Wissmann und die Choreographin Barbara Buser haben sich entschlossen, die Titelfigur in zwei Gestalten gleichsam aufzuspalten, sodass wir einerseits die singende Maria, andererseits die tanzende Maria bewundern dürfen – denn Maria de Buenos Aires ist als kleine Tango-Oper so etwas wie ein Opéra-Ballet mit einem zusätzlichen Sprecher, der Ferrers lyrische Prosa (es wäre unsinnig, während der Vorstellung alle Nuancen „verstehen“ zu wollen) in deutscher Sprache bringt. Am 20. Februar steht Jörn Bregenzer als „Geist“, in diesem Fall als Barmann, auf der Bühne; er sprang für Marian Müller ein, rettete damit so die Vorstellung wie Karsten Jesgarz, der neben seinen vier oratorischen, baritonal schön gestalteten Partien für Müller noch zusätzlich die Rolle des „uralten Anführers der Diebe“ übernimmt, was dem Abend einen Teil seines Reizes, ein wenig auch von seiner dramatischen Verständlichkeit nimmt. Es kann nicht anders sein wenn der Schauspieler und der Sänger mit schwarzen Kladden agieren müssen, aber, wie gesagt: Sie retten die Vorstellung.

 

 

Was wichtig bleibt, bleibt unmittelbar stark: Stefanie Rhaue singt mit ihrem klaren Alt die Maria, Irene Garcia Torres tanzt Maria. Manchmal begegnen sich, wie im Brief an die Bäume und Schornsteine, der Gesang und ein Solo, meist die Stimme und die Gruppenbewegung.

Barbara Buser lässt das Ensemble über weite Strecken im Buser-Stil. also klassischmodern bzw. modernklassisch tanzen, wobei der Tango nur einige wenige Elemente, nicht die Grundlage der choreographischen Arbeit bildet. Ochos und Medialunas begegnen, aber Barbara Buser verfiel glücklicherweise nicht auf die Idee, aus der Tango-Operita einen Tango-Tanzabend zu machen, ja: in einer der berühmtesten Nummern des Werks, Fuga y Misterio, begegnet die scheinbare Abstraktion der musikalischen Form der relativen Abstraktion der Gruppengestik. Bei mancher Hebe- und Tragefigur ist Montero nicht weit; wenn die Gruppe sich die solistischen Marias haptisch aneignet, wird die Grundidee, die alle Arbeiten des Nürnberger Chefchoreographen Goyo Montero beseelen, in „Maria de Buenos Aires“ und dieser spezifischen Tanz-Arbeit offenbar: Der Gegensatz zwischen dem Individuum und dem Kollektiv. Stefanie Rhaue wird von den 12 Tänzern, wenn es an Marias ersten Tod geht, kontrolliert gezerrt, die tanzende Maria wird zum Spielball einer so zärtlichen wie harschen Gruppenaktion. Die Puffmütter formieren sich mit ihren blutigen Mündern, schwarzen Kostümen und eruptiven Gesten zu einem Reigen der unseligen Geister, bevor der Auftritt der „Psychoanalytiker“ einen Zirkus auf die Bühne stellt, in dem die drei „trunkenen Marionetten“, ihrem Titel gemäß, eine besoffene Clownsnummer loslassen. Manche Tänze des ersten Teils, der in einer noch relativ realistischen Bar spielt, setzen sich aus kleinen Elementen zusammen, die den Nummern etwas Spielerisches, aber auch Fragmentarisches verleihen: so wie beim Tango Argentino, bei dem der Tänzer, noch weniger seine Partnerin, nicht weiss, wo er sich in fünf Sekunden befinden wird. Inmitten dieser choreographierten Improvisationen begegnen sich Mann und Frau am Nächsten; Abstoßungen der Kerle durch die Frauen nach den Tanzschritten und dem Schlussakkord – und auch dies ist von Montero wie aus dem sog. normalen Leben vertraut – sind die Regel, weniger die Ausnahme.

 

 

 

Der Geschlechterkampf aber ist nur eine andere Art der Begegnung, wie sie die Haupthandlung auf eine schlechthin argentinische Weise zeigt. Man muss einfach verstehen, dass das Bandoneon das Instrument des Argentino ist und es zutiefst logisch ist, dass es in dieser theatralischen Form eines Hyper-Tango die Rolle eines personalisierten Verführers einnimmt, das vom Geist zu einem Duell gefordert werden kann.

Man könnte auch sagen: Es ist „nur“ Poesie – aber auf einem hohen wie unverschnörkelten Niveau, das das Publikum, bei allen Rätseln des Werks, offensichtlich erreicht hat. Großes Lob also fürs Ensemble, die neun Musiker und Musikerinnen, die Tänzerinnen und Tänzer, deren Namen alle genannt werden müssten, weil sie, obwohl „nur“ Teil einer Compagnie, so individuell sind wie Maria von Buenos de Aires, die Besondere unter den Marias in Buenos Aires.

 

Frank Piontek, 21.2. 2022

 

Fotos: ©H. Dietz Fotografie

 

Viel Neues und eine Rarität

Cherubinis Medea

Premiere: 24.09.2021

 

Lieber Opernfreund-Freund,

gleich in mehrerlei Hinsicht war gestern Abend am Theater Hof Premierenzeit. Nicht genug, dass das Haus aus der erzwungenen Pandemiepause erweckt und die neue Spielzeit eröffnet wurde, auch der neue Musiktheaterdirektor und Chefdirigent Ivo Hentschel gab seinen Einstand. Zudem war es der Eröffnungsabend nach der Generalsanierung des 1994 eröffneten Baus. Um so viel Neues zu feiern, hat man sich einen mehr als 2500 Jahre alten Stoff ausgesucht: Medea, die antike Geschichte der mordenden Mutter, wird in der selten gespielten Opernumsetzung Luigi Cherubinis gezeigt und gerät nicht zuletzt Dank der exzellenten Susanne Serfling zum Ereignis.

 

 

Natürlich lädt die erste Regiearbeit in einem sanierten Theater mit modernisierter Bühnentechnik dazu ein, die neuen, eindrucksvollen technischen Möglichkeiten zu zeigen. Das tut Lothar Krause zusammen mit der Bühnen- und Kostümbildnerin Annette Mahlendorf auch ohne Zweifel – und dennoch gerät ihre Lesart nicht zum Selbstzweck. Vielmehr verdichten die beiden die Geschichte rund um die Titelfigur. Gold ist omnipräsent in den Kostümen und den wenigen Requisiten am gestrigen Abend, die Bühne selbst in ihrer Wandelbarkeit genügt als Bühnenbild, eindrucksvolle Lichtregie schafft Stimmung und Stimmungen; die Hauptprotagonisten tragen historisierende Gewänder, ohne dabei explizit auf eine Zeit Bezug zu nehmen. Doch anhand der Farbgebung ist klar, dass Medea und ihre Gefährtin Neris nicht dazu gehören. Das sagenumwobene Vlies wird als stilisierter Widderkopf kurz gezeigt, doch alsbald durch das wahre Zentrum der Geschichte ersetzt. Medea ist nicht nur Triebfeder des Geschehens, sondern der Mittelpunkt von allem, um den auch der beinahe gemäß der griechischen Tragödientradition eingesetzte Chor kreist. In immer wieder eingespielten Videos von Kristoffer Keudel werden Hintergründe und Zusammenhänge deutlich; die hätte es aber wegen der klaren Erzählweise Krauses und der eindrucksvollen Bilder, die ihm auf den neuen Brettern gelingen, kaum gebraucht.

 

 

Man hat sich in Hof für Cherubinis originale Dialogversion entschieden, Krause hat allerdings die Originaltexte gestrichen und Ersatz unter anderem bei Euripides oder Grillparzer gefunden. Und auch wenn ich persönlich kein Fan von gesprochenen Dialogen im Musiktheater bin, weil sie den Musikfluss unterbrechen, mitunter in die Musik hineinreichen und Opernsänger oft einfach keine Sprechschauspieler sind, ist dies in Hof außerordentlich gut und bei klarster Textverständlichkeit gelungen. Das liegt sicher auch daran, dass man in Susanne Serfling als Medea eine Idealinterpretin gefunden hat, die nicht nur über enorme stimmliche Mittel, sondern auch ein ausgeprägtes schauspielerisches Talent verfügt. So zwingend sie den Zuschauer mit ihren Ausbrüchen mit in die Verzweiflung ihrer Figur reißt, so berührend ihre Piani über den Graben strömen, so packend ist ihre Darstellung, die sie mit dem ganzen Körper regelrecht zelebriert. Die gesprochen Texte rezitiert sie mit enormer Intensität und, dass sie die Medea gestern überhaupt zum ersten Mal auf der Bühne gestaltet, mag man kaum glauben, so überzeugend personifiziert sie die desillusionierte Frau, die nicht nur aus Rache zur Mörderin wird.

 

 

Minseok Kim gestaltet den Jason mit farbenreichem Tenor und überzeugt mit fragil erscheinenden Piani, seine Ausbrüche allerdings geraten bisweilen eine Spur zu grob. Vom König Créon von James Tolksdorf hätte ich mir neben erhabenem Herumstolzieren ein wenig mehr vokale Wucht gewünscht, Yvonne Prentki gestaltet seine Tochter Dircé hingegen vollends überzeugend mit müheloser Geläufigkeit und zarten Höhen. Stefanie Rhaue legt Medeas Gefährtin Néris eher mütterlich an, gefällt mir aber dabei gut mit ihrem nuanciert eingesetztem Mezzo. Dem Chor kommt in der Medea eine besondere Rolle zu, gerade im Regieansatz von Lothar Krause. Roman David Rothenaicher hat die Damen und Herren exzellent vorbereitet auf diese wichtige Aufgabe und so überzeugt der Opernchor, ob singend oder deklamierend, auf ganzer Linie. Angesichts der Tatsache, dass es sich bei allen Sängerinnen und Sängern um Rollendebütanten handelt, ist die vokale Gesamtleistung noch bemerkenswerter.

 

 

Debütantenfieber dürfte auch im Graben geherrscht haben, in dem Ivo Hentschel von Beginn an die Zügel fest in der Hand hält. Zusammen mit den Hofer Symphonikern legt er behutsam die Ecken und Kanten in Cherubinis Partitur frei, erfreut mich mit seinem ausgeprägten Spiel mit Klangfarben sowie einer gehörigen Portion Leichtigkeit und präsentiert eine Medea aus einem Guss, die im Graben ebenso so spannend ertönt, wie sie auf der Bühne erscheint. Das macht neugierig auf mehr! Das Publikum im coronabedingt dezimiert besetzten Zuschauerraum ist am Ende dieses Premierenabends ähnlich begeistert wie ich und spendet allen Beteiligten viel Beifall. Und auch ich finde kaum etwas anderes für diese glänzende Produktion.

Ihr
Jochen Rüth

25.09.2021

 

Fotos: H. Dietz Fotografie, Hof

 

 

HÄUPTLING ABENDWIND

Premiere: 1.3. 2020. Besuchte Vorstellung: 4.3. 2020

 

 

Erst vor wenigen Wochen konnte man im Nürnberger Staatstheater die Neuinszenierung einer Oper erleben, deren Libretto von Philippe Emile François Gille geschrieben wurde: Jules Massenets „Manon“. Nun hatte ein etwas kürzeres Opus im Hofer Theater Premiere, in dem es gleichfalls tödlich zugeht – oder zumindestes zuzugehen scheint, denn natürlich ist in Jacques Offenbachs Opérette-bouffe „Vent du soir“ (Untertitel: „L'horrible festin“, also „Das schreckliche Gastmahl“) vom Abschlachten nur die Rede. Allein der Heilige Bär muss dran glauben, aber er ist lediglich aus Pappe – so wie die entzückend zweidimensionale Dekoration, in die die Regisseurin Jasmin Sarah Zamani und ihre Bühnen- und Kostümfrau Aylin Kaip die Geschichte von den Menschenfressern hineingestellt haben.

Man spielt hier die Wiener Fassung, die Johann Nestroy zusammen mit einem unbekannten Couplet- und Duett- und Ensembleübersetzer kurz nach dem französischen Offenbach-Gastspiel an der Donau im Jahre 1861 als „Häuptling Abendwind oder Das gräuliche Festmahl“ auf die Bühne brachte, und die 1990 von Mathias Spohr „nach Quellen bearbeitet“ wurde. Michael Falk sitzt am Klavier, der Violoncellist Markus Jung neben ihm. Der spielt Offenbachs Leib- und Mageninstrument, um Offenbachs Orchester zu ersetzen, die Rolle des Chors wurde gegenüber dem Original etwas vergrößert (man und frau vom guten Hofer Opernchor kann ja auf die Melodie der Ouvertüre „Hullahulla“ intonieren) – und im Publikum erblickt man wieder einmal nur diejenigen, die man in Zeiten der Corona-Hysterie als „Risikogruppe“ einzuschätzen pflegt. Dabei wäre Offenbachs und Nestroys Hinter- und Blödsinnigkeit vielleicht ein Weg, um etwas jüngere Leute zum zumindest heiteren Musiktheater hinzulotsen. Nestroys Sprache geht an diesem Abend zwar nicht verloren, aber die akustischen Verhältnisse sind im Europasaal des Bayreuther „Zentrums“ leider so beschaffen, dass manches Wort in der Kulisse landet; und „richtig“ wienerisch – obwohl er kein Österreicher ist – spricht an diesem Abend eh nur Markus Gruber. Der grandiose Darsteller und exzellente Sänger spielt den Biberhahn, dessen Frau vom Häuptling Abendwind gefressen wurde, während er dessen Frau sich einverleibte. Nun kommt er zu Friedensverhandlungen ins australische Dorf, das noch nicht von den Europäern oder Amerikanern entdeckt wurde. Abendwinds Töchterchen Atala verliebt sich in Biberhahns Sohn mit dem indianischen Namen „Arthur“, der – zufällig ein Friseur – verliebt sich stracks in sie, wird scheinbar dem Papa zum Friedensmahl aufgetischt, aber „Häuptling Abendwind“ ist nicht „Titus Andronikus“. Am Ende wurde nur der Bär gefressen, der Koch mit dem bezeichnenden Namen „Ho-Gu“ (man muss ihn nur französisch aussprechen) wird vom zu Fressenden bestochen, indem er frisiert wird, und der Coiffeur darf die Tochter des einstigen Erzfeinds heiraten. Am Ende war das gegenseitige Fressen nur, wie man neuerdings in Wien zu sagen pflegt, a b'soffne G'schicht, oder anders: „eine schauderhafte Reziprozität“. „Nur erst den Fortschritt ausgebatzt“: das ist ein Ansatzpunkt für eine mögliche gegenwärtige Interpretation des Stücks, das nicht in irgendwelchen Hotelzimmern oder Sicherheitskonferenzsälen spielen muss, um als heutig anerkannt zu werden. Am Ende aber reichen sich die beiden Wilden die Hand, weil die jungen Leute es besser wissen; die Liebe wiegt halt doch schwerer als ein politischer Konflikt. Das Programmheft zitiert Nietzsches Einschätzung der Offenbachschen Musik, die „mit einem Voltaire'schen Geist“ gesegnet sei: „frei und übermütig“. Der schwarze Humor dieser seinerzeit erfolglosen, weil wohl zu garstigen Farce, die es in Hof auf 75 Minuten bringt, während eine Aufführung wie die der Opéra de Barie, die sich auf Offenbach-Ausgrabungen spezialisiert hat, mit 50 Minuten auskommt, der Humor dieses Stücks passt trefflich zur Musik, die sogar einen veritablen Ohrwurm ihr eigen nennt: der Kriegsgesang der Papa-Toutous provoziert nicht nur Markus Gruber zu einem revuehaften Hüftschwung. „Wir sind ja gemütliche Leut“, sagt Häuptling Biberhahn. Man kennt ja diese „gemütlichen“ Leut'…

Abendwind ist in Hof Thilo Andersson, der dem von den Verhältnissen sichtlich überforderten Häuptling seinen schrägen Humor beigibt. Dritter im Bunde ist der Friseur; Minseok Kim singt ihn einschmeichelnd. Und Sophie-Magdalena Reuter spielt und singt die junge Dame im Dschungelkostüm so kapriziös, dass man sie eher auf der Ringstraße vermuten würde – wohin sie ja wohl auch schnellstens entführt wird...

 

Frank Piontek, 5.3. 2020

Foto: © H. Dietz Fotografie

 

 

 

DIE ZIRKUSPRINZESSIN

Premiere: 21.12. 2019. Besuchte Vorstellung: 28.12. 2019

Gefragt, wieso sie immer wieder Operetten inszeniere, weist Nicole Claudia Weber darauf hin, dass sie in ihrer Kindheit am Wochenende bei ihrer Oma auf dem Sofa saß und im Fernsehen Operetten anschaute. Der Effekt war unvergesslich: „Da konnte ich mich richtig reinfallen lassen und die Welt war in Ordnung“.

Als 1926 Kálmáns „Zirkusprinzessin“ die Wiener und die Berliner Theaterwelt eroberte, gab es genügend Gründe, sich an die „gute alte Zeit“ zu erinnern, in der die Geschichte spielt. 1912: zwei Jahre, bevor der erste Weltkrieg begann (der der genialen Untergangs- und Durchhalteoperette der „Csárdásfürstin“ eine besondere Stimmung verlieh), befand man sich noch im Ausklang des „fin de siécle“, dem zumindest die Kostüme der Hofer Produktion einiges verdanken. Denn Götz Lanzelot Fischer hat den Herren und Damen des kleinen Opernchors und den Solisten Kleider an den Leib gezaubert, die durchaus etwas hermachen: eher hell am Tage, konsequent schwarz an den Abenden, an denen die Geschichte des „Mr. X.“, der angebeteten Fürstin Fedora Palinska und des eifersüchtigen Prinzen Sergius Wladimir, aber auch der komischen Gestalten zu ihren Höhepunkten kommt. Diese ist hausgemacht, d.h: Julius Brammer und Alfred Grünwald haben 1926, versehen mit den Libretti des „Bettelstudenten“ und der eigenen „Gräfin Mariza“ wie der „Csárdásfürstin“, eine Mixtur hergestellt, die freilich von der gelegentlich sich selbst zitierenden Kálmán-Musik geadelt wird – denn dem Schmelz der „Zwei Märchenaugen“ und dem Witz der lustigen Nummern sich zu entziehen dürfte keinem Operettenfreund leichtfallen. Altbekannt ist auch die Grundidee (und die Optik) der Inszenierung, die drei Akte – auch das Hotelbild - in einem Circusrund spielen und immerzu Clowns auftreten zu lassen. S'ist halt eine „verkehrte Welt“, in der sich die Figuren, freilich auf paradoxe Weise, standesgemäß tummeln: der falsche Erzherzogssohn wie der richtige Mann von Adel. Man hat's erst vor fünf Jahren genau so im Gärtnerplatz gesehen. Hier darf sich das gute Ballett des Theaters Hof, spielerisch choreographiert von Barbara Buser, immerzu als Clowntruppe in die Szene werfen und die Zwischenmusiken akzentuieren.

Das Ganze soll in einem Zirkus spielen, der abgerissen werden soll – die Idee bleibt ein Vorwand für die pure Dekoration, was poetische Szenen nicht ausschließt: es ist in der Tat sehr schön, wenn eine bunte Clownsfrau den Tenorhelden bewundert, der gerade sein Auftrittslied, diese Operettenversion des „Lache, Bajazzo“, zu singen hat. Dafür begleiten neun schwarzgewandete Herren (nicht im Frack, sondern in ihren schneidigen Circusuniformen) den Sopran. Sophie-Magdalena Reuter und Minseok Kim harmonieren in ihren Duetten denn auch prächtig; man hört schon, dass sie, nur sie, zusammen gehören, auch wenn der Tenor ein bisschen braucht, um sich auf seine schöne Höhe und in seine Sicherheitszone zu singen. Unterstützt werden sie übrigens von einem Orchester, das zu großen Teilen unter einem Deckel sitzt. Nun ja, Bayreuth ist nur 50 Autominuten entfernt… Trotzdem hat, man muss es leider wieder schreiben, Yvonne Prentki, die die Wiener Hundedresseuse spielt (leider ohne Hunde, aber auch Pferde sind auf dieser Bühne nicht zu sehen), wieder Schwierigkeiten, sich vokal bemerkbar zu machen. Diese Stimme muss einfach noch dynamisch wachsen, bevor man Endgültiges über sie sagen kann.

Setzt die Inszenierung nicht auf das Übliche, das im besten Sinne Routinierte, das beim Publikum dieses Abends gut ankommt, so findet sie tatsächlich zu eigenen Deutungen. Das erste Liebesduett zwischen Fedja Palinski und Fedora Palinska wird nicht herausgebrüllt, sondern ist eher, weil's doch „wirklich“ um die Liebe geht, also „pour l'amour“, von der Melancholie des Verzichts geprägt. Statt „Mädels im Trikot“, auf die der Connaisseur gehofft hat, gibt’s Clowns zu sehen, und wenn die Husaren ihren berüchtigten und nicht erst seit der MeToo-Debatte problematischen Vergewaltigungsmarsch anstimmen, haben sie größte Schwierigkeiten, die Birkenstämme zu heben, die ihnen gerade leichthändig von der Circuscompagnie überreicht wurden: Offensichtlich „kriegen sie ihn“, trotz präpotentem Gehabe, „nicht hoch“. Kein Wunder, dass Thilo Andersson hier mit voller Absicht nicht wie üblich den Komiker markiert, sondern den intriganten Großfürsten als durch und durch ernste, unangenehm beglatzte Figur auf die Bühne stellt. Der feine Schluss des ersten Teils aber heißt: Tanz und Kuss. Und über allem wabert der ewige Nebel.

Und der Pfiff! Denn Markus Gruber hat als „Sohn des Erzherzogs Karl“, diesem Nebenzentrum der Verwirrungen, denen am Ende der Intrigant selbst zum Opfer fällt, einen komischen, extrem wienerisch inspirierten elan vital, der das Publikum rockt. „Komm mit nach Budapest“: Es wird zum Klatschmarsch im Schlussapplaus, der auch daran erinnert, dass eine gelungene Operetten-Aufführung auch vom Buffopaar abhängt. „Lise, Lise, komm mit mir auf die Wiese“ - diesem herzigen Walzer sich zu entziehen ist ebenso unmöglich wie von den lyrischen Höhepunkten des „Hohen Paars“ nicht berührt zu werden, obwohl Sophie-Magdalena Reuter eine extrem jugendliche, ja fast noch mädchenhafte Fürstin spielt, die im dritten Akt plötzlich wie eine Halbweltdame der Zwanziger am Tisch des „Erzherzog Karl“ ihren Champagner trinkt: auch sie eine Art Außenseiterin, die lieber einen scheinbaren Gaukler zum Mann nimmt als sich auf die Konventionen eines untergehenden Adelshauses zu versteifen.

Das Alles wäre, trotz Hinweis auf die (angeblich) selbstbestimmten Frauen dieser Operette und die sozialen Zustände vor und nach 1914, vielleicht nur der Talmi, der einen Karl Kraus so fürchterlich ätzen ließ, wäre da nicht die Autonomie der Musik. Ab dem zweiten Akt gehorcht die Dramaturgie des Stücks einer Revue – und der Konvention des dritten Akts mit seinem Dritteaktkomiker. Hier spielt Thomas Hary den baumlangen Oberkellner im Etablissement, der zusammen mit seiner verehrten Wirtin die entzückende Parodie eines „echten“ Wiener Lieds zu singen hat. Er macht das nicht ganz übel, während Stefanie Rhaues Carla Schlumberger geradezu original wienerisch daherzukommen scheint. Der Rest ist Beifall, auch fürs Orchester, das Kálmáns wunderbare Partitur mit ihren Instrumentaleffekten zwischen dem ungarischen Sound der Csárdásfürstin und den flotten Rhythmen der Zwanziger unter dem Chefdirigenten Walter E. Gugerbauer beherzt zum Klingen bringt.

Kein Wunder: der Mann ist Österreicher. Da muss so ein Stück ja klingen, auch wenn Mr. X. nicht, wie einst Hubert Marischka, selbst die Violine spielte, bevor er sich mit dem Pferd in die Tiefe stürzte. Aber man kann ja nicht alles haben – die Violine tönt auch in Hof sehr schön aus dem Orchestergraben.

 

Frank Piontek, 30.12. 2019

Fotos: © Harald Dietz Fotografie

 

 

ORPHEUS UND EURYDIKE

Premiere: 20.9. 2019. Besuchte Aufführung: 8.12. 2019

 

Man bzw. Frau kann ja das Finale, das umstrittene, auf verschiedene Weise inszenieren: 

1.      Man lässt den Jubelchor fort (auf die Ballettsuite verzichtet man ja eh meist) und den Witwer im Dunkel seiner Trauer und Einsamkeit zurück.

2.      Man inszeniert den Jubelchor und persifliert ihn, denn ein „Happy End“ ist nach dem Verlauf des dritten Akts kaum noch glaubhaft.

3.      Man inszeniert den Schlusschor und die finale Ballettsuite, in der man die gesamte Geschichte noch einmal pantomimisch Revue passieren lässt.

4.      Man inszeniert den Jubelchor und zeigt, dass der Witwer wieder in der Welt angekommen ist, in der – MIT ihm – das Leben und die Liebe weitergehen.

So geschehen und gesehen in Hof, wo sich die Regisseurin Nilufar K. Münzing dazu entschied, die Geschichte des in die Unterwelt hinab- und das Elysium emporsteigenden Sängers auf der Grundlage einer Phasenbeschreibung zu entwerfen, die die Sterbekundlerin Elisabeth Kübler-Ross 1961 vorlegte. Die fünf Phasen des Umgangs mit einem elementaren Verlust sind im Idealfall Folgende: Verleugnen, Zorn, Verhandeln mit dem Schicksal, Depression und Zustimmung – freilich verbunden mit der Variation und Dauer wie der Reihenfolge, auch mit Wiederholungen einzelner Teile, sogar mit dem Ausbleiben einzelner Phasen, was die Idealtypik denn doch zu einer reichlich wackligen macht, aber insgesamt wird der Laie dem Modell zustimmen können.

Dass es mit der „Zustimmung“ und „Akzeptanz“ des Verlusts, den Orpheus erleidet, seine Richtigkeit hat, verbürgt schon das „Lieto fine“, das 1762 in Wien und 1774 in Paris inszeniert werden musste, handelt es sich bei Glucks und Calzabigis „Orfeo“ doch nicht um eine „Tragédie lyrique“, sondern eine Reformoper ganz eigenen Zuschnitts – der die Konvention am Anfang (in der festlichen Ouvertüre) und im Finale (der Scena ultima) noch anhaftet. Ganz vermag auch Nilufar K. Münzings Inszenierung am Ende nicht zu glücken, weil das, was die von Amor noch einmal und zum letzten Mal hereingeführte und schließlich entschwindende Eurydike da verkündet, wenig zur Phase 5 – Zustimmung, Akzeptanz“ – passt. Man spielt in Hof die Pariser Fassung (in deutscher Fassung und ohne Ballettsuite), aber die letzte Nummer nach der Wiener Fassung, in der die drei Solisten mit dem Chor bekunden, dass „der Liebende die Qual im süßen Augenblick der Erhörung vergisst“ und „die Eifersucht quält und verzehrt, doch dann die Treue heilt“. Das alles bezieht sich (gut!) auf die zukünftigen Liebes- und Ehepaare, die – wie am Beginn der Operninszenierung – zueinander finden, doch vermag es Orpheus' Zustimmung zu seinem eigenen Seelenzustand auszudrücken?

An diesem Punkt der Interpretation bleiben Fragen offen, aber es spricht für den Abend, dass sie nur hier formuliert werden können. Anderes hätte bei diesem „glücklichen“ Finale, das nach unseren Erfahrungen unmöglich affirmativ inszeniert werden kann, auch gewundert. Was für den Abend spricht, ist schon der Umstand, dass sich Daniela Meneses, fleißig an der Inszenierung der Oper beteiligen darf. Denn sämtliche Ballos, die in der Pariser Fassung ausdrücklich zu „Pantomimen“ wurden, werden in eine sinnfällige wie ästhetisch schöne Choreographie aufgelöst. Es sind also hier nicht allein die Furien und Seligen, die die Bühne bevölkern, sondern zuallererst ein Double-Paar der Titelfiguren, später gar vier Euridykes, die den Helden bei seinem Gang in die Anderswelt begleiten: als Compagnons seiner Träume und Ängste; besonders berückend gerät der in bestem Sinne klassische Pas de deux des „Reigens der seligen Geister“. Ali San Uzer und Mar Reig Copovi tanzen sich spätestens in dieser zentralen, in Musik und Bewegung aufgelösten Szene in die Herzen der Zuschauer hinein: sie, Eurydike, „ein Schatten, der uns hört“, wie es bereits in der Trauerszene heißt, und er, Orpheus, der den Verlust nicht akzeptieren kann.

Nicht nur dieser Paartanz lässt es verschmerzen, dass die Koloraturarie, die Gluck in die Pariser Partitur einlegte - „L'espoir renait“ - mit seinen Formalismen einer typischen Seria-Arie absolut quersteht zum sonstigen aufgelichteten Stil der Partitur (auch wenn Jürgen Schläder anlässlich der letzten Münchner Staatsopern-Premiere des „Orphée“ zu begründen versuchte, dass diese musikalisch exterritoriale Arie, die nicht grundlos selten gesungen wird, genau zu Orphées Aufbruchsstimmung passe). Minseok Kim hat auch sonst genug zu tun. Mit seinem lyrischen Tenor, der an die Stelle des von Gluck vorgesehenen Haute-Contre – eines hohen Tenors mit einer auffälligen Höhe in den Spitzentönen und einer sehr hohen Tessitur – getreten ist, bringt er die Partie in seine empfindsame Kehle: gelegentlich etwas gepresst klingend, doch passt's zur psychologischen Aufnahmesituation des schwer leidenden Witwers. Starker Beifall für den guten Sänger, der diese Monsterpartie mit Anstand bewältigt. Neben ihm steht Sophie-Magdalena Reuter, die eine direkt ansprechende, stimmschöne und ausdrucksstarke, dabei nie schollernde Eurydike singt, die selbst in IHRER psychischen Ausnahmesituation der Heimbringung auf genaue Artikulation setzt. Es ist übrigens an diesem Abend nur schwer zu verstehen, wieso sich ausgerechnet Eurydike dem Gang an die Oberwelt und ins „Leben“ zurück widersetzt – denn sie ist, innerhalb einer schrecklich uniformen, auf einen langweiligen wie leicht bizarren Mono-Look getrimmten Elysiumseinwohnerschaft die Einzige, die individuell aussieht und einer persönlichen Beschäftigung nachgeht. Vermutlich liest sie gerade in Schwabs „Sagen des klassischen Altertums“, wie es mit Orpheus und seiner Eurydike damals ausging... Behauptet sie auch, dass das Elysium der ideale Ort einer glücklichen Gelassenheit sei, so ist sie offensichtlich anders als die Anderen. Die seit je umstrittene Frage, wieso die teure Gattin herumzickt und Orpheus zum Rückblick provoziert, wird durch die Inszenierung des Elysiums nicht vereinfacht, sondern verkompliziert – denn wieso sollte sich die selbstbewusste Eurydike nach den Langeweilern zurücksehnen, die das Elysium bevölkern?

Weil es eh nur ein Traum ist. Orpheus, von Beruf Straßensänger (also ein Sänger für Du und Ich), will sich hier umbringen und visioniert sich den Gang in die Unterwelt in seinem Krankenbett. Für ihn sind die Furien die schwarzgewandeten Verwalter des Sterbens, die auf ihren Schreibmaschinen stumpfsinnig die Berichte des Todes tippen. Uta Gruber-Ballehr hat den Furien die Haarpracht von Stachelschweinen verpasst, die den weißen Kopfputzen der „Seligen“ nicht zufällig ähneln; zwischendurch dürfen zwei Furien als Ärzte an Orpheus' Krankenbett den Patienten bearbeiten. Immer wieder erscheinen seine Eurydiken in seinem kleinen Haus, das Britta Lammers auf die Bühne gebaut hat: ein Modellhaus für Jedermann, denn jeder stirbt und jeder leidet bekanntlich für sich allein.

„Amor toujours“ - so heißt in dieser gelungenen und an entscheidenden Stellen frag-würdigen Inszenierung der Gott der Liebe, der von Yvonne Prentki lyrisch schön, manchmal etwas leise gesungen wird. Die Liebe aber ist mehr als eine französische Zigarettenmarke, auch wenn die Regie es zunächst mit einem ironischen Verweis auf die französische „amour“ zu behaupten scheint.

Was bleibt, ist der insgesamt gelungene Versuch, die Liebe und deren Verlust mit den Mitteln von Theater und Tanz und einer von den Hofer Symphonikern unter Roman David Rothenaicher nuanciert und vital gespielten Partitur in einer musikdramatischen Fallstudie zu erfassen. Der Versuch ist geglückt, auch wenn nicht jede der acht Vorstellungen so gut besucht war wie die Premiere und die letzte Aufführung – denn für das Hofer Publikum ist eine Oper aus dem Jahre 1762, die nicht (mehr) zum Kernrepertoire zählt und noch nie (!) in Hof gespielt wurde, eher absonderlich. Umso schöner, dass man der Inszenierung und den Sängern, nicht zuletzt dem voll im Einsatz stehenden guten kleinen Opernchor, den verdienten Beifall zollte: sozusagen in Liebe zum genau und liebevoll gemachten Musiktheater und seinen nach wie vor unabgegoltenen Inhalten und Fragen.

 

Frank Piontek, 10.12. 2019

Fotos: © Harald Dietz Fotografie

 

 

 

 

Hans Gefors

SCHATTENSPIELE

Peter Maxwell Davies

DER LEUCHTTURM

Premiere am  16. März 2019

 

Lassen Sie uns erst einmal ein paar Gedanken über Angst machen und versuchen wir dabei ehrlich zu sein. Keine Angst, es dringt nichts nach draußen, wir unterhalten uns ja auch nur virtuell. Wir alle haben diese Ängste, oft unbegründet, vor Spinnen, vor Schlangen, vor dem dunklen Keller. Und dann gibt es diese eine Angst, die uns wirklich bedroht, die Angst vor Kontrollverlust…

Schattenspiele


Ein Gelehrter bezieht sein Zimmer in Italien. Auf dem Balkon entdeckt er eine faszinierende Dame, die Poesie. Und er entdeckt seinen eigenen Schatten neben ihr. Zunächst spielt er mit seinem Schatten, aber als der Schatten sich selbstständig macht und nicht mehr zurückkehrt übermannt ihn ein Angstgefühl. Er reist zurück nach Dänemark.
Eine Prinzessin langweilt sich dort und beschließt aus einer Laune heraus zu heiraten. Der Schatten kehrt zu seinem „Erzeuger“ zurück. Dieser bittet ihn von seiner Zeit mit der Poesie zu berichten. Der Schatten willigt ein, aber nur unter der Bedingung, dass er einst sein Schatten war. Beide sind zu einem Empfang bei der Prinzessin eingeladen. Der Schatten zeigt sich als Mann von Welt, ja er bringt den Gelehrten dazu, sich selbst als seinen Schatten zu bezeichnen. Immer mehr gerät der Gelehrte in die Rolle des Untergebenen. Der Schatten verweigert ihm das Du, duzt den Gelehrten aber selbst. Nachdem der Schatten seine Hochzeit mit der Prinzessin verkündet, reißt dem Gelehrten der Geduldsfaden, es kommt zum Eklat mit tragischem Ausgang.

 


Hans Gefors schrieb seine Oper 2005 anlässlich des 200. Geburtstages von Hans Christian Andersen. Dessen Märchen „Der Schatten“ trägt viele autobiografische Züge. So verweigerte ein Freund Andersens ihm das vertraute Du, auch seine lebenslange Suche nach, stets unerwiderter Liebe, schwingt in diesem Märchen mit. Hans Gefors stellt der tragischen Handlung eine leichte, fast schon frivole Musik gegenüber. Anklänge an den Impressionismus‘ Debussys und Ravels sind ebenso gegenwärtig wie spätromantische Klänge. Annette Mahlendorfs Ausstattung, zwei weiße Podeste im Vordergrund, ein weiteres schwarzes in der Tiefe der Bühne, reichen aus, um die unterschiedlichen Handlungsorte zu visualisieren.

Karsten Jesgarz ist der Gelehrte, ein Gutmensch, wie er im Buche steht. Sein Grundsatz „Ein guter Mensch macht die Welt schön, eine schöne Welt macht die Menschen gut“ wird zur Basis seines Untergangs. Durch das Ausblenden, ja das Leugnen des Bösen, kann sich sein Schatten erst vermenschlichen, die Macht über ihn an sich reißen. James Tolksdorf gibt den Bösen, charmant und gefällig. Der Teufel singt die schönsten Lieder, so gewinnt er das Herz der Poesie, Stefanie Rhaue, wie immer stimmlich überzeugend, hier statuarisch im Kostüm der Kalliope geführt, ist das Gegenteil der quirligen, naiven und sehr wohlgenährten Prinzessin. Inga Lisa Lehr scheut sich nicht diesem Prinzesschen Leben einzuhauchen, auch wenn diese Figur insgesamt unsympathisch bleibt.

 

 


Regisseur Uwe Drechsel hat ein Ensemble, und mit dem Bassisten
Rainer Mesecke als Hans Christian Andersen in einer Sprechrolle, zur Verfügung, das neben hervorragenden Stimmen auch über das darstellerische Können verfügt, um dieses schwierige Sujet glaubhaft auf die Bühne bringen kann.
Last, but not least,

Ewelina Kukushkinas Choreografie mit Mitgliedern des Jungen Theater Hofs, Angélique Kittel und Noah Amann, trägt auch in nicht geringem Maße zum Erfolg der Oper bei.

 


Der Leuchtturm


Dezember 1900, Eilan Mòr, Äußere Hybriden. Das Versorgungsschiff Hesperos landet auf der Insel um den Leuchtturm mit Alltagsgütern und einer Ablösung zu versorgen. Sie finden den Leuchtturm in einem gepflegten Zustand und intaktem Leuchtfeuer vor. Allein von der dreiköpfigen Besatzung fehlt jede Spur. Eine spätere Untersuchung in Edinburgh schließt den Vorfall folgender Maßen ab. „Nach sorgfältiger Untersuchung (…) wird als wahrscheinlichste Ursache für das Verschwinden der die Männer angenommen, dass sie sich am Nachmittag des 15. Dezember alle in unmittelbarer Nähe des westlichen Entladestelle begeben haben und dass dann eine unerwartet hohe Sturmwelle über die Insel gekommen und eine gewaltige Wassermasse sie mit unwiderstehlicher Gewalt hinweggespült hat.“ Einer der Leuchtturmwärter vermerkte in seinem Tagebuch, dass die See nach einem Sturm wieder ruhig sei, auch andere Seeleute berichten, dass es zu dieser Zeit keinen kein Sturm gegeben hätte. Bis heute gibt es keine plausible Erklärung für das Verschwinden der Leuchtturmwärter.

Die Musik für die zweite „Horroroper“ dieses Doppelabends unterscheidet sich eklatant. Peter Maxwell Davies schrieb einen Soundtrack der jeder Stephen King Verfilmung zur Ehre genügen würde. Drei Marineoffiziere stehen vor Gericht und müssen sich erklären und verteidigen. Ihre Aussagen sind widersprüchlich und ihre nüchternen Schilderungen weichen phantastischen Vorstellungen des Bösen.
Soweit die Rahmenhandlung, der eigentliche Horror entsteht allerdings im Inneren des Leuchtturms. Hier schuf Annette Mahlendorf eine knapp fünf Quadratmeter große Plattform, der Lebensraum der drei Leuchtturmwärter. Die drei unterschiedlichen Charaktere und die klaustrophobische Enge erzeugen Spannungen untereinander. Um diesen Konflikt zu mildern, sollen Liedergesungen werden. Und damit beginnt der Schrecken Gestalt anzunehmen. Diese Lieder unterstreichen zu Beginn stets den offensichtlichen Charakter der Figur, offenbaren dann aber das wahre Wesen. Blaze, James Tolksdorf, beginnt mit einem Folksong über einem Kriminellen, Sandy, Minseok Kim, eine zarte Liebesromanze und Arthur, Rainer Mesecke, einen frommen Choral. Aber alle diese Lieder bringen die verdrängte Vergangenheit des Einzelnen an die Oberfläche. Blaze ermordete eine Frau um sie auszurauben. Diese Tat schob er seinem Vater unter, der daraufhin gehängt wurde. Sandy verging sich an einem kleinen Mädchen und brachte einen Zeugen, einen kleinen Jungen, um. Arthur offenbart seine falsche Religiosität in der er seinem Fanatismus freie Bahn lässt. Diese verborgenen Aspekte der Persönlichkeit manifestieren sich in den Bestien, die sie aus dem Meer aufsteigen sehen.
War in den Schattenspielen durch sehr geschickte Beleuchtung kein realer Schatten auf der Bühne zu sehen, wurden im Leuchtturm bewusst produzierte Schattenbilder zu einem Sinnbild für die Bedrohung der hauchdünnen Folie, die wir so gerne Zivilisation nennen.
Uwe Drechsel ist ein Regisseur, der mit allen Wassern gewaschen ist. Ihm gelingt es, zusammen mit seinem, auch im zweiten Teil des Abends mehr als überzeugendem, Ensemble verborgene Ängste zu visualisieren, den Zuschauer in den Strudel der Schrecken hineinzuziehen.
Der Abend endete unter großen Beifall für alle Beteiligten und lieferte wieder einmal den Beweis, dass moderne Klassik durchaus publikumstauglich ist.

 

Alexander Hauer20.3.2019

Bilder von H. Dietz Fotografie, Hof

 

 

 

DER NUSSKNACKER

Premiere: 26.1.2019

 

Für Tänzer bietet er wenig, für die Kunst absolut nichts und für das künstlerische Schicksal unseres Balletts einen Schritt weiter abwärts. So der Fachmann, der sich anlässlich der Uraufführung des „Nussknackers“ im Jahre 1892 in der St. Petersburger Gazette äußerte. Tatsächlich führt dieses der drei Meisterballette Peter Tschaikowskys nach wie vor die Statistik an. Kein Wunder: Auf die Frage, wieso die Hofer Zuschauer dieses Ballett besuchen sollten, sagte die Choreographin Barbara Buser: wegen der tollen Musik – und ihrer tollen Tänzer.

Die Choreographin und Chefin der Hofer Compagnie aber zeigt auch, dass es gerade mit diesem scheinbar so schlichten Stoff möglich ist, der Erzählung E. T. A. Hoffmanns vom Nussknacker und vom Mäusekönig neue – und sinnvolle – Varianten abzugewinnen. Der Stoff scheint unausschöpfbar, wie es nicht nur der in jedem Sinne fantastische Film vom „Nussknacker und den vier Reichen“ zeigt, den ein beglücktes Publikum im Winter in den Kinos sehen konnte: https://www.youtube.com/watch?v=k7BYHumPAuc. Hier war die Zuckerfee die „Böse“, deren gruselige Nussknackerarmee mit der Hilfe der Mäuse von Clara selbst bekämpft werden musste. In der grandiosen Nürnberger Aufführung stand, in der Inszenierung Goyo Monteros, eine ungezogene Clara auf der Bühne, die von ihrem Mentor, dem „Paten“ Drosselmeier, zu einem mitfühlenden und liebenden Individuum erzogen wurde: um den Preis von Drosselmeiers Kraft und Leben. In Hof ist Clara eine Waise, die sich im Traum ihre Mutter imaginiert: als gute Zuckerfee. Dies ist schon ein guter Coup der Aufführung, aber wenn man am Ende des Divertissements nicht nur Clara mit dem „Nussknacker“, also ihrem Traumprinzen, sondern auch die Mutter/Zuckerfee in einem doppelten Pas de deux mit Drosselmeier tanzen sieht, begreift man auch, wieso kein Vater auf dem Besetzungszettel steht: weil der „Pate“ (mindestens) ihr guter Traumvater ist – denn ihr Stiefvater (!) Stahlbaum ist, wenn auch nicht bösartig, so doch zu streng, um wirklich die Stelle des scheinbar abwesenden Vaters einnehmen zu können.

Doch hat sie mit Drosselmeier einen liebevollen Ersatz gefunden, der sich zwar als Puppendoktor – wie nur ein echter Psychologe – um den vom brutalen Bruder verletzten Nussknacker kümmert, aber ihr inmitten einer Familie, in der nur die Stiefmutter warmherzig ist, das Traumbild der verstorbenen Mutter nicht ersetzen kann. Dazu bedarf es der nächtlichen Fantasie – und wenn ihr am Ende der gute „Onkel“ seinen Neffen vorstellt, der zufällig wie der Traumprinz aussieht, vermischen sich, ganz wie in der Ästhetik E. T. A. Hoffmanns, Traum und Wirklichkeit auf ununterscheidbare Weise. Eine gute, eine schöne, eine liebevolle Idee: so wie das Opfer, das der von den Mäusen getötete Nussknacker für Clara bringen MUSS, um würdig zu sein, von Drosselmeier wieder zum Leben erweckt zu werden.

 

Dabei verzichtet das Theater Hof - ohne die die Geschichte, die sich Marius Petipa und Lew Iwanow damals auf der literarischen Grundlage ausdachten, je so radikal auszudeuten wie beispielsweise Goyo Montero - weder auf die eigene Interpretation noch auf das Divertissement, das zunächst als reine Showrevue verstanden wurde. In Hof beteiligt sich Clara mehr oder weniger stark an den einzelnen Nummern, verkriecht sich auch vorsichtig hinter einer von Drosselmeier herbeigezogenen, riesigen Kaffeetasse, wenn eine schöne Frau den Arabischen Tanz in derselben beginnt. Am Ende herrscht das pure Massenglück des finalen Grand Valse, in dem die Compagnie ein einziges schwingendes Bild kreiert. So verbünden sich zeitloser Konservatismus und erstklassiges Hand-, besser: Fußwerk: im anderen, dem Blumenwalzer, diesem herrlichsten Traum aller Tschaikowsky-Maniacs, gliedert die Choreographin die Gruppen, um das Paar, also Clara und den „Nussknacker“, nur an ausgewählten Stellen Raum zu geben. Gut so! Denn die Choreographin interessiert sich mehr für Details als fürs Pauschale, auch wenn sie in jenen Szene, in denen sie das gesamte Ensemble einsetzt, schöne bewegte Tableaus inszeniert.

 

Das Ensemble muss mit 14 fleissigen Tänzern auskommen, nur Clara, der Nussknacker und Drosselmeier bleiben Solisten. Riho Otsu tanzt eine mädchenhaft-naive junge Dame, Norbert Lukaszewski ist ein eleganter Prinz in blütenreinem Weiss, und Lukas Corrêa ist nicht nur dann gut, wenn das Pantomimische seiner Hauptrolle das Tänzerische dominiert. Die Mutter ist Elisa Insalata, die die unübersehbaren klassischen Schritte und Drehungen als Zuckerfee lupenrein exekutiert. Diese Choreographie kann, vor einem bürgerlichen Publikum, nicht den Anspruch haben, die Gattung neu zu erfinden, auch wenn es, bezogen auf die Stadt Hof und ihres spezifischen Publikums, „für das künstlerische Schicksal unseres Balletts“ einen Markstein darstellt, an den man sich vermutlich noch länger erinnern wird. Denn so viel liebevolle Erzählung, Charme und Grazie, klassizistische Heiterkeit und Poesie müssen einfach gewürdigt werden.

Dazu trägt auch das Bühnenbild Annette Mahlendorfs bei.Die Zeit ist in ihm das wichtigste Element, wenn die Lichter beim Auftritt der Schneekönigin herabtropfen, wenn sich die Rädchen der Uhr im Video drehen (einer Arbeit von Kristoffer Keudel). Die Uhr ist unübersehbar, wenn der Zauber beginnt – und mit dem mütterlichen Geschenk einer Uhr an Clara, die sich erinnert, beginnt der Abend über die Zeit und die Diskrepanz, die zwischen der zärtlichen Erinnerung, der Sehnsucht nach Geborgenheit und der Gegenwart liegt, die nur durch den Traum befriedigt werden kann.

Dies auch, weil die Hofer Symphoniker – wie immer, wenn sie unter ihrem Direktor Walter E. Gugerbauer spielen – schlichtweg brillant sind. „Für die Kunst absolut nichts“? Wenn Tschaikowsky derart nuanciert, mit den richtigen Tempi und mit dem vollkommenen Sinn für dramatische Höhepunkte und ebenso große Emotionen gespielt wird, während die Tänzer eine interessante Geschichte nicht spektakulär, aber interessant erzählen: dann ist das Glück des Ballettomanen vollkommen.

 

Frank Piontek, 27.1.2019

Fotos: © H. Dietz Fotografie.

 

 

VIKTORIA UND IHR HUSAR

Premiere: 15.12.2018.

Besuchte Vorstellung: 27.1.2019

 

Seltsam – oder auch nicht: Im Theater Hof sieht der Rezensent von seinem Dienstplatz aus den bekannten Silbersee, der – von einigen wenigen jungen Damen abgesehen – nur von etlichen künstlichen Farbstellen akzentuiert wird. Dabei war die Operette von ihren Anfängen bis tief ins 20. Jahrhundert eine Gattung, die man(n) und wohl auch frau nicht anders als „extrem sexy“ bezeichnet hätte. Man(n) muss zwar nicht mit dem Operettenkenner und -aficionado Kevin Clarke der Meinung sein, dass alles, aber auch wirklich alles in der Operette Sex ist, aber wenn man sich ein Stück wie „Viktoria und ihr Husar“ in einer guten Aufführung anschaut, merkt man, wie vital dieses Genre bis zu jenem Zeitpunkt war, als die Nazis das Regime auch über die Schauspiel- und Operettenhäuser übernahmen. Denn erst mit ihnen und den Bearbeitungen, die die Meisterwerke im Film (wofür die 1954er-Fassung der „Viktoria“ ein besonders gutes, weil schlechtes Beispiel ist), in den Rundfunkanstalten und auf den Bühnen der Wirtschaftswunderjahre erfuhren, konsolidierte sich die Sicht auf die Operette: Sie sei doch eher was für Opas und Omas. Dabei schauen sich gerade Opas besonders gern die Beine jener jungen Damen an, die wieder über die Bühnen tanzen – und wer das Titelbild des Programmhefts zu „Viktoria und ihr Husar“ anschaut, erblickt eine fesche Pilotin in Leder. Opas Operette? „Unterhaltung findet ausschließlich in der Gegenwart statt“, heißt es im Programmheft. Die Musik aber klingt umso frischer, je originaler man sie spielt: im Sound der „Roaring Twenties“.

Als vor 15 Jahren mit der „Blume von Hawai“, also der zweiten der drei Meisteroperetten Paul Abrahams, eine besonders grässliche, daher leider auch unvergessliche Inszenierung eines Paul-Abraham-Stücks auf die Hofer Bühne kam, geriet der Abend so falsch und öde, dass sich im jugendlichen (ähäm…) Rezensenten der Eindruck bildete, dass diese Stücke heute zurecht kaum noch gespielt werden. Inzwischen haben spannende Inszenierungen der Werke, deren Musik – wie die des „Ball von Savoy“, der erst vor acht Tagen eine gute Premiere in Nürnberg erlebte - von Henning Hagedorn und Matthias Grimminger „bühnenpraktisch rekonstruiert“ wurde, gezeigt, dass Abraham ein erstklassiger Repräsentant der Operette der späten 20er Jahre war: mit allen Eigenheiten, die ihn zugleich zu einem modernen wie stilistisch gebrochenen Komponisten machen. Man wird einer „Viktoria“ eben nicht gerecht, wenn man sie mit einer „Fledermaus“ oder einer „Lustigen Witwe“, nicht einmal dann, wenn man sie mit einem fast gleichzeitig komponierten „Land des Lächelns“ oder einer „Frau, die weiß, was sie will“ vergleicht. Abrahams (erfolgreiches) Prinzip lief darauf hinaus, das Beste aus verschiedenen Richtungen zu kompilieren: schluchzenden Geigenton, Wiener Walzersentiment, Fox-Nervosität, Blödsinnsverse der 20er und das, was man damals unter „Jazz“ verstand: synkopierte Rhythmen, Saxophone, drei Klaviere im Orchester, wahlweise einen kräftigen Schuss Exotismus, wie er in den 20ern en vogue war, nicht zuletzt – in der „Viktoria“ - gehörig viel Anti-Bolschewismus. Ja, „Viktoria und ihr Husar“ ist eine aktuelle Zeit-Operette gewesen. Sie wirkt heute noch: weniger durch manch sexuellen Witz, der in Zeiten der Me-too-Debatte abgestanden ist (und der in der Inszenierung unkommentiert und meist auch unbelacht stehen blieb) als durch die Melodien, die tatsächlich (und auch das war in der damaligen Hofer „Blume von Hawai“ nicht zu hören) brillant instrumentiert wurden. Sie hat auch dort ihre Berechtigung, wo manch Operettenführer darauf hinweist, dass das Thema des Stücks – eine Frau zwischen zwei Männern, ein Mann, der um seine Geliebte kämpft – völlig unwichtig und trivial sei. Zugegeben: „Auch das steife Fräulein Logik / ist nicht immer eingeladen“, wie einer der beiden deutschen Librettisten, Alfred Grünwald, in seinem bekannten Gedicht zur Uraufführung des „Ball im Savoy“ schrieb, aber wieso sollte eine Dreierbeziehung uninteressant sein? Verhielte es sich so, dürfte man mindestens die Hälfte aller Meisteropern nur noch musikalisch reflektieren – und den Regisseuren wäre es lediglich aufgegeben, mehr oder weniger schöne szenische Arrangements herzustellen.

 

In Hof inszeniert man, mit den Mitteln des vergleichsweise „kleinen“ Hauses, eine optisch eher zurückhaltende Ausstattungsoperette, in der in jedem Akt ein großes Symbol den Bühnenbau ausmacht: in Sibirien, wo Rittmeister Koltay und sein (natürlich komischer) Diener in Gefangenschaft sitzen, der Sternenhimmel der Liebessehnsucht, in Japan, wo John Cunlight und seine Frau ein schönes Botschafterpaar abgeben, eine abstrahierte Kirschblüte, im sowjetischen Petrograd, wo die Protagonisten inzwischen hinverschlagen wurden, eine zerspellter Stern, in Ungarn, wo man sich schließlich wieder lebend und endlich glücklich wiederfindet, eine Riesenpaprika, auf der der besoffene und notgeile Bürgermeister sitzen kann, weil der obere Teil abgeschnitten wurde und leicht provokant auf der Bühne herumsteht. Die Aufführung funktioniert jedoch nicht aufgrund der Bilder. Sie glückt deshalb, weil der Regisseur

Tobias Materna den Konflikt, der so typisch ist für die großen Abraham-Operetten, Ernst genommen hat – ohne freilich ein Kammerspiel à la Konwitschny zu inszenieren.

 

Er hat „nur“ mit Karsten Jesgarz einen John Cunlight zur Verfügung, dem man den noblen Menschen und Grandseigneur abnimmt, der sich überwindet, als er die Ehefrau dem ehemaligem Geliebten in einem Akt der Entsagung überlässt. Das erste Walzerduett, zusammen mit dem Sopranglück Inga Lisa Lehr - „Pardon, Madame, ich bin verliebt“, das hat den eleganten Rhythmus des „Toujours l'amour“ aus dem „Ball in Savoy“ - gerät schon zu einem der Höhepunkte der Aufführung. Wenn am Ende des zweiten Akts, im sog. „tragischen Finale“, „Reich mir noch einmal zum Abschied die Hände“ gesungen und dann, wie in einer Erinnerung, noch einmal vom einsamen Ehemann gebracht wird, wobei der Operettenfreund an die „Mädis vom Chantant“ denken kann, die im Munde des zurückbleibenden Fery Basci unendlich traurig klingen – wenn am Ende des Akts also das berühmte Duett gesungen wird, zieht, man spürt das, Bewegung durchs Publikum. Ist das nur „Kitsch“, wie es der strenge Werkartikelschreiber in Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters dekretiert? Wer „Kitsch“ in der Operette kritisiert, sollte zuhause bleiben und „Die Kunst der Fuge“ studieren.

 

Vorher war bereits Russland; das Geigensolo, der Zigeunerschmelz, die Kantilene des Tenors

Minseok Kim, im Elend der finsteren Landschaft, durch die sich der Chor operettendepressiv, aber auf eigene Weise einheimelnd, durcharbeitet, ist vor dem Sternenhimmel so beeindruckend wie die Traumerscheinung der Geliebten in jener ungarischen Nationaltracht, die sie über zwei Stunden später wieder tragen wird: als Hochzeiterin des „Richtigen“.

 

Was wäre die Operette ohne die Komiker? Die Operette funktioniert, so einfach ist das, aufgrund ihrer Besetzung. Markus Gruber und Marina Medvedeva sind als Janczy und Riquette, die falsche französische und doch so richtige ungarische Kammerzofe Marika, schlicht und einfach - phänomenal. Das Timing der Beiden ist perfekt, ihr Zusammenspiel funktioniert wunderbar, und selbst die plumpsten Zutraulichkeiten, die man 1932 lustig fand, werden mit Nonchalance über die Bühne gebracht. Gleichermaßen witzig: die Beziehung des Europäers Ferry Hegedüs, also des Bruders der Titelheldin, zur Japanerin O Lia San. Thilo Andersson und Laura Louisa Lietzmann werfen sich in ihre 20er-Jahre-Schlager, in denen sich „Mama“ auf „Yokohama“ reimt, dass es kracht (und lacht). „Mausi, süß warst du heute nacht“: nicht nur Frischverliebte dürften diesen denn doch nicht ganz sinnfreien Kokolores goutiert haben. Wie gesagt: Die Operette an sich ist sexy. Dafür stehen nicht allein die Kleiderausschnitte, die Lorena Ayleen Díaz Stephens und Jan Hendrik Neidert auf Frau Lehrs Leib geschneidert haben. Die wichtigste Nebenrolle aber ist eine Hauptrolle, weil Christian Seidel als Butler „James“ gefühlte zwei Stunden auf der Bühne steht und, wie im Nebenbei, Gegenstände auffängt, die millimeter- und sekundengenau über die Bühne fliegen. Komik ist Timing, sonst nichts. Auch bei ihm, wie beim grandiosen Gruber-Medvedeva-Paar, konnten wir es erleben.

Gleichfalls viel zu tun hat der gute Opernchor, der unter der Leitung von Roman David Rothenaicher in die verschiedensten Kostüme springt, schön blöd und vielleicht ein bisschen zu klischiert, aber gut japanisch über die Bühne trippelt, bei „Reich mir zum Abschied“ in einen sehr sehr langsamen Walzer gerät und sich am Ende noch ins touristenaffine Ungarnkostüm zu schmeißen hat – elegante Tänze, choreographiert von Barbara Buser, inbegriffen. Und wie spielt nun das Orchester der Hofer Symphoniker unter Daniel Spaw? Wer sich den Film von 1931, mit der schönen Friedel Schuster als Viktoria vergegenwärtigt, den man glücklicherweise auf Youtube anschauen kann - https://www.youtube.com/watch?v=dXe8ab4x_8g -, bekommt eine Ahnung davon, wie die Partitur damals geklungen haben muss. Die Hofer klingen natürlich bedeutend weniger scheppernd, doch nicht unidiomatischer. Zwischen Zigeunerschmelz und Japangong, Foxtrottblech und Walzergeigen, „Ungarland!“ und Mausisex ist viel Platz - auch in Hof. Nur schade, dass die vorgeschriebene Verdunkelung des Orchestergrabens in der Überleitung zwischen dem Sibirien-Vorspiel und dem Japan-Bild nicht realisiert wurde. Es wäre optisch so schön gewesen wie es klang: überraschend.

 

Frank Piontek, 28.1.2019

Fotos: ©H. Dietz Fotografie

 

 

 

HÖLLISCH MODERNE MILLIE

Premiere: 26.10.2018

Besuchte Vorstellung: 7.12.2018

TRAILER

Laut Clive Hirschhorns Standardwerk „The Hollywood Musical“ („1344 Films described and illustrated“) von 1981 war es das „beste Musical von 1967“, als solches „an irresistible mixture of brashness, charm and nostalgia put together with expertise“: „Thoroughly Modern Millie“. 1967 konnte man die unvergleichliche Julie Andrews im Kino erleben. Die Story um das Flapper Girl (wie dieser Typ von City Girl in den 20ern hieß) Millie Dillmount war damals schon etwas älter. Schon 1956 hatte es das Musical Chrysanthemum im UK gegeben, in dem ein zunächst junges Mädchen in der Großstadt andockt, um sich einen reichen Chef zu angeln – dass sie ihn am Ende auch bekommt, obwohl sie inzwischen begriffen hat, dass es immer nur um „die Liebe“, „die Liebe“ und – drittens - „die Liebe“ gehen sollte, steht auf einem anderen Märchenpapier, auf dem die Geschichte eben so endet, wie sie enden muss: mit einem Happy End. Die Produzenten von 1967 engagierten nun den Komponisten Jimmy Van Heusen und seinen Texter Sammy Cahn; das Team hatte bereits die Songs zu Hitchcocks Meisterwerk „Das Fenster zum Hof“ und zu „Sieben gegen Chicago“ geschrieben. Sie mischten fröhlich neue Songs mit alten Standards aus den 10ern und 20ern zusammen, um für die Handlung, die im New York des Jahres 1922 spielt, die richtige „Couleur locale“ zu schaffen. Von Heusen & Cahn stammten „nur“ der Auftrittssong der Heldin und „The Tapioca“, aus der Kiste des alten New York kamen beispielsweise „Jazz Baby" von M.K. Jerome und Blanche Merrill, „Ah! Sweet Mystery of Life“ aus „Naughty Marietta“ von Victor Herbert und Rida Johnson Young und andere moderne Klassiker. Zusätzliche Musik kam übrigens von Elmer Bernstein, der dafür seinen einzigen Academy Award erhielt, obwohl er auch den unverwechselbar idiomatischen Soundtrack zu den „Magnificent Seven“ geschrieben hatte. Das Ganze wurde schließlich von einem weitere Komponisten arrangiert und dirigiert, der weit über den Broadway hinaus bekannt wurde: André Previn.

Seltsamerweise kam man erst 33 Jahre später auf die glorreiche Idee, aus dem Film- ein Bühnenmusical zu machen. Nun setzte sich Jeanine Tesori, die neben vielem anderen die Filmmusik zu Shrek the Third und zwei uraufgeführte Opern schrieb (2011 kam „A Blizzard on Marblehead Neck“ heraus, 2013 im Kennedy Center „The Lion, The Unicorn, and Me“) mit Dick Scanlan zusammen, die nach dem „book“ von Richard Morris und Dick Scanlan eine Bühnen-„Show“ machten. Diesmal wurde die Musik von Doug Besterman und Ralph Burns orchestriert. Wer immer die Instrumentation einer im Klaviersatz vorliegenden Komposition für unwesentlicher hält als die Vorlage, sollte wissen, dass erst die Instrumentation die Komposition macht. Es ist schließlich ein gewaltiger Unterschied, ob ein Blechblasensemble röhrt oder eine Streichergruppe säuselt – auch die Instrumentation, die Tesoris Opus erfuhr, ist wirklich prachtvoll: differenziert, farbig, einfallsreich.

Die Version, die 2002 am Marquis Theatre, also in der 46th Street uraufgeführt wurde, 903 Vorstellungen erlebte und nicht weniger als sechs Tonys gewann (u.a. den des „Best Musical“), zeichnet sich dadurch aus, dass wiederum elf neue Songs hinzukamen. Nicht nur dies: Ballettfreunde werden mit einer „Nuttycracker Suite“ beglückt, die in einer „Flüsterkneipe“ gespielt wird. Eine brillante und witzige Hommage an Tschaikowsky, ganz im Stil der charlestonseligen Roaring Twenties. Dass es dem Hofer Orchester unter Michael Falk hörbar Spaß macht, den hinreißend quirligen „score“ zu spielen, gehört zu den vielen schönen Eigenheiten des kurzweiligen Abends, mit dem Millie aus Kansas nun endlich auf eine deutsche Bühne kam.

Julia Leinweber ist das perfekte Flapper Girl. Mag sein, dass sich die Regie Stephan Brauers, der auch die Choreographie erstellte, weniger von der Uraufführungsproduktion unterscheidet, als es im Opernbereich üblich ist; man kann sich auf Youtube übrigens einen illegalen wie verwackelten Mitschnitt der Broadway-Produktion anschauen. Im von Annette Mahlendorf gestalteten, Ambiente „im Stil des Art Déco mit Wow-Effekt“, wie sie sagte, erweist sich Julia Leinweber als vollkommenes Mädel vom Land, das den New Yorker Crash-Kurs glänzend besteht. Der Typ, den sie zunächst anrempelt, und in dem sie sich gattungsgemäß zu verlieben hat, bevor sie nach den ebenso gattungstypischen Verwirrungen am Ende zu ihm kommt, dieser Typ trägt den auffallenden Namen Jimmy Smith. In Hof wird der gut aussehende junge Mann von Jannik Harneit gemimt: gerade an der Staatsoperette Dresden im Engagement steht. Ein Gewinn auch für die Hofer. Stefanie Rhaue spielt die immerhin mit einer grandiosen Solonummer und gewichtigen Spielszenen gesegnete Partie der „Mrs. Meers“, die falsche, mit reichlich Selbstironie und theatralischer Grausamkeit ausgestattete Chinesin, die Chefin eines Mädchenhändlerrings, der von Ching Ho (Markus Gruber) und Bun Foo (Thilo Andersson) accompagniert wird: zwei liebenswürdigen Chinesen, die unschuldigerweise in die Klauen der Verbrecherin geraten sind. Gruber und Andersson machen das köstlich, singen und sprechen übrigens bis kurz vor Schluss fast ausschließlich chinesisch (oder das, was es sein soll), während die falsche chinesische Schlange meist vergeblich versucht, die Waisen ihres Hotels mit allerlei Mitteln zu betäuben.

Der kleine Schlussgag kommt gut: da taucht während des Applauses plötzlich die Mutter der Beiden aus dem Zuschauerraum auf, die von den beiden Jungs rührend empfangen wird. Cornelia Löhr ist wieder einmal brillant hoch zwei: als Vorzimmerdrache und Büroschrapnell Miss Flannery stelzt sie nicht nur mit ihrer rollenden Schreibmaschine gravitätisch über die Bühne; auch sie ist ein vitaler Teil der höchst vitalen Choreographien, die diesmal in unglaublich agiler Weise vom Chor mitgetanzt werden. Respekt fürs Ensemble unter der Leitung Roman David Rothenaichers, das sich dem „Dance Captain“ Harneit und dem Regisseur derart lustvoll hingab. Riesenbeifall für die Nummern, die dazu führend, dass diese technisch und komödiantisch exzellente Produktion auch in Nürnberg und München Furore machen würde. Birgit Reutter spielt die blondgelockte Millionärstochter Dorothy Brown, die sich zunächst in den Boss Trevor Graydon zu verlieben scheint, doch bleibt es am Ende beim ersten Chinesenbruder, der die Lady aus höchster Gefahr retten will, statt sie dem internationalen Mädchenhandel auszuliefern.

Graydon: das ist der erzkomische wie rasant parlierend-singende Christian Venzke, der in einer schier atemberaubenden Diktatnummer (es gibt nur ums Affentempo) zeigen darf, was musikalische Komik auf den Spuren Rossinis, Lortzings, Liszts (dessen 2. Ungarische Rhapsodie zitiert wird) und Gilbert & Sullivans noch heute zu heißen vermag.

Nicht zuletzt Julia Harneit aber zeigt als Muzzy van Hossmere, der Star der Stars, wie sich der Stil der 20er mit denen einer bigbandveredelten Gegenwart vermengen kann. Die Frau hat einfach Aura – und eine starke, voluminöse Stimme. Applaus also nicht allein auf der Bühne des Cotton Clubs. Nicht zuletzt komplettieren das Ensemble die drei „kleinen“ Damen, die man aus dem Chor auslieh: Bärbel Kubicek, Malgorzata Kusmierz und Anett Tsoungui dürfen solistisch glänzen; sie machen das im üblichen, aber guten, leicht überdrehten Stil.

Nicht überdreht, sondern immer im richtigen Timing, manchmal laut, doch nie zu laut, brillant akkompagnierend und sich rasant in die hervorragende Partitur stürzend: das sind die Hofer Symphoniker, quasi die akustische Entsprechung zur „THE ARTS Company“, einer neu gegründeten Tanzschule der preisgekrönten Soul City Dancers, die innerhalb der Choreographien auch Stepptanz-Einlagen aufs Parkett bringen. Schließlich ringen nicht allein Julia Leinweber und Birgit Reutter den Fahrstuhl zum Laufen, wenn sie in den sechsten Stock fahren müssen, hinter dessen Türen die entzückenden Ladies wohnen, die uns an diesem Abend neben den männlichen Mitgliedern des Ensembles beglücken. Was bleiben wird? Sicher das Schreibmaschinen-Ballett, sicher die wilde Nussknacker-Party, vielleicht die Anspielungen auf die Tell-Ouvertüre und die anderen Opernklassiker, möglicherweise der schöne Sound, der entstand, als sich ein Liebesduett plötzlich in ein -quartett verwandelte, gewiss auch die Erinnerung an rasante und ästhetisch anspruchsvolle, bewegte Gruppenbilder – und an ein Mädel vom Land, das die New Yorker bzw. Hofer Bühne mit Charme und Rasanz gerockt hat.

 

Frank Piontek, 8.12.1018

Fotos: © H. Dietz Fotografie, Hof

 


RIGOLETTO

besuchte Vorstellung am 22. September 2018, Premiere

 

Die Eröffnungspremiere ist immer eine besondere Angelegenheit. In Hof setzte man dieses Jahr auf bewährtes aus der Feder Giuseppe Verdis. Man gab Rigoletto, jenes Drama um einen Vater und seine Tochter. Lothar Krause verlegte das Renaissancestück ins faschistische Mussolini Italien.

Im, mit gediegenem Biedermeiermöbelmobiliar gefüllten, Bühnenbild tummelt sich der Abschaum der Macht. Liebling des Herzogs ist Rigoletto. Gezeichnet an Körper und Seele, im Gesicht durch ein Bristoler Lächeln markiert, wird er zum Vertrauten des Herzogs, zum Regisseur dessen makabren Spielen. Erfolg erzeugt Neider, und so trachten die Höflinge des Herzogs nach seinem Glück

Rigoletto führt ein Doppelleben. Auf der einen Seite der makabre Spaßmacher des Herzogs, auf der anderen Seite ein liebender, übervorsichtiger Vater. Zusammen mit seiner Tochter Gilda musste er nach Mantua fliehen, wir erfahren nie die Gründe weshalb. Gilda wird in einem goldenen Käfig gefangen darf nur zur Kirche gehen hat keinerlei sonstige sozialen Kontakte. Mehr...

Musikalische auf höchstem Niveau spielen die Hofer Symphoniker unter Walter Gugerbauer, der sein Orchester stets transparent und niemals die Sänger überlagernd musizieren lässt. Minseok Kim ist ein sehr jugendlicher, erfolgsverwöhnter Herzog, der seine Bande nach seiner Pfeife tanzen lässt. Sein Tenor erfüllt alle Erwartungen an diese Rolle. Anton Keremidtchievs hell tembrierter Bariton entspricht nicht den üblichen Rigoletto Klischees, lässt aber durch feine Nuancen die verschiedensten Seelenzustände des Hofnarren deutlich erkennen. Die eigentliche Entdeckung des Abends ist aber Lubov Skrebets. Die junge Sängerin meistert die schwierige Partie der Gilda, als ob sie ihr Leben lang nichts anderes gesungen hätten. Ihre Koloraturen sind ein Fest für die Ohren, ihr natürliches Spiel, ein junges Mädchen an der Schwelle zum Erwachsenwerden, ein Fest für die Augen.

Rainer Mesecke gibt seinem Sparafucile durchaus sympathische Züge. Seinen Bass setzt er genauso souverän ein, wie der Killer seine Klinge. Stefanie Rhaue ist als Haushälterin Giovanna genauso überzeugend wie als Hure Maddalena. Ihre Stimme zieht alle Register ihres Fachs.

Auch die Nebenrollen kann das Theater Hof erstklassig besetzen. Egal ob es der Borsa Markus Grubers ist oder Thilo Anderssons Marullo, Igor Storozhenkos Graf von Monterone oder Daniel Milos Ceprano, sie alle schaffen es in ihren kleinen Rollen Zeichen zu setzen.

Annette Mahlendorfs Bühnenbild, ein klaustrophobischer Trichter, der in die Abgründe, in die Düsternis der Seelen führt, ist für die ganze Oper gültig. Einzige Veränderung für die jeweiligen Schauplätze ist das Mobiliar, vom Biedermeier der Mafiazentrale über das Metallbett Gildas, bis hin zum einfachen Holztisch bei Sparafucile.

Lothar Krause erfindet Verdis Rigoletto nicht neu, aber durch seine kluge Personenführung, die Tatsache, dass er jeder Figur eine eigene Geschichte gibt und dadurch eine vielschichtige Persönlichkeit, unterscheidet sich diese Rigoletto von der üblichen Durchschnittsware. Mittelpunkt seiner Inszenierung ist weder Rigoletto, noch der Herzog, Krause stellt Gilda in den Fokus.

Ihr Schicksal, ihr Weg in den Tod wird als konsequente Folge von Ereignissen dargestellt. Im Finale, wenn Gilda von den Toten erwacht, erlaubt er sich etwas Versöhnlichkeit. Mit viel Bühnennebel und verheißendem blauen Licht gestattet er dem Mädchen den Schritt in ein besseres Leben, auch wenn es kein diesseitiges ist.

Der Premierenabend endete für alle Beteiligten unter frenetischem Applaus und Standing Ovations.

Alexander Hauer 18.10.20128

Bilder von H. Dietz Fotografie, Hof

 

 

 

HOSSA! - DIE HITPARADE

Premiere: 23.11.2017. Besuchte Vorstellung: 31.3.2018

Je origineller, desto kopierter

Man kann ja als Musikkritiker, Theaterbesucher und Kunstfreund Einiges für den praktizierenden Musikphilosophen Theodor W. Adorno sagen, aber in Einem hatte er unrecht: Schlager sind wirklich wunderbar. Vor allem deutsche Schlager der 70er und 80er Jahre. Denn was wir damals, als wir gerade Richard Strauss oder Frank Zappa entdeckten, hörten und belächelten, ist heute schlicht und einfach KULT!

Das Theater Hof, bekanntlich dem Wahren, Guten & Schönen verpflichtet, hat's erkannt. Vermutlich war es eine klassische Schnapsidee, geboren bei einem gemeinsamen Ansingen diverser alter Schlager („Kennste den noch?“) in Peter Kampschultes KULTURKANTINE, der den regieführenden Intendanten Reinhardt Friese und den musikalischen Leiter Michael Falk dazu animierten, eine echte olle Hitparade im Stil der Dieter-Thomas-Heck-Shows auf die Bühne zu bringen.

 

Vielleicht haben sie auch geahnt, dass der Schlussapplaus der Hitparade länger ist als der gesamte aller Vorstellungen von, na sagen wir: einer Produktion wie der „Usher“-Oper von Philip Glass. Ist schon okay – denn am Abend geht’s RICHTIG ab. Will sagen: Es macht wirklich Spaß, an diesem Abend zum Publikum zu gehören, mitzujohlen, mitzuklatschen, zu schunkeln und zu singen. Kein Wunder, dass diese Produktion, konkret: die 8. Vorstellung seit der Premiere, ein paar Fans hat, die offensichtlich jedes Mal ins Haus kommen und „ihren“ Stars am Bühnenrand Rosen überreichen. Aber überreichen sie sie Rex Gildo oder Oliver Hildebrandt ? Verteilt Udo Jürgens die Küsschen oder Karsten Jesgarz ? Springt Nena über die Bühne oder Julia Leinweber ? Kreischt Nina Hagen ihr Farbfilm-Lied oder Anja Stange ? Bekommt Howard Carpendale die Liebe seiner weiblichen Fans geschenkt oder

Dominique Bals

 

Schon schnell stellt sich das Gefühl ein, dass es im besten Sinne egal ist, ja: dass – nicht nur dank der erstklassigen Maske (Günther Schoberth) und dem Kostüm (Annette Mahlendorf) – eine bemerkenswerte Metamorphose einsetzt, die es buchstäblich egal macht, ob wir Markus oder Jörn Bregenzer über die Bühne springen sehen.

 

Was hier am Abend passiert, ist im wahrsten Sinn des Wortes phänomenal. Die wunderschöne Paradoxie besteht darin, dass wir natürlich wissen, dass die wunderbare Susanne Mucha die wunderbare Marianne Rosenberg mimt, wenn sie gestengleich, kostümlich identisch und stimmlich stark angenähert „Er gehört zu mir“ singt. Aber da sie es so singt und da sie annähernd so aussieht wie Marianne Rosenberg in der Show von anno 1975, und da man alle Stars dieses Abends dank Youtube mit ihren Vorbildern vergleichen kann, stellt man nachträglich fest, dass die Hofer Show umso origineller ist, desto kopierter sie angelegt wurde. Gerade weil Ralf Hocke den Tony Marshall mit seinem grotesken gelbschwarzen Babyanzug und -gesicht (mit spitzem Monsterkragen!) 1:1 bringt, hat man seinen Spaß. Gerade weil Marina Schmitz als langhaariges trauriges Gitarrenmädchen das Lied von Conny Kramer so schlicht singt wie die Juliane Werding von Anno dazumal und auf jegliche Variation verzichtet wird, merkt man etwas Echtes in diesem eigentümlichen Musiktheaterabend – und man merkt, wie gut die Schlager der 70er und 80er Jahre doch eigentlich waren. Denn wo gibt’s heute noch einen Drafi Deutscher, der wie Andreas Bühring das Lied von der ewigen Liebe singt? Wo gibt es etwas so offenkundig Blödes und doch irgendwie Originelles wie Stephan Remmlers „Da Da Da“, das von einem knochentrockenen Marco Stickel angestimmt wird? Wo gibt es noch so schönen deutschen Country wie Truck Stops „Take it easy“, das von Volker Ringe , zusammen mit der Band des Abends (

Michael Falk, Harry Tröger, Oliver Schmidt und Ralf Wunschelmeier), so cool wie gemütlich geschrammelt wird?

 

Übrigens: Dschingis Khan (Cornelia Löhr, Birgit Reuter, Florian Bänsch, Witali Damer und Peter Kampschulte) hat bisher, natürlich mit „Moskau“, bei allen Vorstellungen nach der Stimmzettelauszählung für die Wahl zu „Hossa!“ den Sieg errungen. Es mag ungerecht gegenüber allen anderen Sängern sein – aber sie sind schon sehr, sehr mitreißend. Nicht nur im tollen Schnelldurchlauf durch alle 13 Songs. Auch während der dritten Zugabenwiederholung.

Und besser als das Original.

Frank Piontek, 1.4.2018

Fotos: © H. Dietz Fotografie, Hof.

 

 

 

 

SERGEJ PROKOFJEW

BARBARA BUSER: ROMEO UND JULIA

Premiere: 26.1.2018. Besuchte Vorstellung: 4.3.2018

 

Es fällt auf: Zwischen dem Durchschnittsalter der Besucher und dem der beiden Titelhelden besteht eine unübersehbare Diskrepanz. Nur die wenigsten Zuschauer kommen in die Nähe der Jugend, über die Romeo und Julia nun schon seit mehreren Jahrhunderten verfügen.

Denn „it works“, wie man in England, wo der Mythos zu seinem Höhepunkt kam, sagen würde. Die Großväter- und -müttergeneration delektiert sich mit guten Gründen an der Ballettproduktion der Choreographin Barbara Buser und ihrer Compagnie. Kanako Ishiko und Lukas Corrêa, Julia und Romeo, so heißen die beiden Stars, die am Himmel der Liebe grandios aufleuchten, bevor sich in der Nacht der Gruft erlöschen.

Doch beginnt der Abend nicht mit den Beiden; die Frau in Rot, die sich da am Anfang in Schmerzen windet, ist nicht, wie der Zuschauer vermuten könnte, die junge Dame, sondern ihre beste Freundin, vulgo: die Amme. Barbara Buser lässt das Spiel nicht mit dem Getändel auf der morgendlichen Straße in einem hübschen Verona, sondern in einem finsteren Raum beginnen: die Katastrophe ist schon passiert. Später werden wir den Beginn dieser Szene noch einmal sehen und begreifen: es ist die Freundin, die davon ausgehen muss, dass ihre beste Freundin gerade gestorben ist. Und so beginnt der Abend bereits im leitmotivischen Tragödienton des „Befehls der Herzogs“, der zu Beginn des 4. Akts die letzte Richtung angeben wird.

Derart erweist sich die Freiheit, die sich die Choreographin zusammen mit dem Dirigenten Daniel Spaw, der die Hofer Symphoniker deliziös durch den Abend leitet, gegenüber der um etwa 20 Minuten gekürzten Vorlage Sergej Prokofiews nehmen durfte. Busers Interpretation ist durchaus eigenständig. Hier sind es nicht die verfeindeten Gruppen, die die Katastrophe auslösen, sondern zwei Individuen. Duncan W. Sauls Mercutio und Ali San Uzers Tybalt, dies sind die Streithähne, die das an sich freundliche Miteinander der blauen und roten Clans tangieren, die sich in der Trauer über die beiden Ermordeten doch einig zu sein scheinen. Und wenn Mercutio und ein Kumpel zusammen mit der Amme, wunderbar intensiv getanzt von Elisa Insalata, bei der Briefübergabe einen komischen Pas de trois hinlegen, ahnt man, wie die Geschichte auch ausgehen könnte. Verkehrte Welt…

Und wie tanzt man nun in diesem Nachtstück, das im Raum Annette Mahlendorfs nur gelegentlich von hellen Zonen aufgelichtet wird? Man tanzt elegant, man berührt sich, küsst sich gar, man tanzt auf Spitze und pantomimisch, man tanzt in einem lockeren Sinne modern und weiß sich doch der Tradition des russischen Balletts verpflichtet. Buser entwirft immer wieder die Gruppenbilder einer klassischen, auch dekorativen Compagnie und arbeitet das Individuelle der Solisten liebevoll heraus. Kanako Ishikos Julia ist ausgesprochen jugendlich, ja naiv, ihr Romeo Lukas Corrêa scheint ein wenig reifer, und dies nicht nur, weil er seine Geliebte in der, wie gesagt, elegant durchchoreographierten Balkonszene – dem lyrischen Höhepunkt der Partitur – vom Boden bis in die Höhe transferieren muss. Im Übrigen geht Zärtlichkeit, tiefe tiefe Zärtlichkeit, über die nötige und bewiesene Sportivität. Der Rest ist nicht Schweigen. Der Rest sind rote Blätter, die auf die beiden toten Liebenden herabfallen.

Und starker Beifall.

Frank Piontek, 5.3.2018

Fotos: ©H. Dietz Fotografie Hof (die Fotos zeigen nicht die erwähnten Tänzer).

 

 

 

DIE GROSSHERZOGIN VON GEROLSTEIN

Premiere: 22.12.2017

Besuchte Aufführung am 27.12.2017

Offenbachs Opéra-bouffe (nein, es ist keine „Operette“, auch wenn sie im Programmheft in diese Gattungsschublade gesteckt wird) „Die Großherzogin von Gerolstein“ war 1867 ungeheuer erfolgreich. Uraufgeführt während der Pariser Weltausstellung, besuchten höchste Häupter die komische Oper, um sich auf ihre eigenen Kosten zu amüsieren. Im Theater Hof kommt das Werk weniger gut an. Dies hat Gründe, die in der Mentalität der Hofer Operettenfreunde, aber auch in der Aufführung selbst liegen. Die Hofer schätzen einfach nicht die großartigen Werke des Franzosen; sie mögen Strauss und Lehár lieben, aber mit dem satirischen Witz Jacques Offenbachs und seiner kongenialen Librettisten können sie leider nur wenig anfangen. Vielleicht hätte die „Großherzogin“ bessere Chancen am Ort, wenn man nicht nur die Musik, auch die Texte gut verstehen würde.

An diesem Abend aber werden nicht einmal alle Dialoge verstanden – zumal dann, wenn Minseok Kim als Fritz auf der Bühne steht. Schade – denn der Tenor besitzt eine warme, ausdrucks- und sicher ausbaufähige Stimme. Man ahnt es, wenn er sich einmal traut, forsch herauszusingen. Vermutlich ist es auch diese Zurückhaltung, die keine rechte Stimmung beim Publikum aufkommen lässt, obwohl eine Bravournummer wie der Bericht der „Heldentaten“ des zum General emporernannten Günstlings der Titelfigur sehr gut über die Rampe kommt. Kein Grund zum Einschlafen – hier hat nur der Regisseur Ansgar Weigner das Ensemble, übrigens mit einer bewusst grotesken Vorhangregie, vor der Pause in den temporären Tiefschlaf geschickt. Das ist, angesichts der typisch Offenbachschen Wiederholungen, fein und witzig beobachtet. Überhaupt zeichnet sich die Inszenierung durch enorme Pfiffigkeit aus; Weigner hat aus den Chargen am Hof der Großherzogin köstlich aufgeblasene Karikaturen gemacht: ganz im Geist der Satire von Anno 1867. Honoré Daumier und seine Zeichnungen lassen schön grüßen. Und die Hofer Symphoniker spielen unter GMD Walter E. Gugenbauer einen sehr gut einstudierten Offenbach, der in der Abstimmung zwischen Bühne und Graben, Musikern und Solisten, Tutti und Chorensemble nicht wackelt. Und die Solotrompete klingt einfach hervorragend. Auf den Pulten der Hofer Symphoniker liegt übrigens die Fassung des Werks, die der Offenbach-Experte Jean-Christophe Keck erstellt hat. Leider wurde sie gekürzt; kein Carillon, nirgends – aber die 2,5 Stunden zeigen uns das Wesentliche des Stücks.

Die Hauptsache des Abends aber bleibt die Titelfigur. Stefanie Rhaue spielt und singt – immer kraftvoll, immer mit vollem Schwung - die selbstsüchtige und „frivole“ Dame eben als solche: bisweilen mit mehr als dem Blick aufs Gemächt. Ja, „wie liebe ich die Soldaten“… Die berühmte Auftrittsnummer zündet auch in Hof, wenn auch leider nicht bei allen Zuschauern. Unbeirrt von der trockenen Stimmung im Saal zieht die Rhaue, ein echtes „Theaterross“, die Vorstellung mit ihren Kollegen durch. Laura Louisa Lietzmann ist eine erfrischende Wanda, deren Stimme – darin der ihres Freundes Fritz vergleichbar – ausbaufähig ist, zumindest an Geschmeidigkeit noch ein wenig hinzugewinnen müsste. Den General Bumm macht Rainer Mesecke, Thilo Andersson den dank Gesichts- und Körperkomik unglaublich witzigen Prinz Paul: eine Mischung aus Otto Walkes und der singenden Föhnwelle Dieter Thomas Kuhn, die sich so deutlich durchs Stück chargiert, dass es nur so kracht. Gut so! Denn Offenbachs Opéra-bouffes kommt man nicht durch Dezenz, sondern durch eine mehr oder weniger brutale Parodie bei, die das Stück, das 1867 en detail ganz anders verstanden wurde als heute, mit gelungenen Anspielungen auf die Gegenwart in unsere bundesdeutsche Gegenwart zu bringen vermag.

Karsten Jesgarz ist ein dicker, nein: ein sehr dicker, geradezu aufgeblasener Baron Puck; zusammen mit seinen beiden Verschwörergenossen tanzen sie nach der Pfeife der Choreographin Barbara Buser und des regieführenden Kollegen Weigner ein hübsches Verschwörerterzett. Apropos Parodie: Es ist wohl kein Zufall, dass Baron Grog, der Oberst im Dienst des Kurfürsten von Klapsburg-Höhekollern (hier gespielt von Christian Seidel) wie Barbies Ken aussieht, obwohl die Großherzogin alles andere als ein Püppchen ist, oder halt: zunächst tritt sie, wie später Hoffmanns tote Puppe Olympia, mit einer Aufziehmechanik über dem Hinterteil auf. In dem Moment aber, in dem sie gleichsam „böse“ wird und sich fragt, was das eigene Leben wohl im Sinne eines autonomen „Ich“ bedeutet, zieht sie sich den Schlüssel aus dem Rücken und wandelt fortan als „richtige“ Frau über die Bühne.

 

Denn das, was wir drei Akte lang in den Kinderzimmerbildern Kristopher Kempfs sehen, soll die Wunschvorstellung eines jungen Mädchens sein, das schwere Probleme mit der „Neuen“ ihres Vaters hat und sich mit Fritz und der störenden Wanda eine Alternativversion des Lebens ersinnt, in der der geliebte Papa doch eigentlich lieber mit der Großherzogin – also einer Erinnerung an die Mutter – glücklich werden sollte. Sämtliche Irritationen, die Fritz erfährt, gehen demgemäß auf das Konto der im Traum regieführenden Tochter, doch sympathisch ist's, dass ihre Macht offensichtlich begrenzt ist. Sonst wäre die Inszenierung nicht mehr als ein ödes Exerzieren psychoanalytischer Wunschgespinste. So aber hat sie nicht nur Komik, auch Poesie: schön etwa die Szene, in der die Tochter und ihre Mutter (also die Großherzogin) am Rand der Bühne sitzen und den solistisch agierenden

Frauen des Chors, die auf ihre Männer warten, seltsame Liebesbriefe durch die imaginäre Rohrpost schicken, auf dass sie den geschniegelten Chorpüppchen vom Himmel vor die Füße fallen. Die Soldaten selbst sehen aus wie Nussknacker, E. T. A. Hoffmann ist auch hier nicht fern, und man weiss ja, welche Untiefen die Fantasien von Hoffmanns Claras aufweisen. Der Säbel des Urahns, dieses ach so wichtige Symbol der Kraft und Stärke Gerolsteins, ist ein Riesenstreichholz, das zuletzt abgefackelt wird; mit dem mehrdeutigen Symbolismus kann der Opernfreund gut leben. Und wenn sich im Finale wieder die Kleinfamilie zusammenfindet und die tote Mutter in Gestalt der gespenstisch beleuchteten Titelheldin zu einem bürgerlichen Standbild gruppiert, begreift man, dass die Idee der Inszenierung das Stück selbst zwar wenig erklärt – denn dafür würde der Einsatz der  Sängerdarsteller in der „einfachen“ Handlung schon reichen-, aber auch nicht stört. Der Rahmen passt schon, denn die lyrischen Melodien der Ouvertüre, die nicht weniger für offenbachisch sind als die komischen Passagen, legitimieren schon das Unternehmen.

 

Schon Offenbach und seine Librettisten Meilhac und Halévy haben gewusst, dass die seinerzeit im Jahre 1720 angesiedelte Geschichte weit mehr ist als eine witzige Historie aus irgendeiner Vergangenheit. Die Figur der durchaus nicht „netten“, doch frechen und schlagfertigen Großherzogin aus dem offensichtlich unbeendbaren Zeitalter Napoleons III. im analytischen Stil eines fröhlichen Surrealismus genauer zu untersuchen, ohne auf das einzig Wichtige - den Witz und den Charme der Offenbachschen Muse – zu verzichten: dies ist der Inszenierung und ihren musikalischen Interpreten kurzweilig und bildschön gelungen.

Zumindest bei mir klingen die Rhythmen der Großherzogin jedenfalls noch deutlich nach.

Frank Piontek, 29.12. 2017

Fotos: ©H. Dietz Fotografie

 

 

 

HÄNSEL UND GRETEL

Premiere: 11.3. 2016. Besuchte Aufführung: 25.12. 2017

Am Heiligen Abend lief wieder einmal ein Musicalfilm im Glotzophon, der nicht als ideologiekritischer Beitrag zum Weihnachtsfest, also dem Fest der Liebe und der Kinder, konzipiert wurde, aber dank seiner auch nach Jahrzehnten noch tief bewegenden Botschaft und seiner unglaublich guten Musik glatt als solcher durchgehen könnte: „Mary Poppins“. Gleich danach wurde übrigens ein weiteres, sehr schönes, wenn auch nicht ganz so vollkommenes Meisterstück des US-Amerikanischen Musiktheaters gebracht (denn wer und was ist schon so vollkommen wie Mary Poppins?): „The Sound of Music“. Witzigerweise spielt in beiden Filmen die wunderbare Juli Andrews die Hauptrolle, und beide Male spielt sie, was für sein seltsamer Zufall, eine Erzieherin namens Mary/Maria, die es mit einer liebenswürdigen Rasselbande von Kindern zu tun hat.

Was hat dies alles mit „Hänsel und Gretel“ zu tun, das nun im Theater Hof in einer einer einzigen Wiederaufnahmevorstellung über die Weihnachtsbühne ging?

Ganz einfach: Immer, wenn der Bayreuther Rezensent sich eine Hofer Opernvorstellung anschaut, in der Stephanie Rhaue mitspielt, -singt, -mimt und höchst lebendig -agiert, muss er an Pamela L. Travers Erfindung des viktorianischen Kindermädchens denken, das bis heute die kleinen und die großen Musicalfreunde beglückt. Wie schön wäre es, wenn Frau Rhaue einmal die Traumrolle der Mary Poppins spielen würde, aber da unsere Intendanten offensichtlich der Meinung sind, dass die Darstellerin der Mary Poppins selbst dann ein bestimmtes Alter nicht überschritten haben darf, wenn sie (vermutlich) die Rolle höchst überzeugend spielen würde, können wir uns Stefanie Rhaues Mary Poppins leider nur vorstellen. In Humperdincks „Kinderoper“, die eigentlich keine ist, spielt Stephanie Rhaue seit dem 11. März 2016 nicht die Gute, sondern die Böse: nämlich die Hexe Rosine Leckermaul. Doch halt: Sie spielt auch die Mutter, die nur deshalb die Kinder zur Minna macht, weil sie von der sog. Sozialen Situation schlicht und einfach überfordert ist.

Der Vater ein Alkoholiker, die Mutter, warum auch immer (es wird nicht so recht klar, obwohl das Bild natürlich deutbar ist), blind, die zankenden Gören die authentischen Mitglieder des „Prekariats“: so mag man auf des Besenbinders Bagage schauen. Dass Frau Rhaue nun zugleich die Mutter und die Hexe spielt, wirft weniger ein Licht auf die Nöte der Besetzungspolitik an einem sog. Kleinen Haus. Es sagt uns auch etwas über die geheimnisvollen Wege, auf denen die unvollkommene Erziehung und die kindliche Angst, die edukatorisch überforderte Mutter und die Dämonin zusammenkommen. Tatsache aber ist, dass es in Hinrich Horstkottes schöner Inszenierung weniger um diese interessanten psychologischen Zusammenhänge als um etwas ganz Anderes geht: um den Nachweis, dass Humperdincks Oper von Wagner herkommt und „Hänsel und Gretel“ als Oper über die Wagneroper verstanden werden kann. Denn das Hexenhaus ist das Festspielhaus, im Haus des Besenbinders und seiner blinden Frau legt die ins Schwarz der späten Wagner-Ära gekleidete Frau (warum eigentlich? Sie ist doch blind) die Wagner-Noten aufs Pult des Harmoniums, und die Engel der Traumpantomime kommen als künstlerisches und nichtkünstlerisches Personal eben des Festspielhauses auf die Bühne, bevor die Lebkuchenkinder (also der liebliche Kinderchor des Jean-Paul-Gymnasiums neben dem Chor des Theaters Hof) wie in einem fröhlichen Wagner-Karneval als Elsa und Wotan, Walter und Elisabeth die Bühne beleben. Nein, die Traumpantomime hat auf mich diesmal keinen Eindruck gemacht; die Musik wirkte leider bei mir an diesem Nachmittag überhaupt nicht, weil, so mein Eindruck, Humperdincks musikalisch ungeheuer emotionale Traumpantomime nicht in dieser rational eindeutigen, wenn auch mit Flügelchen versehenen Figuren aus der trivialen Theaterwirklichkeit bevölkert werden kann, ohne an Zauber zu verlieren. Diese Szene verlangt Wunder, Glanz, Märchenstimmung. Sie benötigt dafür keinen Flitter und keine geflügelten Wesen. Sie muss jedoch, wie auch immer, tief ins Herz gehen, indem etwas „Anderes“ gezeigt wird. Hier aber ward's nicht Ereignis. Hier hatten wir es mit einer bloßen Idee zu tun, die ins an sich nicht dumme, für die sog. Kenner erstellte „Konzept“ der Inszenierung gut hineinpasste, mehr aber auch nicht.

Es ist schade, weil Hinrich Horstkotte doch ein Mann ist, der mit großer Sensibilität für die Musik, für die Figuren und die Probleme der Handlung zu inszenieren pflegt. Ich konnte bisher drei Inszenierungen Horstkottes sehen, die zugleich ästhetisch schön und sinnlich, teilweise sehr berührend, nicht zuletzt intelligent waren: Carl Heinrich Grauns „Orfeo“ beim Festival „Bayreuther Barock“, Baldassare Galuppis komische Oper „Le nozze di Dorina“ in Potsdam und Gounods „Faust“ in Dessau. Auch „Hänsel und Gretel“ würde ich, abgesehen von der Traumpantomime, die mich leider kalt ließ, weil sie mir zu sehr mit dem Kopf als dem Herzen inszeniert schien, zu den guten „Hänsel und Gretel“-Inszenierungen rechnen: einer Inszenierung freilich, die im räumlichen Umkreis Bayreuths besser funktioniert als vielleicht in Annaberg-Buchholz, wo man zwar ein gutes Theater zu stehen hat, aber Wagner doch sehr weit entfernt ist. Es ist dies kein Gegenargument, denn das Taumännchen, das nur als Beispiel, als goldglitternden Franz Liszt zu inszenieren, der als Sopran (!) am Flügel sitzt, welcher schon in die rechte Seitengasse gleiten will, wenn er oder es, das Männchen, noch auf dem Klavierhocker sitzt: diese Anspielung auf Wagners Schwiegervater ist zwar nicht mehr als ein netter Witz, aber er erfreut das Kind durchs bloße Bild und bringt auch den erwachsenen Zuschauer, der den Liszt zu erkennen vermaag, zum Lächeln (Szenenapplaus!). Und wenn das Knusperhäuschen sich als überdimensionales Festspielhaus zeigt, kapieren wohl auch die aus Bayreuth angereisten Kinder intuitiv, dass diese Oper irgend etwas mit Wagner zu tun zu haben scheint. Dafür müssen sie nicht einmal erkennen, dass die Hexe zunächst ein Barett trägt und dann als blondzöpfige, brustbepanzerte Walküre über die Bühne fegt.

Dem Musikfreund ist das alles kein Rätsel, weil Humperdincks doch höchst originelle Partitur vor Wagner-Tönen, -stimmungen und mehr oder weniger bewussten Mikrozitaten, bis hin zum „Tristan“ (das Lamento der Mutter) und einigen „Parsifal“-Spänen, nur so wimmelt. Die Anspielungen der Inszenierung folgen also der musikalischen Schicht, ohne doch zu einer völlig logischen Deutung zu gelangen. Macht nichts: Eine Operninszenierung, schon gar die Inszenierung eines Märchenstücks, ist keine musikhistorische Dissertation, sondern ein Angebot der Fantasie an die Fantasie. Sie wird in Hof auch durch die von Horstkotte selbst entworfenen Bilder und Kostüme weniger beflügelt als bestätigt. Im finsteren Wald, durch den der Nebel mächtig wabert und die schlafenden Kinder überwölbt, in dem das wirklich gruselige Quartett der Lebkuchenmännchen deutlich untot herumläuft und das Sandmännchen wie aus einem klassischen, freilich mit einem Klavier und einer köstlichen Katze ausgestatteten Kinderbuch erscheint, lässt sich's wohlig schaudern und schlafen.

Die Hauptsache sind und bleiben die Kinder: Inga Lisa Lehr ist eine sehr weibliche Gretel, weil sie in den herrlichen lyrischen Spitzenpunkten ihrer Partie alles andere als kindlich auftritt. Wie gesagt: „Hänsel und Gretel“ ist keine „Kinderoper“, sondern ein anspruchsvolles Musiktheaterstück für reife Sängerinnen und Sänger. Lehr ist eine Sängerin, die längst über die Soubrettenqualitäten früherer Partien hinausgewachsen ist und die Gretel höchst ohrenschmeichelnd gestaltet. Ihr zur Seite steht der gute Hänsel der Patrizia Häusermann, die, wie seine Partnerin, ebenso beherzt singt – und sich realistisch zankt. Den Papa macht der metiersichere Wieland Satter, die beiden Männchen, auf schönem Niveau, die jugendliche, sichere und sandmännchenmäßig stark bebartete Chorsolistin Dong-Joo Kim. Übernahm Satter die Rolle für James Tolksdorf, so der Dirigent Michael Falk den Taktstock für Roland Vieweg. Wer an diesem Abend bei den Hofer Symphonikern einen kapitalen Aussetzer in den Streichern und, mit Eidechsenohren, ein paar Schludrigkeiten bemerkte, muss wissen, dass diese separate, schon fürs jugendliche Publikum verdienstvolle Weihnachts- und Nachmittagsaufführung nur ungenügend, nämlich vor einigen Wochen einmal und kurz vor der Aufführung mit einer einzigen BO zu wenig geprobt werden konnte.

Ein „normales“ Opernhaus ist bekanntlich kein Märchenwald, sondern (auch) ein Wirtschaftsunternehmen. Man wundert sich nur manchmal, was unter nicht gerade idealen Bedingungen an akustisch und szenisch bewegender Theaterkunst herauskommt: so wie meist an diesem Nachmittag, an dem Mary Pop – pardon: die Hexe als witzige Walküre und blinde Mutter zwei wunderbare, weil schlicht und einfach klasse gespielte und deutlich gesungene Auftritte hatte.

Frank Piontek, 27.12. 2017

Fotos: © H. Dietz Fotografie

 

 

Zum Zweiten

DER FLIEGENDE HOLLÄNDER

Premiere: 22.9. 2017.

Besuchte Vorstellung 21.10. 2017

 

Eine schöne junge Frau liegt auf der Bühne. Ein weißes, luftiges Sommerkleid, lange braune Haare. Ein Schiffsmodell auf dem Boden, ein Globus, Seemannskisten. Es stürmt gewaltig, sie erwacht, sie erhebt sich. Oben, zu weit oben, hängt ein Porträtgemälde, einen bleichen Mann zeigend, das sie nicht anlangen kann. Plötzlich fällt das Bild herunter. Die Frau gerät in Panik. Sie zieht sich in die letzte Ecke zurück, das Bild an der anderen, weit entfernt, abstellend, doch sichtbar genug. Den Raum kann sie nicht verlassen, doch auch das gespenstische Bild nicht fliehen. Sie flüchtet. Schließlich gibt sie auf. Sie kehrt schließlich zum Bild zurück. Es gehört ihr. Die Oper hat bereits begonnen.

Träumt Senta den Traum vom Erlöser, dem Fliegenden Holländer? Blütenweiß gekleidet, also wie der Engel, von dem der Schwarze Mann seit 1000 Jahren träumt, hat Senta eine Idee. Wie wäre es, von einem außergewöhnlichen Anderen aus der gewöhnlichen Bürgerwelt herausgeholt, also „erlöst“ zu werden? Träumt sie? Stellt sie sich die Geschichte, die wir als Geschichte vom Fliegenden Holländer kennen, sehr bewusst vor?

Die Idee, Senta träumen zu lassen, ist bekanntlich nicht neu. Die eindrücklichste Version dieser Neuinterpretation der Oper hat Harry Kupfer 1978 in Bayreuth vorgelegt: eine theatralisch ungemein drastische, doch auch fragwürdige Inszenierung, die seinerzeit den wie stets reflektierenden Friedrich Dieckmann zur Erkenntnis brachte, dass mit einer solchen Lesart eine Einheit von Realität und Fiktion behauptet wird, die vom Werk nicht gedeckt wird. Kupfers Rechnung sei nicht aufgegangen, weil sie die musikalische und dramatische Unmittelbarkeit des Werks angetastet habe: „Eine Einheit der Handlung herstellend, beschädigt sie dessen poetische Naivität.“ Aber hat nicht schon 1929 Ernst Bloch in seinem „Holländer“-Essay zurecht behauptet, dass „das erste gefühlte Merkmal der guten Stube“, aus der auch der junge Wagner floh, der Traum sei?

Tatsächlich geht nicht jede Szene der Inszenierung Reinhardt Frieses auf, weil die seltsam neutrale, fast ausschließlich beobachtende Position der Schauspiel-Senta (Susanne Mucha) für die Handlung, die uns auf der Hofer Bühne vorgeführt wird, völlig unergiebig ist und die träumende/imaginierende Frau zwischendurch auch mal von der Bühne abgeht. Selten genug, dass sie selbst Anteil hat am Geschehen: doch schön ist's, weil poetisch, wenn sie zusammen mit der Bühnen-Senta, der sie immerhin nahe kommt, den Rahmen des Gemäldes des imaginären wie wirklichen Schwarzen Mannes berührt. Man sieht das Dilemma dieser ernsthaften Interpretation des frühen Wagnerschen Erlösungstheaters: Mit den heutigen Ideen weiblicher Emanzipation konfrontiert, zerschellt das Bühnenschiff an den Klippen einer Bühnenlogik, die weder ganz Traum noch ganz Wirklichkeit ist. Am deutlichsten wird dieses Dilemma im Finale: 1. sehen wir eine Senta-Attrappe von irgendeiner Höhe stürzen, 2. geht die Schauspiel-Senta von der Bühne ab und 3. bleibt die Opern-Senta auf der Szene. Dass hier die Traumhandlung beendet wird und die „reale“, nun wirklich von allen Phantasien emanzipierte Senta die imaginierte Handlung abbricht, weil ihr die Erlösungsmanie des Holländers definitiv zu weit geht: man ahnt es, aber man sieht es kaum. Drei Schlüsse aber sind so gut wie keiner. Dass angesichts von Wagners historischer Position in Sachen Frauenbewegung Fragen offen bleiben müssen, ist logisch, aber inszenatorisch nicht ganz so stark wie geplant. Man merkt's auch an den Reaktionen und Nachgesprächen des Publikums. Tiefe Bewegung bleibt leider aus.

Und wo die Bürger schon – und auch diese Idee hat Kupfer schon ins Sentaspiel gebracht – Gespenster sind, machen die „echten“ keinen Sinn mehr – abgesehen davon, dass neben der Silhouette des Dalandschiffs der Schemen des Gespensterschiffs im Nebel des Grauens niemanden zu erschrecken vermag. Seltsam zweideutig bleibt die vorletzte Szene: die Zylinderträger mit ihren schwarzen Feströcken mögen mit den geschulterten Raben und deren glühenden Augen schön und gruselig aussehen – die Frage bleibt, zu welcher Sphäre sie eigentlich gehören. Aber vielleicht war dies ja auch eine gute Idee: wo die bürgerliche Gesellschaft dem vom Ausbruch träumenden Mädchen gespenstisch erscheint, weil die Subjekte dieser wie am kapitalistischen Schnürchen funktionierenden Gesellschaft marionettenhaft und uniform sind, gibt es keine realen Gespenster mehr. Denn sie sind und waren immer schon da.

Und trotzdem: man muss insgesamt nicht meckern noch mäkeln. Denn was ist schließlich wichtiger als irgendein „Konzept“ (vorausgesetzt, es erschlägt nicht die akustische Schicht)? Die musikalische Umsetzung. Dem Theater Hof ist nach dem „Rheingold“ von Anno 2005 endlich wieder ein Wagner-Abend geglückt, der der Vitalität des Hauses die besten Noten ausstellt. James Tolksdorf ist ein äußerst prägnanter Holländer, dessen artikulatorisch klarer Bariton so gut die Verzweiflungstöne des Monologs wie den Singspielton der Daland-Szenen draufhat (und man bedauert es von Neuem, dass Wagner neben seinen 13 Großwerken niemals eine echte Spieloper komponiert hat). Tolksdorf präsentiert einen sehr realen Holländer, keine Imagination einer stumm dastehenden Senta. Im Ambiente des Gruselbiedermeiers, das von der Kostümbildnerin Annette Mahlendorf und der Maske (Günther Schoberth) plastisch gemodelt wurde, ist er nicht der Gespenstischste. Artikulatorisch klar ist auch die Senta der Tanja Christine Kuhn - der einzigen Protagonistin, die nicht ein Gespensterweiß aufgelegt hat. Kuhn spielt nicht, diese erstklassige Künstlerin ist die Senta: bis zum letzten, dramatischen Ausbruch, dem die Regie misstraut. So geht die Wirkung ein wenig verloren, obwohl Tanja Christine Kuhn mit niemals nachlassender Klarheit und interpretatorischer Stärke an Ausdruck und Volumen ein höchst spannendes Charakterporträt einer durchaus nicht hysterischen Außenseiterin vorlegt. Ihre Ballade ist eben deshalb nicht nur grandios, weil T.C. Kuhn „schön“ singt (was ja auch schon einiges ist). Das vielleicht allzu bekannte Zugstück, die „große Nummer“, ist deswegen so bewegend, weil die Sängerin jedes Wort so nachvollzieht und ins Unmittelbare bringt, als erlebte sie gerade die Erzählung mit allen Sinnen.

Daneben steht der Erik des Alexander Geller: eine erstaunliche, kräftige wie lyrische Stimme, eine Gestaltung ersten Ranges, die den anderen Außenseiter innerhalb der maritimen Gesellschaft zur dritten, tragischen Hauptfigur macht – er ist es ja, inmitten der Dreiergeschichte, schon von der dramaturgischen Anlage her. Nur sieht und hört man es selten so deutlich wie in dieser Aufführung. Er und Tanja Christine Kuhn müssen niemals forcieren, um ihre existentiell bedrückenden Anliegen herauszubringen. Mit einem Wort: mit den drei Protagonisten gewinnt der Abend eine Kraft, angesichts derer mögliche Überlegungen zur modernen Deutung des Stücks fast unwesentlich werden.

Und der Daland? Er ist nicht schlecht, Rainer Mesecke singt ihn mit deutlicher Artikulation, aber im Vergleich zu den Bühnenpartnern klingt sein Bassbariton zu leichtgewichtig. Minseok Kim singt den Steuermann sehr, sehr gut, Stefanie Rhaue ist eine prägnant deklamierende Mary, die das Heer der 10 Spinnerinnen befehligt. Leider stehen sie jeweils hinter kleinen, nur den Kopf sichtbar machenden Fensteröffnungen, die akustisch ungünstig sind. Umso besser sieht man die vier von Barbara Buser choreographierten Damen von der Balletcompagnie (im Festbild des dritten Akts dann noch fünf weiße Robotertänzer), die - zur entzückenden Musik dieses Kollektivs - die Marionettenhaftigkeit der Spinnerinnen als Gespenster im Tutu konkret und passend zum Gespenstersujet vertanzen. Die Idee ist brillant, weil die Nähe des Holländer-Stoffs zur Gruselromantik eines E. T. A. Hoffmann – dessen Werke der junge Wagner verschlungen hat – offensichtlich ist. Die Erinnerungen an die Gliederpuppe Olympia aus dem „Sandmann“, damit auch zu einer anderen grandiosen Opernszene, sind intelligent, poetisch und ausreichend genug – auch wenn's nicht jeder Theaterbesucher kapiert, weil er sich wieder mal nicht das preiswerte Programmheft gekauft hat. Die Idee ist schlecht, weil die Inszenierung hier die Sehnsüchte der Frauen einschichtig denunziert – als sei es spießig, sich in einer Zeit, da die Frau traditionell vom Ehemann abhängig war, so etwas Schnödes wie ein goldenes Armband zu wünschen. Wagners durchaus zärtliche wie heitere Musik aber ist, bei aller Imitation des Maschinenrhythmus, klüger als die gegenwärtige, durchaus verständliche, aber am Kern der Szene vielleicht doch vorbeigehende Ideologie- und Gesellschaftskritik, die ein Interpret an den Text heranzutragen vermag. Es geht auch anders, etwa wie bei Peter Konwitschny, der in Moskau und München die Spinnerinnenszene problematisierte, ohne die Frauen zu Zombies zu erklären, doch so geht es auch: szenisch durchaus interessant und doch immun gegenüber dem mehrdeutigen Ausdruck der Musik. Kommt hinzu der Umstand, dass die Musik vor der ersten Szene des 2. Akts eine Pause macht – man kann das, in Rücksicht auf die Blasen der Opernbesucher, die sich vor dem ersten Akt auf die Aufführung vorbereiten, indem sie größere Mengen Flüssigkeit in sich hineingießen, so machen, aber szenisch und musikalisch ist es, und wohl nicht nur für Bayreuther, eine unnötige Unterbrechung. Schlimmer aber ist, zumindest für Randsitzer, der Nacheinlass, der erst nach einer guten Viertelstunde eine relative Ruhe ins Haus bringt. Der Rezensent bittet inständig darum, diese Unsitte – im Interesse vieler Theaterbesucher – abzuschaffen.

Die Musik hebt mit der berühmten leeren Quinte an, schon der erste Ton geht orchestral in die Wasserhose, er schrillt ein bisschen wie der Männerchor, dessen Höhe an den Fortestellen leider aggressiv klingt, aber auch hier wird der Abend zeigen, was in den Hofer Symphonikern drinsteckt. Es ist es immer wieder erstaunlich, welche dramatischen Stürme, vor allem aber: welche sensiblen Linien unter Walter E. Gugerbauer erklingen. Auch in dieser Aufführung hört der Wagnerianer Sequenzen, die er garantiert noch nie gehört hat. Es spricht für Wagners Partitur, doch auch für die musikalische Interpretation. Plötzlich bestimmt in der Ouvertüre eine Bläserstimme den Verlauf, ohne die anderen Stimmen zu Nebenstimmen zu machen, das Signalmotiv durchläuft, kammermusikalisch abgestimmt, die Polyphonie, die Kontrabässe kündigen schon den „Lohengrin“-Ton an, und im Pianissimo der hohen Streicher wird die schönste Gespensteratmosphäre gemalt.

Eine schöne junge Frau liegt auf der Bühne. Was folgt, ist interessant genug, um - bei allen Fragen, die ihnen die Inszenierung nicht beantwortet hat, weil das Werk eben doch nicht von allen Opernfreunden so gekannt wird wie immer gemeint – die Zuschauer zu begeistern. Letzte Bitte: Bis zur nächsten Hofer Wagner-Inszenierung mögen nicht wieder ein Dutzend Jahre ins Land gehen. Sieben reichen völlig aus.

 

Frank Piontek, 22.10. 2017

Fotos: © H. Dietz, Hof

 

 

DER FLIEGENDE HOLLÄNDER

Premiere am 22. September 2017

TRAILER


Senta träumt. Und danach ist sie kein Mädchen mehr.
Es geht schon in der Ouvertüre los. Zu den gepflegt angelegten Klängen der Hofer Symphoniker, die einem die schwere See fast körperlich spüren ließ, „erwacht“ Senta. Sie ist in ihrem Haus, unter den vielen wunderschönen Bühnenbilder von Annette Mahlendorf ein weiteres Highlight, und erträumt sich die Handlung des Holländers.
Zugegeben, der Trick den Reinhardt Friese anwendet ist nicht neu, aber die Umsetzung ist genial. Mit der Verdoppelung der Senta, Susanna Mucha als die träumende Senta und Tanja Christine Kuhn als die geträumte, gibt er der Geistergeschichte um den verfluchten Seemann eine neue Dimension.

 

Albtraumhaftes Geschehen
Friese erliegt auch nicht der Versuchung die dramatische Musik Wagners im ersten Akt mit angestrengter Aktion auf der Bühne zu verdoppeln, der Traum Sentas verläuft in einer ruhigen Abfolge der Ereignisse. Zusammen mit dem scherenschnittartigen Bühnenbild ergibt sich dadurch ein alptraumhaftes Tableau. Senta selbst steht als kühle Beobachterin dabei, erlebt wie ihr Vater sie für schnödes Geld verkauft, ohne Rücksicht auf ihre Bedürfnisse oder ihre Wünsche.


Gnadenlose Personenanalyse

Auch die Spinnstube bleibt genauso surrealistisch. Senta sieht sich selbst zu, wie sie von ihrer Erzieherin Mary gegängelt, verspottet und gedemütigt wird. Der Damenchor agiert als biedermeierliche Portraits an der Zimmerwand. Auch Erik, der einzige Mann im Dorf der nichts mit der Seefahrt zu tun hat, ist wie alle anderen ein bleicher Zombie. Fixiert auf seinen Vorteil, versucht er Senta für seine Zwecke auszunutzen. Als Daland dann seinen Favoriten mit in sein Haus bringt, und Senta sich endlich ihrem Traumprinzen gegenüber steht ihrem Glück eigentlich nichts im Wege, eigentlich. Aber auch der Verdammte versucht sich Senta, durch Druck und Drohungen mit der ewigen Verdammnis gefügig zu machen. Im Traum erlebt Senta ihren eigenen Tod, ein auch von Wagner geforderten, Sprung von einer Felsenklippe, und erwacht. Das Schlussbild zeigt die reale und die Traumsenta vereint als selbstbewusste Frau, die sich von allen Männern in ihrem Leben, aber auch von ihren Jungmädchenträumen, trennen wird.

 
Regietheater der besten Sorte
Reinhardt Frieses mutig angelegtes Konzept geht nicht nur deshalb auf, weil er mit Susanne Mucha eine exzellente Schauspielerin im Ensemble hat, die scheinbar mühelos ihre stumme Rolle bewältigt. Auch „Regietheatereinfälle“ wie die Damen des Balletts als wollweiße „junge Schwänchen“ oder viel besser als wildgewordene Spinnräder auf Extacy im Spinnstubenbild, die Herren des Balletts als tote Marionettenholländer im letzten Bild, wie so oft sind die Choreographien Barbara Busers berückend, tragen zu diesem Nachtmahr bei.
Walter E. Gugerbauer, der den Posten als GMD von Arn Goerke übernahm, setzt mit seinem Einstand einen Markstein. Seine „Mannen“, in fast kompletter Besetzung, spielen die Partitur makellos, aber nicht leidenschaftslos. Nie wird ein Sänger übertönt nur um den „typischen“ Wagnerklang zu bekommen, Gugerbauer weiß wann er die Dynamik drosseln muss, wann er aufdrehen darf. Allein die Orchesterleistung war mir schon ein Fest.


Gelungene Einstände
Seit der Saison 17/18 gibt es in Hof ein paar neue Gesichter. Minseok Kim überzeugt als Dalands Steuermann, Rainer Mesecke ist ein abgründiger Daland. An dieser Stelle Gratulation zum gelungenen Einstand, man freut sich auf weitere Produktionen.
Stefanie Rhaue, ein Hofer Urgestein, singt und spielt die Mary als bösartig sadistischer Quälgeist, James Tolksdorf einen stimmlich wie auch szenisch elegant barocken Holländer. Alexander Gellers Erik verführt mit seinem virilen Tenor. Die eigentliche Überraschung dieser Produktion ist aber Tanja Christine Kuhn. Die junge Sängerin war schon als Mi im „Land des Lächelns“ zu Gast in Hof. Hier wie da war sie in ihrer doch so unterschiedlichen Rollen hinreißend.


Fantastische Ensembleleitung
Der mit einigen Gastsängern verstärkte Opernchor wurde von Hsin-Chien Fröhlich und Claudio Novati vortrefflich einstudiert.
Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Einzelteile, egal ob die Schwerpunkte nun auf der musikalischen Seite, der Regie oder in der fantastischen Ausstattung liegen. Zu diesem überwältigenden Abend tragen aber auch viele Menschen hinter der Bühne bei. Mehr als lobend will ich hier, ohne andere Gewerke zu vernachlässigen, das Maskenbild und die lautlos arbeitende Technik erwähnen.
Um ein abschließendes Fazit zu ziehen, dieser Holländer lohnt jeden Kilometer Autobahn!


Bilder H. Dietz
Alexander Hauer 7.10.2017

 

 

MEIN KAMPF

besuchte Vorstellung Premiere am 23. Juni 2017

Mit Klezmerklängen zum Ursprung des Grauens

Und manchmal gibt es im Theater die Abende an denen alles stimmt. In den Reigen der überragenden Stücke im Studio Hof reiht sich als letzte Produktion der Saison ein weiteres Juwel ein.
Sapir Heller macht aus Taboris Hitlerfarce ein aktuell gültiges Werk über Verführbarkeit, Naivität und Verblendung.
Herzl und Lobkowitz-Gott hausen im Männerasyl, als das Böse eindringt. AH, hier ein bösartiger Cousin von ETA Hoffmanns Klein Zaches, betritt die Szene. Aus dem anfänglichen Spott von Herzl und Lobkowitz, entwickelt sich Mitleid und Verständnis. Das Ende ist uns allen bekannt.

Neo und Altnazis werden kotzen

Ursula Gaisböck gestaltet das Männerheim unter einer Metzgerei als eine Ecke der Klagemauer, verweigert sich auch in den Kostümen jeglicher brauner Folklore. Keine Hakenkreuze, keine SS Uniformen. Dieser Kampf ist zeitlich nicht gebunden.
Michael Falk erfindet dazu eine Musik, die die Tragik dieser Geschichte beinahe ad absurdum führt. Beste Unterhaltungsmusik als Hintergrundbeschallung zum Thema Judenvernichtung, und dann sind wir wieder ganz bei Tabori der sein Stück ja eine Farce nannte. Seine Musik, alles aus eigener Feder bis auf dem Abendstern von Wagner, changiert von Klezmer, Tangoklängen hin zu Rock. Besonders interessant ist dabei, dass Hitler im Finale keine eigene Musik hat, dass er sich immer bei den anderen bedient, ihnen die Identität stiehlt.

Exzellente Darsteller, hervorragend geführt
Zugegeben, als ich vor geraumer Zeit die Besetzung las, Karsten Jesgarz als Herzl und Thilo Andersson als Lobkowitz, musste ich mich erst an die Vorstellung gewöhnen zwei veritable Opernsänger im Schauspiel zu sehen. Aber, die beiden sind auch Darsteller im besten Sinne des Wortes. So wenig sie im Musiktheater sich an die Rampe stellen, so intensiv sie Rollen verkörpern, verflüchtigten sich meine Bedenken ziemlich schnell. Und ich wurde nicht enttäuscht. Wie aus anfänglichem Spott über das Tiroler Landei allmählich ein Kümmern, ein Sorgen wird und die damit einhergehende Selbstaufgabe, ist schon ein Highlight für sich. Auch die Dialoge Herzl mit Gretchen, diese väterliche Fürsorge des alternden Mannes, dieses nicht eingehen auf die Avancen des früh erblühten Gretchens, Susanna Mucha wie immer perfekt, gibt der Figur eine weitere Tiefe.

Anderssons Lobkowitz- Gott verschwindet und taucht als Himmlisch wieder auf. Aus dem Kümmerer ist ein Täter geworden. Einer, der mit buchhalterischer Gelassenheit über Leben und vor allem über den Tod eiskalt entscheidet, um dann in großer Geste zu behaupten, dass er nur nach Befehl gehandelt hat.
Unter verführerischen Tangoklängen betritt Anja Stange, Frau Tod, die Szene. Gelassen gestaltet sie die Meisterin aus Deutschland, lässt Herzl in die ihm gestellte Falle tappen, schiebt ihm die Schuld am kommenden Unglück zu. Und wenn sie im Finale, in dem die kleine Theaterwelt symbolisch für die Große zerstört wird, steht sie lässig auf einem Podest und versprüht Giftgas aus einer Dose…..
Bleibt nur noch einer. Rüdiger Frank als Adolf. Darüber kann man nicht viel schreiben, das muss man erlebt haben, wenn dieser kleine Mann versucht sich die ganze Welt untertan zu machen, mit allen Tricks, perfide und bösartig, alle gegeneinander ausspielend. Und man sitzt im Publikum und fällt genau auf diese Masche rein. Rüdiger Frank, Ihnen gehört die Krone dieses Abends, noch nie habe ich eine Figur so sehr gehasst und bemitleidet wie an diesem Abend.

Nach knapp zwei Stunden ging das pausenlose Stück zu Ende, der Premierenapplaus wollte kein Ende nehmen, immer und immer wieder kamen Schauspieler, Band und Leitungsteam zum Verbeugen.
Alexander Hauer 29.6.2017

Bilder (c) Theater Hof

PS: Das Theater Hof hat bislang zwei Zusatztermine, am 8. Und 9. Juli geschaltet. Die regulären Vorstellungen waren innerhalb kürzester Zeit ausverkauft.

 

 

Zum Zweiten

DIE GESPRÄCHE DER KARMELITERINNEN

Premiere: 11.3. 2017.

Besuchte Aufführung: 9.4. 2017

Größte Angst und größte Liebe

Die Heldin des Abends heißt Capucine Daumas. Nein, sie ist keine Märtyrerin, aber sie rettet die Aufführung. Besser hätte man vielleicht nicht zeigen können, dass es auf jedes Menschenleben ankommt – zumal in der Oper, in der auch das Wiederspiel von Individuum und Kollektiv verhandelt wird.

Poulencs „Gespräche der Karmeliterinnen“ also. Wer das Werk kennt, weiß, auf welcher emotionalen und ästhetischen Höhe hier die Probleme des Glaubens, der Freiheit, der Angst und des Terrors verhandelt werden, die weder 1793 noch 1957 noch 2017 inaktuell waren und sind. Die Geschichte der 16 Nonnen aus dem Konvent von Compiègne, die gemeinsam – und singend – aufs Schafott wanderten, auf dem sie vor einer, wie berichtet wird, ehrfürchtigen Menge hingemetzelt wurden, wurde von Francis Poulenc in eine außerordentlich klare wie impressive Tonsprache getaucht. Die Aufführung des Theaters Hof beweist, dass auch sog. „kleine Häuser“ in der Lage sind, dieses außerordentliche Stück Musiktheater in einer bannenden Inszenierung und in einer musikalisch packenden Aufführung ins Heute zu bringen, ohne allzu zeitgeistig auf die Mittel eines metaebenenmäßig entfesselten Interpretationstheaters zu setzen.

Oder anders: Der Regisseur Lothar Krause und seine Bühnen- und Kostümbildnerin Annette Mahlendorf vertrauen zunächst der historischen Schicht, um am Ende – im Sinne der literarischen Vorlage Gertrud von Le Forts – das Allgemeingültige des Stoffs eher zurückhaltend zu zeigen. Der Inszenierung ist jedoch schon von Beginn an, zumindest im Bühnenbau und dem Habit, die symbolische Abstraktion eingeschrieben: denn die Bühne imitiert kein Kloster des 18. Jahrhunderts. Eine (im übrigen herrlich illuminierte) Marienstatue muss reichen, um das sakrale Milieu anzudeuten. Wichtiger sind die massiven Säulen, die aus den geschlossenen Räumen, in denen sich wahre Seelendramen abspielen, strenge Hallen machen, in die die Männer der Revolution geschichtlich „richtig“ gekleidet einbrechen – und die Nonnen treten, historisch gleichsam „falsch“, im weißen Schleier auf. Nicht allein die freilich grau akzentuierte Blanche ist eine „Weiße“.

Blanche, die Graue: sie ist es, die ihre Angst in den Konvent mitnimmt, doch nicht über Gebühr pathologisiert wird. Diese Aufführung zeigt die Schwestern als Opfergemeinschaft, nicht als irres Kollektiv von Wesen, die ein falsches Leben im falschen Raum leben. Wenn Blanche, zunächst noch mit dem modischen wie ridikülen Schiffchen in der Perücke von anno 1789, auf der Bühne erscheint, meint man das zu spüren, was die Autoren des 18. Jahrhunderts als „zarte Regungen des Herzens“ bezeichnet haben. Diese Blanche, die sehr genau und stimmklar von Susanne Serfling als ängstliche, doch nicht als hysterische junge Frau gespielt wird, zeigt ihre seelischen Qualen fast diskret: bis zum vorläufigen, denn doch explosiven Zusammenbruch in der letzten Begegnung mit Mutter Marie. Stefanie Rhaue ist diese Frau, die man schon strenger, unnachgiebiger, ja unsympathischer auf den Bühnen gesehen hat. Dass sie am Abend am besten zu verstehen ist, verwundert nicht; die Stimmkultur dieser wie stets stark agierenden Sängerin ist an diesem Abend vergleichslos. Dass die erst vor wenigen Stunden eingeflogene Capucine Daumas innerhalb des deutschsprachigen Ensembles in ihrer Muttersprache singt, fällt insofern nicht immer auf. Wer vorher den Text las, der alles andere als trivial ist, war klar im Vorteil, aber auch so war es ein einziges Vergnügen, der fröhlich-naiven Constanze bei der Arbeit zuzuschauen, die beim Bügeln lieber kindlich herumtanzt und sich an die Hochzeitsfeiern ihres Dorfes erinnert. Ein Extraapplaus für diese wunderbare Interpretation der liebenswerte Constanze, die sich auch im Kloster nicht von ihrem Püppchen trennen kann – und für Elisabeth Hornung, die die alte, sterbende Priorin – bei aller Eingeschränktheit ihrer im Sopran begrenzten Mittel – im Bett wie auf dem Boden beeindruckend gestaltet. Gerade in dieser Szene merkt selbst der befleckteste Zuschauer, dass die Oper nicht allein eine Auseinandersetzung mit Problemen der Religion als auch des Lebens und der Angst an sich ist, der (anders, als es im Programmheft behauptet wird) jede Epoche gleich ist. Angst ist, um es mit einem religiösen Vokabular auszudrpcken, immer unmittelbar zu Gott. Die neue Priorin, Madame Lidoine, kann der alten übrigens das Wasser reichen: Inga-Britt Andersson hat, nach der schönen „kleinen Rede“, die so klein und unbedeutend nicht ist, im Schlussakt, dem Akt der größten Angst, der größten Liebe und der größten Stärke, ihre stärksten Momente.

Apropos „Liebe“: Beschreiben kann man diesen Abend nicht. Der Rezensent kann nur festhalten, dass hier mit szenischen Bewegungen, die gelegentlich zum Statischen tendieren – was dieser Interpretation absolut nicht zum Nachteil gereicht – ein Höchstmaß an psychischer Spannung erzeugt wird. Festzuhalten bleiben einzelne Tableaus: der letzte Gottesdienst mit dem Beichtvater, dem Poulenc eine überirdisch schöne Musik geschenkt hat, die zu Tode betrübte Blanche, mit dem Fragment des „kleinen Königs“, den sie gerade zertrümmert hat, im Schoß: eine bewegende Pietà, die schwarzweißen Film-Einblendungen mit der Erscheinung der Muttergottes, die plötzlich blutige Tränen weint. Wie auch nicht? Im berühmten Schlussbild geht die riesige Projektion in die Gesichter der einzelnen Nonnen über. Ich gebe gerne zu, dass es schon an dieser Stelle kaum möglich war, den Bildern „objektiv“ zu folgen. Am Ende aber bleiben sie alle auf einem riesigen Kreuz stehen; fällt das Fallbeil mit dem schrecklichen Ton, spritzt das Blut an ihren Hälsen auf. Märtyrerinnen von gestern, heute und morgen, in Paris und Ägypten, wo man hinschaut. Die Oper und ihre Inszenierung transzendieren den Mord an den Frauen auf fast unerträgliche, weil ästhetisch äußerst klare Weise.

Das Orchester trägt Wesentliches dazu bei; unter Arn Goerke spielen die Hofer Symphoniker meist diskret, Poulencs Subtilitäten genau ausleuchtend. Dass man sich an den „Boris Godunow“ erinnert, der hier vor nicht allzu langer Zeit von Goerke dirigiert wurde, ist kein Zufall: der Komponist hat sich bewusst auf die musikdramatischen Mittel und Motive des genialen Russen bezogen, ja sie zitiert. Auch die „Karmeliterinnen“ sind eine Choroper, doch anders als beim „Boris“ kann, ja muss man jede einzelne Sängerin nennen: Neben der Mutter Johanna der Katrin Valk und der Schwester Mathilde der Josephine Queck stehen und fallen am Ende Andrea Herold, Masako Iwamoto-Ruiter, Dong-Joo Kim, Zene Kruzikaite, Bärbel Kubicek, Malgorzata Kusmierz, Iwona Lukaszynska, Ulrike Rieß, Olga Skhodnova, Annett Tsoungoui und Aki Yamamura auf der Bühne. Die Männer aber sind, bis auf den Beichtvater (ein Glaubender, kein Fanatiker) des Karsten Jesgarz, brutal wie der Vater, der sinnigerweise zugleich den Kerkermeister spielt (James Tolksdorf) oder schwach wie der Bruder, der bei Benjamin Popson immerhin sehr schön zeigen darf, wie eine von Poulenc komponierte Puccini-Kantilene zu klingen hat.

Der Rest ist nicht Schweigen (obwohl er angebracht wäre), sondern langer Applaus eines Publikums, das nur ausnahmsweise in der Pause das Theater verließ – ein Applaus, hinein in die sehr ernsten Gesichter der Sängerinnen, die gerade eine Hinrichtung gespielt haben. Als Günter Krämer das Werk an der Deutschen Oper Berlin inszenierte, konnte man es erleben, dass zwischen dem Schlussakkord – der wie eine Frage anmutet – und Applaus ewig lange 11 Sekunden verstrichen. In Hof dauerte es nicht so lange, aber die Pause wäre, zumal nach diesem derart inszenierten und gesungenen Finale, angemessen gewesen. Man kann bekanntlich nicht alles haben, aber dass ein „Provinztheater“ eine szenisch und (von der Textunverständlichkeit einmal abgesehen) musikalisch derart spannende Aufführung zustande bringt, grenzt an ein kleines Wunder. Wie die Rettung der Aufführung durch Capucine Daumas, die an diesem Abend für ihre Kolleginnen nicht starb, sondern auf schönste Weise lebte.

Frank Piontek 10.4.2017

Fotos: H. Dietz Fotografie, Hof

 

 

 

Die Gespräche der Karmeliterinnen

Premiere: 11.03.2017

besuchte Vorstellung: 17.03.2017

 

Lieber Opernfreund-Freund,

soll man Oper in der Originalsprache bringen? Oder ist zur unmittelbaren Textverständlichkeit eine deutsche Übersetzung angebracht? Es gibt oft ausgedehnte Konversation zwischen Komponist und Librettist über einzelne Worte im Text. Ist es da erlaubt, statt eines „t’aaaaamo“ einfach „ich liiiieb’ dich“ zu singen? Klingt das nicht völlig anders? Steht in Zeiten, in denen nicht nur Muttersprachler auf der Bühne stehen, der Gesang deutscher Sprache nicht eher der Verständlichkeit entgegen? Ist es - gerade bei ersten, aufwühlenden Themen - nicht schön, einmal nicht ständig zu den Übertiteln schielen zu müssen, sondern sich ganz auf das Geschehen auf der Bühne konzentrieren zu können? Ist Deutsch mit deutschen Übertiteln vielleicht ein gelungener Kompromiss? Diese Fragen stelle ich mir nach Besuch der Vorstellung der „Dialogues des Carmélites“, die derzeit erstmals am Theater Hof zu erleben sind, und die dort als „Gespräche der Karmeliterinnen“ auf Deutsch (ohne Übertitel) in der an sich gelungenen Übersetzung von Peter Funk und Wolfgang Binal gegeben werden.

Denn textverständlich war das über weiter Teile nicht, was da gestern an der Saale zu sehen war. Wer sich nicht vorher genau mit dem Inhalt des Werkes befasst, die informative und gelungene Einführung von Musiktheaterdramaturg Lothar Krause, der in diesem Fall auch für die Inszenierung verantwortlich zeichnet, besucht oder zumindest die Inhaltsangabe im Libretto genau studiert hatte, konnte den Inhalten und Konflikten, die in den einzelnen Szenen thematisiert werden, nicht im Detail folgen. Das ist bei einem Werk, das „Gespräche der Karmeliterinnen“ heißt, aus meiner Sicht besonders tragisch - zumal es der einzige Schatten an einem der gelungensten Opernabende war, die ich in letzter Zeit habe erleben dürfen.

Francis Poulenc, gläubiger Christ, komponierte dieses zeigenswerte Werk, das glücklicherweise in den vergangenen Jahren wieder auf der einen oder anderen Bühne zu sehen ist, in den 1950er Jahren, 1957 wurde es (auf Italienisch) an der Meiländer Scala uraufgeführt. Doch modern oder gar atonal klingt da nichts. Seine Tableaus erinnern im klanglichen Aufbau eher an Barock-, zeigen deutliche Anklänge an Kirchenmusik. Der historisch verbürgten, tragische Geschichte der Nonnen von Compiègne, die lieber den Märtyrertod sterben als der Glaubensgemeinschaft zu entsagen, hatte die deutsche Autorin Gertrud von le Forts die Figur der Blanche hinzu gefügt, die aus Angst vor dem Leben im Kloster Zuflucht sucht, dort aber erkennen muss, dass man Angst als Kind zwar erst lernen muss, später aber nicht mehr verlernen kann. Die Hoffnung darauf ist trügerisch und wird in der Hofer Inszenierung durch ein die Bühne dominierendes Weiß symbolisiert. Die Ordensschwestern sind weiß gewandet, der klar strukturierte, durch verschiedene Säulen immer wieder neu erscheinende Bühnenraum ist in gleißendes Licht getaucht, eine riesige weiße Madonnenstatue dominiert das Bühnenbild.

Und letztendlich bedeutet der Name der Hauptfigur ja auch nichts anderes als die „Weiße“. Einen Nonnenoper auszustatten ist für die Kostümabteilung nicht wirklich etwas, woran man sich austoben könnte. Doch Annette Mahlsdorf, die gleichermaßen für den gelungenen Bühnenaufbau verantwortlich ist, spielt ihre Trümpfe vordergründig im ersten Bild bei den wunderbaren, an die Zeit der französischen Revolution erinnernden Roben und Perücken oder im letzten Drittel aus, in dem sie die Schwestern, nachdem diese ihre Tracht ablegen mussten, in Kleidung steckt, die an die „Tracht“ der Trümmerfrauen nach dem zweiten Weltkrieg erinnern. Doch eigentlich ist es dieses strahlende Weiß, das sie zu nutzen versteht, und das im eindrucksvollen, betroffen machenden letzten Bild, in dem die Schwestern nach und nach zum Schafott gehen, endgültig seine Unschuld verliert. Lothar Krauses ausgeklügeltes Konzept, seine spannende Personenführung, die Konflikte und Spannungen verdeutlicht und die Ordensschwestern eben nicht als Einheit, sondern als Gemeinschaft von Individuen zeigt, sind weitere Stärken dieses auch musikalisch äußerst gelungenen Abends.

Susanne Serfling verfügt für das ängstliche Hascherl Blanche fast über einen zu kräftigen Sopran, zeigt aber immensen Ausdruck, große Leidenschaft und überzeugt als mitreißende Darstellerin. Ihre Co-Novizin Constance wird von Ines Lex mit feinster Höhe gestaltet, so dass sie mit ihrer überzeugenden Gestaltung der vor Lebensfreude sprühenden Nonne zur prima inter pares wird - zusammen mit Elisabeth Hornung, als Gast aus Darmstadt angereist, die die alte Priorin mit dermaßen großer Intensität zum Leben erweckt, dass man bei der Sterbeszene mit Gänsehaut im Sessel sitzt. Was für eine charaktervolle Darstellung! Stefanie Rhaue ist ebenfalls eine wunderbare Sängerdarstellerin, zeigt in der Höhe zwar mitunter eine unschöne Schärfe, überzeugt aber als Mutter Maria ebenso wie Inga-Britt Andersson, die die neue Priorin zuerst fast lyrisch und gegen Ende immer kämpferischer anlegt. Karsten Jesgarz zeigt als Beichtvater seinen kultivierten Tenor, während der junge Amerikaner Benjamin Popson sich mit schwerer Erkältung ansagen lassen musste. In seiner ersten Szene als Chevalier de la Force ist das auch noch deutlich hörbar, in der großen Abschiedsszene mit seiner Schwester hingegen überzeugt das Ensemblemitglied auf ganzer Linie mit farbenreichem Tenor und charaktervollem Spiel. Auch der Rest des Ensembles sowie die glänzend vorbereiteten Chordamen (Leitung: Hsin-Chien Fröhlich) wissen zu gefallen.

Das tut auch das Dirigat von Arn Goerke, der die wunderbare Partitur 60 Jahre nach deren Entstehen erstmals in Hof zu Gehör bringt. Er zieht alle Register, übertüncht die Sängerinnen auch in den Ausbrüchen nur selten und zeigt das Werk zusammen mit den toll aufspielenden Hofer Symphonikern mit all seinen Facetten. Die zahlreichen Intermezzi werden meist bei offenem Vorhang gegeben und so schafft der Chefdirigent einen durchgehenden Fluss der Musik und präsentiert das Werk gleichsam aus einem Guss. Warum er aber ausgerechnet den Choral der imposanten Schlussszene mit dermaßen flottem Marschtempo ausgestaltet, als hätte er noch einen Termin, weiß er wohl nur selbst.

Nach den letzten zarten Klängen des vielleicht eindrucksvollsten Opernfinales des 20. Jahrhunderts bricht großer Jubel aus. Das Publikum ist zu Recht begeistert. Und ich bin es ebenfalls, auch wenn die Antwort auf meine eingangs formulierten Fragen „in jedem Fall übertitelt“ lautet. Mein Tipp: Opernführer lesen und in jedem Fall hingehen!

Ihr Jochen Rüth 18.03.2017

Die Fotos stammen von H. Dietz Fotografie, Hof.

 

 

EWIG JUNG

Premiere: 16.12. 2016

Besuchte Aufführung: 17.1. 2017

Als Robert Stolz einst kurz vor seinem Tod das Pult betrat, musste er mühselig gestützt werden – doch in dem Augenblick, in dem er den Taktstock hob, fuhr es wie ein Blitz durch den uralten Herren. Die Musik hatte den alten Herren sichtlich verjüngt und Kräfte verliehen, die ihm sonst nicht mehr gegeben waren.

Wenn die alten Herrschaften im Künstlerheim nicht gerade die infantilen Klatschrunden absolvieren müssen, die Frau Stange mit überzeugend lächerlichen Liedern begleitet, geht es ihnen ähnlich wie dem alten Mann auf dem Pult. Aus den halbdementen und dementen Zombies werden plötzlich – nun ja: zumindest jüngere Leute, auch wenn sie nicht mehr elegant übers Parkett fegen können. Der Pianist kommt in Puschen daher, der Tannhäuser-Marsch zeigt die alten Gladiatoren beim Einzug, ein Asthma-Anfall unterbricht die Musik, Frau Leinweber bellt schon ihre von Tourette inspirierten Unflätigkeiten heraus – dann sinken sie in die Sessel. „Wir klatschen in die Hände...“.

Nein, sie klatschen nicht in die Hände, aber sobald die Betreuungskraft den Raum verlassen hat, werden sie plötzlich zu altgewordenen, doch quicklebendigen Rockern. „I love Rock'n Roll“ führt die Suite von Schlagern an, die Erik Gedeon zusammengestellt und Michael Falk, der Mann in den Puschen, arrangiert hat. Ganz wie in einem Liederabend von Franz Wittenbrink werden unter der Regie Kristoffer Keudels die separaten Nummern mit einer schlichten, doch herzzerreißend komischen und melancholischen Geschichte versehen. Es passiert eigentlich nicht viel in diesem Künstleraltersheim, in dem die Bilder der drei letzten Intendanten des Theaters Hof und des dienstältesten Schauspielers (und nunmehrigen Kantinenchefs) Peter Kampschulte die Wände zieren – aber was passiert, ist kurzweilig. Man schlägt sich und verträgt sich, man lebt seine sexuellen Sehnsüchte, seine Bosheiten und seine Zärtlichkeiten aus. Die Charaktere krachen aufeinander: die ehemalige Revoluzzerin Frau Leinweber, die zarte Frau Schmitz, der lustige Herr Bänsch, der kräftige Herr Bals und der ehemalige Tragiker Herr Bregenzer.

Es ist eine einzige Freude, die Schauspieler des Theaters Hof quasi als sie selbst in unglaublichen Altersmasken zu sehen – und sie in einer grandiosen Shakespeare-Collage zu erleben. Die obszöne Frau Leinweber als Lady Macbeth, der alte Zausel Herr Bregenzer als junger Hamlet, Frau Schmitz zwischendurch und immer wieder als Tschechows Möwe. Einmal klingt Tschechows Ruf „Nach Moskau“ wie eine nie eingetroffene Verheißung ins Altersheim. Ihre Leichen leben noch, die Bedürfnisse altern nicht. „I will survive“ ist ihr Kampflied, „Forever young“ ihre nachdenkliche Ode an das gelebte Leben. Der Rollator wird zur Harley, der Griff ans Gemächt zum Lebenssignal, „I got you, Babe“ scheint über Frau Stanges köstlich ironisches „Friedhof und Krematorium“-Poem zu siegen.

Selten werden Komik und Ernst so gemischt wie an diesem Abend, der vom Publikum, das im Schnitt über 60 Jahre alt ist (aber was heißt hier „alt“?), bejubelt wird. Dass beim Schlussvorhang, vor den zwei Zugaben mit einem wundervollen A-capella-Sextett, die Maskenabteilung mit den 7 Helden sich verbeugt, ist nur gerecht – und ebenso bewegend wie manches an diesem musikalischen, komischen und bedenkenswerten Abend.

Frank Piontek, 18.1. 2017

Fotos (c) Theater Hof / Dietz

 

 

MASKE IN BLAU

Premiere: 16.12. 2016.

Besuchte Vorstellung: 8.1. 2017

Super Stimmung, tolle Rhythmen

Maske in Braun? Otto Schneidereit merkte 1958 in seinem „Operettenbuch“ an: „An jenem Tage, an dem der britische Botschafter in Berlin, Neville Henderson, die Worte niederschrieb: 'Die deutsche Luftwaffe wächst weiterhin mit beunruhigender Schnelligkeit, und zur Zeit ist kein Ende dieses Wachstums abzusehen' - an jenem Tage, an dem im spanischen Bürgerkrieg Tausende von Freiheitskämpfern ihr Leben lassen mussten – an jenem Tage, dem 27. September 1937, brachte das Berliner Metropol-Theater eine Uraufführung heraus. Mit diesem Werk gelang es“, so Schneidereit, „der 'Fratze in Braun' sich eine 'Maske in Blau' vorzubinden.“

Natürlich weiß auch das Produktionsteam der Hofer Aufführung von Fred Raymonds und Heinz Hentschkes „Maske in Blau“, dass die einzige deutsche Operette der Nazizeit, die noch auf den Bühnen gebracht wird, damals auch vom politischen Tage ablenken sollte. Dass sich Hitler und Mussolini just am 27.9. 1937 in Berlin trafen, wird im Programmheft reflektiert, doch hat das Stück genügend musikalische Qualitäten, auf deutsch: Schlager, die es erlauben, vom Zeitgeist anno 1937 abzusehen. Auch die Konterkarierung des heiteren Stücks durch dunkle Bilder wäre ja im Zeitalter des sog. Regietheaters möglich (und vielleicht nicht das Schlechteste)

Der Regisseur Ivan Alboresi, der Dirigent Roland Vieweg, die Choreographin Barbara Buser, der Bühnenentwerfer Herbert Buckmiller und der Kostümgestalter Götz Lanzelot Fischer setzen ganz auf den durchaus eleganten Charme, nicht das Grauen der späten 30er Jahre. Dass die bühnenrahmenden Passepartouts, in denen sich die Prospekte und Bilder befinden, konsequent schief stehen, kann schon als Interpretation der aus den Fugen geratenen Zeit gedeutet werden, aber das war es denn schon mit der Zeitkritik. In Wahrheit genügt es, die relativ banale Liebes- und Intrigengeschichte um den Maler einer zunächst anonymen „Maske in Blau“ und seiner Geliebten, einer südamerikanischen Donna (Sonja Westermann erfreut Auge und Ohr), samt mehr oder weniger komischer Nebenfiguren - unter denen die Bayerische Bierwirtin alias Marianne Lang herausragt, die als Marchese Cavalotti auch eine Art Prinz Orlowsky gibt - jener Dramaturgie auszusetzen, die Musik und Tanz so souverän vorgeben.

Mit Foxtrott und Machiche, Csárdás und Swingfox bewegt man sich immer noch beschwingt über die Bühne. Ein molldurchtränkter „Walzer in Blau“ wird vom Ballettensemble mit klassisch-russisch Hebefiguren und Schritten, eine Gruppen-Choreographie mit der Juliska Varady der piepsigen, im Vergleich zu allen anderen Sängern dieses Abends zu musicalhaft singenden Susanne Mucha einfach sexy gemacht, also ganz im Geist der 20er Jahre, der noch auf die Revueästhetik der Nazizeit ausstrahlte. Das Putz-Terzett mit dem prachtvoll chargierenden Thilo Andersson als Kilian erfreut das wieder einmal sehr alte Operetten-Publikum ebenso wie der Pas de deux, mit dem die Erzählung des „Helden“, natürlich ganz in blau, im Hintergrund verdoppelt wird. Die Schlager heißen „Maske in Blau“, „Die Juliska, die Juliska“ – und die große Nummer für den Tenor, damit das Leitmotiv der partiell pseudotragischen Handlung, „Schau einer schönen Frau nicht zu tief in die Augen“.

Benjamin Popson macht das sehr schön; allein man wäre arrogant, würde man bei der Charakterisierung seines Tenors darauf hinweisen, dass er „für Hof sehr gut sei“. Man tanzt den Frühling in San Remo und besingt das "Temprament" - und der Schluss ist eine große Shownummer mit allen Beteiligten, leuchtenden Kostümen, Rhythmus, Spaß und Guter Laune. Nicht mehr, aber auch nicht weniger – und der Operettenkenner freut sich darüber, dass im differenzierten Orchester, zumal mit den typischen Bläsern der Epoche, jener zwischen Lehár und Lincke changierende Klang produziert wird, wie er auch einer durchaus haltbaren Operette der Nazizeit angemessen ist. Dass nach dem lang anhaltenden Schlussapplaus indes nicht die mitreißende „Sassa“-Nummer zugegeben wurde: dies war allerdings schade – und unverständlich. Das Publikum hätte sie sicher gern noch einmal genossen.

Fotos 8c) Theater Hof / H. Dietz

Frank Piontek 9.1.2016

 

 

CARMEN

besuchte Vorstellung 23. November 2016

Französischer Dauerbrenner neu betrachtet

1875 wurde die Carmen bei der Pariser Uraufführung abgelehnt. Das lag zum einen an der Komposition selbst, des Weiteren aber auch, dass diese Oper an den gesellschaftlichen Grundfesten des Bürgertums rüttelte. Carmen ist sicherlich nicht die erste (Teilzeit)prostituierte auf der Bühne, aber noch nie zuvor wurde eine Frau, die so selbstbestimmt ihr Leben meistert, gezeigt. Carmen ist eine Fremde, eine Ausgeschlossene. Und sie schert sich nicht darum, was die Menschheit von ihr denkt.

Heute, im Zeitalter von Feminismus, RTL Reality Shows und Youporn, schockiert das niemand mehr, damals war es ein Skandal.

In der mehr als hundertjährigen Rezeptionsgeschichte wurde eben diese emanzipierte Frau mehr oder weniger auf Postkarten oder Reisekatalogniveau gepresst.

Roman Hovenbitzer transferiert die Oper nicht ins hier und heute, seine Ausstatterin Anna Siegrot hat auf der Bühne einen sandigen Kreis geschaffen, eine Arena aber auch ein Dorfplatz auf dem die alltäglichen Kämpfe ausgetragen werden. Begrenzt durch Stühle in den verschiedensten Erhaltungsstufen und einem Schrank, einem Zauberkasten, der die unterschiedlichen Spielorte ermöglicht.

Hof zeigt die Carmen als Opera Comique mit erweitertem Personal

Der Tod ist allgegenwärtig, die Außenseiter der Gesellschaft, die Underdogs, genau wie die Soldaten aber auch der Stierkämpfer leben stets in einer lebensbedrohlichen Situation. Ein allgegenwärtiger Gitarrist symbolisiert den Tod, er ist die erste Erweiterung des Personals auf der Bühne.

Um den Charakter Don Joses besser zu verdeutlichen fügt Roman Hovenbitzer dessen Mutter ein. Jose steht zwischen drei Frauen, die klassische Triangel des Frauenbildes im 19.Jahrhundert. Mutter, Heilige und Hure. Und wenn Carmen der Dämon ist, dann ist Micaela die Heilige. Aber wer ist Jose? Im Libretto steht nur, dass er Soldat ist und aus einer anderen Stadt kommt. In der Romanvorlage erfährt man dann mehr. Joses Vater starb früh, er sollte Priester werden, musste aber nach einer tätlichen Auseinandersetzung fliehen. Ein Junge der unter dem Einfluss seiner dominanten Mutter groß wurde und den Lebenstraum seiner Mutter nicht erfüllen konnte. Nun soll er Plan B erfüllen, die Ehe zwischen Micaela und ihm. Diese ehe würde ihm auch einen Wiedereinritt ins Bürgertum ermöglichen. Aber es kommt anders, er trifft auf Carmen. Langläufig als die femme fatale bekannt. Roman Hovenbitzer zeigt eine andere Carmen, sie ist in Hof nicht die große Verführerin, sie ist eine Libertine, eine Freidenkerin, eine Frau mit Wirkung auf die Männer und keine die ihre Reize einsetzen muss. Sie ist eine wirklich emanzipierte Frau, eine femme revoltée.

Und Jose kommt aus diesem Teufelskreis Mutterliebe, Pflicht und Begehren nicht mehr heraus.

Um das soziale Umfeld Carmens zu verdeutlichen bringt Hovenbitzer Lillas Pastia auf die Bühne. Aus dem Schankwirt wird bei ihm eine veritable Puffmutter, Erzkomödiantin Marianne Lang gibt dieser zweifelhaften Erscheinung ein glaubwürdiges Bild. Auch Frasquita und Mercédès lassen keine Zweifel an ihrer Profession aufkommen.

Aber auch Escamillo ist nicht mehr der strahlende Held, eher einer, der schon einige Kämpfe und ein Auge verloren hat und sich mehr auf seinen verblassenden Ruhm verlässt.

Der Tod Carmens ist unausweichlich, wahrscheinlich ahnt sie schon zu Beginn der Oper, dass sie deren Ende nicht mehr erleben wird. Der Konflikt, den sie im Finale mit Jose bestreiten muss, dieses letzte Aufgebehren gegen Jose, gegen die Ehe und vor allem gegen jede Bürgerlichkeit führt letztendlich zum Todesstoß von Jose, oder ist es doch ein geplanter Selbstmord?

Ich bin kein Freund von massiven Eingriffen in die Partitur, wenn es allerdings so geschickt gemacht ist wie bei dieser Carmen, bin ich zufrieden. Arn Goerke und Roman Hovenbitzer verzichten auf den Kinderchor im ersten Akt, eine mehr als lässliche Sünde, der wesentlich größere Eingriff besteht darin, dass viele der Superhits dieser Oper, durch einen Gitarristen anstimmen zu lassen. Der Opernpurist wird jetzt in Schnappatmung geraten, aber er sei beruhigt, es ist eine geniale Lösung, die hervorragend in das Konzept der opera comique passt.

Es überrascht nicht, dass die Hofer Symphoniker einen ausladenden Klangteppich ausrollen, auf dem sich die Sänger und das Ballett ausleben können.

Der Chor unter Hsin-Chien Fröhlich besticht durch Klangfülle und Spielfreude.

Seit Jahren Publikumslieblinge Karsten Jesgarz und Thilo Andersson geben hier die absoluten Unsympathen der Oper, Remandado und Dancaïro, zwei schmierige Hartgeldluden mit überzeugenden Stimmen. Ihre Pferdchen Frasquita und Mercédès werden von Ani Taniguchi uns Stefanie Rhaue mit aggressiver Erotik in Spiel und Klang portraitiert.

Karen Frankensteins Micaëla steht im krassen Gegensatz zu den Personen der Halbwelt. Ein biederes Bürgermädchen, das durchaus zu kämpfen weiß. Sanfte Lyrismen unterstreichen ihre Rolle, ihr gezielt gesetztes Spiel tut sein Übriges.

James Tolksdorfs warmer Bariton gibt Escamillo gesunde Virilität und Strahlkraft. Der zweite Bewerber um Carmens Gunst ist Joel Montero. Sein José ist ein in sich zerrissene Figur. Einerseits Mitglied der Machogesellschaft, auf der anderen Seite ein Muttersöhnchen, dass sich dem Einfluss seiner Familie nicht entziehen kann. Diese Differenz der Seele schlägt sich auch in seiner Stimme nieder. Zwischen kraftvollen Machismo und zarten Lyrismen changiert sein angenehmer Tenor, der sich wunderbar zu Cordelia Katharina Weils Carmen gesellt. Diese Carmen bietet auch stimmlich eine neue Facette. Sie ist keine edle Dame wie Jessey Norman, aber keine ordinäre Schlampe wie in der Interpretation der Callas. Hovenbitzer und Goerke gestatten ihr, szenisch wie stimmlich, eine neue Art der Gestaltung. Perfekt intoniert strahlt sie ein Desinteresse an den Herren der Schöpfung aus. Und genau das birgt den unwiderstehlichen Reiz an dieser Figur, dieser Unnahbarkeit der Person.

Nicht unerwähnt bleiben soll das Ballett des Theater Hof, dass von Stephan Brauer auf das Beste trainiert wurde. Zwischen traditionell angelehnten spanischen Tänzen, bis hin zu expressiven Szenen während einer Prozession unterstrichen sie die Intuition dieser mustergültigen Inszenierung.

Ein lieber Freund von mir prägte mal den Satz, dass bei einer Oper „das Gesamtpaket“ stimmen müsste. Nun, ich bin mir sicher, dass er bei dieser Carmen besonders glücklich wäre. Ich, für meinen Teil, fand meine durchaus hohen Erwartungen deutlich übertroffen.

Das Theater Hof ist immer ein Garant für erstklassische musikalische Qualität, und bei dieser sehr „unklassischen“ Inszenierung wurde auch mal wieder gezeigt wie schön und wie verständlich Regietheater sein kann, wenn ein Könner wie Roman Hovenbitzer die Leitung hat.

Bilder von H. Dietz Fotografie, Hof

Alexander Hauer 27.11.16

 

 

DER RING als Musical

Premiere am 29. 10. 2016

Wovon man dann besonders schwärmt, wenn es wieder aufgewärmt…

Was in diesem Falle nicht nur für Witwe Boltes Sauerkraut gilt, sondern auch für die Neufassung von Frank Nimsgern. Nach fast 10 Jahren hat er sein Meisterwerk überarbeitet, neu arrangiert, Songs dazugeschrieben, in einer Art und Weise, dass man schon fast von einer Uraufführung sprechen könnte.

Der Rhein fordert seine Opfer, ein sinkender Luxusliner, Herbert Buckmiller schuf einen Salon in Schräglage, der eine in sich erstarrte Gesellschaft symbolisiert, Die dem Untergang geweiht ist. Matrosen werden von ihm verschlungen. Die Götter opferten dem Rhein ihr Gold, um den Menschen Habgier, Machtgelüste und die damit zusammenhängenden Umstände zu ersparen. 1000 Jahre sind vergangen, die Rheintöchter, die den Schatz bewachen sollen langweilen sich zu Tode. Alle glauben, das Gold hätte seine Wirkungskraft verloren, bis ein Zwerg, Alberich, von einem Lachs hinabgezogen wird und bei dem Anblick des magischen Schatzes seiner Gier nach Macht nicht mehr wiederstehen kann. Das Elend beginnt von neuem.

Nicht ganz Wagner

Wotan, der nur noch seine Macht ohne jede Verantwortung ausübt, hat alle seine „Mitgötter“ weggebissen und lebt zusammen mit seiner Tochter Brunhild auf diesem Schiff. Um den Neubau seines neuen Palastes zu begleichen stiehlt er Alberich den Ring, ohne schlechtes Gewissen, denn einem Dieb etwas zu stehlen ist in seinen Augen kein Diebstahl. Die beiden Riesen Fafner und Fasolt entzweien sich wegen des Ringes, Fafner mutiert zum Drachen, der den Schatz bewacht.

Derweil sinnt Alberich auf Rache, um wieder den Ring zu erlangen, schmiedet er sich im Machinenraum des Liners einen Mann aus Blut und Stahl, Siegfried. Er erzieht ich zu seinem willigen Sklaven, sein Ziel ist die uneingeschränkte Macht. Brunhild wiederspricht ihren Vater immer mehr, wie jeder Tyrann kann auch Wotan keine Kritik ertragen und versenkt sie in einen ewigen Schlaf. Siegfried erlegt den Drachen, erweckt Brunhild. Die Kinder zweier übermächtiger Väter erkennen in dem anderen, dass es im Leben um mehr geht als um Macht. Der Ring an Siegfrieds Hand zeigt aber auch schon seine Wirkung. Als Alberich den Ring fordert tötet Siegfried ihn. Aber auch Wotan bedrängt seine Tochter ihm die Macht zu erhalten, durch Siegfrieds Sieg über ihn, hat er seine Göttlichkeit und seine Unsterblichkeit verloren.  Brunhild überzeigt Siegfried dein Ring wieder in die Obhut der Rheintöchter zu geben, das Gleichgewicht, eine Utopie des Friedens ist wieder hergestellt.

 


Dramatisches Stück mit viel Humor und Erotik

Für den Humor ist in erster Linie Alberich verantwortlich, mit launigen Scherzen in derben sächsisch, spielt sich Chris Murray sofort in die Herzen des Auditoriums. Im krassen Gegenteil agiert Christian Venske, ein eiskalter Agitator, selbst in seiner Rolle gefangen, entweder im schwarzen Lackmantel mit ebensolchen Südwester oder im eleganten weißen Mantel mit Pelzkragen.


Für die Erotik sind das Ballett und vor allem die Rheintöchter verantwortlich. Jessica Kessler, Cornelia Löhr und Georgia M. Reh, von Annette Mahlendorf hintergründig dezent in schwarz-rot-gold gestaltet, sind, und jetzt erlaube ich mich etwas Chauvinismus, schlicht und ergreifend ein Augenschmaus.

 

 


Musikalisch und szenisch auf allerhöchstem Niveau

Reinhardt Friese gelingt es mit seinen Ausstattern ein glaubwürdiges Abbild einer Gesellschaft am Abgrund zu zeigen. Tagesaktuelle Bezüge mögen da eher zufällig sein, sind aber klar zu erkennen. Auch die Lösung dieser Konflikte, die Welt lässt sich nur durch die Liebe retten, geht nicht ohne Kollateralschäden von statten. So müssen sich Brunhild, einfach bezaubernd, Zodwa Selele  , und Siegfried, Christopher Brose, seit Einstein in Hof gerngesehener Gast, sich gegen ihre Überväter durchsetzen, nein sich durch Tötung des alten Systems befreien. Diese beiden Väter, Wotan, Christian Venzke und Chris Murray als Alberich, breiten das ganze Spektrum ihres Könnens aus. Musikalisch wie szenisch changieren sie zwischen zarten und gewalttätigen Tönen, zwischen Liebe und Gier.
Nicht unerwähnt sollen Barbara Buser und Tamás Mester bleiben. Die Choreographien, insbesondere die des Drachenkampfes, kommen mit solch einer Leichtigkeit auf die Bühne, dass man geneigt ist, die schwere Arbeit dahinter zu vergessen.
Frank Nimsgern hat es sich nicht nehmen lassen, die Neufassung seines Werkes selbst zu leiten. Und was er und seine „Gibichungenmannen“ schaffen, lässt keinerlei Wünsche mehr offen. Perfektes Timing, ein fehlerloser Klang zusammen mit dem Bühnengeschehen lassen den „Ring 2.0“ zu einem unvergesslichen Abend werden.

Alexander Hauer 5.1..16


Bilder von H. Dietz Fotodesign, Hof

 

Credits:

MUSIKALISCHE LEITUNG Frank Nimsgern 
INSZENIERUNG Reinhardt Friese 
CHOREOGRAPHIE Barbara Buser 
SCHWERTKAMPF Tamás Mester 
BÜHNE Herbert Buckmiller 
KOSTÜME Annette Mahlendorf 

ALBERICH Chris Murray 
WOTAN Christian Venzke 
SIEGFRIED Christopher Brose 
BRUNHILD Zodwa Selele 
RHEINAMAZONI UND FEUERGEISTER 
ZÄRTLICHKEIT UND HOHE PRIESTERIN Jessica Kessler 
LUST UND PRIESTERIN Cornelia Löhr 
SCHMERZ UND PRIESTERIN Georgia M. Reh 

MUSIKER Frank Nimsgern // Michael Falk // Ralf Wunschelmeier // Philipp Renz 
Ballett Theater Hof 
Musicalclub Theater Hof

 

 

 

 

LA TRAVIATA

Premiere: 3.6. 2016

Besuchte Vorstellung: 5.6. 2016

Feine Töne, klare Linie

Gerade war mit der Inszenierung des „Sommernachtstraums“ im Römischen Theater der Eremitage ein fantastischer Großtraum zu erleben – und fast gleichzeitig hat das Theater Hof einen Traum inszeniert, der, je nach Betrachtungsweise, einen ganzen Akt oder einen ganzen Abend dauert. Violetta, die „vom Wege Abgekommene“, stirbt da ihren bekannten und auch in dieser Aufführung ergreifenden Tod, doch wird sie nicht von den bekannten Protagonisten in die letzten Momente ihres Lebens begleitet. Jeder stirbt für sich allein – auch die Frau, die sich ein Sterbefest imaginierte, das noch einmal den Liebsten und seinen Vater, die getreue Begleiterin Annina und den guten, aber angesichts der Todeskrankheit hilflosen Doktor an ihrem Sterbebett vereinigt sieht. Es ist nur ein Traum – ein Traum, der mit dem Leben enden muss.

Die Aufführung von Verdis revolutionärer Oper als einen einzigen Traum zu bezeichnen: auch dies wäre nicht falsch, steht doch eine Sängerin auf der Bühne, die 1. nuanciert und wohltönend singt und 2. so gut agiert, dass die bekannte Geschichte von Neuem ins Herz wohl eines jeden Zuschauers greift. Anna Sohn ist eine Violetta Valéry, die vom ersten bis zum letzten Augenblick packt: weil sie gerade die feinen Töne bannend beherrscht. Ihr „misterioso“, also die Erinnerung an das Liebesgeständnis ihres Alfredo, könnte bannender nicht sein. Es kommt auch deshalb so überzeugend über die Rampe, weil am Pult der Hofer Symphoniker ein Dirigent steht, der dem Orchester beigebracht hat, wie man zugleich leise und intensiv spielen kann. Dieser Verdi kracht nicht unter Arn Goerke, er singt sich aus, er ist rhythmisch federnd, er klingt stellenweise gar wie ein idealer Operntraum des Robert Schumann; die Streicher ziselieren nicht allein in den zahlreichen Valse tristes dieses Totentanzes die schönsten Linien aus dem Material, das Verdi im Grenzgebiet zwischen Kammerspiel und großer Geste angelegt hat.

Die Regie folgt dieser Linie kongenial, weil die Verlagerung der Handlung in die Endzwanziger den sozialen Rahmen, in dem eine solche Outsider-Geschichte noch möglich scheint, nicht unzulässig um das Motiv der Drogensucht erweitert. Lothar Krause hat, zusammen mit der Bühnenbildnerin Annette Mahlendorf, klare Bilder einer dekadenten „High Society“ in klar strukturierten, zunehmend dunkler werdenden Räumen geschaffen. Allzu starker Symbolismus ist ihm, abgesehen von der abgenutzten Idee des Schneiens, fremd; nur der Auftritt eines kleinen Mädchens, das im Gespräch des bürgerlichen Vaters mit der unbürgerlichen Lebedame für die zu verheiratende Tochter des alten Germont einstehen soll, bricht – unnötigerweise? - das Konzept, das eher das Sozialdrama als das Traumspiel zu betonen scheint. Wäre da nicht der gesamte dritte Akt…

Dass er in seiner schlichten Strenge funktioniert, liegt auch am Tenor. Andre Nevans, der den Alfredo als netten Jungen gibt, besitzt eine schmiegsame lyrische Stimme, die zum expressiven wie gezügelten Sopran seiner Partnerin schon charakterlich trefflich passt. Bleibt der Bariton, James Tolksdorfs Germont, der fast zu salbungsvoll singt, um vielleicht gänzlich zu überzeugen – aber passt die vollkommene Schönheit seines Organs nicht trefflich zu seinen vielen Bezeugungen der bürgerlichen Anständigkeit, der Gottestreue und des Lobpreises des „Engels“ Violetta, der eben auf dem Altar der bürgerlichen Reinheit geopfert werden muss?

Und schliesslich: Stefanie Rhaue als Annina - auch sie muss genannt werden.

Starker Beifall für eine handwerklich geglückte wie stimmlich meist und instrumental immer erstklassige Aufführung, die das Wort von der „Provinz“ unaufgeregt widerlegt.

Frank Piontek, 7.6. 2016

Fotos: Harald Dietz, Hof

 

 

 

GEORG BÜCHNERS

WOZZECK

Premiere am 18.9.15

Mutiger großer Saisonauftakt

1925 wurde „Georg Büchners Wozzeck“, wie der ungekürzte und korrekte Titel des Werkes lautet, in Berlin uraufgeführt. 90 Jahre sind vergangen, doch immer noch gilt Alban Bergs „Wozzeck“ als das Schlüsselwerk der Opern-Moderne, zudem als einzige Oper aus dem Bereich einer extrem gespannten Tonalität, die ins Repertoire aller internationalen Opernhäuser Einlass fand. Nun endlich hat das fantastische Ausnahmestück, dank des Generalmusikdirektors Arn Goerke, das Theater Hof erreicht. Die Hofer dürfen zufrieden sein – dies vor allem, weil hier der Spagat zwischen einer (meist) erstklassigen musikalischen Interpretation und einer Neudeutung (meist) gut gelang.

Ohne arrogant zu sein: wäre es nicht sinnvoll gewesen, das Werk, das in Hof noch nie erlebt werden konnte, in einer eher konservativen szenischen Deutung auf die Bühne zu bringen, statt es mit einem Einheitsbühnenbild und radikalen Änderungen zu versehen? Da die Hauptsache immer noch der singende Mensch bleibt, der die leidende, wütende, hassende Kreatur zu machen hat, ist der Fall weniger dramatisch als befürchtet, denn schnell schon erweisen sich die dramaturgischen Fragwürdigkeiten, die vom Regisseur Christian Tombeil und der Bühne- und Kostümgestalterin Gabriele Wasmuth verantwortet werden, weniger wichtig als die Kraft der Darsteller. Birger Radde ist ein fast zu schön artikulierender Bariton, der dem Wozzeck zu singen gibt, was er leidet. „Das Gesangsfach Bariton“, schrieb Peter Peter Petersen in seinem Grundlagenwerk über „Georg Büchners Wozzeck“, „eröffnet wie keine andere Männerstimme die Möglichkeit, einen komplexen Charakter, wie Wozzeck ihn darstellt, zur Entfaltung kommen zu lassen. Lyrisch-intime wie leidenschaftlich-dramatische, realistisch-deftige wie irreal-versponnene Ausdrucksbereiche stehen dem Bariton zu Gebote und ermöglichen die volle Ausschöpfung dieser bis in die Extreme menschlichen Erlebens und Leidens ausgelegten Figur.“ Radde kapriziert sich eher auf den leidenschaftlichen Ton, noch der Wahnsinn erscheint vokal gezügelt. Sein Wozzeck ist die leidende Kreatur, die den Wahnsinn eher ins Gestische, ins Krauchen, irre Beobachten, wie tot Daliegen und Geschleudertsein (wie im D-Moll-Intermezzo) verlagert: kein Verlust für die starke Rollenauffassung, die den Zuschauer und -hörer völlig erreicht.

80 Minuten hat Radde, das ist keine kleine Leistung, pausenlos auf der Bühne zu stehen: einem weiß gekachelten Raum mit umlaufendem Steg auf dem unteren Drittel, über und unter dem sich gelegentlich Durchlässe für die anderen Figuren öffnen, was gelegentlich eher ungelenk wirkt, weil es weniger dramaturgisch als bühnenpraktisch motiviert scheint. Ansonsten befindet sich dieser Mann nicht in der Kaserne, dem Wirtshaus, Maries Stube oder auf einem Waldweg, sondern an einem ausweglosen Ort, der irgendwo zwischen wasserlosem Hallenbad und Zelle definiert werden kann – ein Raum, in dem der Doktor seinen Patienten, den Mörder Wozzeck, mit Pillen (seinen „Erbsen“) traktieren und analysieren kann. Ist's Wahn, ist's Wirklichkeit, wenn Wozzeck mit Marie, dem Hauptmann, dem „einfachen Volk“ kommuniziert? Natur ist hier nur noch eine vom Video (also vom Videographen Yoann Trellu) vermittelte: in Wozzecks Kopf und/oder auf der Wand wird ein Waldweg, wird Wozzecks Gesicht projiziert. Derart misstraut die Regie dem so wichtigen Natur-Begriff Alban Bergs, dass sie auf den differenzierten Kontrast mit der (heruntergekommenen) „Kultur“ verzichtet, um „Natur“ nur noch als Wahnwelt zu imaginieren: wenn das Orchester unkt und raschelt, müssen technisch produzierte Bilder für jene Natur einstehen, die in der Anstalt keinen Raum mehr hat - aber ist nicht schon die vom Orchester produzierte Natur ein Produkt der reinen Technik?...

Wenn Karsten Jesgarz als halbgeschorener Typ, der gerade vom Leipziger Wave-Gothic-Festival gekommen zu sein scheint (also aus der Stadt, in der der Franz Woyzeck hingerichtet wurde), als Hauptmann stimmstark (die Höhen!) und extrem hysterisch mit dem Doktor (sehr gut: Hyung Wook Lee) zetert, der ihm den baldigen Tod voraussagt, darf der Zuschauer sich allerdings fragen, wieso und weshalb dies vor Wozzeck zugeht. Letzten Endes ist es die Intensität der Szenen und der Blicke (wunderbar, wie Marie in ihrer vorletzten Begegnung den Wozzeck anfunkelt), die die latente Unlogik des szenischen Arrangements spätestens dann vergessen machen, wenn es – ab dem zweiten Akt – ans sog. Eingemachte geht.

Die Marie Yamina Mamaars ist, im Gegensatz zum stimmlich wenig löwenhaften, also gar nicht präpotenten Tambourmajor Andre Nevans', einfach glänzend: gesegnet mit einem leuchtend starken Sopran, spielt sie eine starke Frau noch im Unglück und der Trauer über die eigene Trauer. Ein Höhepunkt: der Mord, der derart von einer Videoprojektion überflimmert wird, dass die beiden Figuren im Raum zu schweben scheinen. Ein zweiter Höhepunkt: das gewaltige Scherzo der surrealen Wirtshausszene, in dem die Männer von vier „leichten Mädchen“ mit schwer symbolischen wie gewaltigen Hirschgeweihen ausstaffiert werden. Ein letzter Höhepunkt: der einsame Wozzeck auf der nackten, nun verkleinerten Bühne, da sich die Rückwand klaustrophobisch nach vorn geschoben hat – ein Monument der Einsamkeit. Die Musik könnte von Neuem beginnen, das Drama wieder seinen Lauf nehmen. Hat jemand das szenisch vorgeschriebene Kind vermisst?

Dass es in Hof so prachtvoll funktioniert, liegt nicht zum Wenigsten an den Hofer Symphonikern, die unter der Leitung Arn Goerkes eine Schwerarbeit leisten, die der Kenner der satztechnisch und instrumentatorisch wie eine Goldschmiedearbeit komponierten, mit unglaublich vielen Vortragsbezeichnungen und Artikulationen versehenen Partitur nur als delikat bezeichnen kann. Von der 10. Reihe aus klingen die meisten Passagen wie feinste, abgedämmte Kammermusik, die den Sängern allen Raum lässt und die Eruptionen, etwa das berühmte doppelte Crescendo, das nach der Mordszene erklingt, umso beklemmender macht. Nein, macht hört selbst dann nicht, wenn man präpariert ist, dass der Komponist seine Musik mit dem Formgerüst von mikrologisch komplexen Charaktersätzen, einer fünfsätzigen Symphonie (samt Tripelfuge) und einer Suite von Inventionen versah, aber man soll es ja auch nicht hören.

 

Dass die Passacaglia des Doktors und deren 21 Variationen zwölftönig organisiert ist: man muss es nicht wissen, um im bloßen Hören - dank einer guten Probenarbeit - klare Strukturen zu vernehmen. Was Berg schließlich allein wichtig war - das menschliche Drama -, dies kommt auch dank des Orchesters in Hof zum schönsten Klang. Der Bergsche Ton – dies ein Lieblingsbegriff des Komponisten – wird oft und meist relativ diskret gemacht: „die gläsern festgebannte Angst der Szene auf dem Feld, der zugleich grelle und getrübte Marsch hinter der Szene, das Wiegenlied, Echo der unterdrückten und aufsingenden Natur; der unsäglich melancholische Ländler der großen Wirtshausszene, Wozzecks abgründige Frage nach der Zeit, der unselige Schlaf in der Kaserne“ (wie Theodor W. Adorno in seinem schönen Berg-Buch schrieb). Der Chor hat, dramaturgisch tragend, seinen Anteil: unter der Leitung von Cornelius Volke und Hsin-Chien Chiu sieht er nicht nur stilistisch verfremdet aus (die zweite Wirtshausszene zeigt das Volk in schwarzweißen wie „unrealistischen“ Kostümen einer enthemmten Halbwelt der frühen Berg-Zeit: quasi mit „langen Kleidern“ und „spitzen Schuh“) – er artikuliert sich auch stil- und stimmsicher, nicht allein im Cluster des Jägers aus Kurpfalz. Nicht nur das d-Moll-Intermezzo ist bewegend, auch Wozzecks „Wir arme Leut“-Seufzer, die unheimlichen Prophezeiungen des Handwerksburschen (wirklich nicht schlecht, aber artikulatorisch noch steigerungsfähig: Daniel Milos ) und des Narren, der hier kein anderer ist als die Assistenzärztin, also

Stefanie Rhaue mit clownesker Pappnase. Ja, der Mond ist blutig, und das Drama in der geschlossenen Psychiatrie ein Albtraum.

 

Stefanie Rhaue hat auch, zusammen mit Wozzecks Jungen, den Abend eröffnet (und macht eine gute Margret: mit wilder Perücke und deutlichem Ton): mit einer Rezitation des unheimlichen Märchens vom einsamen Kind, das später von Marie angestimmt wird. Derart öffnet sich ein Abend, der Bergs Oper über den geknechteten Menschen mit (meist) sinnvollen Änderungen beikommt. Was nicht unmittelbar verständlich scheint, geht aufs Konto eines expressiven Surrealismus, der mit Wozzecks Phantasien und Erinnerungen wohl nicht genug erklärt werden kann. Und doch: Bergs Oper bleibt in Hof die herausragende, immer noch moderne Tragödie für Musik, die sie seit 90 Jahren ist. Der Beifall war demgemäß sehr freundlich, wenn auch nicht übermäßig lang.

Frank Piontek 20.9.15

Fotos: SFF Fotodesign Hof

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DER RING AN EINEM ABEND

Premiere: 5.6. 2015

Frau Rhaue und Frau Ruzzifante, Herr Lee und Herr Satter...

Blaulicht liegt auf den Pulten, hinter dem blutroten, gerafften Theatervorhang schimmert lichtvoll das Grün des Waldes. Später wird sich das Licht fast unmerklich verändern. Mehr Deko gibt es nicht. Es gibt auch keine Kostüme – aber es gibt die Sänger, die meist mit zurückhaltenden Gesten, die deutlich genug sind, das Drama andeuten. In Wahrheit sind sie das Drama: die singenden Menschen, Frau Rhaue und Frau Ruzzifante, Herr Lee und Herr Satter, die, in Frack oder theatralisch unheimlich passenden Konzertkleidern den „Ring“ über die Rampe bringen – den „Ring an einem Abend“, eingerichtet in einer Konzertfassung mit verbindenden Texten, ein Werk Richard Wagners und Loriots, der damit einen seiner größten Erfolge feierte.

Natürlich denkt der Rezensent an derart gelungenen Abenden, wie sie das Theater Hof uns schenkt: „Eigentlich brauchen wir doch gar keine Szene. Eigentlich hat Wagner, der Erfinder des Hörspiels (wie ihn Nietzsche nannte), doch mit dem 'Score', also der Musik zum Film vom Herrn der Ringe, das Wesentliche gesagt. Wieso sonst wären wir selbst dann vom 'Ring' bewegt, wenn wir ihn 'nur' hören? Hat Wagner nicht selbst vom unsichtbaren Theater geträumt? Und wusste er nicht schon, dass es vollkommene Inszenierungen des unvergleichlichen Großwerks nicht geben kann? Und beweisen nicht immer Regisseure mit traurigem Erfolg, dass der 'Ring' nur unzulänglich auf die Bühnen gebracht werden kann?“

Natürlich ist das alles Unsinn, aber eine rein konzertante Aufführung ausgewählter „Highlights“, die an der Schnur der ironischen und doch respektvollen Texten Loriots gebracht werden, kann leicht von der Szene abstrahieren – gesetzt den Fall, dass sich die Sänger wenigstens ansatzweise zum Drama verhalten, dass, zweitens, ein Sprecher wie Ralf Hocke den Text (natürlich auf dem Sofa...) so bringt, wie wir es lieben: trocken und doch voller Anteilnahme am Geschehen, humoristisch und doch von typisch bülowscher Vornehmheit, und dass schließlich, das ist wirklich nicht das unwichtigste, das Orchester weiß, was es da spielt.

Das exzellente Orchester trägt, natürlich praktischerweise hinter den Solisten sitzend, die Sänger meist, wie Wagner forderte, auf einem Kothurn. Unter der Regie von Annette Mahlendorf (Bühne und Kostüme) und Thomas Schindler (Dramaturgie) bringen sie den „Ring“ in Bewegung; dass Scott MacAllister zwar genauso rund und ausgeglichen singt wie alle seine Kollegen, wie man es nur von guten Ensembles kennt, ist wunderbar, aber dass er zu Angelina Ruzzafante kaum eine räumliche Beziehung aufbaut, fällt an diesem Abend auf. Eine Ausnahme – denn das Ensemble überzeugt insgesamt, vor allem durch einen Schönklang, der das Drama nicht vergessen lässt.

Schon die drei Rheintöcher entzücken: die bekanntlich goldstrahlende Inga Lisa Lehr, die junge Juliane Schenk, die mit einer äußerst klaren Stimme gesegnet (und seltsamerweise „freischaffend“) ist, und die unverzichtbare Stefanie Rhaue, die auch die Fricka und die Waltraute mit größter Deutlichkeit an der (fast!) szenenlosen Rampe szenisch macht: durch den Blick, durch die Haltung, durch die schauspielerisch grundierte Stimme, die Wagners Diktum der „Deutlichkeit“ mit ihrem äußerst gepflegten Alt-Ton realisiert. Wotan ist daneben die schönste Entdeckung: Sangmin Lee singt majestätisch, wunderbar baritonalbassig, genau, mit zurückhaltend intensiven Blicken auf die verstoßene Tochter.

Wieland Satter, der ja auch einen knorzigen Kaspar machen kann, gestaltet einen ungewöhnlich schönklingenden Alberich, der aufs Raunzen verzichtet, aber doch einen ganzen Alberich stimmlich verkörpert. Angelina Ruzzafante fiel kürzlich schon als Sieglinde im Dessauer „Ring“ auf, der in vielen Zuschauern den Wunsch nach dem unsichtbaren Theater provozierte. Sie gehörte in Dessau schon zu jenen Sängern, die die szenisch nervtötende wie unsensible „Walküre“ zumindest akustisch erträglich machten – in Hof kann sie ihre unendlich klar fokussierte, bewegend mädchenhafte wie strahlend starke Stimme unbelastet von manch manischen Regieeinfällen und Hybrid-„Konzepten“ ins Haus schicken. Braucht es da wirklich eine ausgebaute Szene?... Scott MacAllisters Siegmund ist passend, also von erster Güte, auch sein Siegfried: ein Mann mit Strahlestimme. Sabine Paßows Brünnhilde klingt zunächst relativ dunkel, was für die Todverkündigung natürlich passt – aber im Grand Finale kann sie zeigen, zu welchen Höhen sie unschrill fähig ist: bis zum letzten, erlösenden Akkord.

Matthias Frey sang einen eher leichten Loge und ein Mime, Hyung Wook Lee einen sehr anständigen Hagen - falls Hagen anständig sein kann... Auf den Waldvogel musste man verzichten, aber dafür kam Frau Ruzzafante kurz, aber immerhin, als Gutrune zurück. Mit Harfenschlag... Voilá: ein Ensemble, gemischt aus Hausmitgliedern und Gästen. Last but not least sei noch das fabelhafte Dirigat von Arn Goerke herausgestellt.

Hier, wo vor einigen Jahren ein sehr gutes „Rheingold“ möglich war, hatte man's also erlebt: dass man Wagners Großwerk immerhin in Teilen musikalisch völlig überzeugend zu stemmen vermag, damit diejenigen unter den Zuhörern, die nicht wie wild durch die Welt wandern, um sich einen „Ring“ nach dem anderen anzuhören, wenigstens einmal in authentischem Klang wesentliche „Ring“-Glanzstücke kennenzulernen. Und nach Wotans Abschied und Loges Feuerzauber kommt ja, wenn er so gebracht wird, eh immer das ewig bekannte und ewig neue Gefühl auf: „Er war ein Zauberer...“.

Riesiger, kaum endenwollender Beifall für einen Kurz- „Ring“, der den ganzen nicht ersetzen kann – aber, trotz gewaltsamer Interrupti, die komplette Tetralogie seltsamerweise auch nicht vermissen lässt.

Frank Piontek

Fotos: SFF Fotodesign

 

 

ANATEVKA

Aufführung Stadthalle Bayreuth

29.5.15

Eine wirklich starke Produktion

Bitte auf BAYREUTH klicken

 

 

 

RICHARD O’BRIEN´S

THE ROCKY HORROR SHOW

Premiere 14.2.15 

It’s just a jump to the left…

Ein außerirdisch guter Musicalcast verstärkt mit Shakespearedarstellern rockt das Universum. Als 1973 der Universalmusiker Richard O’Brian seinen Rocky in einem 63 Personentheater aus der Taufe hob, dachte noch keiner an die Generation Porn. Die Darstellung von Sexualität auf der Bühne war zumindest auf der Insel noch verpönt. Transvestiten waren höchstens als Lachnummer in Stücken wie „Charlies Tante“ akzeptiert, als Lebensart aber auf keinen Fall. Trotzdem, oder vielleicht auch gerade deswegen haben sich die Fantasien eines 14-jährigen, der nicht wohin weiß mit der Pubertät, sich so rasant durchgesetzt und zumindest die Musicalwelt erobert.
Aber was ist das Faszinierende an dem Stück heute, in einer durch und durch sexualisierten Welt? Reinhardt Friese begeht nicht den Fehler das Stück auf eine höhere Ebene zu stellen, sondern er und seine Ausstatterin Annette Mahlendorf verzichten auf alles offensichtlich Anstößige, zeigen nichts und lassen alles erahnen. Und erreichen genau damit diese besondere Komik, die der eher trivialen Dramaturgie den frivolen Reiz gibt.

 



Auf einem Filmstreifen als Bühnenbild, auf dem alle Orte der Handlung, live von kleinen Modellen abgefilmt, projiziert werden. Die Kostüme changieren durch die Jahrzehnte der Filmgeschichte, orientieren sich aber an den Erwartungen des Publikums, genährt durch die 1976er Verfilmung.


Thomas Hary führt als Erzähler durch die Handlung und erträgt tapfer die Schmähungen des Publikums. Jörn Bregenzer, singt, spielt und tanzt den Spießer, der ein Wechselbad der Gefühle und sexuellen Orientierungen durchmacht. An seiner Seite Julia Leinweber, als Janet Weiss, die von der Spießerbraut zur Gelegenheitsschlampe mutiert.

 

 

Dr. Frank’n’Furter, Léon van Leeuwenberg , der trotz 1,95m ohne Pumps, dunklen Locken und Perlenkette auch als Präsidentengattin durchgehen würde, mutiert zum überaktiven Sexmonstrum, dass die beiden Normalos in arge Gewissenkonflikte bringt. Seine Dienerschaft, RiffRaff, Chris Murray mit Wagnertenor und Stentorstimme in Kinskiqualität, Magenta, Cornelia Löhr und Columbia, Susanna Mucha unterstützen ihn dabei.
Stefan Reil, Franks neuestes Hobby, erstrahlt mit Vergoldung auf einem Körper, den man nicht nur durch die Anmeldung im Studio bekommt. Der dafür geistig nicht ganz entwickelte Kunstmensch, interessiert sich auch nicht besonders für seinen Schöpfer, glänzt aber durch eine voluminöse Rockstimme und außerordentliche Beweglichkeit.
Jonathan Agar , in einer Doppelrolle als Eddie, der übergewichtige Motorradrocker, und Dr. von Scott, der Naziwissenschaftler mit neuer Identität, besticht mit Stimme und einer akrobatische Tanzeinlage zusammen mit Columbia. Überhaupt die Choreografie, Stefan Brauer hat nicht nur seine Solisten, inklusive des Erzählers, gedrillt, sondern auch den Jugendclub des Theaters als Phantome zu einer geschlossen überragenden Ensembletruppe geführt.
Rebecca Anne Hicks und ihre Jungs von der Rocky Horror Band- Christopher von Mammen, Marius Leicht, Alfred Kallfass, Ralf Wunschelmeier und Mike Müller, sorgen für den richtige Sound und den richtige Druck.Aber was für den Fußball der 12. Mann ist, ist im Theater das Publikum. Sonst eher verhalten, rasteten die Hofer bei der Premiere aus, rockten das Haus und hinterließen ein Schlachtfeld aus Reis, Wasser, Klopapier und Spielkarten. Bei den (zu wenigen)Zugaben hat es niemand mehr auf den Stühlen gehalten und die meisten sangen und tanzten mit.
Fazit: Reinhardt Friese schafft es aus den Schauspielern des Hausensembles den Musicaldarsteller heraus zu locken und in einen perfekten Cast zu integrieren, und für den Theaterfreund gilt, wer den Weg nach Hof nicht schafft, ist selbst dran schuld!

Alexander Hauer 18.2.15

Bilder von SFF Fotodesign Hof

 

 

 

 

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