DER OPERNFREUND - 51.Jahrgang
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 HAMBURG ELBPHILHARMONIE

 

 

 

 

MAHLER | SCHOSTAKOWITSCH

 

PARALLELEN UND BERÜHRUNGSPUNKTE

 

Dimitrij Schostakowitsch war ein großer Bewunderer der Werke von Gustav Mahler. Beide haben in ihrem großen sinfonischen Œuvre persönliche, schmerzhafte Erfahrungen und Empfindungen verarbeitet. Im Programmheft zu diesem Konzert des NDR Elbphilharmonie Orchesters, das aus Werken der beiden Komponisten bestand, wird darauf verwiesen, dass beide Meister auch dem Spott nicht abgeneigt waren. So erklären sich manche zum Grotesken neigende Passagen in ihren Werken. Es scheint kein Zufall gewesen zu sein, dass sich Schostakowitsch im Kopfsatz seiner fünften Sinfonie in einer Tonfolge genau auf DES ANTONIUS VON PADUA FISCHPREDIGT aus Mahlers Wunderhorn- Liedern bezogen habe, wie der Musikwissenschaftler Jakob Knaus analysierte.

 

DIKTIONSPROBLEME

 

Die so vielschichtige Partitur Mahlers in seinen WUNDERHORN-LIEDERN, die vom NDR ELBPHILHARMONIE ORCHESTER unter der Leitung von Andrés Orozco-Estrada mit tiefgründiger Subtilität die unterschiedlichsten Stimmungen erfassend interpretiert wurde, fand im Solisten, dem Bariton Matthias Goerne einen nicht restlos adäquaten Partner. Seine Diktion klang verquollen, Konsonanten wurden dem runden Klang geopfert und so verstand man kaum ein Wort. Der Schönklang seines angenehmen Timbres war durchaus zu erleben, leider ist das für Lieder zu wenig. Fast alle im Publikum lasen die Texte im Programmheft mit, kaum einer guckte auf das Orchesterpodium. So hörte man zwar schön gesungene Vokalisen, wunderbar eingebettet in den Orchesterklang, aber ohne Mitlesen des Textes offenbarten sich diese exquisiten Kunstlieder nicht in ihrer Gänze.

Gewaltige Orchesterexplosionen, groteske Märsche (REVELGE), Tragik (DER TAMBOURSG'SELL), exzellentes Blech (Hörner, Trompete im URLICHT), zart hingetupfte Wellen und ironische Wendungen (FISCHPREDIGT) und wiegender Duktus (RHEINLEGENDCHEN) machten diese sieben Lieder aber zu einem zumindest orchestralen Erlebnis.

 

IDIOTEN UND TROTTEL

 

Über das effekthascherische, stampfende Marsch-Finale in Schostakowitschs Fünfter ist viel geschrieben worden. War das nun Anpassung an den Stalinschen Musikgeschmack oder subtile Hinterfragung und Sarkasmus? Mstislav Rostropovich z.B. sagte: "Wer das Finale als Glorifikation empfindet, ist ein Idiot - ja, es ist ein Triumph für Idioten." Der Komponist selber schrieb in seinen Memoiren: "Der Jubel ist unter Drohungen erzwungen ... Man muss ein kompletter Trottel sein, um das nicht zu hören." Nun, das Publikum gestern Abend in der Elbphilharmonie legte noch, ehe der Schlusston ganz verklungen war, mit lautstarkem Applaus und Jubel los, kein Moment der Reflexion, des Wirken lassens des Gehörten auf die Seele. Natürlich kann man sich der Faszination der martialisch stampfenden Marschrhythmen nur schwerlich entziehen, wenn man die Hintergründe der Entstehung der Sinfonie nicht kennt, nicht weiss, dass Schostakowitsch kurz vor dem Suizid stand aufgrund seiner kurz vorher erfolgten Ächtung durch das stalinistische Regime. 

 

Der erste Satz ging bei dieser Aufführung unter die Haut, die Schmerzensschreie der Violinen waren kaum auszuhalten. Exzellent intonierten erneut die Hörner des NDR ELBPHILHARMONIE ORCHESTERS. Andrés Orozco-Estrada lotete die mystischen Stellen des Satzes wunderbar aus. Trotz des aufgeregten Duktus dieser Passagen, wirkte das alles nicht nervös. Transparent klangen die wuchtigen Aufschwünge, die stürmischen Tutti - die Akustik der Elbphilharmonie hält das bis zur Schmerzgrenze aus, ohne den Klang breiig und lärmig zu machen. Betörend schön und ergreifend verklingt der Satz mit Flöte und Celesta. Im Allegretto bewunderte man die genau und perfekt artikulierenden Holzbläser, die wunderschön gespielten Passagen der Solovioline des Konzertmeisters, denen die Flöte antwortete, Freude, Volkstümlichkeit und trotzige Wucht im Wechsel mit Innerlichkeit - das Vorbild "Mahler" schimmert auch hier durch. Schostakowitsch braucht vier Töne und stellt den Hörer mitten hinein in den tragischen dritten Satz, ein überwältigendes Largo mit geradezu äolischen Stimmungen (Harfenklänge, Soloflöte - traumhaft, Flageolet der Violinen, eine Innigkeit, die nicht von dieser Welt schien). Insgesamt schuf Orozco-Estrada hier einen hypnotischen Sound, der einmalig zart verklang und dann eben zum bitterbösen, brachialen Finalsatz führte.

 

Immer mal wieder klingelte ein Smartphone (die haben wohl einen Chip eingebaut, der das Klingelzeichen genau dann aussendet, wenn die Musik sich im Pianissimobereich befindet). Hinweis an alle Nichtwissenden: Jedes Handy verfügt über eine Flugmodus Funktion, die Anrufe und Benachrichtigungstöne unterbindet. Ist in der Kopfleiste im Scroll down ganz einfach zu aktivieren. Ach ja - und bei einem Liedzyklus kann man getrost auf Zwischenapplaus verzichten, die Ausführenden sind nicht beleidigt, wenn nicht nach jedem Lied applaudiert wird - im Gegenteil. Vielleicht hatten ja Rostropovich und Schostakowitsch doch Recht: Idioten und Trottel ... .

 

 

Messiaen, Murail, Ravel, Debussy

Olivier Messiaen: LES OFFRANDES OUBLIÉES, Sinfonische Meditation

Tristan Murail: LE DÉSENCHANTEMANT DU MONDE, Sinfonisches Konzert für Klavier und Orchester

Maurice Ravel: UNE BARQUE SUR L'OCÉAN

Claude Debussy: LA MER, Drei sinfonische Skizzen

 

Der Dirigent Ingo Metzmacher hatte 2005 ein überaus lesenswertes Buch mit dem Titel KEINE ANGST VOR NEUEN TÖNEN publiziert. Immer wieder versucht er mit den von ihm verantworteten Konzertprogrammen und Musiktheateraufführungen sein Publikum mit auf Entdeckungsreisen in musikalisch weniger bekannte, näher an unserer Gegenwart angesiedelte Gefilde mitzunehmen. Gut so! Auch das Programm, welches er gestern Abend in der Elphilharmonie zusammen mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester präsentierte, bot die Gelegenheit, neue Töne zu entdecken. Alle vier an diesem Abend präsentierten Werke zeigten das Bemühen der Komponisten, dem Klang nachzuhorchen. Der Bogen reichte dabei von Debussy und Ravel über Messiaen zum 1947 geborenen Tristan Murail, welcher als Vertreter der "Spektralisten" gilt, also jener Musiker, die ein ganz explizit auf die Ausnutzung des Klangspektrums eines oder mehrerer Klänge beruhendes Kompositionsverfahren anwenden, ohne sich der mathematischen, kopflastigen Seriellität (z.B. der Darmstädter Schule) zu unterwerfen. Das Concerto symphonique pour piano et orchestre von Tristan Murail stand denn auch im Zentrum des Abends. Für den Solopart konnte man keinen geringeren als Pierre-Laurant Aimard gewinnen, der bereits die Uraufführung im Jahr 2012 gespielt hatte. (Kleine Frage zwischendurch: Gibt es überhaupt einen anderen Pianisten, der sich an dieses Stück wagt?) Die Leistung des Pianisten jedenfalls ist zutiefst beeindruckend: Beinahe während 30 Minuten ist er unermüdlich im Einsatz, spielt mit und gegen ein riesig besetztes Orchester an. Das ist nicht leicht zugängliche Musik, weit entfernt davon. Sie ist laut, wirkt unstrukturiert, und ja, beim ersten Anhören eigentlich recht eintönig, durch das permanent schrill gleißende Blech geradezu einschläfernd. Erst ganz am Ende, wenn es leiser wird, bekommt man "spektrale" Aspekte mit. Da endlich kann man dem Klang nachhorchen. Aber um das Stück ins Herz zu schließen, ist es leider zu spät. "Le désenchantement du monde" nannte Murail sein Werk. Zu Recht, man war nicht bezaubert, eher desillusioniert. Ich habe wahrlich keine Angst vor neuen Tönen, bin gerade kürzlich z.B. zu einem Anhänger der Musik von John Adams geworden. Murail muss man wohl öfter begegnen, um ihn zu verstehen oder gar ins Herz zu schließen. Allein, der Gelegenheiten wird's nicht allzu viele geben. Musik muss faszinieren, packen, bewegen, berühren, rhythmisch oder melodisch fesseln. Diese Elemente fehlten mir persönlich bei dieser ersten Begegnung mit der Spektralmusik von Tristan Murail.

Ganz anders war das beim ersten Musikstück des Konzerts, Olivier Messiaens sehr persönlich ausgestaltetes orchestrales Erstlingswerk LES OFFRANDES OUBLIÉES. Das sind klanglich fantastisch austarierte, getragene, erfüllte Klänge, in religiöse Sphären abhebend, im zweiten Teil (Sünde) mit Brachialkraft aufwühlend, im dritten dann wieder mit fast körperloser Reinheit die Vergebung empfangend. Wunderbar rein intonierten die Violinen des Orchester diese lichten Passagen. Dieses Werk habe ich heute auch zum ersten Mal gehört - Liebe auf das erste Anhören. Geht doch!

Nach der Pause dann die bekannten, lautmalerisch-impressionistischen Werke von Ravel und Debussy über ihre Eindrücke des Wirkens von Wellen, Sturm und Wind auf dem Meer. Während sich Ravel bei seinem Stück UNE BARQUE SUR L'OCÉAN kurz und prägnant hält, braucht Debussy bei LA MER viel mehr Zeit, um die Stimmungen differenziert auszuloten. Das gibt mehr Raum zur Erforschung und Entfaltung des Klangs aus der Stille heraus (womit wir wieder bei den Spektralisten - oder eben ihren Vorgängern angekommen wären). Metzmacher und das mit herausragenden Leistungen an allen Pulten aufwartende NDR Elbphilharmonie Orchester interpretierten diese gewaltige und gewichtige Musik mit grandioser Emphase.

Klasse!

 

Kaspar Sannemann, 26.3.2022

 

 

Daniel Behle in der Elbphilharmonie

16.10.2019

Mozart Kosmos

Die Werke von Wolfgang Amadeus Mozart nehmen in der künstlerischen Arbeit von Daniel Behle einen gewichtigen Raum ein. Eben hat der deutsche Tenor mit großem Erfolg in Londons Covent Garden Opera den Don Ottavio in der spektakulären Kasper-Holten-Inszenierung des Don Giovanni verkörpert. Seiner kürzlich bei Sony erschienen CD mit Mozart-Arien (Zero to Hero) lässt er nun eine Tournee mit dem Programm dieser Platte folgen. Sie führte ihn am 16. 10. in den Großen Saal der Hamburger Elbphilharmonie. Wie bei der Aufnahme begleitete ihn das L’Orfeo Barockorchester unter seiner Gründerin Michi Gaigg, das mit den Ouvertüren zu Don Giovanni und Così fan tutte musikantischen Geist und vitale Musizierfreude demonstrieren konnte.

Der Tenor, im Gehrock aus schwarz/silbernem Brokat auch optisch eine noble Erscheinung, begann die Programmfolge mit den beiden Ottavio-Arien. Sogleich mit „Dalla sua pace“ nahm er mit seiner männlich-sensiblen Stimme, die mühelos den großen Raum füllte, für sich ein. Zarte Gespinste und schwebende piani (besonders im träumerisch entrückten Da capo) standen im Kontrast zu auftrumpfend heldischer Allüre. Voller Energie und mit bravourösen Koloraturläufen erklang „Il mio tesoro“. Alle vier Belmonte-Arien aus der Entführung im Konzert hintereinander zu singen, bedeutet eine enorme Herausforderung, sind sie doch von höchstem technischem Anspruch. Ganz zart klopfend wurde „Hier soll ich dich nun sehen“ vom Orchester, das insgesamt mit der feinsinnigen Begleitung des Solisten begeisterte, eingeleitet. Der Sänger nahm diese Vorgabe auf und ließ delikateste Töne sowie individuelle Verzierungen hören. In „Wenn der Freude“ lagen ihm einige tiefe Noten etwas unbequem, aber das innere Beben und gesteigerte Verlangen der Figur waren deutlich wahrnehmbar. Sicher bewältigt wurden die vertrackten Koloraturen der sogenannten „Baumeister-Arie“, welche zudem durch die sehr differenzierte Wiedergabe beeindruckte. Gebührend schwärmerisch, aber auch entschlossen und kraftvoll ertönte Taminos „Dies Bildnis ist bezaubernd schön“ aus der Zauberflöte zum Abschluss des ersten Teils.

Der zweite begann mit zwei Arien des Ferrando aus Così fan tutte, darunter die seltener zu hörende „Ah, lo veggio“ mit ihren anspruchsvollen Koloraturpassagen. Die bekannte „Un’aura amorosa“ bekam den nötigen schmeichelnd-träumerischen Umriss, auch durch die ungemein duftige Begleitung des Orchesters. Die letzten beiden Auszüge dürften die Zukunft des lyrischen Tenors anzeigen, denn Titos „Se all’impero“ und Idomeneos „Fuor del mar“ sind in ihrem Charakter schon von heroischem Anspruch. Behle erfüllte diese Herausforderung mit autoritärer Gestaltung, welche auch die Konflikte der beiden Herrscher einschloss, und souveräner Absolvierung des virtuosen Zierwerks.

Mozart galt auch die erste Zugabe des Sängers als Dank für die Wogen der Begeisterung im Saal. Wenn ich nicht irre, war es die bravouröse Arie des Ozia „D’ogni colpa“ aus La Betulia liberata. Mit der zweiten wechselte der Sänger zu Franz Schubert und dessen Oper Fierrabras. Der Ausschnitt aus dem Duett Emma/Eginhard „Der Abend sinkt auf stiller Flur“ war ein sanftes Ständchen, das den Abend zauberhaft enden ließ.

 

Bernd Hoppe 20.10.2019

Fotocredit: Sebastian Madej

 

 

Swedish Radio Symphony Orchestra & Daniel Hardin

16. 11. 18

Stockholm zu Gast an der Elbe

Die Elbphilharmonie ist nicht nur das neue Wahrzeichen der Hansestadt und seit ihrer Eröffnung im Januar 2017 ein anhaltender Anziehungspunkt für das Publikum aus aller Welt, sondern reizt auch international hochrangige Orchester, in diesem Saal aufzutreten. Am 16. 11. 2018 war das 1967 gegründete Swedish Radio Symphony Orchestra zu Gast – am Pult der englische Dirigent Daniel Harding, der dem Klangkörper seit elf Jahren als Chefdirigent vorsteht.

Für sein Hamburger Debüt hatte das Orchester als Auftakt ein Werk des schwedischen Komponisten Allan Petterson gewählt – das 1973 entstandene Symphonic Movement. Das 15minütige Stück ist geprägt von nordischer Schwermut, wechselt zwischen melodischen Linien und heftigen dramatischen Ausbrüchen. Orchester und Dirigent konnten schon hier mit der differenzierten Auffächerung der melodischen Inseln, rauschhaften Steigerungen und expressiv dissonanten Abschnitten begeistern.

Im Mittelteil des Programms erklang Robert Schumanns Konzert für Violine und Orchester d-Moll WoO23, wofür die international renommierte russische Geigerin Alina Ibragimova als Solistin gewonnen werden konnte. Sie prägte die Wiedergabe mit ihrem herben Spiel von geradezu männlicher Energie, das sogleich im wuchtigen Auftakt des 1. Satzes imponierte. Der lyrische Mittelsatz bot mit zart aufblühenden und innig verträumten Kantilenen freilich einen überraschenden Kontrast. Virtuose, tänzerisch orientierte Läufe bestimmten den lebhaften 3. Satz, nach welchem die Solistin vom Publikum enthusiastisch gefeiert wurde.

Nach der Pause stand Hector Berlioz’ Symphonie dramatique Roméo et Juliette in Auszügen auf dem Programm – ein Werk, welches in seinen Kontrasten die spielerischen Qualitäten des Orchesters bestens herausstellte. In sphärischem Streicherglanz ertönten die wehmütige Klänge von „Roméo seul“, groß rauschte die „Grand Fete chez Capulet“ auf und wurde so tumultös gesteigert, dass das Publikum sogar in Szenenbeifall ausbrach. Atmosphärisch flirrend und duftig delikat war die „Scène d’amour“ ausgebreitet, geheimnisvoll huschte das Scherzo ”La Reine Mab“ vorüber und evozierte eine solche „Sommernachtstraum“-Stimmung, dass man in jedem Moment den Puck vorbeizuhuschen glaubte. Mit den geradezu schmerzhaften Schlägen von „Roméo au tombeau de Juliette“ und der hymnischen „Invocation“ führte Harding das Konzert zum imponierenden Abschluss.

Bernd Hopppe 18.11.2018

 

 

 

GURRE-LIEDER

Premiere am 18.06.2017   besuchte Aufführung am 19.06.2017

Ein Rausch für alle Sinne

Als der Schlusschor „Seht die Sonne farbenfroh am Himmelssaum“ verklungen war, musste man sich fast eine Träne wegwischen - so ergreifend und so überwältigend wurde er vom MDR Rundfunkchor Leipzig (Nicolas Fink), dem Chor der Hamburgischen Staatsoper (Eberhard Friedrich) und dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg unter der Leitung von Kent Nagano dargeboten. Die Rede ist von den „Gurre-Liedern“ von Arnold Schönberg, die in der Hamburger Elbphilharmonie eine fulminante Aufführung erfuhren. Das auf einen Text des dänischen Dichters Jens Peter Jacobsen komponierte Oratorium gehört zu den nur mit größtem Aufwand zu realisierenden Mammutwerken, zu denen auch die erst kürzlich in Hamburg aufgeführte 8. Sinfonie von Mahler zählt. Die „Gurre-Lieder“ erzählen die Legende von König Waldemar und seiner Geliebten Tove. Tove wird getötet, woraufhin Waldemar mit Gott hadert. Zur Strafe müssen er und seine Mannen als unerlöste Tote durch die Nacht reiten. Der hymnische Schlusschor zeugt von der versöhnlichen Kraft der Natur.

Nagano und das Philharmonische Staatsorchester kosteten den Klangrausch des spätromantischen Werkes voll aus. Unglaublich, was Nagano mit seinen Musikern an Orchesterfarben hervorzaubern konnte. Der Fluss der Musik und die dynamischen Abstufungen waren optimal. Nagano behielt stets den Überblick über den riesigen Apparat und beglückte mit einer herausragenden Interpretation. Auch die emotionale Bandbreite des Werkes wurde dabei punktgenau getroffen. Die leidenschaftliche Liebe zwischen Waldemar und Tove wurde vom Orchester mit Hitzegraden verdeutlicht, als wäre man bei „Tristan und Isolde“. Großartig der orchestrale „Aufschrei“ bei Toves Tod, berührend das anschließende Lamento der Waldtaube. Die nächtliche Jagd der Untoten wurde furios und plastisch nachvollzogen. Dieser Schönberg war dank der herausragenden Leistung des Orchesters ein Rausch für alle Sinne.

Als kleines Problem erwies sich die Balance zwischen Orchester und Solisten. Von der weitgehend nicht vorhandenen Textdeutlichkeit abgesehen, hatten sie es auch schwer, über das Orchester zu kommen. Das betraf besonders den Tenor Torsten Kerl, der dem Waldemar zwar viel Leidenschaft mitgab, der aber in den Klangfluten auch oft unterging. Dorothea Röschmann war da als Tove mit leuchtenden Tönen präsenter. Die Mezzosopranistin Claudia Mahnke versah die Klage der Waldtaube mit pastosem Wohlklang und tiefem Ausdruck. Wilhelm Schwinghammer war der lyrische, liedhaft gestaltende Bauer und Wolfgang Ablinger-Sperrhacke gab mit präsentem Charaktertenor dem Klaus-Narr philosophisches Profil. Den gesprochenen Text übernahm Anja Silja, die ihre Aufgabe sehr profiliert löste und sie mit einer fast gesanglichen Attitüde erfüllte.

Wolfgang Denker, 20.06.2017

Foto von Felix Broede

 

 

Mahler Symphonie Nr. 8 mit "Lichtskulpturen"

Premiere am 28. April 2017

Bei seinen Besuchen in Hamburg – auch der Staatsoper oder von Konzerten in der Laeisz-Halle - zog es den Verfasser seit Jahren immer wieder zur Baustelle der Elbphilharmonie. So konnte er verfolgen den Fortgang, auch den zeitweiligen Stillstand, der Bauarbeiten bis jetzt zum Besuch im vollendeten Gebäude, was Lage und Architektur betrifft, einem Haus der Superlative.

In den grossen Konzertsaal der Superlative paßte dann auch (wenn nicht dort, wo denn sonst?) die Aufführung der Symphonie der Superlative, nämlich der Symphonie Nr. 8 in Es-Dur von Gustav Mahler für ganz grosses Orchester einschließlich Glocken, Celesta, Klavier, Harmonium, sowie Orgel, zum Schluß zusätzlich Trompeten und Posaunen isoliert postiert, acht Gesangssolisten, zwei vierstimmige gemischte Chöre und Knabenchor.

Bekanntlich brauchte Mahler diese riesige Anzahl Mitwirkender, die dem Werk den Beinamen „Symphonie der Tausend“ eintrug, um zwei im Abstand von ca. 1.000 Jahren entstandene grosse Texte abendländischer Kultur musikalisch zu vereinen. Es handelt sich um den mittelalterlichen Hymnus „Veni creator spiritus“ (Komm Schöpfer Geist), des Mainzer Erzbischof Hrabanus Maurus, und die Schlußszene von Goethes „Faust – der Tragödie zweiter Teil“, die nach Mephistos Eingeständnis seines endgültigen Scheiterns die Reinigung und den Aufstieg von Fausts Seele in immer höhere Himmelsregionen darstellt. Inhaltliche Verbindung der beiden Teile kann ganz vereinfachend darin bestehen, daß der Schöpfer Geist von oben kommt, die Seele Fausts nach oben aufsteigt, beide sich vereinen, um zu preisen die Allmacht umfassender Liebe – für Mahler ein ganz ungewohnt lebensbejahender Schluß. Musikalisch wird die Verbindung durch Themen oder eher Themenkomplexe viel mehr deutlich.

Bereits der Einzug der Mitwirkenden war sehr beeindruckend. Die Mitglieder des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg fanden gerade noch alle Platz auf dem Podium – z.B. das groß besetztes Streicherensemble von 18 ersten Geigen , entsprechend vielen zweiten Geigen, Bratschen und Celli bis hin zu acht Kontrabässen, weiter sechs Harfen, viel Schlagzeug, alle Holzbläser mindestens fünffach besetzt, je vier Trompeten und Posaunen. Acht Trompeten und Posaunen waren eingesetzt für Klang von oben, von meinem Platz ganz oben in der Mitte (Ebene 16) standen sie auf gleicher Höhe. Hinter dem Podium unter den Säulen für die Lichtskulptur – von meinem Platz aus zwischen den Säulen -   und seitlich davon nahmen Aufstellung der Chor der Staatsoper in der bewährten Einstudierung von Eberhard Friedrich und der Staatschor Latvija (Lettland) einstudiert von Māris Sirmais mit je ungefähr 150 Sängerinnen und Sängern. Letzterer schaffte es, zwischen zwei Auftritten in der Elbphilharmonie noch ein Kirchenkonzert in Warendorf bei Münster einzufügen. Hinzukamen auch seitlich platziert die Hamburger Alsterspatzen als Knabenchor - einstudiert von Jürgen Luhn.

Für den erkrankten Kent Nagano hatte kurzfristig Eliahu Inbal die musikalische Leitung des Riesenwerks übernommen, der Verfasser wurde durch seine Aufnahmen mit dem hr-Orchester zuerst von Mahler begeistert.

Begeisternd erklang auch gleich zu Beginn das gewaltige „Veni Creator spiritus“ mit dem markanten Hauptthema. Für die folgende weitgehend von den acht Solisten getragene Bitte um Gnade war es da günstig, daß diese hinter dem Orchester platziert waren, da die Stimmen hier fast instrumental behandelt werden. Die überaus gute Akustik das Saals zeigte sich daran, wie deutlich bis oben hin das virtuose Solo der ersten Geige (Konzertmeister Anton Barakhovsky) beim „Infirma nostri corporis“ (Schwäche unseres Leibs) zu hören war, ebenso wie in den musikalischen Entsprechungen im II. Teil. Sie sorgte auch dafür, daß in der gewaltigen Doppelfuge mit der Bitte um Licht und Liebe (Accende lumen sensibus), die Eliahu Inbal in rasantem Tempo spielen ließ, die musikalischen Strukturen nicht verwischten sondern, soweit möglich, deutlich zu hören waren, einschließlich etwa der Klais-Orgel. Das überzeugte, da dies den Höhepunkt des ersten Teils darstellt. Durchhörbar war auch wie zum abschliessenden „Gloria“ Knabenchor, beide Chöre und alle Solisten nacheinander einsetzten. Deren ff-Schluß ließ zwar den Saal beben, klang aber nicht unangenehm knallig..

Akustisch sehr überzeugend geriet auch der rein instrumentale Beginn des II. Teils mit dem pizzicato von Celli und Kontrabässen zu einem choralartigen Thema der Holzbläser und der folgenden grossen Steigerung. Das galt ebenso für den rhythmisch exakten pp-Beginn des Männerchors (Heilige Anachoreten) auf den Text „Waldung sie schwankt heran“

Für die fast opernhaften Arien der einzelnen Solo-Sänger erwies sich die Platzierung hinter dem Orchester als nicht mehr so günstig oder das Orchester war zu laut. So mußte etwa Kartal Karagedik in der Bariton-Partie des Pater extaticus forcieren, um den „ewigen Wonnebrand“ hören zu lassen. Besser schaffte es Wilhelm Schwinghammer in der Baß-Partie des Pater profundus. Burkhard Fritz glänzte heldentenoral mit dem „Blicket auf“ bis er nach der Steigerung der Bezeichnungen Marias,   „Jungfrau, Mutter, Königin, Göttin“, bei „bleibe gnädig“ mühelos den Spitzenton traf. Die drei Damen Sara Wegener als magna peccatrix, Daniela Sindram als Mulier samaritana und Dorottya Láng als Maria aegyptiaca bereiteten einzeln und mit ihrem Terzett , wieder begleitet von der Solo-Violine, einen musikalischen Höhepunkt des Abends. Die Solo-Mandoline leitete dann über zur Arie des früheren Gretchen (Una poenitentium), die Jacquelyn Wagner eindringlich und mit grosser Stimme steigernd bis hin zum „der neue Tag“ gestaltete. Einen grossen Auftritt hatten die Alsterspatzen u.a. mit ihrem Solo-Chor „es überwächst uns schon“ als „selige Knaben“

Ganz langsam ließ Eliahu Inbal den chorus mysticus „Alles Vergängliche“ beginnen und die Chöre schafften es, die langen ppp-Töne hauchzart ohne hörbare Schwierigkeit zu halten. Um so stärker konnte dann dynamisch und akustisch gesteigert werden bis zum rauschhaften ff dieses Chors und   dem dann doch nur dem gesamten Orchester samt Bläsern aus der Höhe überlassenen Schluß

Von allen Werken Mahlers kommt diese Symphonie vielleicht einer Oper am nächsten, übernimmt Mahler doch sogar die Szenenanweisungen Goethes in die Partitur. Da paßte es, daß auf sieben Säulen rosalie  mit farblich-wechselnden Lichtstrukturen die Aufführung begleitete, ohne daß ein Zusammenhang zur jeweiligen Musik deutlich wurde.

Genau so wichtig wären vielleicht Übertitel gewesen, denn man konnte kaum einmal den Text verstehen.

Das Publikum im ausverkauften Haus war aber trotzdem von der gewaltigen Menge der Mitwirkenden und der emotionalen Gewalt der Musik überwältigt, sodaß mit langandauerndem Beifall und Bravos alle Mitwirkenden gefeiert wurden, besonders und zu Recht der Dirigent, der den Riesenapparat so sicher und überlegen geleitet hatte..

Zum Schluß sei angemerkt, daß die Elbphilharmonie fast am einfachsten mit dem Fahrrad zu erreichen ist – Fahrradständer sind vorhanden – leider nichtDas würde Mahler freuen, denn in einem Brief aus seiner Hamburger Zeit wohl im Sommer 1895 schrieb er „Ich errege allgemeine Bewunderung mit meinem Rad. überdacht.   Ich scheine wirklich für das Rad geboren zu sein und werde bestimmt noch einmal zum Geheimrad ernannt werden“

Sigi Brockmann 1. Mai 2017

Fotos Wolf-Dieter Gericke

 

 

Zum Zweiten

SYMPHONIE NR. 8

Premiere am 28.04.2017

Musikalische Höchstleistung in der Elbphilharmonie

Die Symphonie Nr. 8 Es-Dur von Gustav Mahler ist ein Brocken. Nicht ohne Grund trägt sie den (allerdings nicht vom Komponisten stammenden) Beinamen „Symphonie der Tausend“. Das Orchester ist mit über 130 Musikern besetzt, dazu zwei Chöre, ein Kinderchor und acht Solisten. Eliahu Inbal hat für den erkrankten Kent Nagano die musikalische Leitung übernommen. Ihm gelingt es, das Philharmonische Staatsorchester Hamburg, den Chor der Staatsoper (in der großartigen Einstudierung von Eberhard Friedrich), den Staatschor Latvija (nicht minder präzise von Mãris Sirmais vorbereitet), die Hamburger Alsterspatzen und die Solisten zu einer musikalischen Höchstleistung anzuspornen. Die Struktur des zweiteiligen Werkes mit dem alten lateinischen Pfingstgesang „Veni creator spiritus“ im ersten und den Schlussworten aus Goethes „Faust II“ im zweiten Abschnitt wird mit ihrem Wechsel zwischen intimen Momenten und bombastischer Monumentalität von Inbal perfekt umgesetzt. Die Symphonie ist durchgängig durch Gesang geprägt. Wenige Passagen sind rein instrumental, wie etwa der Beginn des zweiten Teils. Hier gelingt Inbal eine wunderbare, geradezu „romantische“ Klangverdichtung - und er lässt das Orchester in purer Schönheit musizieren. Bei den Solisten haben die Damen einen leichten Vorsprung: Die Stimmen von Sarah Wegener, Jacquelin Wagner, Heather Engebretson, Dorottya Lang und Daniela Sindram überstrahlen leuchtend und mühelos den riesigen Apparat. Burkhard Fritz führt seinen robusten Tenor sehr schlank und lyrisch, Kartal Karagedik und Wilhelm Schwinghammer gestalten ihre Arien mit viel Intensität. Nur bei der Textverständlichkeit mangelt es bei allen. Das Finale schließlich gerät in seiner Steigerung zu überwältigendem Klangrausch gleichzeitig zum Höhepunkt des Konzerts.

Begleitet wird die Musik mit einer Lichtinstallation der Künstlerin rosalie (bürgerlich Gudrun Müller). Sie hat u. a. beim Bayreuther „Ring“ 1994-1998 Bühne und Kostüme entworfen. Die Aussage in der Konzertankündigung, man würde „einer klar strukturierten skulpturalen Form, im Sinne einer Landschaft aus Licht - ins Heute gedacht“ begegnen, ist allerdings etwas vollmundig. Die säulenartigen, von der Decke hängenden Objekte werden dabei zwar in immer neue Farben und Muster getaucht. Ein Vergleich mit Kirchenfenstern drängt sich auf. Das ist durchaus dezent und ganz hübsch anzuschauen, aber letztendlich auch überflüssig.

Wolfgang Denker, 01.05.2017

 

 

 

 

Jörg Widmann: ARCHE

Uraufführung am 13. Januar 2017

Überwältigend

 

Nach Festakt (mit Bundespräsident und Erstem Bürgermeister) sowie dem Eröffnungskonzert mit dem Elbphilharmonie-Sinfonieorchester unter Thomas Hengelbrock war zwei Tage später im Rahmen des Eröffnungsfestivals das Philharmonische Staatsorchester Hamburg an der Reihe. Hamburgs Generalmusikdirektor hatte für das erste Konzert „seines“ Orchesters in dem spektakulären Bau, in dem aber auch nicht ein Standard-Bauteil verwendet worden ist, einen Kompositionsauftrag an den 43-jährigen Rihm-Schüler Jörg Widmann vergeben. Nach eigenen Worten des Professors für Klarinette und Komposition an der Freiburger Hochschule für Musik hat ihn der Große Saal der Elbphilharmonie, den er noch in der Bauzeit Mitte 2016 erlebt hatte, so tief beeindruckt, dass sich ihm die Assoziation mit der „Arche“ der alttestamentarischen Sintflut geradezu aufdrängte. So ist das für rund 300 Musiker komponierte Oratorium (Sopran- und Bariton-Soli, ein groß besetztes Orchester, Orgel, zwei Chöre, ein Kinderchor) entstanden, das jetzt seine Uraufführung erlebte.

Zunächst aber noch ein Wort zur vielgerühmten und auch kritisch erlebten Akustik des großen Saals: Sicher dürften die Hörerlebnisse vom jeweiligen Platz abhängen; von den uns zur Verfügung gestellten Plätzen mit seitlichem Blick auf das Podium (schräg von oben hinter den 1. Violinen) wurde von Beginn an evident, wie empfindlich die Konstruktion des japanischen Akustik-Gurus Yasuhisa Toyota ist – man hört in den Piano-Passagen wirklich alle einzelnen Instrumenten- und Chor-Gruppen, was für ungemein intensive Durchhörbarkeit des jeweiligen Werks sorgt. Die auch geäußerte Kritik, dass man ebenso gut Huster und Räuspern aus dem Publikum hört, können wir nicht teilen; das passiert auch in anderen Konzertsälen.

Nun zum uraufgeführten, fünfteiligen Werk, das im Folgenden unter teilweiser Verwendung des Partitur-Vorwortes beschrieben werden soll: Im Zentrum des Oratoriums steht der Mensch in seiner fragenden Hinwendung zu Gott, von dem er keine Antworten hört. Im Gegenteil, die Menschheit, die doch nach Gottes Ebenbild geschaffen sein soll, wird von eben diesem Gott, kaum zum Leben erweckt, in der Sintflut fast vollständig vernichtet. Im 1.Teil („Es werde Licht“) wird anders als in der Schöpfungsgeschichte und auch anders als im Beginn des Johannes-Evangeliums („Im Anfang war das Wort“) der „Klang“ gesucht (Widmann: „Bei mir müsste es heißen: ‚Es werde Klang‘“). Hier und im 2.Teil („Die Sintflut“) sprechen zwei Kinder (sehr gut artikulierend Jonna Plathe/Antonius Hentschel) die biblischen Texte, während es in den ersten Minuten nur außermusikalische Geräusche auf der Suche nach Klang gibt. Im Folgenden hat Widmann selbst Texte aus unterschiedlichen Jahrhunderten ausgewählt, aus der Bibel, der katholischen Liturgie und „Des Knaben Wunderhorn“ sowie u.a. von Claudius, Michelangelo, Klabund, Heine, Brentano, Schiller, Franz von Assisi, Nietzsche. Dieser überaus vielfältigen Text-Auswahl entspricht ein musikalischer Formenreichtum, der vom intimen Klavierlied bis zum groß besetzten Orchester samt Chören reicht, von tonalen Passagen bis zu komplexen Akkordschichtungen. Es ist letztlich ein Weltengesang, in dem sich der Mensch seinen Wünschen, Hoffnungen, Ängsten und seiner Utopie einer möglichen besseren Welt hingibt. Im „Sintflut-Teil“ erfährt man durch gewaltig herabstürzende Klangmassen geradezu physisch die Gewalt des göttlichen Vernichtungsaktes.

Wie eine glückliche Insel ist der 3.Teil („Liebe“) in der Mitte des Oratoriums platziert. Zunächst entspinnt sich ein Wechselgesang der Liebenden (Solo-Sopran und -Bariton), der von Liebesliedern und –Duetten bis zu wechselseitigen Vorwürfen reicht. Während der Chor Salomons Hohes Lied der Liebe singt, wird von einem Doppelmord aus Eifersucht berichtet – auch das kostbare Gut Liebe weiß der Mensch nicht vor dem Bösen zu bewahren. So überrascht es nicht, dass im folgenden 4.Teil („Dies irae“) die Apokalypse hereinbricht. Wieder stehen sich – in Gestalt zweier Chöre – die Prinzipien des Guten mit lyrischen Passagen („Voca me cum benedictis“) und des Zerstörerischen mit dem rhythmisch skandierten „Dies irae“ und „Rex tremendae“ sowie auch wieder außermusikalischen Klängen gegenüber. Die Solo-Stimmen rufen in ihrer Verzweiflung einmal mehr um göttlichen Beistand, um Vergebung der Sünden. Der letzte Teil („Dona nobis pacem“) beginnt mit dem Kinderchor, der sich auflehnt gegen das Prinzip eines strafenden Gottes. Mit einem modernen Alphabet werden die digitalen Schlagwörter, aber auch die Gefährdungen unserer Zeit benannt. „In god we trust“ lautet der Schlussappell der Kinder, dem sich  der Bariton mit „in te Domine speravi“ anschließt. Doch die Kindererzähler lassen diese Ausflucht nicht gelten: Zu allererst muss der Mensch selbst die Verantwortung für sein Fortbestehen übernehmen. Dieses Fazit, das Frieden tatsächlich möglich erscheinen lässt, und ein klanggewaltiges „Dona nobis pacem“ aller Beteiligten beendet das große Werk.

Dem stark besetzten Philharmonischen Staatsorchester Hamburg ist mit den Solisten und den Chören unter der überaus souveränen Gesamtleitung von Kent Nagano eine im Ganzen tief bewegende Wiedergabe gelungen. Wie der Dirigent äußerst präzise, aber auch stets erfolgreich um Intensivierung der unterschiedlichen Klangbilder bemüht war, das war Weltklasse. Die mitwirkenden Chöre hatten am großen Erfolg der Uraufführung entscheidenden Anteil: Mit wunderbar abgerundeten Chorälen (z.B. „Der Mond ist aufgegangen“) beeindruckte die Audi Jugendchorakademie in der Einstudierung von Martin Steidler. Ebenso bewährte sich der Chor der Hamburgischen Staatsoper (Eberhard Friedrich), der mit mächtiger, aber doch ausgewogener Klangpracht aufwartete. Besonders gefielen die im letzten Teil in den Saal stürmenden Hamburger Alsterspatzen (Jürgen Luhn) mit dem hell und sauber gesungenen modernen Alphabet. Jetzt setzte zusätzlich Gabriel Böer, Solist des Knabenchores der Chorakademie Dortmund, anrührende Akzente („Entzündet Liebe, wo Finsternis regiert!“). Die renommierte Sopranistin Marlis Petersen begann von verschiedenen Zuschauer-Bereichen aus mit aberwitziger, bravourös gemeisterter Stimmakrobatik. Im Folgenden erwies sie sich als fein intonierende, in allen Lagen, besonders auch in den Höhen sicher gestaltende Sängerin. Neben ihr hatte es Thomas E. Bauer nicht leicht: Sein vor allem in den lyrischen Teilen gut ansprechender, in den dramatischen Passagen und in den hohen Lagen überfordert wirkender Bariton wurde reichlich oft vom Orchester oder den begleitenden Chören zugedeckt, was möglicherweise auch an der insofern für ihn ungünstig konzipierten Komposition lag.

Nach dem Schlussakkord brach ein lang anhaltender Jubelsturm los, mit dem sich das begeisterte Publikum bei allen Mitwirkenden und dem glücklichen Komponisten bedankte.

Gerhard Eckels 14. Januar 2017

Fotos (c) Thies Rätzke, Michael Zapf (Elbphilharmonie), Marion Eckels (Konzert), Marco Borggreve (Widmann), Felix Broede (Nagano),

 

 

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