DER OPERNFREUND - 51.Jahrgang
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Verdi

OTELLO

Meister Jagos Puppenspiel

Premiere: 18.09.2020
besuchte Vorstellung: 20.09.2020

 

Lieber Opernfreund-Freund,

als ich Ihnen im März von der Premiere des Kölner Trovatore berichtet habe, hätte ich kaum vermutet, dass es mehr als ein halbes Jahr dauern könnte, ehe ich Ihnen endlich wieder schreiben kann. Und auch das Theater Regensburg hätte die Neuproduktion von Verdis Otello gerne schon im Juni präsentiert, zeigt sie aber nun – an das, was unter derzeitigen Bedingungen möglich ist, angepasst – seit vergangenem Freitag am Bismarckplatz.

Und doch ist es keine „Coronaversion“, die Regisseurin Verena Stoiber da erdacht hat, sondern eine vollends schlüssige Lesart, die Jago in den Mittelpunkt stellt und auch unter regulären Bedingungen hätte gezeigt werden können: Jago ist Dreh- und Angelpunkt der Produktion und inszeniert der Geschichte. Er hält die Fäden in der Hand, zieht die Strippen und dazu holt er die Figuren als Puppen aus einem Setzkasten, arrangiert sie und bringt so die Story in Gang. Die kaum 25 Chorsänger (Verdi-übliches Extrapersonal fehlt in diesen Zeiten) stehen mit den Solisten in einer überdimensionalen Version davon; Otello, Desdemona und Co., von Sophia Schneider in historische Kostüme gehüllt (nur Jago bleibt auch hier Außenseiter), treten auf die leere Bühne heraus, agieren miteinander oder mit den Puppen-Alter-Egos, um trotz Abstandsregeln direkte Interaktion zu ermöglichen. Dabei helfen auch die von Vanessa Dahl vorproduzierten Videos, die als dritte Ebene auf die Rückwand des Setzkastens projiziert werden, wenn dieser vom Publikum abgewandt ist. Ergänzt werden diese Einspielung noch durch Live-Videos, für die gestern Philipp Weber verantwortlich zeichnet. Wenn man sich auf das Spiel mit diesen Ebenen einlässt, wird Stoibers Inszenierung eine packende Interpretation des bekannten Stoffes und, dass die aus dem Bayerischen Wald stammende Regisseurin die Rahmenhandlung in die Welt des Theaters verlegt und sich letztendlich alles als Hirngespinste eines in unglücklicher Liebe dem Wahn verfallenen Pförtner entpuppt, ist dabei ein besonderer Clou.

Zeit für ein wenig Kritik räumt die junge Regisseurin dem Sängerpersonal während des Finales des 3. Aktes ein. „OHNE UNS IST STILLE“ hält der Chor da dem Publikum entgegen – doch gerade dem dürfte das bereits klar sein. 200 Menschen dürfen derzeit in Bayern in einem Theater sitzen – und gestern waren alle da, mehr als froh, dass wieder gespielt wird, neugierig auf den klanglich reduzierten Otello und deshalb ohne Murren und höchst diszipliniert Maske tragend oder sich an jeder Ecke die Hände desinfizierend. Und auch klanglich war einiges anders als sonst: Verdis Otello mit 21 Musikern? Kann das funktionieren? Letztendlich sind nahezu alle Positionen solistisch besetzt – und doch gelingen die eindrucksvollsten Passagen der Partitur wie der Sturm zu Beginn oder das Ende des 3. Aktes nicht weniger imposant als sonst. Das ist sicher nicht nur der hohen Präzision der Instrumentalisten, sondern auch dem genauen Dirigat von GMD Chin-Chao Lin zu verdanken, der auch in dieser fast kammermusikalischen Besetzung Verdi at his best präsentiert und dabei der einen oder anderen klangliche Überraschung Raum gibt, wenn sich beispielsweise einzelne Melodienbögen klarer entwickeln oder einzelne Stimmen deutlicher hervor treten.

Und auch gesanglich wird einiges geboten am Theater am Bismarckplatz, das Haus stemmt die Produktion ausschließlich mit eigenen Kräften. Deniz Yilmaz ist dabei ein klanggewaltiger, stimmlich präsenter Otello mit eindrucksvollen Höhen voller Strahlkraft, beeindruckenden Ausbrüchen und Gänsehaut erzeugenden leiseren Passagen. Lediglich darstellerisch könnte der türkische Tenor noch eine halbe Schippe draufpacken, um sein Rollenportrait noch überzeugender zu gestalten. Die Rumänin Theodora Varga ist seit 10 Jahren Ensemblemitglied in Regensburg, glänzt als Desdemona mit einer ausgefeilten Charakterstudie ihrer Figur; man spürt förmlich, wie es Desdemona bei den Anschuldigungen ihres Mannes den Boden unter den Füßen wegzieht. Varga beeindruckt mich zudem vor allem mit klanglicher Anmut und anbetungswürdigen Piani. Die Hauptfigur am gestrigen Abend ist sicher der Jago von Seymur Karimov. Er imponiert mir mit endlos erscheinendem Atem, mischt seinem profunden Bariton immer wieder zwielichtig schimmernde Farben bei und zeigt auch darstellerisch mehr als überzeugend den von der Regie gezeichneten Psychopathen.

 

Brent L. Damkier ist als Cassio ein Ohrenschmaus voller Nonchalance, Selcuk Hakan Tıraşoğlu verleiht dem Lodovico mit seinem Bass Gewicht und Tamta Tarielashvili ist eine mitfühlende und energische Emilia mit ihrem satten Mezzo. Auch die Damen und Herren des Chores, von Alistair Lilley exzellent betreut, sind bestens disponiert und lassen durchchoreographierte Massenszenen durch ihre stimmliche Präsenz keine Sekunde vermissen. Das Publikum ist am Ende der Vorstellung zurecht begeistert – und auch ich kann ihnen diesen reduzierten Otello, bei dem ich aufgrund der engagierten Ensembleleistung absolut nichts vermisse, wärmstens ans Herz legen.

 

Ihr
Jochen Rüth

21.09.2020

 

Die Fotos stammen von Jochen Quast und zeigen mitunter die Alternativbesetzungen.

 

 

 

 

Puccini

EDGAR

als deutsche szenische Erstaufführung der vieraktigen Fassung

Premiere am 28.4.18

Bonnie & Clyde im Drogenrausch

Lieber Opernfreund-Freund,

Puccinis erste abendfüllende Oper „Edgar“ führt neben seinen Erfolgen „Tosca“, „La Bohéme“ und „Madame Butterfly“ ein Schattendasein – ja weniger noch. Im Gegensatz zu seiner „Fanciulla del West“, die es wie sein Erstling „Le Villi“ zumindest alle Jubeljahre einmal auf die Opernbühne schafft, wird sein „Edgar“ gänzlich ignoriert. Umso sensationeller ist es, dass man in Regensburg seit gestern die vieraktige Urfassung des Werkes erstmals überhaupt auf einer deutschen Bühne sehen kann (in Dortmund hatte man vor zwei Jahren lediglich eine konzertante Version präsentiert). Schon bei seiner Uraufführung war dieser „Schinken“ ein Misserfolg, was den Luccheser Komponisten dazu bewegte, mehrfach Umarbeitungen vorzunehmen, bis er den vierten Akt gänzlich strich – und so auch Handlung, Schwerpunkt und Aussage des Stücks veränderte. Die Partitur zum vierten Akt verschwand in der Versenkung und tauchte erst vor wenigen Jahren in den Unterlagen seiner Enkelin wieder auf.

Um das Jahr 1300 in Flandern angesiedelt, behandelt „Edgar“ eine klassische Vierecksgeschichte. Die brave Fidelia und Edgar lieben sich, doch Edgar will der kleinbürgerlichen Welt entkommen und bandelt deshalb mit Tigrana an, einer Außenseiterin, die als Findelkind von der Dorfgemeinschaft großgezogen worden war. Die wiederum wird von Frank, Fidelias Bruder, verehrt, doch sie flieht zusammen mit Edgar, nachdem der Frank in einem Duell verwundet hat. Bald jedoch ist er des ausschweifenden Lebens mit der fordernden Tigrana überdrüssig, sehnt sich nach dem beschaulichen Dasein mit Fidelia zurück. Als Soldaten unter der Führung von Frank vorbeikommen, schließt er sich ihnen an, nachdem er Frank gegenüber seine Reue bekundet hat. Um Fidelias Liebe zu prüfen, täuschen die beiden Männer Edgars Tod vor; Fidelia trauert am Sarg, in dem angeblich Edgar liegt, und verteidigt ihn gegen die Anfeindungen seitens der Dorfbewohner, doch Tigrana lässt sich vom als Mönch verkleideten Edgar dazu bestechen, den Toten zu verhöhnen. Da legt Edgar seine Verkleidung ab. In der dreiaktigen Fassung fällt ihm die überglückliche Fidelia um den Hals, wird von Tigrana erstochen und stirbt in seinen Armen. In der nun präsentierten vieraktigen Version entfernt sich Fidelia vor der Enttarnung des Mönchs und glaubt zuhause noch immer, dass Edgar tot ist. Der erscheint zusammen mit Frank, bittet sie um Verzeihung und darum, seine Frau zu werden. Vor der Hochzeit ersticht Tigrana allerdings die Rivalin, Edgar kann nur noch deren Leichnam beklagen. Frank hält ihn davor zurück, Tigrana umzubringen, stattdessen wird die Mörderin zum Richtplatz geführt.

Eigentlich muss man sagen, dann in Regensburg ändert Regisseur Hendrik Müller die Handlung in mehreren Gesichtspunkten, so dass die Chance vertan wird, bei dieser deutschen Erstaufführung eines Puccini-Werkes das zu zeigen, was Puccini und sein Librettist Ferdinando Fontana sich ursprünglich ausgedacht hatten. In die USA der 50er Jahre verlegt Müller die Handlung, zeigt Tigrana nicht nur als Außenseiterin der Gemeinschaft, sondern als Barbetreiberin und Dealerin – die also quasi alles liefert, was der unzufriedene Edgar sich erträumt. Dabei helfen ihm die gelungenen Videoeinspielungen, die Michael Lindner produziert hat, und die Innenwelt und Parallelhandlung gekonnt verdeutlichen, wenn sie auf die kargen Zinkwände der Kulisse projiziert werden. Die Drehbühne von Marc Weeger, der auch für die tollen Kostüme verantwortlich zeichnet und beispielsweise dadurch Lokal- und Zeitkolorit auch jenseits des Wildwest-Klischees schafft, dass er im zweiten Akt die Damen des Chores als Marilyn-Monroe-Doubles in gelbe Paillettenkleidchen steckt, zeigt einen tristen amerikanischen Straßenzug samt rund um die Uhr geöffneter Bar, die Tigrana betreibt. Tigrana und Edgar erinnern zwar in ihrem extatischen Trip aus Alkohol, Drogen, Kriminalität und Lust wie eine Opernausgabe von Bonnie & Clyde, doch dieser Ansatz passt hervorragend. Müllers Personenführung ist spannungsreich und haucht der konstruierten Story gekonnt Leben ein. Dass er Fidelia als unehelich schwanger Gewordene zeigt, verschärft die Situation. Im letzten Akt – dem zuvor in Deutschland nie gezeigten – lässt er sie sich die Wiedervereinigung mit Edgar allerdings nur im Wahn erträumen. Fast überflüssig zu erwähnen ist, dass sie das Kind verloren hat, der Mord durch Tigrana erscheint beinahe wie ein Unfall und auch das Finale steht so nicht im Libretto Fontanas. Das ist schade, setzt aber den Veränderungsprozess, den Puccini selbst dem Werk immer wieder hat angedeihen lassen, konsequent fort. So wird zumindest nun ein anderes deutsches Haus damit werben können, den vieraktigen „Edgar“ erstmals so zu zeigen, wie Puccini es sich ursprünglich gedacht hatte.

Denn auch musikalisch hapert es mit der Vollständigkeit. Umfangreiche Kürzungen hat man in Regensburg vorgenommen, das an sich dreistündige Werk auf gut zwei Stunden Musik zusammengestrichen. Das tut ihm allerdings gut, denn gerade die erste Hälfte des Abends ist doch eine rechte Aneinanderreihung von verschiedenen Versatzstücken. Puccini versucht sich erstmals an großer Oper mit ausufernden und später von ihm nie mehr gezeigten Chorszenen, die sehr an den Stil Verdis geheftet sind. „Edgar“ hat in der ersten Hälfte noch viel von einer klassischen Nummernoper, auch wenn Teile schon den eigenen Stil Puccinis, seine eigene Harmonik andeuten. In dem grandiosen dritten Akt und auch in den Finalszenen läuft er dann schon zu Höchstform auf, da sind ihm die gelungensten, musikalisch rundesten Passagen aus der Feder geflossen. Das Finalduett von Fidelia und Edgar beispielsweise hat ihm offensichtlich selbst so gut gefallen, dass er es in seiner „Tosca“ noch einmal verwendet hat. Die musikalische Umsetzung hat man in die Hände von Tetsuro Ban gelegt, der bis zur vergangenen Spielzeit GMD in Regensburg war – und das war eine gute Entscheidung, denn es ist durchaus hörbar, wie gut sich Dirigent und Musikerinnen und Musiker des Philharmonischen Orchesters Regensburg kennen, während sie sich der noch nicht vollends ausgefeilte Partitur widmen. Da wogt und schwelgt es schon in bester Puccini-Manier, da gelingen die wuchtigen Chorszenen ebenso wie die zarten, intimen Momente in ganz wunderbarer Weise. Der Japaner kann sich dabei aber auch auf eine beinahe durchgängig exzellente Sängerriege verlassen.

Chefinnen im Ring sind gestern eindeutig die beiden Damen, die auch stimmlich unterschiedlicher nicht sein könnten. Die Fidelia von Anikó Bakonyi ist dermaßen von Zartheit durchdrungen, dass man gar nicht genug bekommen kann von ihrem eindrucksvollen Gesang, ihren endlos erscheinenden Pianobögen und ihrem immensen Ausdruck. Und auch die Tigrana – Puccinis einzige wirklich große Mezzopartie – von Vera Egorova-Schönhöfer zeichnet sich vor allem durch eine starke Expressivität und eine umwerfende Bühnenpräsenz aus, so intensiv gestaltet das Ensemblemitglied diese Mischung aus Vollweib, gebrochener Gestalt und geldgeiler Intrigantin im Amy-Winehouse-Look. Ihren satten Mezzo kann sie dabei in allen Facetten zeigen. Deren weniger – genau genommen im Wesentlichen nur eine – lässt am gestrigen Abend der aus China stammende Yinjia Gong hören, so schamlos, ja undifferenziert, trägt er in der Titelrolle seine stimmliche Potenz zur Schau. Sicher sind die bombensichere Höhe, der nicht enden wollende Atem und die kraftvollen Spitzentöne eindrucksvoll, nuancierter Gesang sieht allerdings anders aus und lässt sich nicht durch ein paar (vielleicht zu viele) ins Dauerforte eingestreute Schluchzer kompensieren. Dass der Tenor ganz anders kann, zeigt er glücklicherweise im letzten Akt, in dem er seinen Part, der ja nur noch in Fidelias Kopf stattfindet, vom Balkon singt. Da gelingen auch ihm traumhafte Passagen voller Gefühl und jenseits der puren Kraft. Das versöhnt mich dann auch ein wenig. Seymur Karimov als Frank hingegen ist eine Wucht, stimmlich auf den Punkt, satt und farbenreich präsentiert er seinen vollen Bariton, weckt und transportiert Gefühl und spielt dazu noch überzeugend. Stimmlich bravourös komplettiert Mario Klein das Ensemble im recht kurzen Part des Vater Gualtiero, ist aber von der Regie in den Rollstuhl verbannt und darf deshalb darstellerisch nur ein paar opernhafte Armgesten zeigen.

Keine Maus passt mehr ins Theater am Bismarckplatz am gestrigen Abend. Und alle Zuschauer sind begeistert von dieser Erstaufführung, den Solisten, dem Orchester und dem umfangreich spielenden und singenden Chor samt Cantemus-Kinderchor. Alistair Lilley und Sibylle Wagner haben die Sängerinnen und Sänger – die vielleicht heimlichen Stars des Abends – genau auf ihre umfangreiche Aufgabe vorbereitet und so wird die nicht ganz ausgewogene Komposition dann doch vollkommen rund präsentiert und entsprechend bejubelt. Und auch ich bin voll des Lobes für diese Produktion – auch wenn ich mir für eine Erstaufführung dann doch eine librettotreuere Umsetzung gewünscht hätte.

 

Ihr Jochen Rüth / 29.4.18

Die Fotos stammen von Jochen Quast.

 

 

MARTHA

Premiere: 29.10. 2016

Besuchte Vorstellung: 15.1. 2017

Es gibt gute Gründe, warum Martha einst die repräsentative Oper des deutschen Bürger- ja Spießbürgertums war. Auch verständlich, warum das einstmals superpopuläre Stück nur noch relativ selten auf den Spielplänen erscheint. Was Friedrich von Flotow und sein Librettist Friedrich Wilhelm Riese im November 1847 zur Uraufführung brachten, ist nicht nur dramaturgisch problematisch, denn das matte Spannungsfeld zwischen Adel und Landvolk, die, wie man früher gesagt hätte, „durch Liebe geläuterte“ Dame von Adel und der Geliebte, der schließlich, wie praktisch, durch das durchaus nicht überraschende Wunderrequisit eines Rings sich doch noch als adlig, also „standesgemäß“ erweist: das alles übertünscht so ziemlich jede sozialhistorische, ja psychologische Wirklichkeit. Bezeichnenderweise fand die Uraufführung nur ein halbes Jahr vor dem Versuch einer Revolution statt, die eben jene sozialen Umstände, die in „Martha“ fast vorbehaltlos anerkannt werden, beseitigen wollte. „Martha“ ist ein nicht sonderlich witziges Biedermeierstück zur bürgerlichen Verteidigung aristokratischer Anarchie, aber sicher keine „romantisch-komische Oper“ – warum sollte man es spielen?

Die Essenz einer Oper ist bekanntlich die Musik. Sie hat nicht unwesentlich zum Erfolg des Stücks beigetragen. An ihr liegt es gewiss nicht, aber, wie ein Kollege kürzlich schrieb: die Spieloper ist ein „Schmerzenskind“. Sie begegnet an sich heute selten auf den Bühnen; die Meisterwerke Lortzings, sogar Otto Nicolais Die lustigen Weiber von Windsor (das Lieblingsstück des Opernfreundes in dieser Gattung: ein prachtvolles Werk von den Scheiteln bis zu den Zehen), werden nur noch selten gebracht. Zu den Zeiten der seligen Anneliese Rothenberger war's freilich noch anders…

Sie fällt zuerst ins Auge, wenn sich der Vorhang über der Inszenierung des Theaters Regensburg öffnet, die überregionale Aufmerksamkeit fand. Natürlich ist das, als Hinweis auf eine überlebte Aufführungstradition, witzig. Anneliese Rothenberger, diese Vokalgöttin der 50er und noch der 60er Jahre, nimmt in dieser Martha die Position ein, die das Bild der Frau Mama des Helden Lyonel einzunehmen pflegt: über dem Fernsehapparat, umrahmt von den hübsch kitschigen Lichtern einer farbigen Glühlämpchenkette. Ironisch begann es schon vorher, schon vor der Ouvertüre. Da konnte man per Video all die schönen „Bots“ angepriesen sehen, die die Firma Richmond (spezialisiert auf Haushaltsroboter) zu vertreiben hat: die „Mombot Rose“, „die „Housemaid Linle“, die „Playbot Nellie“ (für die Kleinen) – und die „Farmbot Martha“, eine „robuste Hilfe im Stall und auf dem Feld“, die auch „durch glockenhellen Gesang erfreut“.

Natürlich ist es witzig, dem sentimentalen und etwas biederen Humor der Flotowschen und Rieseschen Martha mit den Geschützen der Ironie beizukommen (es sei denn, man setzt ganz auf eine opulente Kostümausstattung und quasi realistische Bühne). Was der Regisseur Johannes Pöltgutter dem Stück vorgesetzt hat, klappt zunächst ganz gut, weil das allein Wesentliche: die Musik, den ganzen ersten Akt lang über tatsächlich das Spektakel mitmacht. Die Frauen auf dem Markt zu Richmond sind hier also keine menschlichen, sondern automatische Mägde, Androiden, Haushaltsmaschinen mit menschlichem Antlitz. Damit reagiert die Regie nicht nur auf die modernsten technischen Entwicklungen im Roboterbereich, sondern auch auf die merkwürdige Tatsache, dass die Mägde auf dem Verkaufsmarkt sich seltsam maschinenrhythmisch anpreisen. Man höre nur auf die Ostinati in den Bässen, der ihren an sich ganz „lustigen“ Chor seltsam unmenschlich begleitet. Pöltgutter und die Dramaturgin Christina Schmidt haben, zusammen mit der Kostümgestalterin Janina Ammon, den bemerkenswerten Charakter dieser Mägde-Musik gut herausgearbeitet. Und dass die beiden Ladys – Lady Harriett und ihre Nancy – sich vergnügen wollen, indem sie sich selbst als künstliche Haushaltshilfen verkaufen wollen, ist so spleenig, dass es überzeugt; immerhin spielt das Stück ja, theoretisch, in England.

Wie gesagt: Die Idee, dass die Frauen, die sich derart seltsam, wenn auch nur für ein Jahr, verkaufen, mit der Grundidee des Romans „Die Frauen von Stepford“ harmoniert, ist zunächst nicht von der Hand zu weisen. Ira Levin entwarf in seinem 1972 veröffentlichten und mehrmals verfilmten Roman die Zukunftsvision einer Gesellschaft, die ohne derartige Wesen nicht auskommt. Bei Levin ersetzen die Männer von Stepford langsam ihre realen Ehefrauen durch die Maschinenwesen, die – darin der unvergesslichen Maschinenfrau aus Metropolis nicht unähnlich – wie Supermodels aussehen. In der Regensburger Martha wird eben diese Idee von der Regie realisiert: im Finale verfällt Lyonel jenem Roboter, den Martha in ihrem Home gebastelt hat. Was soll ihm noch die „echte“ Martha, wenn er einen perfekten Androiden umarmen kann.

Die Idee ist gut – aber sie funktioniert leider nicht. Schon mit den ersten Takten des zweiten Akts wird klar, dass die Regie die Grundidee nur bis zum Ende des ersten, durchaus charmanten Akts derart bedacht hat, dass sie Sinn macht – die Akte 2 bis 3 sind in dieser Interpretation unlogisch, daher nicht allein für den Kritiker verwirrend. Das Regensburger Publikum reagiert sehr zurückhaltend auf die Idee der „Frauen von Richmond“, der Zwischenapplaus hält sich in Grenzen, der Tenor ist: „Aber die Musik ist schön.“ Die Idee funktioniert schon deshalb nicht, weil die Deutung des Lyonel als eines liebeskranken Mannes entweder suggeriert, dass es sich bei ihm um eine Art E. T. A. Hoffmannschen Nathanael handelt, der sich in eine Olympia verliebt – oder dass er schon schnell bemerkt, dass es sich bei dem Haushaltsroboter um eine „echte“ Frau handelt. Die erste Interpretation würde das Finale in dieser Deutung legitimieren, die zweite jedoch nur eine der beiden zentralen Aussagen der Erkennung und der Selbsttäuschung in seiner Auseinandersetzung mit der sich sträubenden Martha abdecken. Dann aber wäre es unverständlich, wieso er den Roboter der Frau vorzieht, die er als Mensch erkannt hat – dass schließlich auch Martha sehr zufrieden scheint, dass sich der lästige Mann der Kopie zuwendet, wird von Text und Musik konterkariert. Es sei denn, man nähme an, dass er eine emotionslose Maschine einer kapriziösen Frau vorzieht. Dies aber ist eine Umdeutung des Geschehens, die bei Flotow und Riese keinen Halt findet. Und wir müssen auch Martha als ernsthaft Liebende akzeptieren. Die Regie aber setzt sich über wesentliche Informationen, das heißt: über den Text und die Musik des dritten Akts hinweg, um eine „Konzeption“ und ein Finale zu ermöglichen, das weder so noch so aufgeht. Die Verwirrung im Publikum – leider, denn man hat dem Haus bei diesem musikalisch schön wie dramaturgisch glatten Stück natürlich viel Glück gewünscht – ist nur zu verständlich.

Gegen Ironie an sich ist allerdings bei diesem Stück an sich wenig zu sagen. Wenn Harriet und ihre Upper-Class-Freundin als Trinkerinnen aus Langweile eingeführt werden und Nancy sich als emanzipierte Frau entpuppt, die nichts gegen einen One-Night-Stand hat, mit Freude und einem Gewehr im künstlichen „Wald“ auf den Kerl zielt und den Ehering des Lovers Plumkett verständnislos zurückweist: Es geht gerade gut. Die Diskrepanz zwischen Text und Handlung kann man dort leicht verschmerzen, wo man die Handlung an sich versteht und nicht allzu absurd empfindet; dass man den Text versteht, ist allerdings bisweilen nur der Übertitelungsanlage zu verdanken. Theodora Varga singt die hibbelige Martha als Koloraturqueen mit leicht ungerichteter Stimme, auch die berühmte Letzte Rose, die sie per Fingernagelübertragung von der alten Schallplatte in ihr Gesangsorgan zu übertragen scheint. Der Vergleich mit der wunderbaren Anneliese Rothenberger ist allerdings gefährlich. Vera Semieniuk spielt die Nancy auch als stimmlich überzeugendere Freundin mit einem gehörigen Maß an Sexappeal, der ein Heer von einem Dutzend betont künstlich aussehender Roboterinnen zur Seite steht. Später wird eine Schwadron von männlichen Androiden den Roboterchor verstärken.

 Angelo Pollak darf mit seinem schönen, ausbaufähigen Tenor in Anwesenheit einer kaputten Gliederpuppe seine „Große Arie“ Ach wie so fromm singen, was ins Konzept, aber nicht in die musikalische Stimmung passt. Wie gesagt: man nähme an, dass Lyonel ein verkappter Nathanael ist – aber Martha ist nun mal keine Olympia. Daher geht auch die Wirkung des zweiten Akts verloren, weil das Spiel zwischen den „falschen“ Mägden und den beiden Männern in seinem Doppelsinn, versehen mit sehr konkreten Texten, schlicht und einfach nicht überzeugt. Jongmin Yoon aber singt als Plumkett einen sehr schönen Bariton, der wenigstens vokal mit den Torheiten der Regie versöhnt. An diesem Abend ist Mario Kleins Lord Tristan, der doch ein komischer Gegenpol zu Lyonel sein müsste (und als Marke im Regensburger Tristan noch in guter Erinnerung ist: auch er ein störender Dritter), leider indisponiert, aber auch szenisch ist er leider an diesem Abend kaum vorhanden.

Die Musik, soweit es das Orchester betrifft, aber ist ganz da, und die Essenz einer Oper ist, siehe oben, ganz die Musik. Unter der Leitung Israel Gurskys werden die Meriten der Flotowschen Muse ins schönste Licht gestellt. Martha ist weder ganz deutsch noch ganz französisch; am ehesten könnte man die großen lyrischen Nummern als „deutsch“, die Rhythmen und Melodien, die man seinerzeit als „pikant“ bezeichnet hätte, als „französisch“ bezeichnen. Das Philharmonische Orchester Regensburg hat hörbar Freude an der Partitur, aus der sie die Laune, die Sensibilität der Partitur und einzelne Schönheiten wie den seidigen Steicherklang zu Beginn des vierten Akts mit Wonne herausspielt. Über diesen Einzelheiten vergisst man tatsächlich manch handwerklich schwach gemachte Grobheit wie jene, die den armen Lyonel am Ende des zweiten Akts zu einem „Bot Boy“ macht, der von Martha und der herzlosen Bande buchstäblich in kalte Bande geschlagen wird.

Schon recht: man versteht ja, was die Regie uns sagen will, und man begreift, dass dem Stück vielleicht nur mit Ironie beizukommen ist. Wenn nach dem Schlussakkord aber eine repräsentative Stimme beim Nachgespräch im gegenüberliegenden Wirtshaus das ausspricht, was wohl viele Besucher dachten: „Des war a komischer Schluss“, ist das Stück, ungeachtet einzelner witziger Ideen, rein szenisch betrachtet verloren.

Frank Piontek, 17.1. 2017

Fotos (c) Theater Regensburg / Juliane Ziztlsperger

 

 

 

Zum Zweiten

HANS HEILING

Zahlende Besucher als unbezahlte Statisten

Premiere: 19. September 2015

Florian Lutz ist ein Regisseur, dessen Inszenierungen immer von originellen Ideen geprägt sind. In seiner „Hans Heiling“-Inszenierung holt er den Konflikt des Sohns der Erdgeisterkönigin, der sich ein privates Glück mit der Menschenfrau Anna erhofft, in die Gegenwart und macht daraus über den Kapitalismus.

Tatsächlich häufen die Erdgeister im Vorspiel der Oper Schätze an, so dass man sie als Kapitalisten sehen kann. Dass die Menschenwelt die Sphäre der unterdrückten Arbeiter ist, ist im Stück so nicht vorgegeben, aber durchaus eine sinnvolle Lösung.

Jedoch hätte die Eröffnungsszene konsequenter Weise anders verortet werden müssen: Lutz und sein Ausstatter Sebastian Hannak siedeln die Menschenwelt auf der Bühne vor kargen Holzwänden an, während die reichen Erdgeister ihre Heimat im prunkvollen Zuschauerraum des Regenburger Theaters haben. Bei Lutz spielt diese Erdgeisterszene aber auf der Bühne.

Als besonderen Clou lässt Lutz auch das Publikum Stellung beziehen: Wer Lust kann sich während der Vorstellung auf die Seite der Menschen schlagen und die Vorstellung aus der Bühnenperspektive erleben. Wer zu den Erdgeistern gehören möchte, wählt seinen Platz im Publikum.

Das Problem hierbei: Wer auf der Bühne Platz nimmt, hat den vollen Eintrittspreis bezahlt, übernimmt aber einen Statistenjob, der eigentlich bezahlt werden müsste: Die Zuschauer müssen nämlich Kartoffeln schälen, Walzer tanzen und eine Demonstration mit Spruchbändern durchführen. Zur Belohnung gibt immerhin etwas Verpflegung, aber die dürfte die Mängel der Bühnenperspektive kaum aufwiegen.

Die Inszenierung ist nämlich für die Zuschauer im Saal entworfen, sodass man auf der Bühne die Sänger nur von hinten sieht. Das geht natürlich auf die Kosten der Textverständlichkeit, und die Übertitel sieht man auf der Bühne auch nicht. Außerdem ist auf der Bühne das Orchester stärker über Lautsprecher von der Decke zu hören und weniger aus dem Graben, so dass das musikalische Erlebnis im Saal wesentlich größer ist.

Zwar meinten Besucher der Premiere, man müsse die Inszenierung „eigentlich zweimal sehen“, doch noch besser wäre es, wenn das Theater Regensburg in echte Statisten investieren würde, damit alle Zuschauer in den optimalen Musik- und Theatergenuss beim Besuch dieser sehens- und hörenswerten Aufführung kommen.

Rudolf Hermes 22.9.15

Bilder siehe unten!

 

 

HANS HEILING

Premiere: 19.9.2015

Unter der Knute des Kapitalismus

Nur eine Woche nach dem Theater an der Wien in der österreichischen Hauptstadt kam auch in Deutschland eine Neuproduktion von Heinrich Marschners Oper „Hans Heiling“ heraus, und zwar am Theater Regensburg. Es ist diesem kleinen Theater, das immer eine Fahrt wert ist, hoch anzurechnen, dass es dieses äußerst reizvolle Stück ausgegraben hat. Hier haben wir es mit einer echten Rarität zu tun, die dann auch auf großes Interesse seitens des zahlreich erschienenen Publikums gestoßen ist. Der Zuschauerraum war an diesem Abend gut gefüllt.

Michaela Schneider (Anna), Adam Kruzel (Hans Heiling), Matthias Laferi (Nicklas)

Der „Hans Heiling“ stellt neben Marschners etwas öfter aufgeführtem „Vampyr“ eines der zentralen Opernwerke in der Übergangsphase zwischen Carl Maria von Weber und Richard Wagner dar. Das Libretto besorgte Eduard Devrient, der bei der Uraufführung am 24.5.1833 auch die Titelrolle sang. Gleich dem „Freischütz“ ist Marschners Werk der Romantik verhaftet und beinhaltet auch gesprochene Dialoge. Auch die Musik gemahnt an Weber, weist aber auch bereits auf Wagner hin. Es ist ein manchmal sehr dramatischer Klangteppich, den Marschner hier komponiert hat. Die Ausdrucksintensität der Musik ist enorm, an der die ausgefeilte, markante Rhythmik großen Anteil hat. Im zweiten Akt gibt es ein schauerliches Melodram, in der großen Festszene singt Konrad ein einfach gestricktes, biedermeierhaft anmutendes Lied. Eine Klasse für sich sind die großen Chorszenen. Insgesamt wartet Marschner mit einem trefflichen Potpourri aus den Stilen seiner Zeit auf, die er hier hervorragend in eine einheitliche Form gießt. Tom Woods und das prächtig disponierte Philharmonische Orchester Regensburg taten ihr Bestes, um Marschners vielschichtige Partitur zum Klingen zu bringen. Was da aus dem Graben ertönte, war einfach atemberaubend. Da wurde mit einem Höchstmaß an Intensität und feurigem Impetus und in hohem Maße klangschön musiziert. Das Ergebnis war enorm mitreißend und zeugt einmal mehr von dem hohen Niveau, das dieser bemerkenswerte Klangkörper doch hat.

Theodora Varga (Königin der Erdgeister)

Einen zwiespältigen Eindruck hinterließ die Inszenierung von Florian Lutz, für die Sebastian Hannak das zeitgenössische, nüchterne Bühnenbild und die ebenfalls modernen Kostüme schuf. Dabei war der Ansatzpunkt der stark an Bertolt Brecht und Karl Marx ausgerichteten Regie durchaus überzeugend. So wurde Brecht durch die Einbeziehung des Zuschauerraumes und mannigfaltige Verfremdungen des gesprochenen Textes Rechnung getragen. Die Dialoge hat Lutz komplett neu geschrieben und gekonnt für seine Zwecke eingerichtet. Sein Ansatzpunkt ist stark kapitalismus- und gesellschaftskritischer Natur und geht von Marx’ und Engels „Kommunistischem Manifest“ von 1848 aus. Gekonnt stellt er zwei völlig verschiedene Gesellschaftsklassen gegenüber, die er in der Folge nachhaltig aufeinanderprallen lässt. Es sind zwei Seiten der sozialen Medaille, die er hier mit starkem Nachdruck vorführt. Die herrschende Klasse sind die Erdgeister, die der Regisseur als raffgierige, elegant gewandete Kapitalisten vorführt. Zu Beginn sieht man auf einem Podest zahlreiche Bündel von 1000-Euro-Scheinen aufgestapelt, die dann unter dem Volk verteilt werden. Alles ist hier auf schnöden Mammon bedacht, der nie auszugehen scheint. Diese Geldvermehrungsmaschinerie der Erdgeister ist ausgesprochen fragwürdiger Natur, denn sie erzeugt Profitgier und leistet ausgemachtem Egoismus Vorschub.

Publikum auf der Bühne

Auf der anderen Seite steht das gemeine Volk, die in blaue Arbeitskittel gekleideten Lohnarbeiter, die in ihrer Fabrik an Werktischen sitzen und unter der Knute des von den Erdgeistern verkörperten Kapitalismus stöhnen. Unterdrückung und Ausbeutung der Proletarier durch die herrschende Klasse der Geister hat zu einer Störung der zwischenmenschlichen Beziehungen und der gemeinschaftlichen Rituale geführt. Ein Zusammenleben der zwei gegensätzlichen Gesellschaftsschichten in Liebe und Harmonie ist nicht mehr möglich. Jeder Einzelne muss sich entscheiden, welcher Klasse er angehören will, neutrales Verhalten ist nicht mehr möglich. Zur Veranschaulichung dieses Aspekts wartet Lutz mit einem echten Coup de Théatre auf: Die im Parkett und im ersten Rang sitzenden Besucher werden zu Beginn nicht auf ihre eigentlichen Plätze gelassen, sondern auf die Bühne geführt und dort mit dem Chor und den Solisten vermischt. Nach Ende der ersten, im Geisterreich spielenden Szene wird ihnen von dem Showmaster Nicklas - einer Sprechrolle -, der wenig später mit Hans Heiling und Anna noch eine vergnügliche Talkshow veranstaltet, freigestellt, in welche Gesellschaftsschicht sie sich für den Rest des Abends einfügen wollen. Die meisten Zuschauer kehrten während der an das Ende des ersten Bildes verlegten Ouvertüre in den Zuschauerraum zurück und entschieden sich damit für ein Verweilen unter den profitausgerichteten Erdgeistern, die im Folgenden mit ihrer Königin durchaus nachvollziehbar oft aus den Rängen sangen. Andere blieben, Bier trinkend und Würste essend, auf der Bühne und reihten sich in die unzufriedenen Lohnarbeiter ein.

Unter diesen gärt es. Die Unzufriedenheit mit den herrschenden Verhältnissen nimmt zu. Man ist nicht mehr länger gewillt, die Unterdrückung durch die Erdgeister, die die Regie zudem mit den Nibelungen aus Wagners „Ring“ identifiziert, widerspruchslos hinzunehmen. Die Revolution bricht aus und es werden Widerstandpamphlete hergestellt. So schreibt der Anführer der Aufständischen Konrad auf ein Schild: „Kauft nicht bei Erdgeistern“. Und das macht die bis dahin gelungene Inszenierung angreifbar. Denn diese Schrift weckt ganz stark Assoziationen an einen Slogan aus der Nazizeit: „Kauft nicht bei Juden“. Nicht nur, dass die Verwendung von NS-Vokabular geschmacklos ist, auch die vom Regisseur damit verfolgte Intention ist so nicht akzeptabel. Wenn Lutz in dieser Form die Erdgeister als „Schädlinge der Nation“ vorführt und diese mit den Juden des Dritten Reiches gleichstellt, konfrontiert er diese mit den Vorwürfen, die ihnen in der NS-Zeit gemacht wurden. Und das geht überhaupt nicht! Und als Prinz dieser Erdgeister wird Heiling am Ende auch noch getötet. Und wie soll man unter diesen Voraussetzungen das im zweiten Akt hochgehaltene Pamphlet „Nieder mit den Erdgeistern“ verstehen? Da erübrigt sich jedes Wort. Diese Auswüchse haben der Inszenierung stark geschadet. Dabei hätte es durchaus ein milderes Mittel gegeben. Auf Konrads Schild hätte zum Beispiel auch stehen können: „Boykottiert die Erdgeister“. Dann wäre die genannte Assoziation nicht eingetreten und der Absicht des Regisseurs wäre dennoch Genüge getan gewesen. Dieser Punkt gehört jedenfalls - auch noch nachträglich - geändert.

Adam Kruzel (Hans Heiling),Theodora Varga (Königin der Erdgeister)

Gesanglich bewegte sich der Abend auf hohem Niveau: Adam Kruzel hat darstellerisch die ganze Tragik des Hans Heiling, seine tiefe Verzweiflung über Annas Treuebruch und seine Eifersucht auf den Nebenbuhler Konrad trefflich vermittelt. Auch stimmlich war er mit kräftigem, gut fokussiertem und sauber geführtem Heldenbariton überzeugend. Neben ihm ging Michaela Schneider voll in der Rolle der Anna auf. Sie verfügt über einen ausdrucksstarken jugendlich-dramatischen Sopran bester italienischer Schulung, der zudem eine gute Höhe und einfühlsames Differenzierungsvermögen aufweist – alles Voraussetzungen für eine ausgezeichnete Bewältigung der Partie, der sie auch schauspielerisch voll entsprach. In nichts nach stand ihr Theodora Varga, die mit intensivem Spiel und dramatisch angehauchter, bestens gestützter Tongebung der Königin der Erdgeister mehr als gerecht wurde. Einen vollen, profunden Mezzosopran brachte Vera Egorova für die Gertrud mit. Gegenüber den anderen Vertretern/innen der Hauptrollen fiel Steven Ebel als Konrad ab. Sein Tenor ist zwar bereits recht kräftig, wird aber im Augenblick noch zu hoch gestützt, woraus ein nicht eben rund klingender Gesangston resultierte. Solide war Mario Kleins Stephan. In der Sprechrolle des Nicklas bewährte sich Matthias Laferi. Gut gefiel der von Alistair Lilley einstudierte Chor und Extrachor des Theaters Regensburg.

Ludwig Steinbach, 20.9.2015

Bilder stammen von Jochen Quast

Interview mit dem Regisseur Florian Lutz

 

 

MADAMA BUTTERFLY

Besuchte Aufführung: 5.7.2015

Cio-Cio Sans Sehnsucht nach einer amerikanischen Familie

Er war am Theater Regensburg bereits mit „La Bohème“ erfolgreich. Nun hat sich der junge Regisseur Johannes Pölzgutter dort wieder an eine Puccini-Oper gewagt und erneut einen Volltreffer gelandet: „Madama Butterfly“. Es ist ihm hoch anzurechnen, dass er jeder Art von sentimentalem Kitsch eine klare Absage erteilte und den Fokus gekonnt auf ausgemachten Realismus setzte. Was er in Zusammenarbeit mit Nikolaus Webern (Bühnenbild) und Janina Ammon (Kostüme) auf die Bühne gebracht hat, war packendes, fesselndes Musiktheater ganz ohne Klischees und mit hohem intellektuellem Anspruch.

 

Hye-Sung Na (Cio-Cio San), Yinjia Gong (Pinkerton )

In der Tat sind japanische Einflüsse hier eher wenig zu konstatieren. Auch wenn sie nicht ganz eliminiert sind, das Hauptgewicht liegt nicht auf ihnen. Das Bühnenbild ist neutraler Natur. Es besteht aus einem braunen Holzraum mit verschiebbaren Gitterwänden und einer teils japanischen, teils westlichen Einrichtung. Mit Hilfe der Drehbühne kann es seine Position ändern. Wärme atmet dieser Raum wenig. Vielmehr wirkt er nüchtern und sachlich. Auf einem Schreibtisch im Hintergrund zieht ein riesiger Dolch den Blick auf sich. Es ist die Waffe, mit der Butterflys Vater einst Selbstmord verübte. Sein Bild steht ebenfalls auf dem Tisch, und er selbst geistert auch mal als illusionäre, der Phantasie seiner Tochter entsprungene Wahngestalt durch das Geschehen. Sein Harakiri hat bei Cio-Cio San zu einem ausgemachten Trauma geführt, das sie eigentlich nie ganz bewältigt hat. Sigmund Freud lässt grüßen. Nicht umsonst nimmt Pölzgutter bei dem Wiener Psychiater Anleihen, kamen dessen Lehren doch gerade zur Entstehungszeit des Werkes verstärkt auf.

Hye-Sung Na (Cio-Cio San)

In Regensburg hat sich Butterfly bereits zu Beginn von der Lebensart Japans abgewandt. Zu ihren Verwandten und dem rüden Heiratsvermittler Goro pflegt sie nicht gerade ein gutes Verhältnis. Sie sehnt sich in eine amerikanische Familie hinein, deren aus Mann, Frau und Kind  - allesamt modern eingekleidet - bestehendes Bildnis im ersten Akt im Hintergrund prangt. Ein gleiches luftiges Sommerkleid, wie es die Frau auf dem Bild trägt, wird auch die Protagonistin zum Liebesduett mit Pinkerton anlegen, nachdem sie ihr kimonoartiges Gewand ausgezogen und sich dem Publikum im weißen Unterkleid präsentiert hat. Im zweiten Akt wird das Bild auf einmal lebendig. Das Kind und der Mann sind verschwunden. Die Frau sitzt allein da und wartet - wartet auf ihre Familie. Irgendwann erscheint dann auch der Mann. Arm in Arm geht das Paar ab, bereit, irgendwann ein Kind zu zeugen. Bald stellt sich heraus, dass es sich bei dem Mann um Pinkerton und bei der Frau um Kate handelt. Und ihr Sohn ist der von Butterfly. Das hatte man bereits vorher geahnt. Hierbei handelte es sich um einen vortrefflichen Regieeinfall, der gleichzeitig die Sehnsucht der Titelfigur, gleichzeitig aber auch ihre Tragik gekonnt aufzeichnete.

 

Hye-Sung Na (Cio-Cio San), Statisterie

Nachhaltig versucht Cio-Cio San ein Teil dieser Familie zu werden, schafft es aber nicht. Die Vorzeichen stehen schlecht für sie, Sie muss befürchten, dass sie ihr Kind an Pinkerton und Kate verlieren wird. Das Bild stellt nicht nur einen Wunschtraum Butterflys dar, sondern ist gleichzeitig eine Ahnung des tragischen Ausgangs der Geschichte. Gleichzeitig fungiert diese einer heilen Welt angehörenden Familie zu der alles andere als liebevollen, gewaltbereiten japanischen Gesellschaft, die die Hauptfigur am Ende des zweiten Aktes harsch zwingt, ihr amerikanisches Sommerkleid ab- und den traditionellen Kimono wieder anzulegen. Und prompt erscheinen Pinkerton und Kate. Sie trägt immer noch dasselbe Kleid - ein untrügliches Zeichen dafür, dass der Platz in der von Butterfly ersehnten Pinkerton-Familie inzwischen ihr zugefallen ist.

Hye-Sung Na (Cio-Cio San), Suzuki

Das sind nicht gerade ideale Voraussetzungen, um die Protagonistin von ihrer Psychose zu heilen. Ihr Wahn wird eher noch stärker. In ihrem Schmerz über den Verlust ihres Sohnes lässt sie an dessen Stelle schließlich eine Puppe treten, von der sie sich verabschiedet, bevor sie ihrerseits, gleich ihrem Vater, Selbstmord begeht. Das alles hat Pölzgutter mit hohem technischem Können, versiert, atmosphärisch dicht und mit teilweise sehr starken Bildern umgesetzt. Dass das alles auch Probleme unserer Zeit sein können, wurde noch dadurch verstärkt, dass viele Personen als Angehörige der Gegenwart und ohne große Schminke erschienen. Demgegenüber wirkten die Tätowierungen der japanischen Männer etwas übertrieben. Den Gegensatz hätte man auch ohne sie gemerkt. Darüber hinaus stieg die emotionale Kurve nach der Pause stark an. Das ist stückimmanent, fand aber auch in Pölzgutters Inszenierung mit Hilfe einer ausgefeilten, stringenten Personenregie seinen vollen Niederschlag.

 

Suzuki, Hye-Sung Na (Cio-Cio San)

Jede Aufführung der „Butterfly“ steht und fällt mit der Sängerin der Titelfigur. Und in dieser Beziehung erwies sich Hye-Sung Na vom Theater der Stadt Heidelberg, wo man sie vor einigen Jahren schon in dieser Partie hören konnte, als wahrer Glücksfall. Schon von ihrem äußeren Erscheinungsbild her entsprach die kleine, zierliche Sängerin der noch sehr jungen Cio-Cio San voll und ganz. Darstellerisch legte sie sich voll ins Zeug und überzeugte mit intensivem und sehr gefühlvollem Spiel. Und auch gesanglich vermochte sie mit ihrem hervorragend fokussierten, farbenreichen und in der Höhe schön aufblühenden Sopran, der in den zarten lyrischen Phrasen recht innig klang, andererseits die dramatischen Höhepunkte ebenfalls mit Bravour meisterte, zu begeistern. Zu Recht stand sie beim Schlussapplaus ganz oben in der Publikumsgunst. Neben ihr bewährte sich in der Rolle des Pinkerton mit gut gestütztem, sauber geführtem und farbenreichem Tenor Yinjia Gong. Sein Tenorkollege Matthias Ziegler sang den Goro mit solider tiefer Gesangsstütze. Das scheint allmählich Mode zu werden. Toll! Rührend besorgt um ihre Herrin zeigte sich Vera Egorova als Suzuki, der sie mit voll und rund klingendem, emotional geführtem Mezzosopran auch stimmlich sehr gerecht wurde. Von Vera Semieniuks profund singender Kate Pinkerton hätte man gerne mehr gehört. Mit sonorer, klangvoller Bassgewalt gab Jongmin Yoon dem Onkel Bonze die nötige Autorität. Solide war der Fürst Yamadori von Sehoon Ha. Das durchweg hohe Niveau seiner Kollegen/innen vermochte Matthias Wölbitsch in der Rolle des Sharpless nicht zu erreichen. Er nennt eine nicht gerade italienisch geschulte Stimme sein eigen und konnte mangels einer tiefen Verankerung seines flachen Baritons keine sonderliche Klangpracht entfalten. Solide schnitten Florian Köfler (Kaiserlicher Kommissär) und Sang-Sun Lee (Standesbeamte) ab. Eine beachtliche Leistung erbrachte der von Alistair Lilley einstudierte Chor.

Eine gute Leistung ist Israel Gursky am Pult zu bescheinigen. Im Einlang mit der Regie vermieden er und das klanglich ganz aus dem Vollen schöpfende Philharmonische Orchester Regensburg alles Kitschige und Klischeehafte in Puccinis herrlicher Musik, sondern gaben dieser eher einen rationalen, analytischen Anstrich, wodurch eine allzu große Sentimentalität der Tongebung vermieden wurde.

Fazit: Wieder einmal eine Aufführung, die die Fahrt nach Regensburg voll gelohnt hat! Der Besuch der Produktion ist sehr zu empfehlen.

Ludwig Steinbach, 6.7.2015

Die Bilder stammen von Juliane Zitzlsperger

 

SAUL

Besuchte Aufführung: 4.7.2015 (Premiere: 25.4.2015)

Das Ende ist der Anfang oder Demontage des Barock

Eine Übernahme vom Theater Oldenburg, wo sie im Mai 2011 herauskam, stellt die Neuproduktion von Händels „Saul“ am Theater Regensburg dar, für deren szenische Einstudierung Regieassistent Sebastian Ukena verantwortlich zeigte. Hierbei handelt es sich indes rein formal nicht um eine Oper, sondern um ein Oratorium. Das erwies sich indes als nicht weiter bedeutsam. Der „Saul“ war nicht das einzige Werk, das Händel als Oper konzipierte, es aber mit Blick auf die damaligen Gegebenheiten in Großbritannien nicht in dieser Form aufführen durfte. Damals war es verboten, biblische Stoffe auf die Opernbühne zu bringen. Die einzige Möglichkeit, die ihm blieb, wollte er es überhaupt einmal öffentlich hören, bestand darin, es als Oratorium im konzertanten Rahmen zur Aufführung zu bringen.

 

Aurora Perry (Merab), Yinjia Gong (Jonathan), Anna Pisareva (Michal)

Von einer solchen Mentalität ist das heutige Musikleben weit entfernt. Händels Oratorien haben sich in den vergangenen Jahren zunehmend auch den Weg auf die Opernbühne erobert. Und bei „Saul“ war das Ergebnis besonders bemerkenswert, denn Lydia Steier hat das Werk als packendes, gut durchdachtes und geistig-innovativ hochkarätiges Musiktheater auf die Regensburger Bühne gebracht. Dabei hat sie den Zuschauer in Zusammenarbeit mit Katharina Schlipf (Bühnenbild) und Ursula Kudrna (Kostüme) zuerst ganz schön an der Nase herumgeführt. Wenn sich der Vorhang öffnet, erschließt sich dem Blick ein recht traditionelles Barock-Ambiente: Guckkastenbühne, Seitengassen, elegante Polstersessel, ausladende Reifröcke und Allonge-Perücken. Eine im Verfall begriffene, reichlich dekadent wirkende, wenn auch prächtig gekleidete Barock-Gesellschaft hat sich hier versammelt und harrt der Dinge, die da kommen werden. Auf wolkigen Höh’n thront Saul als Ludwig XIV - ein recht kitschiger Anblick. Wenigstens darf er das auf einem Theater auf dem Theater tun, womit bereits in diesem reichlich altbackenen Rahmen ein Stück Brecht hereinspielt.

amás Mester (Neid-Figur), Mario Klein „Saul), Julia Leihhold (Neid-Figur)

Dass es Frau Steier indes durchaus nicht um die Aufzeigung von konventioneller Barockseligkeit ging, wurde schnell klar. Der Barock war nur die erste Station auf einer Reise von der Händel-Zeit in die Gegenwart, wobei die alttestamentliche Ära gänzlich ausgeklammert wurde. Daran, dass es mit diesem Zeitalter nicht so das Wahre sein würde, konnte man bereits ganz zu Beginn erkennen, als eine altmodisch gekleidete Madonna mit einem Jesus-Jungen hereingefahren wurde. Auf einmal zog sich der Knabe bis auf die Unterwäsche aus und riss auch seiner Mutter Maria die Kleider vom Leib. Das war ziemlich harter Tobak, mit dem sicher nicht alle Katholiken einverstanden waren. Dennoch handelte es sich hierbei um ein starkes Bild, das seine Wirkung nicht verfehlte und bereits eine Ahnung von den wahren Intentionen der Regisseurin aufkommen ließ.

Anna Pisareva (Michal)

Diese haben sich dann auch bestätigt. Im Folgenden kam es auch zu einer immer stärker voranschreitenden Demontage des Barock. Der auf einem künstlichen Pferd von seinem Kampf gegen Goliath zurückkehrende, dessen Kopf stolz präsentierende  David reißt sich plötzlich die blonde Perücke vom Kopf und legt die barocke goldene Rüstung ab. Darunter trägt er modernen Lederlook. Er kann mit der hier versammelten Barock-Gesellschaft nichts anfangen und blickt recht despektierlich auf sie herab. Nur scheinbar geht er auf Konfrontationskurs zu Sauls Exzessen und trachtet danach, das Volk auf seine Seite zu bringen. Damit hat er schnell Erfolg. Mit seinem Plädoyer für den Fortschritt bringt er die Menschen dazu, sich in der Zeit fortzubewegen, ihre lächerlichen barocken Kostüme abzulegen und dann die ganze barocke Guckkastenbühne nach und nach abzubauen. Im zweiten und dritten Akt beherrscht ein moderner Container die Bühne, der auch als Spielfläche dient. An die Stelle der Polstersessel sind simple zeitgemäße Gartenstühle getreten. Die Menschen tragen jetzt nüchterne graue Anzüge. Aller Glanz und Glamour ist verschwunden und eine neue Ära hereingebrochen. Nur Saul, der auch weiterhin im angestaubten Kostüm des Sonnenkönigs steckt, hält an der alten Zeit fest und bleibt dessen chancenloser Repräsentant.

 

Yosemeh Adjei (David), Anna Pisareva (Michal)

Dafür ist indes nicht in erster Linie sein eigener freier Wille entscheidend. Die ganze Zeit über steht er unter dem bestimmenden Einfluss zweier ihm zugeordneter, von der Regie dazuerfundener dämonisch anmutender Neid-Figuren, die zu Beginn im Freeze erstarrt sind. Als der Chor im ersten Akt auf einmal beginnt, sich seiner barocken Kostüme zu entledigen, werden die beiden von einer Frau und einem Mann verkörperten Neidlinge auf einmal lebendig und beginnen, Saul immer stärker zu bedrängen und ihn immer mehr in ihren maliziösen Bann zu ziehen. Diese beiden allegorischen Gestalten sind den ganzen Abend über präsent und lassen nichts unversucht, ihre Aufgabe der Dekonstruktion des bestehenden Herrschersystems so gut wie möglich zu erfüllen.

Dabei sind sie aber nicht allein. Auch David zeigt sich in solchen Machenschaften sehr geschickt. Er ist in Lydia Steiers Deutung durchaus nicht der konventionelle biblische Held, sondern ein manipulativ und rücksichtslos agierender moderner Machtpolitiker, der alles versucht, die Israeliten auf seine Seite zu bekommen und das Königsamt an sich zu reißen. In dem Maße, wie er die flatter- und sprunghafte Öffentlichkeit in seinem Sinne beeinflusst, zieht er auch fast die gesamte Familie Sauls erfolgreich auf seine Seite. Bei dessen ersten Tochter Merab kann er indes keine Pluspunkte für sich verbuchen, die zweite, Michal, heiratet er aber, nur um sie anschießend aufs Schlimmste zu vergewaltigen. Blutüberströmt fällt das Mädchen im Unterkleid aus dem Container. Hier zeigt die Regisseurin gekonnt das zeitgenössische Problem von Vergewaltigung in der Ehe auf. Jonathan verfällt David sogar in homoerotischer Zuneigung und wird dafür vom Chor im zweiten Akt stark drangsaliert.

Yosemeh Adjei (David), Chor

Auf diese höchst fragwürdige Weise erstrecken sich politische Belange bis in die intimsten Angelegenheiten der Familie hinein und zersetzten sie zunehmend. Wenn aber die Familie als Keimzelle der Politik leidet, kann auch letztere nicht mehr funktionieren. Diese Weisheit der alten Griechen hatte sicher auch schon in biblischen Zeiten ihre Berechtigung. Der ursprüngliche Erneuerer David erweist sich als Dekonstrukteur der übelsten Sorte, der nur an seinen eigenen Vorteil denkt und dem sein Volk herzlich egal ist. Dieses ist vom Regen in die Traufe gekommen; der Gedanke ist naheliegend, dass die Zustände unter dem traditionellen Saul doch besser waren. Man wünscht sich die vergangenen Tage wieder herbei - noch dazu, weil eine Besserung der Verhältnisse nicht in Sicht ist. Denn die beiden Neidlinge haben sich nach Sauls Tod umgehend dessen Nachfolger David, den Repräsentanten der Moderne, als Opfer auserkoren und setzen ihr intrigantes Treiben an ihm fort. Der Herrscher ist austauschbar, an den Verhältnissen aber wird sich nichts ändern. Das Ende ist der Anfang. Das ist die sehr pessimistische, zeitlos gültige  Botschaft von Frau Steier, der insgesamt eine vorzügliche, handwerklich gut umgesetzte und spannende Inszenierung zu bescheinigen ist.

In musikalischer Hinsicht handelt es sich hier um eine Kooperation des Theaters Regensburg mit der Katholischen Hochschule für Kirchenmusik und Musikpädagogik. Nicht nur das Philharmonische Orchester Regensburg war an diesem Abend im Graben versammelt, auch Schüler und Dozenten der genannten Hochschule hatten sich eingefunden und unter der versierten Leitung von György Mészáros einen expressiven, von Feuer und Elan geprägten Klangteppich erzeugt, dem auch prägnante Akzente nicht abgingen.

Tamás Mester (Neid-Figur), Mario Klein (Saul), Julia Leidhold (Neid-Figur)

Durchwachsen waren die sängerischen Leistungen. Lediglich durchschnittlich schnitt Mario Klein in der Titelpartie ab. Seinem Saul fehlte es insbesondere an einem schönen appoggiare la voce und einer reichen Farbpalette, was seinen Vortrag etwas eindimensional wirken ließ. Man hat ihn schon besser gehört. Darstellerisch gab es hingegen nichts an ihm auszusetzen, genauso wenig wie an dem in schauspielerischer Hinsicht sehr überzeugenden David von Yosemeh Adjei, dessen zu stark auf der Fistelstimme beruhender Countertenor aber nicht gerade gefällig war. Da verfügte Yinjia Gong in der Rolle des Jonathan schon über weit besser sitzendes Tenor-Material. Florian Köfler war ein stimmgewaltiger, sonor und ausdrucksstark singender Prophet Samuel. Mit variablem Stimmsitz stattete Tenor Matthias Ziegler die Rock-Rolle der von der Regie mehrgeschlechtlich gezeigten Hexe von Endor aus. Er sang auch den Abner. Einen soliden, flexibel und leicht ansprechenden, wenn auch noch entwicklungsfähigen Sopran brachte Aurora Perry für die Merab mit. Übertroffen wurde sie von Anna Pisareva, die mit prachtvoller, hervorragend italienisch fokussierter, farben- und nuancenreicher Sopranstimme als Michal begeisterte. Das war die beste Leistung des Abends! In den stummen Rollen der beiden Neid-Figuren gefielen Julia Neidhold und Tamás Mester. Das Kind war aufgeteilt: Die Darstellerin war Magdalena Hubmann, die Sängern Monika Tschuschke. Auf hohem Niveau präsentierte sich der von Alistair Lilley bestens einstudierte Opernchor und Extrachor des Theaters Regensburg.

Ludwig Steinbach,5.7.2015

Die Bilder stammen von Martin Sigmund.

 

 

 

 

 

 

 

CAMUS / JAN-S. BEYER

CALIGULA

Besuchte Aufführung: 12.3. 2015 (Premiere: 27.3. 2015)

Eine leise Nachtmusik

Nein, „Caligula“ ist, zumindest am Theater Regensburg, keine Oper. „Caligula“ ist, wenn überhaupt, ein skandalträchtiger Film (übrigens nicht nur mit extrem nackten Mädchen und Männern, sondern auch mit einer interessanten Filmmusik). „Caligula“ ist das erste Drama Albert Camus', dessen Werke nur sehr selten veropert wurden. Es gibt eine Oper nach dem grandiosen Roman La Peste, und Im Januar 2015 hatte Detlev Glanerts „Caligula“ in Hannover Premiere (ausführliche Würdigung bei uns) – doch nicht davon soll hier die Rede sein.

Nein, „Caligula“ ist, unter der genauen Regie Charlotte Koppenhöfers, mit Jacob Keller als jungenhaft-gefährlicher Kaiser, in Regensburg keine Oper, aber tatsächlich ein Werk des Musiktheaters, obwohl eher, wenn auch selten, gebrüllt und nie gesungen wird. Nicht, dass der Name des Komponisten schon auf dem Cover des (im übrigen gut gemachten) Programmhefts prangen würde. Wer jedoch an diesem 110 Minuten langen pausenlosen Abend genau hinhörte, wird bemerkt haben, dass die Musik einerseits scheinbar kaum bemerkbar ist und über ein paar kräftige Akzente kaum hinausgeht – aber, wenn nicht alles täuscht, fast pausenlos von der Tonspur kommt. Ja: irgendwann hat der sensible Hörer den Eindruck, dass die Musik selbst dann erklingt, wenn sie nicht erklingt. Mit einem Wort: hört man sie nicht, ist sie vermutlich nur so leise, dass man sie nur noch mit Katzenohren wahrzunehmen vermag. In diesem Sinne ist sie, sozusagen, rein existentialistisch: selbst dort, wo sie nicht zu existieren scheint.

Jan S.- Beyer spielt, liest man, als freiberuflicher Musiker Schlagzeug, Percussion und Keyboard. Er ist Komponist, Texter, Produzent und Remixer und Mitglied der ElektroPopPunk-Band „Testsieger“ („Veröffentlichungen im DIY-Bereich“, was immer das heißen mag). „Ab dem Jahr 2014 begann Jan S. Beyer eine Kooperation mit den in Chicago (USA) beheimateten Bands 'Windbreaker' und 'Afterburner' um Nicholas Read und Travis Thatcher die im analog-modularen Bereich experimentieren“. Vielleicht ist auch die Theatermusik, die er zu „Caligula“ geschrieben hat, analog-modular: „Wesentliches Merkmal analoger modularer Synthesizer ist die Spannungssteuerung einzelner Parameter eines Moduls. Die Steuerspannung (CV für engl. 'Control Voltage') kann – beispielsweise von einem Keyboard oder einem Sequenzer erzeugt – auf den CV-Eingang des VCO (Voltage controlled oscillator) gelegt werden, wobei eine Änderung der Spannung eine Änderung der erzeugten Frequenz zur Folge hat“, liest der Rezensent, der's genau wissen will, bei Wiki. Zumindest klingt der Sound des „Caligula“, so leise er auch an diesem spannenden Abend meistens klingt, wie eine Mischung aus Handmade- und Elektromusik. Richtig laut ist es nur im kurzen Vorspiel, das den Kritiker an Sequenzen des Tanztheaterabends „Dog“ erinnert, das er kürzlich im Staatstheater Kassel sah.

Da hotten ein paar wilde Männer noch einmal im Hardrock ab – bevor das grauenhafte Geschehen seinen Lauf nimmt. Apropos Spannung: so klassizistisch auch die Ausstattung des schönen Theaters aussieht, so barbarisch ist auch die realisierte Idee des Kaisers Caligula, die absurden Widersprüche der Welt durch die absolute „Freiheit“ seines totalen Tyrannenwillens zu beseitigen. Hier die Sphingen, Ranken und „edlen“ Männermasken an den Balkons – dort die willkürlich scheinenden, völlig irre auftretenden Taten des Kaisers, der, so Camus, „die Menschen leugnet“ und völlig amoralisch, nur versehen mit einer totalen abstrakten Idee, Blutbäder anrichten lässt.

Dann aber zirpt eine einsame Gitarre sehr leise vor sich hin. Je mehr Spannung auf der Bühne und zwischen den Figuren entsteht, desto leiser wird der Soundtrack. Einfache Arpeggios von einfachen Dreiklängen stehen scheinbar schräg zur finsteren Atmosphäre; für den Lärm sorgt Caligula selbst, der dem anfänglichen Bühnenkasten – das ist schwer symbolisch – systematisch abbaut. Ein Mezzoforte ist meist das Äußerste, was zwischen den leisen Passagen vermittelt, wenn Szenenübergänge gemacht werden müssen. Wenn sich die Verschwörer treffen, knarzt es noch leiser: ganz oben am Steg, aber vielleicht wird hier gerade analog modular synthesizert. Je weiter die Atmosphäre der unsicheren Handlung ausschwingt, desto kleiner klingen die Intervalle der einsamen Gitarre – und wenn die Klänge verstummen, sind sie vermutlich nur so leise, dass man sie mit normalen Ohren nicht mehr hören kann.

Caligula ist, moralisch gesehen, ein durchaus unentschiedenes Ideendrama – die Musik reagiert darauf, indem sie die spektakuläre Handlung und die Atmosphäre der Angst nicht plump kommentiert oder nachzeichnet, sondern ruhig unterstützt. Wir hören: Eine leise Nachtmusik. Dass die lächerliche, sekundenkurze „Tanzeinlage“ des Kaisers keine eigene „Ballettmusik“ provoziert, ist klar. Alles andere wäre auch absurd...

Wir hören ostinatohafte Klänge, und am Ende sehen wir Caligula selbst in der Maske des Todes: als Alice Cooper. Nun endlich muss auch die Musik verstummen. Dem Fanal des Finales, in dem der Kaiser endlich den Verschwörern zum Opfer fällt, geht eine lange Stille voran. Sie würde weniger eindrucksvoll klingen, hätten wir nicht zuvor, 90 Minuten lang, fast unausgesetzt, doch niemals als penetrante Sauce, die Begleitmusik zum psychisch-philosophischen Schauerspiel gehört.

Verachtet mir die Bühnenmusik nicht! Und ehrt mir ihre Komponisten.

Frank Piontek, 15.3. 2015

Fotos: Jochen Quast

 

 

 

DOKTOR SCHIWAGO

Besuchte Aufführung: 1.4.2015

(Premiere der UA: 24.1.2015)

Bombastisches Stil-Potpourri ohne Zusammenhang  

Er zählt zu den herausragenden Erzeugnissen der Weltliteratur: Der Roman „Doktor Schiwago“ von Boris Pasternak, dessen 125. Geburtstag die literarische Welt am 10. 2. 2015 feiern konnte. Bereits im Jahre 1957 in Italien zum ersten Mal veröffentlicht, erfuhr das Buch in der Folgezeit eine Verbreitung rund um die Welt. Es war außerhalb Russlands, wo es weiterhin verboten bleib, in so hohem Maße erfolgreich, dass es seinem Schöpfer den Nobelpreis für Literatur einbrachte, den der aus dem Schriftstellerverband der UdSSR ausgeschlossene und von Ausbürgerung bedrohte Pasternak unter dem Druck der Regierung Chruschtschow indes ablehnte. Im Jahre 1960 starb er, 1987 erfolgte seine Rehabilitierung und 1988 durfte „Doktor Schiwago“ endlich auch in der Sowjetunion erscheinen. Im Jahre 1989 nahm Pasternaks Sohn stellvertretend für den Vater den Nobelpreis entgegen. Dass der Roman auf ein derart starkes Echo stieß, verdankt sich nicht zuletzt der 1965 erfolgten, mit fünf Oscars ausgezeichneten Verfilmung durch David Lean mit Omar Sharif in der Hauptrolle. An dieser Stelle sei angemerkt, dass dieser Film einen weit besseren Ruf genießt als er tatsächlich ist. Er strotzt nur so von künstlich erzeugtem amerikanischem Russen-Kitsch. Da ist die vor einigen Jahren erfolgte Neuverfilmung des Stoffes mit Hans Matheson und Keira Knightley, in der erstklassiger Realismus dominiert, erheblich besser.

 

Vladimir Baykov (Schiwago), Michaela Schneider (Lara)

Eine Oper nach dem Roman Pasternaks hatte es bislang nicht gegeben. Das hat sich jetzt geändert. Als Auftragswerk des Theaters Regensburg hat der junge russische Komponist Anton Lubchenko, der trotz seiner erst 30 Jahre bereits das Amt des Intendanten der Primorsky-Staatsoper Wladiwostok bekleidet, seinen als musikalisches Drama in neun Szenen betitelten „Doktor Schiwago“ geschrieben, zu dem er gleichzeitig auch das Libretto beisteuerte, das neben der Haupthandlung einige Gedichte Schiwagos aus dem zweiten Teil des Buches enthält. Die ursprünglich geplante weitere Kooperation mit dem Opernhaus in Wladiwostok hat der Komponist aber im Zuge von Streitereien im Vorfeld der Regensburger Premiere abgesagt. Auf diesen Skandal soll jetzt nicht weiter eingegangen werden. Hier steht die Oper im Zentrum des Interesses, die weniger die Liebesgeschichte zwischen Schiwago und Lara behandelt als vielmehr die großen politischen Zusammenhänge. Sie scheint sich bei dem Regensburger Publikum großer Beliebtheit zu erfreuen. An diesem Abend war das Theater gut besucht und das Interesse des Auditoriums groß, was bei einer modernen Oper durchaus keine Selbstverständlichkeit darstellt.

Vitali Ishutin (Strelnikow), Chor

Dass der in der Tradition der russischen Literaturoper stehende „Doktor Schiwago“ bei den Besuchern auf derart begeisterte Zustimmung stieß, ist sicherlich in erster Linie der Tatsache zu verdanken, dass er ausgesprochen tonal komponiert ist und keinerlei quere Töne oder Dissonanzen aufweist. Wüsste man nicht, dass sie neu ist, würde man die Oper ohne weiteres um viele Jahrzehnte zurückdatieren. Lubchenkos größtenteils ausgesprochen dichte, packend und dramatisch gehaltene Musik, der es aber auch nicht an emotionalen Momenten fehlt, ist ein Labsal für die Ohren, ein echter Hörgenuss. Es gibt Stellen in der Partitur, wie beispielsweise den fulminanten Schlussmonolog Laras, die einen in hohem Maße berühren und oft auch regelrecht berauschen. Der große Erfolg, den das Werk in Regensburg hatte, rührt aber auch wohl daher, dass es musikalische Passagen enthält, die dem Publikum vielleicht bekannt erscheinen, vielleicht sogar altvertraut anmuten. Und hier liegt der nicht wegzuleugnende Haken: Die zugegebenermaßen sehr effektive Musik lässt keinen eigenen Personalstil des Komponisten erkennen.

Vladimir Baykov (Schiwago)

Zu sehr orientiert sich Lubchenko an den großen Meistern seines Heimatlandes. So gemahnt das bombastisch eingesetzte Schlagwerk extrem an Schostakowitsch. Und bei den großen Volksszenen, insbesondere derjenigen mit den Glocken, ist der Einfluss von Mussorgskys „Boris Godunow“ unüberhörbar. Es sind in erster Linie die großen Massenszenen, bei denen Putins Hauskomponist Lubchenko sich in ganz großer Form zeigt. Ihnen gehört seine ganz große Liebe, in ihnen schreit er sein Bekenntnis zum Putin-Staat lautstark in die Welt hinaus. Diese ausgesprochen eruptiven Klangballungen sind einerseits zwar von enormer Eindringlichkeit und Effektivität, andererseits aber auch zu sehr den Stilen anderer berühmter, meist russischer Komponisten verhaftet. Neben den bereits genannten Tonsetzern lädt Lubchenko noch Prokofjew, Borodin und Rachmaninow zum Stelldichein ein und gibt bei den etwas ruhiger gestalteten Liebesszenen zwischen Schiwago und Lara noch einen Schuss von Tschaikowskys „Eugen Onegin“ dazu. Sogar eine Bach’sche Fuge und ein simpler Charleston werden hörbar. Heraus kommt ein Potpourri verschiedenster lose aneinander gereihter Stile und mannigfaltiger Zitate, dem aber der große Zusammenhang gänzlich abgeht. Eine sinn- und einheitsstiftende musikalische Dramaturgie wird an keiner Stelle spürbar. Das ist das Hauptproblem der Partitur und der Konzeption allgemein. Wenn es Lubchenko darauf angelegt hat, mit dieser alles andere als originellen Vorgehensweise seinen Patriotismus für Mütterchen Russland damals wie heute vorzuführen, ist ihm das gelungen, aber nur unter Preisgabe seiner künstlerischen Originalität. Dazu kommt, dass es der Musik in den etwas stilleren, manchmal etwas an Kurt Weill gemahnenden Passagen etwas an Prägnanz fehlt. An solchen Stellen verliert der Klangteppich an Prägnanz und Eleganz und driftet schlagartig in die Gefilde der leichten Muse ab. Derartige Brüche tun der Musik ebenfalls nicht gut. Demzufolge hinterließ das Ganze in musikalischer Hinsicht einen zwiespältigen Eindruck.

Vitali Ishutin (Komarowski)

Zu loben ist indes Tom Woods am Pult, der Lubchenkos Partitur zusammen mit dem brillant aufspielenden Philharmonischen Orchester Regensburg auf fulminante Art zum Leben erweckte. Unter seiner versierten Leitung legten sich die Musiker mächtig ins Zeug und erzeugten einen von großer dramatischer Intensität und einer breiten Farbpalette geprägten Klangteppich. Den Sängern, die zu einem Großteil aus Russland angereist waren, war Woods mit seinen gemäßigten Tempi und wohldosierter Dynamik der großen Orchesterausbrüche ein guter Begleiter. Von den Gesangssolisten gebührt die Krone Michaela Schneider, die mit hervorragend italienisch geschultem, differenziert und nuancenreich eingesetztem Sopran die Lara sang. Herrlich, wie sie ihre tiefgründige Stimme in breiten Kantilenen warm und gefühlvoll dahinfließen ließ und dabei mit einem hervorragenden appoggiare la voce aufwartete. Ihr hohes Niveau wurde von Vladimir Baykov als Schiwago nicht erreicht. Zwar war auch er auf große Ausdruckskraft des Vortrags bedacht, setzte dabei aber auf einen etwas zu variablen Stimmsitz. Mal wies sein robuster Bariton eine tiefere, mal eine höhere Fokussierung auf. Und die Deklamation rangierte bei ihm vor schöner Linienführung. Schauspielerisch in der Doppelrolle des Partisanenführers Strelnikow und des schmierigen Anwalts Komarowski trefflich war der Tenor Vitali Ishutin. Stimmlich konnte er mit seinem flachen, insbesondere in der Höhe oft grellen Tenor nicht überzeugen. Als Verwundeter im Militärhospital war sein Stimmfachkollege Alexei Kostiuk um schöne Linienführung und emotionalen Ausdruck redlich bemüht, sang aber auch ziemlich dünn. Zudem war er als 1.Verräter, 2. Gast und 1. Schriftsteller zu erleben. Obwohl es auch seinem Tenor noch etwas an einer tiefen Stütze mangelt, war Brent L. Damkier in den Partien des 2.Verräters, 2. Gastes und 2. Schriftstellers seinem Kollegen überlegen. Ebenfalls nur durchschnittlich präsentierte sich Andrej Popov als Siwobljui, Partisan und Betrunkener. Einen sauber durchgebildeten, elegant ansprechenden Mezzosopran brachte Vera Egorova für die Kubaricha und die Marina mit. Einen guten Tag hatte Mario Klein, der mit sonorer Bassstimme den Wächter und den Markel sang. Gut gefiel der von Alistair Lilley einstudierte Opernchor des Theaters Regensburg.

Vera Egorova (Marina), Chor

Silviu Purcarete setzt bei seiner Inszenierung auf ein Gemisch naturalistischer und traumhaft-surrealer Elemente. Dabei erzählt er das Ganze aus der Perspektive des als Alter Ego Pasternaks vorgeführten Schiwago. Helmut Stürmer hat ihm einen karg-nüchternen Raum auf die von vorbeiziehenden grauen Wolkenprojektionen beherrschte Bühne gestellt. Dessen fehlendes Dach spielt auf einen Kernsatz des Werks an: „Russland hat sein Dach verloren nachts im Sturme“. Über eine visuelle Impression wird hier gleichzeitig Revolution und Patriotismus ins Spiel gebracht. Die bereits zu Beginn projizierten russischen Soldaten des Ersten Weltkrieges zeigen, das Purcarete die Handlung in der erzählten Zeit spielen lässt, worauf auch die Kostüme von Corina Gramosteanu hinweisen, und dabei ohne jegliche Verfremdungen auskommt. Er spricht „Doktor Schiwago“ ganz zu Unrecht seine Bedeutung für die heutige Zeit ab und inszeniert brav am Textbuch entlang. Mit Hilfe der häufig eingesetzten Drehbühne sowie von Podien und Versenkungen wird ein breites räumliches Spektrum erzeugt. Das mit Krankenbetten ausgestattete Lazarett weicht zuerst einem Bunker, später einem politischen Zentrum und dem Haus von Schiwago und Lara. Sie sind nur noch Marionetten in den Händen von Komarowski, was seitens der Regie durch drei Puppen trefflich versinnbildlich wird. Hier nimmt das Geschehen zudem den Charakter eines Kammerspiels Strindberg’scher Prägung an. Zunehmend wandelt sich die Realität zu einem Alptraum und mutieren Gas- zu Tiermasken, die praktisch den ganzen Abend über präsent bleiben. Strelnikow hält seinen Disput mit Schiwago von einem versenkten Badezuber aus, in den später auch Kubaricha steigt. Die von ihm gepflegte Revolution ist indes erfolglos. Sie vermag dem zugeschneiten Kreml nichts mehr anzuhaben, mag Strelnikow auch noch zu sehr die rote Fahne schwingen. Die intendierte politische Erneuerung ist gescheitert, genau wie die Liebe von Schiwago und Lara, die ihren großen Schlussmonolog an seinem Sarg singt. Insgesamt haben wir es hier mit einer insgesamt soliden Inszenierung zu tun, der aber leider der durchaus vorhandene aktuelle Bezug fehlt. An das, was beispielsweise eine Andrea Moses aus dem Stoff gemacht hätte, darf man gar nicht denken.

Ludwig Steinbach, 5.4.2015

Die Bilder stammen von Jochen Quast

 

 

 

 

 

Viel Spaß im zweiten Akt

DER VOGELHÄNDLER

Besuchte Aufführung: 14.12.2014 (Premiere: 06.12.2014)

Heimliche Hauptdarsteller: Wildschweine

Gemischte Gefühle hinterließ die Neuproduktion von Carl Zellers Operette „Der Vogelhändler“ am Theater Regensburg. Teils lag es an der Produktion, teils an den Sängern. Wer kennt sie nicht, die Glanzlichter des am 10.01.1891 im Theater an der Wien uraufgeführten Werkes? Titel wie „Grüß euch Gott, alle miteinander“, „Ich bin die Christel von der Post“ oder „Schenkt man sich Rosen in Tirol“ erfreuen sich nach wie vor großer Beliebtheit beim Publikum und sind schon lange zu Schlagern geworden. In Regensburg besann man sich auf eine frühe Fassung des Werkes, die am Ende noch ein zusätzliches, von der Zither begleitetes Lied Adams enthält, das man bisher nicht kannte und das auch im Klavierauszug fehlt.

Cameron Becker (Adam), Theodora Varga (Kurfürstin)

Im Zentrum des Geschehens stehen die Wildschweine, die in Dominik Wilgenbus’ Inszenierung zu heimlichen Hauptdarstellern avancieren. Das wird bereits zu Beginn offenkundig. Noch während die Zuschauer ihre Plätze einnehmen, ist der Vorhang geöffnet und gibt den Blick auf ein Schild frei, auf dem in großen Lettern das tragische Schicksal des im Jagdrevier des Kurfürsten lebenden Wildschweins Rigobert geschildert wird, das sich in einen weiblichen Artgenossen verliebt, dann aber vor das Gewehr eines Jägers gerät. Ein gleichartiges Schild weiß zu Beginn des zweiten Aktes zu vermelden, dass im zweiten Rang eine Jagdflinte gefunden wurde. Der Eigentümer wird gebeten, sie an der Garderobe abzuholen. Nach der Pause hängen zahlreiche Wildschweinköpfe als Jagdtrophäen des Kurfürsten an der Wand. Hier wird augenscheinlich nicht nur die Geschichte von menschlichen Liebesverwirrungen erzählt, sondern auch allgemein von Wildschweinen berichtet.

 

dam Kruzel (Weps), Cameron Becker (Adam), Brent L. Damkier (Stanislaus), Doris Dubiel (Adelaide), Chor

Dabei braucht der Regisseur etwas Zeit, um so richtig in die Gänge zu kommen. Dass der erste Akt noch nicht sonderlich zu überzeugen vermochte, liegt aber in erster Linie an dem hier noch nicht sonderlich geglückten Bühnenbild von Peter Engel. Das von ihm auf die Bühne gestellte Jagdrevier, dessen Betreten auf Warntafeln wegen Gefahr in mehren Sprachen verboten wird, besteht aus einem Wald, dessen aus Pappmachée hergestellten Bäume reichlich aufgesetzt wirken. Eine im linken Bereich der Bühne verlaufende Brücke sieht man auch im zweiten Akt. Die Handlungsträger einschließlich des Chors agieren in epocheübergreifenden Kostümenvon Claudia Doderer. Der Adel erscheint mit Perücken der Mozart-Zeit, womit auf Wilgenbus’ These angespielt wird, „dass im Grunde jeder Komponist nach Mozart irgendwann einen ‚Figaro’ schreiben wollte“ (vgl. Programmheft). Die Tiroler und die Dörfler erscheinen in etwas moderneren, stilistisch leicht variierenden Trachten. Deutlich wird, dass die hier aufgezeigten Konflikte in jeder - nicht nur in der vom Adel beherrschten - Ära vorkommen können. Besonders Bestechung von Amtsträgern, Vetternwirtschaft und Protektion kamen schon immer vor und sind auch heute noch Probleme. Insoweit ist der kostümhafte Wandel durch die Zeiten durchaus berechtigt.

Cameron Becker (Adam), Christel, Chor

Im zweiten Akt nimmt das Ganze dann enorme Fahrt auf. Der Bühnenraum mutet auf einmal leicht schräg an; das romanische Jagdschloss, zu dem die Handlung hier wechselt, erschließt sich den Augen unvermittelt etwas schief. Die verzerrte Wahrnehmung lässt die Handlung etwas ins Surreale abdriften, wozu auch der Regisseur beiträgt, wenn er die an der Wand hängenden Wildschweintrophäen immer wieder lebendig werden und durch Kopfnicken einen Kommentar zu dem Geschehen abgeben lässt. Das war ein durchaus spaßiger Einfall. Auch die Personenregie hatte sich im zweiten Akt enorm gesteigert. Das Komödienhafte des Stücks wurde jetzt voll und ganz ausgekostet und mit einer Unmenge witziger Ideen garniert. Neben der heiteren kam aber auch die melancholische Komponente nicht zu kurz, als deren Höhepunkt das von einem herrlichen Ambiente eingerahmte Lied der Kurfürstin vom Kirschenbaum gelten kann. Den Lehren Bertolt Brechts erweist Wilgenbus im dritten Akt seine Reverenz, wenn er nach dem Terzett „Kämpfe nie mit Frau’n“ Adam und Christel noch einmal vor den jetzt halb geschlossenen Vorhang treten und den Vogelhändler das bereits erwähnte Zither-Lied singen lässt.

Adam Kruzel (Weps), Chor

Gesanglich hielten sich Positiva und Negativa die Waage. Die Krone der Aufführung gebührte wieder einmal Anna Pisareva, die als Briefchristel eine absolute Glanzleistung erbrachte. Sie sang mit exzellent durchgebildetem, bestens italienisch geschultem, sonorem und strahlkräftigem Sopran so phantastisch, dass es eine Freude war, ihr zuzuhören - und zuzusehen, denn auch schauspielerisch wurde sie mit frischem, aufgewecktem Spiel ihrem Part vollauf gerecht. Zurecht das Publikum auf ihrer Seite hatte auch Theodora Varga, die die Kurfürstin Marie rein vokal mit einem trefflich fokussierten, in jeder Lage sauber ansprechenden und recht emotional geführten Sopran gut sang. Darstellerisch betonte sie eher die bedächtige Seite der Rolle. Ihr gefühlvoll vorgetragenes Lied vom Kirschenbaum war ein Höhepunkt der Aufführung. Gegenüber diesen beiden Damen fiel Cameron Beckers Adam ab. Von seinem frischen, aufgeweckten Spiel her ist ihm nicht das Geringste anzulasten, indes war der tirolerische Akzent nicht so sehr die Sache des amerikanischen Sängers. Stimmlich vermochte er mit seinem dünnen Tenor ebenso wenig zu überzeugen wie der ebenfalls reichlich flach geführte Tenor von Brent L. Damkiers Graf Stanislaus.

Eine gute Leistung ist Adam Kruzel zu bescheinigen, der den Baron Weps mit einer ausgemachten komödiantischen Ader einfach köstlich spielte und mit hervorragend gestütztem, markantem und ausdrucksintensivem Heldenbariton noch besser sang. Von den beiden Professoren vermochte der mit vollem, rundem Tenor intonierende Süffle Matthias Zieglers viel besser zu gefallen als Michael Heuberger, der den Würmchen mit reichlich flachem Tenor sang. Letzterer hatte im ersten Akt als Wirtin Nebel bereits eine erheiternde Transvestitenstudie abgeliefert. Einen angenehmen Bariton brachte Tobias Hänschke - nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Fußballspieler - für den Dorfschulzen Schneck mit. Eine schauspielerisch ansprechende, die komischen Seiten ihrer Partie bestens bedienende Baronin Adelaide war die aus dem Sprechtheater stammende Doris Dubiel. Gesungen hat sie, wie Schauspielerinnen es eben tun. Solide präsentierte sich der von Alistair Lilley einstudierte Chor.

Tom Woods fand am Pult zusammen mit dem Philharmonischem Orchester Regensburg ganz im Einklang mit der Regie einen guten Spagat zwischen spritziger Ausgelassenheit und einfühlsamer Melancholie. 

Ludwig Steinbach, 17.12.2014         Die Bilder stammen von Jochen Quast

 

 

 

RIGOLETTO

besuchte Vorstellung: 18.11.2014

Vor allem musikalisch wertvoll

Lt. der Datenbank von Operabase gehört „Rigoletto“ mit annähernd 500 Produktionen in den vergangenen fünf Spielzeiten zu den Top 10 der am meisten gespielten Opern unserer Tage. Das macht es einem Regisseur nicht leicht, hier noch wirklich neue Aspekte zu finden, und so gibt Brigitte Fassbaender, die für die aktuelle Regensburger Produktion verantwortlich zeichnet, im Programmheft unumwunden zu, dass „jeder glaubt zu wissen, wie es sein muss und auszusehen hat“ und dass die Handlung wenig Raum für Deutungen zuließe. Aber inszenieren hätte man’s dann doch können…

Die einst gefeierte Mezzosopranistin und ehemalige Intendantin des Tiroler Landestheaters in Innsbruck unterlässt dies jedoch weitgehend, streicht nicht nur Deutungen, sondern auch Bühnenbild weitestgehend und steckt die Protagonisten in zeitgenössisches Gewand (Bühne und Kostüme: Dorit Lievenbrück). Die Bühne wird beherrscht von einem Gerüst mit einer Treppe auf jeder Seite, dreht sich im letzten Akt um 90 Grad und wird nur da und dort ergänzt, z.B. durch ein scheinbar an Luftballons hängendes Zimmer Gildas in der zweiten Hälfte des ersten Aktes – zugegebenermaßen eine sehr schöne Idee – oder durch eine Art Trophäenwand des Herzogs mit so überdimensionalen wie verfremdeten Damenportraits im zweiten Akt. Die Sänger haben im Wesentlichen an der Rampe zu stehen, gerne nebeneinander – Gilda darf in ihrer Verzweiflung im dritten Akt auch mal von der rechten auf die linke Bühnenseite wechseln und da weiterleiden, mehr passiert leider nicht. Um die verpassten Chancen, das Innenleben Rigolettos offenzulegen, seine körperliche Verkrüppelung als Symbol zu sehen (hier Narben an Gesicht und Körper statt Buckel), Gildas Liebe zu Herzog als Flucht vor der erdrückenden Vaterliebe zu deuten, ist es schade. Doch dafür entschädigt die musikalische Seite des Abends.

Adam Kruzel verkörpert die Titelfigur mit großer Leidenschaft und Herzblut, verfügt über viel Kraft in der Stimme, zeigt aber leider auch weitgehend nur diese. Lyrische Passagen da und dort hätten es dem ausgezeichneten Schauspieler leichter gemacht, das Publikum auch wirklich musikalisch emotional zu packen. Da singt der junge Yinjia Gong den Herzog schon wesentlich differenzierter, verfügt über sichere Höhe von enormer Strahlkraft und präsentiert ebendiese genauso gerne wie zart schmelzende Pianissimi. Die aus Weißrussland stammende Anna Pisareva – dem einen oder anderen vielleicht aus dem arte-Opernwettbewerb „Wer ist Carmen?“ als Micaela in Erinnerung – verzückt, wann immer sie die Bühne betritt. Sie gibt das verliebte, zart fühlende, verunsicherte und zum Schluss enttäuschte Mädchen mit Innbrunst und vermag mit bezaubernden Koloraturen und gefühlvollem Gesang echte Gefühle zu transportieren. Jongmin Yoons Sparafucile überzeugt erst im letzten Akt, in dem er an der Seite seiner Bühnenschwester Vera Egorova glänzt, Stephanos Tsirakoglou gelingen als Monterone zwei beeindruckende Szenen. Das restliche Ensemble zeigt durchweg eine solide und überzeugende Leistung: Mikhail Kuldyaev als Ceprano, Angelika Hirscu als dessen Gattin, Cameron Becker als Borsa, Christiana Knaus als Giovanna, in Kleinstrollen Mert Öztaner und Elena Lin. Hervorzuheben aus diesem Kreis ist Matthias Wölbitsch, der als Marullo mit enormer Spielfreude und frischer Stimme zu überzeugen weiß. Opernchor und Extrachor sind gut disponiert und liefern eine durchaus gute Leistung ab.

Tetsori Ban am Pult findet den richtigen Effet, zeigt die Partitur in weiten Teilen glücklicherweise sehr italienisch und ist nur an der einen oder anderen Stelle, beispielsweise während des Quartetts im letzten Akt, ein wenig zu zurückhaltend und brav.

Alles in allem lohnt der Abend vor allem hinsichtlich der wunderbaren jungen Stimmen. Das Publikum feiert seine Hausstars – und das zu Recht.

Jochen Rüth 22.11.14

Bilder: Teater Regensburg

 

P.S.

Vielleicht sollte mal jemand der technischen Abteilung sagen, dass alles, was in der Regiekabine gesprochen wird, durchaus noch – wenn auch gedämpft – durch die Scheibe dringt und somit die letzten beiden Parkettreihen mehr oder weniger erfreut. Das mache ich jetzt: Dass man am Arbeitsplatz auch mal reden dürfen muss, leuchtet ein. Pausenloses Gerede während der kompletten Vorstellung und schallendes Gelächter aus der Tonkabine, während das künstlerische Personal versucht, Gildas Tod überzeugend zu präsentieren, ist nicht nur gegenüber den Künstlerkollegen unangebracht, sondern auch gegenüber dem Publikum.

 

 

 

RIGOLETTO

Besuchte Aufführung: 2.11.2014 (Premiere: 25.10.2014)

Konventionalität im modernen Gewand

Die Neuproduktion von Verdis „Rigoletto“ am Theater Regensburg war die Reise insbesondere in musikalischer und gesanglicher Hinsicht wert. Hier hat sich wieder einmal gezeigt, dass kleine Theater sich nicht hinter den großen Opernhäusern zu verstecken brauchen. Und dass das Regensburger Theater zum großen Teil über erstklassige Sänger/innen verfügt, hat man ja schon lange gewusst.

Seymur Karimov (Rigoletto), Angelika Hircsu (Gräfin von Ceprano), Kleindarsteller, Opernchor

Allein der Rigoletto von Seymur Karimov hätte den Besuch der Aufführung gelohnt. Dieser noch junge Sänger erwies sich in jeder Beziehung als Idealbesetzung für die schwierige Rolle, die ihm indes nicht die geringsten Schwierigkeiten bereitete. Schon darstellerisch war er überzeugend. Zynismus, Hohn und Hass auf die Höflinge einerseits, die große Liebe zu seiner Tochter andererseits, hat er mit intensivem, gefühlsbetontem Spiel glaubhaft gemacht. Und stimmlich erbrachte er eine absolute Glanzleistung. Sein ungemein edel timbrierter, frischer und in jeder Lage hervorragend fokussierter heller Bariton bester südländischer Schulung war fast schon zu schön für diese Partie. Bei ihm weiß man wirklich nicht, wo man mit dem Schwärmen beginnen soll: bei dem hervorragenden appoggiare la voce, dem einfühlsamen Legato, seiner trefflichen Phrasierungskunst oder dem enormen Ausdrucksgehalt seines bis zu den Spitzentönen voll und rund klingenden Prachtbaritons? Alle diese Vorzüge ergaben ein brillantes Rollenportrait, von dem sich manch anderer Vertreter des Rigoletto ein Stück abschneiden könnte. Sein Wechsel an ein großes Haus dürfte angesichts seiner phantastischen stimmlichen Qualitäten nur noch eine Frage der Zeit sein.

Yinjia Gong (Duca), Seymur Karimov (Rigoletto)

Sehr für sich einzunehmen vermochte auch Yinjia Gong als Duca. Äußerlich gab er mit lockerem, behändem Spiel einen ewigen Glückspilz bei Frauen, der sich insgesamt als ausgesprochen lockerer Geselle erwies. Und stimmlich entsprach er seinem Part ebenfalls voll und ganz. Er verfügt über einen vorbildlich gestützten, ebenmäßigen und einen ansprechenden Squillo aufweisenden lyrischen Tenor, den er elegant und prägnant zu führen verstand. So ungestüm das von vielen Ritardandi gezierte „La donna è mobile“ klang, atmeten seine gegenüber Gilda geäußerten Liebesschwüre doch eine so überzeugende Emotionalität, dass es nicht weiter verwunderlich war, dass das Mädchen auf ihn hereinfiel. Leider erreichte Theodora Vargas Gilda das hohe Niveau der beiden anderen Protagonisten nicht ganz. Über weite Strecken sang sie mit gut durchgebildetem, sauber dahinfließendem Sopran durchaus passabel. In der Höhe ging sie aber schon mal vom Körper weg, was einen recht schrillen Klang nach sich zog. Hier wäre mehr stimmliche Anlehnung erforderlich gewesen. Zudem wirkte ihr Vortrag in dynamischer Hinsicht etwas eindimensional. Die für diese Rolle unbedingt erforderliche Pianokultur ist bei Frau Vargas nicht gerade hoch ausgebildet. Sie sang fast alles auf dem gleichen Level, wodurch sie der Gilda doch einiges schuldig blieb. Insbesondere bei ihrer herrlichen E-Dur-Arie „Caro nome“ hätte man sich von ihr mehr gefühlvolle Piani und Pianissimi gewünscht. In dieser Beziehung war beispielsweise vor einigen Jahren die junge Sopranistin Sofia Kallio am Landestheater Coburg viel überzeugender.

Gilda, Seymur Karimov (Rigoletto)

Ein solider, wenn auch nicht außergewöhnlicher Sparafucile war Mario Klein. Übertroffen wurde er von Vera Semieniuk, die einen profunden, erotisch eingefärbten Mezzosopran für die Maddalena mitbrachte, die sie auch überzeugend spielte. Ebenfalls mit tadellosem Mezzo-Material gab Christiana Knaus die Giovanna. Stephanos Tsirakoglous matter, stark im Hals sitzender Bass, der überhaupt keine vokale Autorität und Dämonie ausstrahlte, erwies sich für den Grafen von Monterone als Fehlbesetzung. Da war der Graf von Ceprano bei dem solide singenden Mikhail Kuldyaev schon besser aufgehoben. Und auch Angelika Hircsu holte rein vokal aus ihrer von der Regie aufgewerteten Gräfin Ceprano mit üppiger Tongebung viel heraus. Den beiden Höflingen Marullo und Borsa konnten Matthias Wölbitsch und Cameron Becker mit ihren flachen Stimmen rein gesanglich kein sonderliches Gewicht geben. Das gilt auch für Mert Öztaners Gerichtsdiener. Aus dem Pagen hatte die Regie eine Bedienstete der Ehefrau des Duca gemacht, die bei Andrea Dohnicht gut aufgehoben war. Beeindruckend präsentierte sich der von Alistair Lilley trefflich einstudierte Chor.

Nachdem er erst einen Tag zuvor einen phantastischen „Tristan“ dirigiert hatte - wir berichteten -, stand GMD Tetsuro Ban auch an diesem Abend wieder am Pult. Schnell wurde klar, dass auch das italienische Fach bei ihm in besten Händen ist. Sein Dirigat zeichnete sich durch prächtige Italianità, lang gesponnene Bögen und enorme Emotionalität aus. Die von ihm angeschlagenen Tempi waren recht ausgewogen und sängerfreundlich. Seine Intentionen wurden von dem prägnant und konzentriert aufspielenden Philharmonischen Orchester Regensburg versiert umgesetzt.

Seymur Karimov (Rigoletto), Opernchor

Bleibt noch die Inszenierung von Brigitte Fassbaender, die insgesamt nicht sonderlich zu befriedigen vermochte. Sie und ihre Bühnen- und Kostümbildnerin Dorit Lievenbrück huldigten optisch der sog. Neuen Sachlichkeit. Sie siedeln die Handlung in einer metallenen Treppenformation an, die sich im dritten Akt dreht und dann die Behausung Sparafuciles und Maddalenas bildet. Dabei entsteht der Eindruck, die mörderischen Geschwister würden unter einer Brücke hausen. Ihr Hauptaugenmerk richtet die Regisseurin auf die zwischenmenschlichen Beziehungen. Das Obsessive in der Beziehung zwischen dem im herkömmlichen roten Narrengewand auftretenden Rigoletto und Gilda, der ein riesiger Plüsch-Teddybär als Ausdruck ihrer Kindlichkeit zugeordnet ist, wird von ihr einfühlsam herausgearbeitet. Auch nimmt Frau Fassbaender der Titelfigur ihren traditionellen Buckel und lässt tiefe Narben an dessen Stelle treten. Das wird offenkundig, wenn der glatzköpfige Narr zum zweiten Bild hin seinen Oberkörper entblößt. Ein guter Einfall war, dass der Duca im zweiten Akt vor den Photos seiner erst verführten, dann einfach weggeworfenen Verflossenen agiert, zu denen sich dann auch das Bild Gildas gesellt.

Yinjia Gong (Duca), Opernchor

Insgesamt ist der Regisseurin zu dem Stück aber nicht sonderlich viel Neues eingefallen. Ohne zu dem Subtext des Stückes in irgendeiner Form Stellung zu beziehen, inszenierte sie brav und bieder am Textbuch entlang, ohne dem Stück dabei eine tiefere Ausdeutung zu geben. Dabei ist der zeitgenössische Rahmen nur Fassade. Trotz des modernen Ambientes haben wir es hier mit einer ausgesprochen konventionellen, ziemlich belanglosen Regiearbeit zu tun, die zwar von durchaus schönen Bildern gesäumt war, dem neugierigen Intellekt aber rein gar nichts zu bieten hatte. Ein Gewinn für die Rezeptionsgeschichte ist diese Produktion wahrlich nicht. 

Ludwig Steinbach, 3.11.2014              Die Bilder stammen von Martin Sigmund

 

 

 

TRISTAN UND ISOLDE

Zum Zweiten

Premiere: 27.9. 2014. Besuchte Vorstellung: 1.11. 2014

Von Tristans Kopf auf Isoldes nackte Füsse

Wer am Wochenende noch die bayerische Landesausstellung besuchte, konnte kurz vor der Vorstellung in der Minoritenkirche einen Film sehen, in dem die Didaktik betreffs des Zeitalters Ludwigs des Bayern durch zwei Zeitebenen vermittelt wurde. Zum einen konnte man da den Erzähler Christoph Süß anschauen, der durch die Donaustadt läuft, zum anderen Figuren erblicken, die witzigerweise von Süß selbst gespielt wurden: Figuren in den historischen Kostümen der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts.

Am selben Abend sah der Besucher des Theaters Regensburg auf der Tristan-Bühne etwas Ähnliches. Es begegneten sich auch hier zwei Sphären: die Sphäre der sozusagen historischen Spielzeit des Stoffs, die Welt des mittelalterlichen Epos – und eine relativ moderne Welt. Man könnte auch mit Nike Wagner sagen: es begegneten sich die innere und die äußere Welt: die Welt der Erinnerungen, Träume und Visionen Tristans und Isoldes, wie wir sie aus den Erzählungen des Mittelalters und aus Richard Wagners „Handlung“ kennen - und eine relativ nüchterne Ebene, auf der Tristan und Isolde sich so begegnen, als gäbe es diese andere Welt fast gar nicht, weil sie sie oft nur, von ihrer buchstäblichen Warte aus, beobachten. Ist das ein Wunder? Da sie sich doch sowieso lieber in einer nächtlichen Traumwelt als in einer taghellen Welt befinden wollen?

Es ist bereits ein kleines Wunder, dass das Theater Regensburg den „Tristan“ szenisch realisiert. Das letzte Mal kam das Werk im schönen Haus am Bismarckplatz vor 62 Jahren auf die Bühne; ansonsten kreiste man hier in den vergangenen Jahrzehnten um die Trilogie von Holländer, Tannhäuser und Lohengrin. Zugegeben: es sind keine „Gesangsstars“, die die Hauptrollen singen, aber sie überraschen durch Klarheit und/oder Durchhaltevermögen, was bekanntlich angesichts des 3. Akts dringend nötig ist. Einhellig bejubelt wurde Dara Hobbs als Isolde – denn ihre Stimme überrascht durch Klarheit und Ausdruckskraft, Innigkeit und dramatischer Energie, ohne je ins Forcieren zu geraten.

Ihre „Liebesverklärung“ schließt den Abend musikalisch so rund ab, wie es das erstklassige Orchester unter Tetsuro Ban instrumental vorgibt. Der Klang des Ensembles ist zugleich schlank und farbig, impressionistisch dicht und von klarer Struktur, unterm Strich also ein einziges Hörvergnügen – und er engt die Sänger an den gefährlich lauten Stellen nicht nötiger ein als gewohnt; ansonsten hat der Dirigent ein Auge auf die delikaten Vortragsbezeichnungen, um den Sängern einen prachtvoll blühenden „Kothurn“ (wie Wagner gesagt hat) zur Verfügung zu stellen.

Ist auch Mikhail Gubskys Tristan ein Hörvergnügen? Er wäre es, wenn seine Artikulation sich dem Wagnerdeutsch eleganter nähern würde... Was er an Klarheit der Aussprache nicht hat, hat er an Saft: bis zu den Exzessen des Sterbeakts, in denen er eine gewaltige „Röhre“ präsentiert, die doch auch für die lyrischen Töne des zweiten Akts konstruiert wurde. Auch die Brangäne der Vera Egorova ist nicht immer verständlich, singt aber, lyrisch betrachtet, so, wie man sich eine gute Brangäne vorstellt. Mario Klein – in Bayreuth war er ein  „kleiner Meister“ und in Kassel ein großer Veit Pogner - ist ein ausgewiesener Wagner-Experte, der den Marke mit ein wenig Pathos und geradlinigem, durchaus ergreifendem Ausdruck singt.

Ausdruck definiert sich bei Adam Krużels Kurwenal dagegen eher in einer Grobkörnigkeit, die die rauen Seiten des alten Recken betont. Bleiben zwei wichtige Partien des Abends: Tristan und Isolde – das Liebespaar also, das nicht singt. Die Namen müssen genannt werden, weil ohne sie die Oper nicht stattfinden würde: Michelle Völkl und Alexander Benedikt. Die Regisseurin Lotte de Beer erfand, im Wechselspiel von purem Mittelalter (einem idealen Mittelalter, wie es sich der kleine Moritz und, die Sexszene mal abgerechnet, das 19. Jahrhundert vorstellen mochten) und relativ nüchterner, fast zeitloser, weißer Kostümierung, jenes Gegen- und Miteinander von Historie und metaphysischer Sphäre.

Dies erklärt sich: in Regensburg, wo tatsächlich viele Opernfreunde das weltbekannte Werk nicht kennen, ist es tatsächlich nötig, die Geschichte bildlich zu erzählen. Wagners „Handlung“ setzt bekanntlich fast alles in die Erzählung: eine relative Zumutung für all jene, die mit den Dimensionen des Werks nicht vertraut sind. Die Regie kommt ihnen entgegen, indem sie immer wieder das ziemlich ideal aussehende Liebespaar und Figuren zeigt, die in keiner modernen Aufführung (mit Ausnahme von Stefan Herheims Berliner „Lohengrin“) auftreten dürften – als befänden wir uns, mit allen alten und sehr langen Bärten, in einem Mittelalterfilm. Die „historische“ Sphäre hat man in und vor einen (von Clement und Sanôu entworfenen) Glaskubus verbannt, in dem sie die Geschichte noch einmal spielen: der Verrat Tristans und Isoldes, die nachts aus dem Ehebett aufsteht, sich die Scham wäscht und zu Tristan eilt, um mit ihm, das wird gezeigt, im Wiegeschritt der Musik des Liebesduetts – pardon, aber man muss das so ausdrücken - zu vögeln. Nun ist aber diese Liebesgeschichte nicht allein eine Geschichte der sexuellen Leidenschaft. Wenn sich Tristan und Isolde begegnen, dann regieren die Erotik – und die Zärtlichkeit. Lotte de Beer erweist sich dort als Schülerin ihres Meisters Peter Konwitschny, wo sie innige Gesten zeigt. Tatsächlich: Tristan und Isolde dürfen sich umarmen – und küssen! Genau genommen handelt es sich hier um die schärfte Gangart eines selbstbewussten, mutigen „Regietheaters“, die möglich ist, denn diese Lesart von Wagners Oper ist denkbar weit entfernt von den skeptischen Deutungen der letzten Jahre, in denen sich die Liebenden nicht berühren, nicht anziehen, nicht ausziehen. Sie vertraut auf die Utopie der Liebe: indem sie demonstriert, dass in der Musik schon alles drinsteckt, was von den Vertretern einer negativen Theologie der Liebe geleugnet wird: Nähe, Freude, Intimität, Hingabe – und sei es eine Hingabe, die nur im Traum möglich werden kann, weil der „Krampf“ (wieder so ein Wagnerwort) zumal des langen Sterbe-Akts nur dann verständlich wird, wenn man akzeptiert, dass zwischen den Liebenden tatsächlich ein traditioneller Begriff von Liebe mitspielt. Vielleicht spielt er angesichts von Tristans seltsamen Todeswünschen nicht die Hauptrolle – aber es ist schön, dass die neben Romeo & Julia „berühmteste Liebesgeschichte des Abendlandes“ in Regensburg zunächst einmal von Tristans Kopf auf die nackten Füße Isoldes gestellt wird.

Am Ende brauchen Tristan und Isolde nicht mehr die andere, die „reale“ Ebene, in der die mittelalterlichen Helden gestorben sind und ein sehr bärtiger König zu trauern hat. Tristan lebt ja, über der Szene auf dem Kubus stehend, zusammen mit Isolde seinen Traum – dies ist die metaphysische Wirklichkeit des Liebestraums vom Traum der Liebe. Lotte de Beers Lehrer Konwitschny hat es schon, in seiner Münchner Inszenierung, gezeigt: dass die Musik des Finales keinen anderen Schluss zulässt.

Ist diese Deutung richtig? Vermutlich nicht im Sinne einer traditionellen Interpretation. Im Sinne der Musik könnte sie nicht richtiger sein. Wo sich das traumhafte Liebespaar dem Sex hingibt, darf am Ende auch die Liebe über den Tod trumphieren. Das Wichtigste ist schließlich die Musik. Sie hat in Regensburg, alles in Allem, sehr gute Interpreten gefunden.

Frank Piontek, 3.11. 2014

Bilder: Jochen Quast / Theater Regensburg

 

 

 

 

In jeder Beziehung qualitätsvoll

TRISTAN UND ISOLDE

Besuchte Aufführung: 1.11.2014 (Premiere: 27.9.2014)

Rückblick mit Schopenhauer und Novalis

Die Musikdramen Richard Wagners stellten schon von jeher für jedes Opernhaus eine harte Belastungsprobe dar. Die Ansprüche, die sie an sämtliche Ausführenden stellen, sind enorm und nicht gerade leicht zu realisieren. Umso erfreulicher ist es, wenn hochkarätige Produktionen von Werken des Bayreuther Meisters nicht nur an großen Opernhäusern gestemmt werden. Es ist schon bemerkenswert, dass auch an kleinen und mittleren Bühnen immer wieder beeindruckende Wagner-Aufführungen zustande kommen, wie es jetzt bei der Neuinszenierung von „Tristan und Isolde“ am Theater Regensburg wieder der Fall war. Indem Intendant Jens Neundorff von Enzberg nach den „Feen“ in der vergangenen Spielzeit nun auch dieses höchst anspruchsvolle Werk auf den Spielplan setzte, hat er alles auf eine Karte gesetzt und dabei haushoch gewonnen. Die Aufführung geriet in jeder Beziehung zu einer qualitätsvollen Angelegenheit auf hohem Niveau, die dem kleinen Regensburger Theater alle Ehre macht.

Ensemble, oben: Mikhail Gubsky (Tristan), Dara Hobbs (Isolde)

Wagner hat seinen „Tristan“ unter dem bestimmenden Einfluss seines Lieblingsphilosophen Artur Schopenhauer geschrieben und sich dabei insbesondere von dessen Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ inspirieren lassen. Für Schopenhauer war Leben gleichbedeutend mit Leiden, das seine Ursache in einem immerwährenden Zustand des Wollens hat und die Erlangung fortdauernden Glücks unmöglich macht. Diesen Grundgedanken hat der Komponist aufgegriffen und geschickt mit Novalis’ „Hymnen an die Nacht“ verwoben. In diesem 1800 erstmals veröffentlichten Gedichtzyklus schildert der Dichter die Entwicklung des Lebens im glücklichen, irdischen Reich des Lichts über eine Zwischenphase entfremdenden Schmerzes bis hin zur Befreiung durch die ewige Nacht, die nichts anderes als den Tod symbolisiert. Diese Rettung aus den Zwängen des Tags durch Nacht und Tod ist auch der Kern der philosophisch tiefgründigen Tag- und Nacht-Metaphorik, die Wagner seinem „Tristan“ übergestreift hat und von der sich auch Lotte de Beer in ihrer von eindringlichen Hell-Dunkel-Kontrasten als Versinnbildlichung von Leben und Tod dominierten Inszenierung leiten lässt.

Michelle Völkl (Double Isolde), Mikhail Gubsky (Tristan)

Vielleicht war es nicht genau das, was man sich von einer Meisterschülerin des großen Peter Konwitschny, eines der ersten Vertreter des modernen Musiktheaters, erwartet hätte. Dennoch ist ihre gut durchdachte und handwerklich mit großem Können umgesetzte Inszenierung in hohem Maße gelungen. Sie erzählt die Handlung als Rückblende aus der Perspektive des in weiße Totenhemden gekleideten Liebespaares, das sich von Anfang an in einem Zwischenstadium von Leben und Tod bewegt und sterbend noch einmal auf die wesentlichen Stationen seines Lebens zurückblickt, bevor sie der ebenfalls weiß gewandete Hirt als Todesbote sanft ins Jenseits geleitet. Das Ausstattungsduo Clement & Sanou, von dem auch die gelungenen Kostüme stammen, hat ihr dazu einen auf einem gläsernen Rechteck aufragenden, mit Hilfe der Drehbühne ständig rotierenden mächtigen Kubus auf die Bühne gestellt, der im Dunkel des Raumes wie ein Mausoleum wirkt und dessen Dach von einer Schiffsreling begrenzt wird. Insbesondere im zweiten Aufzug mutiert die Plattform zur Spielfläche, von der aus Tristan und Isolde den Strom der Ereignisse Revue passieren lassen. Sie erfahren in Frau de Beers Deutung eine Verdoppelung durch zwei historisierende Gewänder tragende Schauspieler, die immer wieder sequenzartige Bruchstücke der Handlung und auch der Vorgeschichte zum Besten geben. So sieht man Isolde mit dem abgeschlagenen Kopf Morolds. Dann kann man beobachten, wie der Blick des von ihr als Mörder ihres Verlobten erkannten Tristan sie daran hindert, ihn zu töten. Wenig später wird man Zeuge, wie die irische Königin die unwillig wegrennende Tochter für die Reise nach Kornwall einkleidet und ihr die Zaubertränke übergibt. Dass Isolde für Marke nur Ekel fühlt, wird zu Beginn des zweiten Aufzuges deutlich, wenn sie nach einer Liebesnacht aus dem Bett des Königs steigt und sich angewidert das Geschlecht abwäscht. Von ihrer erhöhten Warte aus sehen Tristan und Isolde sich in Gestalt ihrer Doubles heftig küssen und splitternackt langen, ausgedehnten Sex miteinander haben. An dieser Stelle sei den beiden Schauspielern Michelle Völkl und Alexander Benedikt ein großes Lob für ihre mutige Ausführung dieser heiklen Szene ausgesprochen, die in der Rezeptionsgeschichte des Werkes wohl einmalig ist.

Dara Hobbs und Michelle Völkl (Isolde), Alexander Benedikt und Mikhail Gubsky (Tristan)

Diese szenischen Bruchstücke spielen sich alle im Innern des aus Plexiglas bestehenden und mit naturalistischen Elementen versehenen Mausoleums ab, das sowohl als Spiegel der Realität als auch als Projektionsfläche für die Erinnerungen des Paares aufzufassen ist. Seine variable Transparenz ist Ausdruck einer zeitweise verzerrten Wahrnehmung des auf der Schwelle des Todes stehenden Liebespaares, dessen Blick getrübt ist und die Vergangenheit in ihren konkreten Einzelheiten nicht mehr ganz korrekt abzubilden vermag. Dabei sind die Übergänge zwischen den Welten fließend. Immer wieder verschmelzen die Ebenen an zentralen Stellen miteinander. Die todgeweihten Liebenden mischen sich dann unter ihre lebenden Doubles, wobei ihnen jetzt nicht mehr lediglich eine beobachtende Funktion zukommt. Vielmehr versuchen sie die Schatten der Vergangenheit nachhaltig zu beeinflussen, begangene Fehler im Nachhinein wieder auszubügeln, was ihnen indes nicht gelingt. So ist beispielsweise Tristans Versuch, sein Alter Ego dazu zu bewegen, Marke um Verzeihung für seine Tat zu bitten, zum Scheitern verurteilt. Gerade in solchen Augenblicken gelingen der Regisseurin sehr einfühlsame Blicke in das Seelenleben der beiden Protagonisten, die konkordant auf das Spiel ihrer Doppelgänger reagieren. Dieses Mit- und Ineinander von Wirklichkeit und Surrealität ist sehr eindrucksvoll. Das innere Erleben des Paares wird dadurch mehr als sinnfällig. Dass Tod hier Leben bedeutet - diese Interpretation geht ganz konform mit Wagners Intentionen - wird am Ende deutlich, wenn sich Tristan und Isolde während des Liebestodes wieder auf das Dach des Kubus zurückzuziehen und gänzlich im Einklang mit buddhistischem Gedankengut der Erfüllung ihrer Liebe nach erfolgter Wiedergeburt entgegensehen. Dieses gelungene Ende entspringt ebenfalls gänzlich der Mentalität Wagners, der bekanntermaßen ein großer Anhänger der Lehren Buddhas war. Man merkte, dass Frau de Beer sich gewissenhaft mit Wagner, seinem Werk und dessen gedanklichem Subtext auseinandergesetzt hat. Ihre stringent und atmosphärisch sehr stimmungsvoll durchgeführte szenische Retrospektive mit starken philosophischen und psychologischen Einschlägen ist vollauf gelungen und kann getrost als Aushängeschild für das Theater Regensburg betrachtet werden, das eine Fahrt immer lohnt.

Dara Hobbs und Michelle Völkl (Isolde), Alexander Benedikt (Double Tristan)

Im Graben versetzten GMD Tetsuro Ban und das insgesamt brillant aufspielende Philharmonische Orchester Regensburg das Publikum in einen regelrechten Klangrausch. Ban wartete mit einem sehr kompakten, intensiven Zugriff auf Wagners vielschichtige Partitur auf und erwies sich als echter Theaterdirigent. In zügigen, vorwärtsdrängenden Tempi animierte er die Musiker zu einer prägnanten, äußerst gehaltvollen und große Kraft atmenden Tongebung, wobei er das Sehrend-Sehnende von Wagners herrlicher Musik trefflich herausstellte. Es war schon ein Klangteppich von enormer Dichte und glutvoller Spannung, den Dirigent und Orchester da erzeugten. Einzelne kleine Unebenheiten waren zu vernachlässigen.

Von den Sängern war es in erster Linie Dara Hobbs, die nachhaltig für sich einzunehmen wusste. Sie erwies sich als absoluter Glücksfall für die Isolde und qualifizierte sich an diesem Abend für die größten Häuser. Nicht nur darstellerisch ging sie voll in ihrer Partie auf, auch gesanglich stellte sie an diesem gelungenen Abend so manche, auch berühmtere, Rollenvertreterin in den Schatten. Mit ihrem in jeder Lage bestens durchgebildeten, profunden, warmen und zur sicheren Höhe hin prachtvoll aufblühenden dramatischen Sopran und hohem technischem Können meisterte sie sämtliche Klippen der irischen Königstochter mit enormer Versiertheit und sehr ausdrucksstark. Rein gesanglich war der Tristan bei dem ebenfalls gut fokussierten und kraftvoll geführten Tenor von Mikhail Gubsky, der sogar in den kräftezehrenden Fieberausbrüchen des dritten Aufzuges noch über genug stimmliche Reserven verfügte, gut aufgehoben. Mit dem deutschen Text tat sich der aus Russland stammende Sänger indes ausgesprochen schwer. Da gab es immer wieder Gedächtnislücken. Seine Diktion wirkte von Anfang an etwas verschwommen. Manche Nebensilben wurden überbetont, andere einfach verschluckt, was sich recht störend auswirkte. Darüber hinaus schien er nicht immer alles zu verstehen, was er sang. Vor der nächsten Aufführung sollte er seinen Part unbedingt noch einmal mit einem deutschen Sprachcoach durchgehen. Einen volltönenden, profunden und vorbildlich gestützten Mezzosopran brachte Vera Egorova für die Brangäne mit. Ein bis zu den eklatanten Spitzentönen mit großer Frische, ausdrucksstark und markant singender Kurwenal war Adam Kruzel. Dass Mario Klein die große Betroffenheit und Erschütterung König Markes nicht sonderlich gut vermittelte, lag daran, dass er oftmals vom Körper wegging, woraus ein recht hohler Klang resultierte. Eine ziemlich maskige Angelegenheit war der Melot von Matthias Wölbitsch. Mit kräftigem Tenor sang Matthias Ziegler den Hirten. Reichlich dünnstimmig gab Cameron Becker den jungen Seemann. Der nicht gerade ausgeprägt klingende Bariton von Mert Öztaners Steuermann saß ziemlich im Hals. Gut schnitt der von Alistair Lilley einstudierte Herrenchor ab. 

Fazit: Wieder einmal hat sich die Fahrt nach Regensburg voll gelohnt. Der Besuch der Aufführung ist sehr zu empfehlen!

 

Ludwig Steinbach, 2.11.2014                  Die Bilder stammen von Jochen Quast

 

 

 

Hommage an Schikaneder

DIE ZAUBERFLÖTE

Premiere. 15. 6. 2014

Ambivalenzen und Menschlich-Allzumenschliches

Es ist nicht weithin bekannt, dass Emanuel Schikaneder vor seiner Zeit in Wien in Regensburg tätig war. Von 1787 bis 1789 bekleidete er dort das Amt des Theaterdirektors. Im Jahr der ausbrechenden Französischen Revolution musste er nach einigen Skandalen, in die er verwickelt war, seinen Hut nehmen und floh nach Wien, wo er 1791 zusammen mit Mozart die „Zauberflöte“ aus der Taufe hob. Die Entscheidung von Intendant Jens Neundorff von Enzberg, als letzte Opernpremiere der Saison dieses Werk zu präsentieren, kann als aufrichtige Reverenz an seinen berühmten Vorgänger als Leiter des Regensburger Theaters verstanden werden. Das informative Programmheft stellt glaubhaft die Behauptung auf, dass Schikaneders „Zauberflöten“-Libretto einen Spiegel der damaligen Regensburger Verhältnisse darstelle und untermauert diese durch die Aufzeigung von Parallelen zwischen der Oper und der Situation am Regensburger Fürstenhof. Das ist interessant zu lesen und durchaus nachvollziehbar. 

Yinjia Gong (Tamino), Jongmin Yoon (Sprecher)

Leider hat dieser Aspekt keinen Eingang in die Inszenierung von Matthias Reichwald gefunden. Er und sein Bühnen- und Kostümbildner Toto huldigen mehr Mozart als Schikaneder, wenn praktisch den ganzen Abend über das Gesicht des Salzburger Meisters samt dessen Namenszug auf einem riesigen, mehrstöckigen und transparenten Kubus präsent bleibt. In diesem tummelt sich bereits zu Beginn allerlei Volk, das dem Kommenden aufgeregt entgegenblickt. Unter ihm befindet sich auch Pamina in einem überdimensionalen Kleid. Als lebendes Bild wird sie Tamino vorgeführt, der bereits ganz am Anfang vor den Vorhang tritt und das Folgende nur zu träumen scheint. Das ist ein legitimer Ansatzpunkt. Man kann das so machen. Die Kostüme sind einerseits der Mozart-Zeit angeglichen ( die drei Knaben erscheinen als junge Alter Egos des Komponisten), teilweise sind sie neueren Datums. So zeigen sich die Priester als Vertreter einer fiktiven Moderne, die durch den zeitgenössischen Zuschnitt ihrer Kostüme ihre geistige Überlegenheit ausdrücken wollen. Die Regie sieht die Bruderschaft indes nicht sehr positiv. Deren übergeordneter Status ist in ihren Augen recht zweifelhafter Natur. Sie predigen zwar den Fortschritt auf geistiger Ebene, verbreiten aber letztlich nur eitel Blendwerk. 

Victorija Kaminskaite (Pamina),  Anna Städler und Michael Lämmermann (Wesen)

Herr Reichwald entwickelt seine Deutung stark aus der Musik heraus und wartet zudem mit einem guten Schuss Psychologie auf. Nicht auf eine simple Schwarz-Weiß-Zeichnung kommt es ihm an, sondern auf die Vorführung von Menschen mit all ihren Stärken und Schwächen. Es gibt bei ihm weder nur Gut noch nur Böse, sondern lediglich verschiedene Motivationen, die die Handlungsträger zu ihrem jeweiligen Verhalten veranlassen. Das Schwergewicht seines Ansatzpunktes liegt auf der Aufzeigung von Ambivalenzen und der unlösbaren Verknüpfung einzelner Personen miteinander. Sarastro ist ein nicht durchweg positiver Charakter und die Königin der Nacht sucht durchaus auch das Gute. Beide sind durchweg darum bemüht, Tamino und Pamina auf ihre Seite zu ziehen. Dem Prinzen kommt hier nicht das Flair eines strahlenden Helden zu, der sich todesmutig in jedes gefährliche Abenteuer stürzt. Er ist ein ganz normaler Mensch, der auch mal Angst verspürt, zu Beginn vor der Schlange - wer will heutzutage noch eine solche auf der Bühne sehen? - in Ohnmacht fällt und später von dem etwas mutiger gezeichneten Papageno den gefährlichen Weg in Sarastros Reich erst einmal vorsichtig auskundschaften lässt. Dieser Ansatzpunkt des Regisseurs geht ganz konform mit dem Text. Und auch Pamina weist negative Seiten auf. Insbesondere hat der im zweiten Akt immer wieder vom Band eingespielte Racheschwur ihrer Mutter in ihr ein Trauma ausgelöst. Sie wird von Abträumen geplagt, versucht aber immer wieder der Situation mit Optimismus zu begegnen. Darin ist sie Papageno nicht unähnlich. Und dass man dem arg gebeutelten, nicht wirklich bösen Monostatos seine Wünsche und Sehnsüchte nicht verwehren darf, wird bei Reichwald nur zu deutlich. Er überschreibt seine Regiearbeit gleichsam mit „Menschlich, Allzumenschliches“, um mal ein Zitat von Nietzsche zu verwenden. Dieses ganz auf Humanität ausgerichtete Konzept ist durchaus berechtigt. 

Matthias Wölbitsch (Papageno), Julia Zhukovska-Fischer (Papagena), Anna Städler, Robert Herrmanns und Michael Lämmermann (Wesen)

Im Zentrum steht der Kampf, den jeder Mensch mit seinem inneren Dämon auszutragen hat. Dementsprechend hat der Regisseur den Protagonisten drei solcher Wesen an die Seite gestellt, die das Geschehen vorantreiben und denen neben der psychologischen auch eine praktische Seite zukommt. Manchmal wird der ursprünglich anderen Personen zugeordnete Text von ihnen gesprochen. Sie sind es, die Tamino und Pamina durch die Prüfungen begleiten und auch für die Requisiten zuständig sind. Darüber hinaus schlüpfen sie in die Rolle der wilden Tiere, die sich durch das Flötenspiel des Prinzen besänftigen lassen. Sie sind gleichsam die spiritus rectores der Handlung, die das Ganze auf eine allegorische Ebene heben und für die verschiedenen Möglichkeiten des Menschen stehen, mit sich selbst umzugehen und sich zum Bösen oder zum Guten hin zu entwickeln. In welche Richtung er sich letztlich ziehen lässt, muss jeder für sich entscheiden. Es waren schon einige interessante Ideen, die Matthias Reichwald hier aufgeworfen hat. Wirklich neu muten sie indessen nicht an. Insgesamt bewegte sich seine Inszenierung auf eher konventionellen Pfaden. Ansprechend war sie dennoch. Nicht ganz nachzuvollziehen war die Entscheidung, die Pause erst mitten im zweiten Akt zu platzieren. 

 

Aurora Perry (Königin der Nacht)

 

Die gesanglichen Leistungen beeindruckten durch ihr insgesamt hohes Niveau. Yinjia Gong war ein kräftig und mit guter Fokussierung seines angenehmen Tenors singender Tamino. Wunderbares, italienisch fundiertes Sopranmaterial, das sie sehr emotional einzusetzen wusste, brachte Victorija Kaminskaite für die Pamina mit. Obwohl indisponiert, weswegen sie sich ansagen ließ, schlug sich Aurora Perry als Königin der Nacht auf beachtliche Art und Weise. Ihr Sopran weist eine gute Stütze auf und erreichte solide die extremen Spitzentöne der Partie, die lediglich am Ende ihrer ersten Arie etwas fulminanter hätten ausfallen können. Die Rachearie gelang ihr trefflich. Der Sarastro von Mario Klein begann in der Höhe noch etwas halsig, auch zitterte ihm mal das tiefe f, er konnte sich im Lauf des Abends aber steigern. Indes hätte man sich von ihm eine etwas einfühlsamere Auslotung seiner Rolle gewünscht. Ein Versprechen für die Zukunft gab Matthias Wölbitsch ab, der den Papageno mit noch nicht ganz ausgereiftem, aber gute Anlagen aufweisendem Bariton solide sang und hervorragend spielte. Julia Zhukovska-Fischer sang die Papagena schön im Körper. Einen homogenen Gesamtklang bildeten die drei Damen von Gesche Geier, die tiefgründiger klang, als man es bisher von ihr gewohnt war, Vera Semieniuk und Carolin Neukamm. Boris Leisenheimer war ein darstellerisch etwas vampyrhaft anmutender Monostatos, der seinen Part mit etwas zu hoher Stütze sang. Dasselbe gilt für den ersten Geharnischten von Cameron Becker. Den - mit Blick auf die in dem Werk auch sonst vorherrschende Zahl drei - in zwei Sänger aufgespaltenen zweiten Geharnischten teilten sich die imposant singenden Mikhail Kuldyaev und Jongmin Yoon. Letzterer gab mit sonorem Bass auch einen erstklassigen Sprecher. In jeder Beziehung gefielen Julius Fischer, Kilian Brandscherdt und Marc Pritschet von den Regensburger Domspatzen als die drei Knaben. In Gestalt der drei Wesen geisterten Anna Städler, Robert Herrmanns und Michael Lämmermann durch die Handlung. Gut gefiel der von Alistair Lilley einstudierte Chor.

Im Graben gelang GMD Tetsuro Ban und dem gut gelaunt aufspielenden Philharmonischen Orchester Regensburg eine flüssige und differenzierte Umsetzung von Mozarts Partitur. Teilweise warteten sie mit recht markanten und gefühlvollen Klängen auf, wurden aber auch den mehr volksliedhaften Elementen der Musik gut gerecht. Beide vermochte der Dirigent gut voneinander abzugrenzen. Auch wusste er mit so mancher farblichen Nuance zu erfreuen. 

Ludwig Steinbach, 17. 6. 2014              Die Bilder stammen von Jochen Quast.

 

 

 

 

Samy Moussa (*1984)

WÜSTUNG  (VASTATION)

(Nach der Wahl ist vor der Wahl)

Vorstellung am 30.05.2014     -    zweite Kritik

Mieses machtpolitisches Handwerk mit einem Schuss Science Fiction

Der heute in Berlin und Paris lebende Komponist und Dirigent Samy Moussa wurde 1984 in Montréal geboren und erhielt 2013 den Förderpreispreis der Ernst-von-Siemens-Musikstiftung. Seine erste abendfüllende Oper „Wüstung“ ist als Kompositionsauftrag der Carl-Orff-Stiftung und als Librettoauftrag der Landeshauptstadt München und des Theaters Regensburg in Koproduktion der Münchener Biennale mit dem Theater Regensburg herausgekommen. „Wüstung“ ist in der deutschen Sprache das Wort für eine verlassene, verfallene Siedlung. Bei diesem missverständlichen Operntitel, handelt es sich hingegen um die deutsche Übersetzung des englischen Titels „vastation“, der sich von devastation ebenso herleitet wie „Wüstung“ von Verwüstung. Ursprünglich sollte die Oper auf Deutsch nach dem gleichen Schema „Nichtung“ heißen, nach Meinung Ihres Kritikers der bessere Titel. Auch der Alternativtitel ist nicht zielführend. 

Die Welt scheint noch in 0rdnung: Seymur Karimov (Dimitri), Vera Egorova (Anna), Anna Pisareva Lola), Jongmin Yoon (Harry)

Die Handlung von Wüstung spielt in einem fiktiven Land in der Endphase eines Wahlkampfes. Die noch amtierende Präsidentin Anna ist sich trotz eines aggressiven Wahlkampfleiters und des hingebungsvollen Einsatzes ihres Ehegatten Harry und ihrer Tochter Lola ihrer Wiederwahl nicht recht sicher. Was machen? Eine Krise muss her („Die Lage war noch nie so ernst!“). Angeblich ist man vom Feind bedroht, verfügt aber über eine Wunderwaffe, eine Klangwaffe („Wüstung“), mit der die Städte des Feindes nicht zerstört und dessen Leute nicht getötet, sondern nur wahnsinnig gemacht werden. Zusammen mit Militärchef Dimitri und Tochter entscheidet die Präsidentin den Präventivschlag. Harry, dem die die Präsidentin seine Unwichtigkeit (Beruf: Ehemann!) dargelegt hat, ist dem Suff verfallen und im Koma gestorben. Das Volk jubelt Anna nach dem Einsatz der Klangbombe zu; aber es gibt einen Kollateralschaden: Dimitri hat sich – in vorderster Front – den Wirkungen der Wunderwaffe ausgesetzt und ist wahnsinnig geworden. Ein finsterer Colonel, der sich bisher im Hintergrund gehalten hat, erschießt ihn. Dabei wird auch Anna verletzt. Ihre Tochter will diese Gelegenheit der Schwäche ihrer Mutter nutzen und zusammen mit dem Wahlkampfleiter der Gewalt im Staat zu bemächtigen. Dazu schießt sie noch unter der Gürtellinie, indem sie Annas unschickliches Verhältnis mit Dimitri (dem sie selbst schöne Augen gemacht hat)  für ihre Zwecke instrumentalisiert. Wer zuletzt lacht, lacht am besten: der Colonel lässt das junge Paar verhaften, verschiebt die Wahlen und sieht sich „gegen seinen Willen“ genötigt, die Staatsgewalt an sich zu reißen. 

Totale

Das englischsprachige Libretto für das Stück stammt von Toby Litt. Psychologische Vertiefungen sind in dem Stoff kaum angelegt. Die Präsidentin Anna, instrumentalisiert von stärkeren männlichen Figuren, zeigt Schwäche gegenüber dem Wahlvolk und wird spätestens dadurch von einer Treibenden zur Getriebenen. Es handelt sich um eine Art Zusammenschnitt verschiedener real erlebter Situationen aus dem politischen Leben ohne zwingenden Handlung, ohne echte Verwicklungen. Wie im Sinne einer Kolportage auf Boulevardpresse-Niveau geht alles sehr direkt und unvermittelt zu.  Allein die kurze Spieldauer der Oper von nur 85 Minuten verhindert eine tiefere psychologische Zeichnung der handelnden Figuren; eine Entwicklung des Personals findet auch nicht statt. Da die Ereignisse Schlag auf Schlag kommen, kann sich auch keine Spannung aufbauen – als ob man in einer Zeitung blättert. Mit keiner der Figuren fühlt man als Zuschauer mit. Der Polit-Thriller bleibt wirkungslos, obwohl oder gerade weil derzeit im Weltgeschehen vergleichbare Konstellationen täglich über den Bildschirm flimmern und weil die politische Krise eigentlich gar keine ist. Der eingewobene Familienstoff als private Krise entfaltet ebenfalls keine Wirkung, weil er nicht vertieft wird. So bleibt das Ganze eine unterhaltsame Geschichte ohne Tiefgang. Die Aufführung erfolgt in englischer Sprache mit den von Peter P. Pachl übersetzten Übertiteln. 

Frau und Tochter vor dem Dahingeschiedenen: Vera Egorova (Anna), Anna Pisareva (Lola), Jongmin Yoon (Harry)

Die Regisseurin Christine Mielitz hat noch das Beste aus dem Stück herausgeholt, indem sie sich von Dorit Lievenbrück ein abstraktes, in Grenzen variables  Einheitsbühnenbild bauen ließ, in welchem das Licht auf die handelnden Personen konzentriert wird. Auf einer schräg ansteigenden Platte ist ein schief darin verankerter Kubus angebracht, neben vor und auf welchem die Personen auftreten. Die Bühne ist im Rechteck mit glittrigen dunklen Vorhängen abgetrennt, in welchen sich der Chor herumdrückt. Die Kostüme von Isabel Glathar sind aus einer funktionalen Gegenwart entstanden, lediglich die Uniform des „Militärchef“ ist mit futuristischer Anspielung gestaltet. Eine solche stellt  auch eine stets wiederkehrende Videoprojektion dar, die das Bühnenbild mit binären Codes flutet. Ansonsten dienen die Videos eher dazu, mit abstrakten Lichteffekten für Abwechslung im dunklen Raum zu sorgen (Video: Andreas Hauslaib). Lievenbrücks Kubus stellt im schnellen Wechsel die Spielstätten der Oper dar, die leicht eingänglich vom Rednerpodium bis zum Krankenzimmer der verletzten Präsidentin reichen. Mit einem rechteckigen absenkbaren Leuchtrahmen werden einzelne Szenen bzw. Personalkonstellationen herausgehoben.  Christine Mielitz arbeitet zudem mit diversen „Wiederkennungs“ effekten aus der modernen Fantasy-Welt von Legolas‘ Frisur bis zu Lichtschwertern. Die Personenführung ist gekonnt. 

Cameron Becker (Campaign Manager)

Es erstaunt, dass für die sonst musikalisch eher avantgardistische ausgerichteten Biennale gerade dieses Stück ausgesucht wurde, denn dessen Klangbild beruht deutlich auf romantischen Mustern, greift in Zitaten bis in den Barock zurück und verträgt sich auch gut mit überkommenen Hörgewohnheiten. Anstelle des Komponisten hatte an diesem Abend Arne Willimczik, erster Kapellmeister am Theater Regensburg, die musikalische Leitung inne; er war auch für die musikalische Studienleitung verantwortlich gewesen. Die musikalische Gesamtleistung des Abends übertraf noch die ansprechende Regieleistung. Konzentriert arbeitete sich das Philharmonische Orchester Regensburg an den prächtigen Klangflächen der Partitur ab, bei denen einerseits einige wenige aufgesetzte schrille Dissonanzen für Unruhe sorgten und die andrerseits von patterns der minimal music durchzogen sind. Dazu kommen leitmotivartige Wiederkennungsthemen und -Harmonien. Der Versuchung, die Klangbombe als sound blast im Sinne von Filmmusik zu komponieren, widersteht der Komponist oder deutet ihn nur an. Das Zwischenspiel des zweiten Akts, als der Klangangriff stattfindet, wirkt vielmehr in seinen ständigen Wiederholungen und auf seiner Basis der tiefen Streicher als ruhender musikalischer Punkt des Stücks. Zu den ins Bühnendunkel projizierten immer neuen Lichtspeer-Spuren erklingt ein  musikalisches Muster. Die Gefahr der Situation wird lediglich durch eingestreutes scharfes  und unangenehmes Flageolett der Streicher charakterisiert. Der szenisch dezent eingesetzte Opernchor des Theaters war von Alistair Lilley gut präpariert und wirkte auch sprachlich überzeugend. 

Ensemble

Obwohl Willimczik die Sänger nicht schonte, brachten diese - überwiegend im Rezitativ-Stil - in dem prächtigen Regensburger Theaterraum ein durchaus ausgewogenes Klangbild zustande. Melodik ist hintangestellt, zur Entwicklung von Gefühlen reicht der schnelle Szenenwechsel nicht. Vera Egorova als Präsidentin baute ihren Gesang auf einem warmen, runden Mezzo-Fundament auf und ließ ihre Höhen blühen. Anna Pisareva als ihre Tochter Lola war dazu mit einer hellen Sopran-Stimme in klassischen Kontrast gesetzt; leichte Schärfen beim Forcieren in der Höhe konnte man ihrer klaren und gut fokussierten Stimme gut nachsehen. Als Militärchef Dimitri überzeugte Seymour Karimov mit noblem kräftigem Baritonmaterial, und Cameron Becker war sowohl stimmlich wie darstellerisch eine sehr gute Besetzung für den Campaign Manager, bestens verständlich sein heller kräftiger und strahlender Charaktertenor, dem Rollenprofil entsprechend auch ein wenig bissig. Klangschön kam der Bassbariton von Jongmin Yoon herüber, dem die Rollen des Ehemanns Harry und des Colonel anvertraut waren. Seine Textverständlichkeit und Farbgebung sind aber gerade in diesem Stimmfach noch verbesserungsfähig; zudem mangelte es ihm an Durchschlagskraft, so dass er folgerichtig in den letzten Szenen als herrscherisch auftretender Colonel über Wangenmikrophon verstärkt wurde.

Fazit: Die Botschaft der Oper wird nicht klar. Ein Lehrstück über Politik hatten die Autoren nicht geplant; das wäre denn auch zu dürftig ausgefallen und bestenfalls auf Halbwüchsige ausgerichtet. Es war aber kein langweiliger, sondern ein eher unterhaltsamer Abend, weil ohne Tiefenwirkung im Text, ohne Provokation in der Inszenierung und mit überwiegend süffiger Musik. Obwohl den  Teilnehmern des gleichzeitig stattfindenden Katholikentags in Regensburg die Opernkarten für „Wüstung“ zu einem sehr attraktiven Preis angeboten wurden, war die die Vorstellung war nur mäßig besucht.  Aber sie erhielt sehr viel Beifall. Man kann die Oper noch am 17. und 22.06. sowie am 14. und 18.07 sehen. 

Manfred Langer, 03.06.2014                              Fotos: Martin Sigmund

 

 

 

 

 

Von König Artus bis Star Wars

WÜSTUNG (VASTATION)

NACH DER WAHL IST VOR DER WAHL

Premiere: 17. 5. 2014  (Uraufführungsproduktion)

Politthriller und Science-Fiction

Zu einem beeindruckenden Abend geriet die Premiere von Samy Moussas neuer Oper „Wüstung“ am Theater Regensburg. Die herzliche Aufnahme, die dieses bereits einige Tage zuvor im Rahmen der diesjährigen 14. Münchner Biennale aus der Taufe gehobene, auf einem Libretto von Toby Litt beruhende Werk seitens des zahlreich erschienenen Publikums erfuhr, legt den Schluss nahe, dass dieses modernen Erzeugnissen des Musiktheaters sehr aufgeschlossen gegenübersteht. 

Vera Egorova (Anna)

Moussas und Litts neue, englischsprachige Oper stellt eine gelungene Gratwanderung zwischen Politthriller und Science-Fiction dar. Die Handlung spielt in einem fiktiven Land. Geschildert wird der Wahlkampf der noch amtierenden Präsidentin Anna, die unbedingt wiedergewählt und noch weitere Jahre die Macht im Staat ausüben will. Das Problem ist aber, dass sich ihr keine Gelegenheit bietet, sich zu profilieren und ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Die Lösung findet schließlich der Campaign Manager: Eine Krise muss her, die Anna dazu legitimieren würde, einen vorgetäuschten feindlichen Angriff mit der Wunderwaffe des Landes, „Vastation“ genannt, zu Deutsch „Verwüstung“ oder auch nur - wie hier - „Wüstung“, zurückzuschlagen. Dabei handelt es sich indes nicht um eine Bombe in traditionellem Sinne, sondern um eine Schallwelle, die die Gegner in den Wahnsinn treibt. Dabei verfolgt der Campaign Manager durchaus auch eigene Interessen, denn wenn die alles andere als starke Anna als Verliererin aus der Wahl hervorgehen würde, wäre es auch um sein Amt geschehen. Und das will er verständlicherweise verhindern. In kurzer Zeit gelingt es ihm, Annas Tochter Lola und deren Liebhaber Dimitri, der indes auch mit Anna liiert ist, auf seine Seite zu ziehen. Nach dem Einsatz von „Wüstung“ haben sich die Chancen der Präsidentin auf eine Wiederwahl erheblich erhöht, aber der von der Waffe getroffene Dimitri hat seinen Verstand verloren. Der Campaign Manager lässt ihn kurzerhand ins Jenseits befördern. Lola trauert um ihren Lover. Sie erkennt die Schwächen ihrer Mutter und reißt nun selber die Macht an sich. Indem Lola die Beziehung Annas zu Dimitri öffentlich macht, versetzt sie ihr den politischen Todesstoß. Über diesen Sieg kann sie sich indes nicht lange freuen, denn der Colonel reißt die Macht an sich und lässt sie und den Campaign Manager kurzerhand verhaften. Die Wahl wird auf unbestimmte Zeit verschoben, das Militär übernimmt die Macht. Von einer Demokratie zur Militärdiktatur ist es oft nur ein kurzer Weg. 

Ensemble

Es sind sehr zeitgemäße Themen, mit denen Komponist und Librettist hier aufwarten. Es geht um Machterhalt, Machterwerb und Machtmissbrauch. Richtet man dem Blick nach Nah- und Fernost, wird die Aktualität der aufgeworfenen Themen sinnfällig. Die Lokalpolitik bildet hier gekonnt die Weltpolitik ab, die Situation im Mikrokosmos versinnbildlicht die Lage in vielen Teilen der Welt. Die Problematik der Krisenbewältigung ist dabei nicht auf einen äußeren politischen Rahmen beschränkt, sondern erstreckt sich auch auf private Beziehungen. Das aufgezeigte infame Machtspiel, das keine Rücksichten kennt, zerstört letztlich eine Familie. Gleichzeitig werden die verheerenden Auswirkungen von jedweder Verführbarkeit und Manipulation einfühlsam aufgezeigt. Das gilt insbesondere für Dimitri und Lola, für die das Ringen um die Macht die letzte Chance ist, sich von der sie gänzlich dominierenden Mutter zu emanzipieren. Liebe und Gefühle sind in diesem Ambiente aber zu Fremdwörtern geworden, eiskaltem politischem Kalkül ist Tür und Tor geöffnet. Die dem Ganzen immanente Botschaft wird klar ersichtlich, auch wenn es Moussa und Litt nach eigenem Bekunden im Programmheft nicht darauf ankam, ein politisches Lehrstück zu schreiben.  

Anna Pisareva (Lola), Jongmin Yoon (Harry)

Die hier ganz radikal aufgezeigten Gefahren sind nicht auf die Gegenwart beschränkt, sondern zeitlos relevant. Mit ihnen wird man sich wohl auch in ferner Zukunft noch herumzuschlagen haben. Aus dieser Erkenntnis heraus verpasst Regiealtmeisterin Christine Mielitz ihrer Interpretation gekonnt einen futuristischen Anstrich, wobei sie auch die Welt des Films einfließen lässt. Wenn das Wachpersonal auf einmal Laser-Schwerter zückt, wird die Parallele zu „Star Wars“ nur zu offenkundig. Der „Herr der Ringe“ und „Hunger Games“ lassen ebenfalls grüßen. Dorit Lievenbrück hat ihr als Einheitsbühnenbild einen Kubus auf die Bühne gestellt, dessen ständige Schieflage die politische Instabilität des imaginierten Landes mit rot-schwarz-weißer Fahne trefflich versinnbildlicht. Die vielfältig eingesetzten Projektionen machen einen weiteren großen Reiz der Inszenierung aus. Die von Isabel Glathar recht skurril eingekleideten Handlungsträger präsentieren sich dem Auditorium wie von Fernsehkameras eingefangene moderne Politiker von der Leinwand herunter, wobei sie durchweg eine große Show abziehen. Immer wieder flimmern ganze Zahlenströme über die Wände des Kubus, der als ursprüngliche Machtzentrale auch mal zum Krankenzimmer von Annas Ehemann Harry mutiert. Ein in ihm aufragender riesiger archaischer Opferblock deutet zurück in die Vergangenheit - und zwar zu den Zeiten König Artus’ und Shakespeares. Jedenfalls weist der Stoff vielfältige Parallelen zu Stücken des Meisters aus Stratford auf. Die Handlung von „Wüstung“ kann man getrost als auf die Zukunft ausgerichtete bürgerliche Adaption der Königsdramen Shakespeares bezeichnen. Die Konflikte und Befindlichkeiten sind praktisch diesselben, wenn auch in einem anderen Gewand. Hier haben sich die Nachfahren aller der Heinriche und Richarde versammelt, die der englische Dichter so großartig schildert, wobei das Verhalten der Handlungsträger dem ihrer königlichen britischen Urväter nicht unähnlich ist. Shakespeare hätte an dieser Geistesverwandtschaft sicher seine helle Freude. Und das nicht nur wegen des Themas, sondern auch, weil dieses von Christine Mielitz hervorragend umgesetzt wird. In Sachen ausgefeilter und spannungsgeladener Personenregie ist sie eine Meisterin ihres Fachs. Hier haben wir es mit einer Regisseurin zu tun, die ihr Handwerk versteht und an keiner Stelle Leerläufe aufkommen lässt. Der von ihr gewobene szenische Spannungsbogen reißt nie ab und verdichtet sich im Lauf des Stücks immer mehr. Dabei zwängt sie den Zuschauer aber niemals in eine Zwangsjacke, sondern lässt ihm noch genug Raum für eigene Assoziationen. Das war alles sehr überzeugend und packend umgesetzt.  

Ensemble, Chor

Auch in musikalischer Hinsicht hinterließ der Premierenabend einen nachhaltigen Eindruck. Moussa, der an diesem Abend höchstpersönlich am Pult stand und das intensiv aufspielende Philharmonische Orchester Regensburg mit großer Energie und Verve leitete, setzt bei seiner neuen Oper nicht auf Dodekaphonie oder serielle Musik mit Clustern und allen möglichen queren Tönen. „Wüstung“ zeichnet sich vielmehr durch eine tonale Tonsprache aus, in der auch Melodik nicht zu kurz kommt. Die Partitur stellt ein gelungenes Gemisch aus Minimal-Music, Filmmusik und romantischer Tonsprache dar. Anklänge einer Leitmotivtechnik werden merkbar. Wenn der Komponist jeder Person ein eigenes Thema zuordnet, wird damit eindeutig Richard Wagner gehuldigt. Auch das hier angewandete Prinzip der durchkomponierten Musik gemahnt an den Bayreuther Meister. Immer wieder drängen vier Akkorde an die Oberfläche, bis sie schließlich eine Zersetzung erfahren. Die Wirkung von „Wüstung“ wird lediglich mit klanglichen Mitteln vorgeführt, Donner, Streicherkaskaden und gellende Triangel-Töne versinnbildlichen den Einsatz der wahnsinnig machenden Wunderwaffe. Hier haben wir es dann auch mit einem recht krassen Stück Musik zu tun, das eindeutig zeitgenössischen Ursprungs ist. Umso überraschender muss dann ein Rückgriff auf die Zeit Bachs erscheinen. Im Orchester geht es schon sehr abwechslungsreich zu. 

Cameron Becker (Campaign Manager), Vera Egorova (Anna), Jongmin Yoon (Colonel), Anna Pisareva (Lola)

Den Gesangssolisten wird mehr Rezitativfähigkeit als der Gesang schöner Arien und Kantilenen abverlangt. Vera Egorova gab eine darstellerisch überzeugende Präsidentin Anna, der sie mit ihrem gut sitzenden Mezzosopran auch stimmlich gut entsprach. Übertroffen wurde sie von Anna Pisareva, die die Lola mit bestens focussierten, blühenden Sopran-Höhen ausstattete. Jongmin Yoon brachte einen tadellosen, sonor klingenden Bass für den Harry und den Colonel mit. Als Dimitri gefielt mit gut gestütztem, voll und rund klingendem Bariton Seymur Karimov. Lediglich schauspielerisch eindrucksvoll war Cameron Becker, der den Campaign Manager als ausgesprochen schillernde Persönlichkeit gab, gesanglich aber mit seinem stark in der Maske sitzenden Tenor nicht überzeugen konnte. Eine solide Leistung erbrachte der von Alistair Lilley einstudierte Chor. 

Fazit: Eine hochkarätige Aufführung, die eine Fahrt nach Regensburg als sehr lohnend erscheinen lässt. 

Ludwig Steinbach, 19. 5. 2014               Die Bilder stammen von Martin Sigmund

 

 

Phantastische Mimi!

LA BOHÈME

Besuchte Aufführung: 19. 3. 2014 (Premiere: 7. 12. 2013)

Famose Alternativbesetzung

Eine größtenteils ausgezeichnete Alternativbesetzung der neulich an dieser Stelle bereits ausführlich besprochenen Regensburger „Bohème“ in der gelungenen Inszenierung von Johannes Pölzgutter, dem Bühnenbild von Nikolaus Webern und den Kostümen Janina Ammons lockte erneut zum Besuch dieser Aufführung. In gesanglicher Hinsicht fiel sie sogar noch besser aus als die eine Woche zuvor. Wieder einmal wurde offenkundig, über was für ein phantastisches Sängerensemble das Regensburger Theater doch verfügt. Da hat manche/r das Zeug zu einer ganz großen Karriere. 

Anna Pisareva (Mimi)

 

Das gilt in erster Linie für die wunderbare Anna Pisareva, die zu den ersten Sopranistinnen des Regensburger Hauses gehört. Nachdem sie neulich bereits als Musetta einen ausgezeichneten Eindruck hinterließ, vermochte sie nun als Mimi noch mehr zu begeistern. Schon der Fakt, dass sie beide Partien in ein und derselben Produktion nebeneinander singen kann, zeugt von den ausgeprägten technischen Fähigkeiten dieser Sopranistin. Sie ging in der Rolle der Mimi voll auf und gestaltete sie mit allen ihr zu Gebote stehenden stimmlichen Mitteln. Und das waren wahrlich nicht wenige. Mit ihrem in allen Lagen gleichermaßen perfekt ansprechenden, warmen, farben- und nuancenreichen Sopran bester italienischer Schulung, einer einfühlsamen Linienführung sowie einer hohen, sehr emotional eingefärbten Ausdrucksintensität zog sie alle Facetten ihrer dankbaren Partie, zu deren ersten Vertreterinnen sie gehört. Ihr Wechsel an ein größeres Haus wird angesichts ihrer phänomenalen Leistung wohl nur noch eine Frage der Zeit sein.  

Anna Pisareva (Mimi), Seymur Karimov (Marcello)

Frau Pisarevas hohes Niveau erreichte Aurora Perry trotz eines angenehm klingenden, solide sitzenden Soprans als Musetta nicht ganz. Yinjia Gong vermochte an diesem Abend in der Partie des Rodolfo seine hochkarätige Leistung vom 12. 3. sogar noch zu überbieten. Wieder genesen war Seymur Karimov, der einen ebenfalls prachtvoll italienisch fokussierten, klangvollen und edel timbrierten Bariton für den Marcello mitbrachte und dem zuzuhören Freude bereitete. Ihm stand der den Colline herrlich sonor und tiefgründig singende Jongmin Yoon in nichts nach. Ein Versprechen für die Zukunft gab wieder der Schaunard des jungen Matthias Wölbitsch ab, der seinen Bariton indes manchmal noch etwas tiefer hätte stützen können. Tobias Hänschke gab die Doppelrolle des Benoit und des Alcindoro wie eine Woche zuvor, wobei er als Hauswirt jetzt eine Weihnachtsmannmütze trug. Mikhail Kuldyaev wertete mit bestens verankertem Bass die winzige Partie des Sergeanten auf. Besser im Körper hätte der Parpignol von Rai-Joo Kim singen können. Trefflich präsentierte sich der von Alistair Lilley einstudierte Chor. Am Pult wiederholte GMD Tetsuro Ban seine famose Leistung vom 12. März. 

Ludwig Steinbach, 21. 3. 2014             Die Bilder stammen von Martin Sigmund.

 

 

 

 

Ausgelassener Schwung

FRAU LUNA

Besuchte Aufführung: 13. 3. 2014 (Premiere: 26. 10. 2013)

Arbeiterrevolte auf dem Mond

Sie stellt ein Highlight der Berliner Operette dar: Paul Linckes bereits 1899 aus der Taufe gehobene „Frau Luna“. Wer kennt die Glanznummern dieses Stücks nicht? „Das ist die Berliner Luft“ hat sich zu einem absoluten Hit entwickelt und Maries Lied „Schlösser, die im Monde liegen“ erfreut sich ebenfalls so hoher Popularität, dass es auch von Tenören oft im Konzertsaal gesungen und sogar auf Tonträger aufgenommen wurde. Jetzt hat das Regensburger Theater Linckes Werk in einer überaus vergnüglichen und sehr kurzweiligen Neuproduktion herausgebracht. 

Frau Luna, Chor

Gespielt wurde in Regensburg die Urfassung von 1899. Thomas Enzinger, der einem schon von seinen Inszenierungen am Gärtnerplatztheater München und dem Staatstheater Nürnberg her ein Begriff ist, bewies auch hier, dass er sein Handwerk trefflich versteht. Ihm ist in Zusammenarbeit mit seinem Bühnen- und Kostümbildner Toto eine fetzige, rasante und reichlich aufgedrehte Inszenierung gelungen. Mit Personen vermag der Regisseur gut umzugehen. Den einzelnen Figuren nimmt er sich mit viel Liebe an. So führt er Frau Luna als zuerst recht gelangweilte Mondpatronin vor, die unbedingt einmal etwas erleben will und bei der Ankunft der Erdenbürger regelrecht aufblüht. Köstlich ist Enzinger auch die Zeichnung des Mondhüters Theophil gelungen, aus dem er geradezu einen kleinen Napoleon macht. Der in einem Oldtimer auftretende Prinz Sternschnuppe erscheint bei ihm als Elvis-Verschnitt und Frau Pusebach erweist sich als mit einer echten Berliner Schnauze gesegnetes Original. Es sind schon ausgemacht heitere Charakterisierungen, die dem Regisseur hier gelungen sind und an denen auch Toto erheblichen Anteil hat. Die Berliner sind bei ihm normal gekleidete Menschen. Der Mondbevölkerung hat er dagegen prächtige blau-gelbe Glitzerkostüme verpasst. 

Christian Schossig (Pannecke), Matthias Wölbitsch (Lämmermeier), Matthias Ziegler (Steppke)

Gekonnt setzt Enzinger bei seiner Deutung in der Entstehungszeit des Werkes an und verknüpft die Mondfahrt der vier Berliner mit dem Preußischen Militarismus, wovon ein Reiterstandbild von Friedrich dem Großen zeugt. Das Ganze spielt sich vor einem den Flughafen Tempelhof um 1920 zeigenden Hintergrundaspekt ab. Man merkt, dass die Lust der Menschen am Fliegen im Lauf der Jahre immer mehr zugenommen hat. Die Berliner Wohnung der menschlichen Handlungsträger wird durch einige wenige Raumfragmente wie Tür, Fenster und Bett angedeutet. Mit letzterem wird von den drei Freunden samt Frau Pusebach als unfreiwilligem Anhängsel schließlich die Reise zum Mond angetreten, der von einer riesigen Freitreppe eingenommen wird. Das Treiben dort hat stark revueartigen Charakter. Auch hier zieht der Regisseur eine zutreffende Parallele zur Zeit Linckes, in der die Berliner gerne in Revuepalästen Abwechslung und Unterhaltung suchten. In diesem ästhetisch schönen Ambiente wimmelt es nur so von funkensprühenden Regieeinfällen und munterer Ausgelassenheit, bei denen auch mit erheiternden Anspielungen auf die Jetztzeit nicht gespart wird. So nimmt Theophil einmal von Guttenberg aufs Korn, wenn er lamentiert, dass er seine Doktorarbeit nun selbst schreiben müsse. Zum Schmunzeln gibt auch die Ankreidung von fragwürdigem Spekulantengehabe einigen Anlass. Ein eindringliches Fragezeichen setzt das Regieteam zudem hinter den ausgeprägten deutschen Imperialismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts, wenn die Berliner Eindringlinge mit Fahne und Kamera ausgerüstet den Mond für Deutschland in Besitz nehmen wollen.

Ensemble,Chor

 Geradezu einen szenischen Knalleffekt stellte die Verbindung der ursprünglichen Handlung mit sozialistischem Gedankengut dar. Wenn es im Lauf des Geschehens auf dem Mond zu einer sozialen Revolte der Arbeiterklasse mit Forderungen nach „Mehr Lohn“, „Mindestlohn“, „Mindestrente“, „Solidarität“ und „Grundsicherung“ kommt und nachdrücklich die Abschaffung des Zweiklassenmondes verlangt wird, merkt man, dass die Verhältnisse auf diesem Gestirn denen auf der Erde nicht unähnlich sind. Nur gut, dass Frau Luna Sympathien für die Arbeiter entwickelt. Hier bemüht Enzinger aber nicht nur die Gegenwart, sondern erneut auch die Zeit des Kaiserreiches mit ihrer emporstrebenden Sozialdemokratie samt Aufstand der Arbeiterklasse und Marx’ Diktatur des Proletariats. Neben dem pompösen Äußeren sind es nicht zuletzt diese überaus gelungenen politischen Einlagen, die dieser vielschichtigen, abwechslungsreichen Produktion einen ganz spezifischen Reiz verleihen. Und der Tatsache, dass ein Flug zum Mond zu den ältesten Träumen der Menschheit gehört, trägt der Regisseur dadurch Rechnung, dass er am Ende die Frage in den Raum stellt, ob das Ganze nicht nur ein schöner Traum gewesen ist. Das war alles hervorragend durchacht und mit großem Esprit umgesetzt. 

Claus J. Frankl (Theophil), Aurora Perry (Stella)

Dabei hatte auch das aus Sängern/innen und Schauspielern/innen bestehende Ensemble großen Anteil. Alle Solisten warteten mit großer Spielfreude auf und vermochten ihre Rollen zumindest in darstellerischer Hinsicht durch die Bank trefflich auszufüllen. Stimmlich waren die Leistungen insgesamt durchwachsen. Insbesondere die nur über flaches, kopfiges Sopranmaterial verfügende Gesche Geier vermochte in der Titelpartie nicht zu überzeugen. Sie sollte ihre Stimme besser im Körper führen. Das gilt auch für den dünn singenden Prinzen Sternschnuppe von Brent L. Damkier und den aus dem Chor kommenden Wilhelm Pannecke von Christian Schossig. Da war es um den über solides Baritonmaterial verfügenden Matthias Wölbitsch in der Rolle des August Lämmermeier und um Aurora Perrys ansprechend vokalisierende Stella schon besser bestellt. Ihr war der Schauspieler Claus J. Frankl als Theophil ein enormes komödiantisches Talent aufweisender Gatte. Übertroffen wurde er von der ebenfalls aus dem Regensburger Sprechtheater stammenden Doris Dubiel, die die Frau Pusebach einfach köstlich spielte. Beider Sprechgesang war indes nicht sonderlich gefällig, ebenso wie der von Verena Ulrichs Venus, die in Begleitung des dunkel gewandeten Mars von Angelika Hircsu auftrat. Als Mondgroom gefiel Julia Leidhold, die zusammen mit Yuki Mori auch für die gelungene Choreographie verantwortlich zeigte. Bei dem voll und rund singenden Matthias Ziegler war die männliche Hauptpartie des Fritz Steppke in vorzüglichen Händen. Die absolut beste Leistung des Abends erbrachte Anna Pisareva, die man am Tag zuvor bereits als ausgezeichnete Musetta hatte erleben dürfen, in der Rolle der Marie. Mit ihrem wunderbar warm und voll, dabei aber auch kräftig und ausdrucksintensiv klingenden Sopran ausgezeichneter italienischer Schulung, mit dem sie ihr berühmtes Lied zum Höhepunkt des Abends machte, ließ sie alle ihre Partner/innen weit hinter sich zurück. Dieser famosen jungen Sängerin steht eine große Karriere bevor. Eine gute Leistung erbrachte der von Alistair Lilley einstudierte Chor.

Am Pult animierte György Mészáros das gut gelaunte Philharmonische Orchester Regensburg zu einem prägnanten, lustvollen Spiel mit markanten Akzenten. 

Ludwig Steinbach, 16. 3. 2014             Die Bilder stammen von Ludwig Olah.

 

 

 

Fest der Stimmen

LA BOHÈME

Besuchte Aufführung: 12. 3. 2014 (Premiere: 7. 12. 2013)

Rodolfos Traum von Mimi

Es ist eine beeindruckende Gratwanderung, die dem jungen Wiener Regisseur Johannes Pölzgutter mit seiner Inszenierung von Puccinis „La Bohème“ am Theater Regensburg gelungen ist. Seine Deutung hält für jeden Geschmack etwas bereit, vereint in sich sowohl konventionelle als auch moderne Elemente. Er verfälscht das Stück nicht, interpretiert es aber gleichwohl gekonnt. Er setzt in erster Linie auf die Herausstellung der starken Emotionen der von Janina Ammon ansprechend kostümierten Handlungsträger und ihrer Beziehungen zueinander. Rührseligkeit und Herzschmerz sind angesagt, wobei die Grenze zum Kitsch Gott sei Dank nie überschritten wird, was gerade bei diesem Werk nicht selbstverständlich ist. 

Viktorija Kaminskaite (Mimi)

Dazu trägt auch das teilweise sehr nüchterne Bühnenbild von Nikolaus Webern einen guten Teil bei. Die Bohémiens hausen in einem kargen grauen Raum, dessen Wände gänzlich mit den Manuskriptseiten von Rodolfos Drama behängt sind. Auf der rechten Seite befindet sich ein alter Ofen mit Heizungsrohr, im linken Bereich hat Shaunard seinen Kontrabass abgestellt. Zum Sitzen dient den Bewohnern eine einfache Lederbank. Romantischem Mansardenzauber wird hier eine klare Absage erteilt und das Ganze auch von seinem äußeren Erscheinungsbild her der Kärglichkeit der Lebensverhältnisse der Protagonisten angeglichen. Auch im Weihnachtsbild verzichten Regisseur und Bühnenbildner weitgehend auf Festschmuck. Lediglich am Bühnenhimmel prangt eine Lichterkette, die im folgenden Bild dann erloschen ist. Dafür regnen Rodolfos auf Papier gebannte dichterische Ergüsse vom Himmel und es setzt Schneetreiben ein. Parpignol präsentiert der Menschenmasse vor dem Café Momus eine ganze Pyramide von Geschenkkartons, die indes auch bei anderen Festen ihren Dienst tun würden. Speziell weihnachtlich sind sie nicht geschmückt. Die Armut der Bohémiens findet auf diese Weise einen von jeder herkömmlichen Konvention befreiten und stimmigen Ausdruck. 

Matthias Wölbitsch (Shaunard), Anna Pisareva (Musetta), Colline

Auch der geistige Gehalt, den Pölzgutter seiner Deutung angedeihen lässt, überzeugt. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist ein von Rodolfo gegenüber Mimi geäußerter Satz, der ins Deutsche übersetzt lautet: „Du bist der Traum, den ich immer träumen wollte“. Diese Aussage macht deutlich, dass er in ihr weniger eine reale Person als vielmehr eine Projektionsfläche sieht. Feuerbach lässt grüssen. Rodolfo hat sich ein Bild von dem Prinzip Frau geschaffen, in das Mimi auf den ersten Blick genau hineinzupassen scheint. Aber nur auf den ersten. Im Lauf des Stücks erweist sich in immer stärkerem Maße, dass der Dichter mit dieser reichlich selbstbewussten, anpassungswilligen und selbstreflektierenden Frau, die ihm alles recht machen will, letztlich doch nichts anfangen kann, mag die Liebe zwischen den beiden auch durchaus aufrichtig und echt sein. Das Traumbild lässt sich eben nicht auf das wirkliche Leben übertragen, schon gar nicht, wenn es krank ist. Derartiges passt einfach nicht in seine Vorstellungswelt. Auf einer psychologischen Schiene versucht Rodolfo seinen Wunsch, von Mimi wieder loszukommen, zu rationalisieren, stellt sie sich untreu und verworfen, praktisch als Hure vor. Die Frau erweist sich für ihn nicht als ideal. Damit zerstört er auch seine Vision. Mit Mimis auf dem kalten Boden - ein Bett benötigt der Regisseur nicht - erfolgtem Tod geht auch die Projektionsfläche zugrunde. Rodolfos Vision von Mimi ist ausgeträumt. 

Viktorija Kaminskaite (Mimi), Yinjia Gong (Rodolfo), Mario Klein (Colline), Matthias Wölbitsch (Shaunard)

Gesanglich kann man wahrlich von einem Fest sprechen. Durch die Bank bis zu den kleinsten Nebenrollen wurde schön im Körper gesungen, was selbst an den größten Häusern eine Seltenheit darstellt und beredtes Zeugnis von dem ausgezeichneten Niveau des Regensburger Sängerensembles ablegt. Als Mimi glänzte Viktorija Kaminskaite, die mit berührendem Spiel und einem wunderbar innig und emotional geführten Sopran italienischer Schulung sich die Herzen der Zuschauer im Sturm eroberte. Fast noch übertroffen wurde sie von Yinjia Gong, der einen prachtvollen Rodolfo sang. Mit seinem ebenfalls bestens italienisch focussierten, frischen und klangvollen Tenor zog er sämtliche Facetten des Dichters, wobei er es auch an Differenzierungen und feinen Nuancen nicht fehlen ließ. Darstellerisch wurde er seinem Part ebenfalls voll gerecht. Für den erkrankten Seymur Karimov in der Rolle des Marcello eingesprungen war Oleksandr Prytolyuk. Der kurzfristig vom Staatstheater Darmstadt herbeigeeilte Sänger fand sich in der Inszenierung gut zurecht und vermochte insbesondere mit seinem gut gestützten, ausdrucksstarken Bariton einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. In der Musetta von Anna Pisareva, die in dieser Produktion alternierend auch als Mimi besetzt ist, hatte er eine vortreffliche Partnerin. Kokett und aufgedreht spielend entsprach sie schon vom Schauspielerischen her ihrer Partie voll und ganz. Aber auch vokal blieben bei ihrem gut verankerten, variabel geführten Sopran keine Wünsche offen. Das „Quando m’en vo“ sang sie wunderbar auf Linie und kam auch mit den mehr parlandomäßigen Stellen bestens zurecht. Einen guten Tag hatte Mario Klein, der einen markanten Colline gab. Über vielversprechende baritonale Anlagen verfügte der Schaunard des noch recht jugendlich wirkenden Matthias Wölbitsch. In gleich zwei Rollen war Tobias Hänschke zu erleben. Sowohl aus dem Benoit als auch aus dem Alcindoro machte er dankenswerter Weise keine Karikaturen, sondern gab ihnen mit rundem Stimmklang durchaus ernste Profile. Mit erheblich mehr vorbildlich fundierter Stimmkraft als man es bei dieser Mini-Partie sonst geboten bekommt, stattete Matthias Ziegler den Parpignol aus. Der solide Sergeant von Mikhail Kuldyaev rundete das homogene Ensemble ab. Auch der von Alistair Lilley einstudierte Chor vermochte für sich einzunehmen. 

Mimi, Yinjia Gong (Rodolfo)

Bei GMD Tetsuro Ban war Puccinis Oper in bewährten Händen. Er animierte das bestens disponierte Philharmonische Orchester Regensburg zu einer intensiven, vielschichtig anmutenden Tongebung, wobei er entsprechend den Intentionen der Regie nicht nur auf gefühlvolles Schwelgen in der herrlichen Musik setzte, sondern schon auch mal mehr analytische Aspekte in sein gelungenes Dirigat einfließen ließ. Den Sängern war er ein einfühlsamer Partner. 

Fazit: Ein in jeder Beziehung empfehlenswerter Abend.

Ludwig Steinbach, 13. 3. 2014          Die Bilder stammen von Martin Sigmund

 

 

 

 

Treffen der Generationen

DIE FEEN

Besuchte Aufführung: 15. 2. 2014 (Premiere: 25. 1. 2014)

Der Kampf des jungen Wagner um Anerkennung

Richard Wagner hat seine bereits 1834 in Würzburg entstandene, aber erst nach seinem Tod 1888 in München uraufgeführte erste Oper „Die Feen“ stets als Jugendsünde bezeichnet und aus dem Kanon der in Bayreuth zu spielenden Werke ausgeschlossen. Bis heute halten sich seine Nachfahren strikt an dieses Gebot und lassen die „Feen“ wie auch das „Liebesverbot“ und den „Rienzi“ nicht auf dem Grünen Hügel einziehen. Um die Berechtigung dieses Vorgehens geht es in Uwe Schwarz’ Inszenierung des Werkes am Theater Regensburg, für die Dorit Lievenbrück das Bühnenbild und die vielschichtigen Kostüme beisteuerte. Nachhaltig plädiert er für eine Aufnahme der „Feen“ in den Spielplan der Bayreuther Festspiele und taucht dabei tief in den Kosmos Wagner und Bayreuth ein, wobei er mehrere Handlungsebenen bemüht. 

Charles Kim (Arindal/Wagner), Chor

In seinem Bestreben, Wagners Frühwerk zu rehabilitieren, verknüpft Schwarz die romantische, auf Carlo Gozzis Märchen „La donna serpente“ beruhende Handlung gekonnt mit der Bographie des Bayreuther Meisters. Die Legitimation dazu liefern ihm mannigfaltige, richtig erkannte Parallelen zwischen dem Schicksal des Protagonisten der Oper Arindal und Richard Wagner, die bei ihm ein und dieselbe Person darstellen. Insbesondere am Ende des Stückes, als der Prinz seine Frau Ada gleich Orpheus mit den Mitteln der Musik wieder zum Leben erweckt, wird deutlich, dass die Suche sowohl Wagners als auch Arindals nach künstlerischer Vollkommenheit den zentralen Aspekt in beider Leben bildet. Dieses Konzept geht voll auf. Und auch Schwarz’ Idee, Ada mit Mathilde Wesendonk, der Muse Wagners, zu identifizieren, ist in diesem Kontext gut nachzuvollziehen. Damit wird gleichzeitig die ständige Abhängigkeit des Meisters von Frauen, ohne die er nicht kreativ sein konnte, aufgezeigt und deren Notwendigkeit für sein Schaffen betont. Wenn am Ende dann gleichsam nicht der junge Wagner/Arindal die Frau erlöst, sondern gerade umgekehrt seine Muse ihm Rettung und Anerkennung bringt, ist das nur eine folgerichtige Konsequenz des Ansatzpunktes der Regie. Hier wird gleichzeitig auch ein überzeugender Bezug zu den späteren Musikdramen Wagners ab dem „Fliegenden Holländer“ hergestellt, in denen die Erlösung des Helden durch eine Frau ja eine ganz wesentliche Rolle spielt. 

Michaela Schneider (Ada)

Zu Beginn, nachdem eine riesige Büste des Meisters ständig um die eigene Achse routierte, kommt es vor dem auf den Hintergrund projizierten Festspielhaus während der Jubiläums-Festspiele des vergangenen Jahres zu einem Treffen der Generationen. Während man per Videofilm so illustre Gäste wie Angela Merkel, Gido Westerwelle, Veronica Ferres und Thomas Gottschalk über den grünen Hügel flanieren sieht, begehrt Wagner mit der „Feen“-Partitur unter dem Arm Einlass, wird aber von seinen Urenkelinnen Katharina und Eva, deren Rollen die beiden Feen Farzana und Zemina übernehmen, abgewiesen. Er ist es noch nicht wert, in den eigenen Tempel, in dem man nur seinen zehn klassischen Werken huldigt, aufgenommen zu werden. Zuvor muss er sich beweisen und seine frühe Schaffensphase hinter sich lassen. Damit geben ihm die Schwestern die Chance, seine „Feen“ bei den Festspielen zu etablieren. Das ist der Inhalt der ihm auferlegten Prüfungen. Sie muss er bestehen, um Ruhm und Unsterblichkeit zu erlangen. 

Vera Egorova (Farzana), Aurora Perry (Zemina), Charles Kim (Arindal/Wagner)

Wie in der Oper das Feen- und Arindals Königsreich aufeinanderprallen, so treffen auch in der Inszenierung von Uwe Schwarz zwei gegensätzliche Welten aufeinander. Als äußerer Rahmen dienen die projizierte Fassade des Festspielhauses, hier als Sinnbild einer erstarrten Tradition zu verstehen, und eine Probebühne, auf der der junge Wagner auf seinem Weg zur künstlerischen Bewährung in seine eigene Opernwelt eintaucht, wobei er auf etliche Familienangehörige, Freunde und Bekannte stößt. Dass die gegenwärtigen Festspielleiterinnen die bösen Feen, die im dritten Aufzug Wagners/Arindals Kampf gegen die bösen Geister als konventionelle Walküren mit Brustpanzer und Flügelhelm begleiten, und Mathilde Wesendonk die Ada symbolisieren, wurde bereits gesagt. Wolfgang Wagner gibt den die ganze Aufführung über das Geschehen vom Rand aus beobachtenden Inspizienten, der am Ende schnell noch in die Rollen des Zauberers Groma und des Feenkönigs schlüpft. Gernot erscheint als Ludwig II und Gunther ist Friedrich Nietzsche nachempfunden. Morald trägt die Maske Bismarcks, während seine Verlobte Lola als Julia Timoschenko Wagner bei der Dresdener Mairevolution von 1848 zur Seite steht. Das Auftreten von letzterer, die mit Wagner gar nichts an ihrem Haarkranz hat, ist in diesem Kontext ungewöhnlich, soll aber wohl ein eindringliches Plädoyer des Regisseurs an die Adresse der ukrainischen Regierung darstellen, die arg gebeutelte Timoschenko endlich freizulassen und ihr die Ausreise zu gestatten. Am Ende gelangt der junge Wagner nicht nur zu künstlerischer Unsterblichkeit, sondern auch in die Herzen seiner Nachkommen. Ob die „Feen“ nun in Bayreuth aufgeführt werden dürfen, bleibt offen. Eher aber nicht. Zu den Schlusstakten vereinen sich alle angehörigen des Wagner-Clans zum gemeinsamen Familienphoto. 

Michaela Schneider (Ada), Charles Kim (Arindal/Wagner)

Gespielt wurde in Regensburg eine gekürzte Fassung. Das Ganze ging in ca drei Stunden einschließlich Pause über die Bühne. Nicht immer waren die vorgenommenen Striche geglückt. Nicht weiter schlimm erschien beispielsweise das Weglassen des Buffoduetts zwischen Gernot und Drolla oder das rezitativartige Gespräch zwischen Gernot, Gunther und Morald zu Beginn des ersten Aufzuges. Verfehlt war es indes, Gernots Erzählung von der Hexe Dilnovaz dem Rotstift zum Opfer fallen zu lassen. Nicht nur, dass diese Nummer für die Handlung dramaturgisch von großer Wichtigkeit ist, sie enthält darüber hinaus mit dem Dilnovaz-Thema auch das erste Leitmotiv, das Wagner je geschrieben hat. Und durch die Streichung der Szene zwischen Arindal und den Intrigantinnen Farzana und Zemina im dritten Aufzug wird zudem nicht klar ersichtlich, aus welchem Antrieb der König in das Feenreich eindringt. Dennoch ist der Regensburger Fassung eine gelungene dramatische Geschlossenheit zu bescheinigen, die auch durch Arne Willimcziks famoses Dirigat zum Ausdruck kam. Er dirigierte das Werk mit Feuer und Stringenz, wobei er stets darauf bedacht war, die vielfältigen Einflüsse anderer Komponisten, so Weber und Marschner, herauszustellen. Stärker als es bei anderen Dirigenten des Werkes der Fall ist, betonte er auch stark die Einflüsse von Wagners Erzfeind Meyerbeer. Das Philharmonische Orchester Regensburg war ihm ein zuverlässiger Partner und setzte seine Intentionen versiert und intensiv um. 

Victorija Kaminskaite (Lora), Vera Semieniuk (Drolla), Jongmin Yoon (Gernot)

Fast durchweg zufrieden sein konnte man auch mit den Sängern. Charles Kim machte bereits äußerlich als Arindal/Wagner eine gute Figur. Er spielte ihn mit großer Energie und vermochte auch stimmlich mit seinem kräftigen Tenor gut zu gefallen. Übertroffen wurde er von Michaela Schneider, die in der Rolle der Ada eine echte Glanzleistung erbrachte. Sie ging sowohl stimmlich wie auch darstellerisch voll in ihrer anspruchsvollen Rolle auf, der sie vielfältige Facetten abzugewinnen wusste. Angesichts ihres hervorragend focussierten, höhensicheren und tiefgründig geführten Soprans drängt sich die Vermutung auf, dass hier eine gute Vertreterin für das jugendlich-dramatische Fach nachwächst, von der man sicher noch viel hören wird. Ebenfalls einen guten Eindruck hinterließ Victorija Kaminskaite, die mit trefflich verankertem Sopran die Lora sang. Auch von ihrem beherzten Spiel her war die junge Sängerin recht überzeugend. Mit sonorem, bestens sitzendem und ausdrucksstarkem Bass sang Jongmin Yoon einen ausgezeichneten Gernot. Insgesamt solides Baritonmaterial brachte Adam Kruzel für den Morald mit. In der Höhe war aber auch mal ein kleiner Abstrich zu machen. Etwas profunder hätte Mario Klein als Zauberer Goma und Feenkönig klingen können. Die beiden Feen Farzana und Zemina wurden solide von Vera Egorova und Aurora Perry gesungen, deren Stimmen gut miteinander harmonierten. Ziemlich dünn und gänzlich ohne ein ansprechendes appoggiare la voce gab Cameron Becker den Gunther und den Boten. Ordentlich schnitten der Harald von Seymur Karomov und Vera Semieniuks Drolla ab. Alistair Lilley hatte die Einstudierung des trefflich singenden Chors übernommen.

Ludwig Steinbach, 18. 2. 2014       Die Bilder stammen von Martin Sigmund.

 

 

 

 

 

Yuki Mori

Ich, Wagner. Sehnsucht!

Ballett-Uraufführung: 26.1. 2013          Besuchte Vorstellung: 17.7. 2013.

Es ist nicht das erste – und wird nicht das letzte Wagnerballett sein. Dem Balletomanen fällt beispielsweise „Riccardo W.“, ein – eine Arbeit des Choreographen Valery Panov und des Dramaturgen Karl Dietrich Gräwe, die 1983 in der Stamm- und Jugendoper des Opernfreundes, der Deutschen Oper Berlin, uraufgeführt wurde. Schon damals begegnete man Richard, Ludwig und Cosima, Minna und Mathilde – und symbolischen Frauengestalten, die dem kreativen Künstler begegnen. Auch damals wurde nicht allein Musik von Wagner in den „score“ integriert; auch – wie pikant! - Musik Meyerbeers, Mendelssohns und Offenbachs wurde neben Werken von Liszt und Berlioz gleichsam vertanzt. Eine Mischung aus Biographie und symbolüberhöhter Parabel: so stellte sich im Jubiläumsjahr 1883 das Wagnerballett dar.

Das Theater Regensburg hat zum aktuellen Jubeljahr ein Ballett auf die Bühne gebracht, das mit dem Berliner Ballett einige Gemeinsamkeiten besitzt – den biographischen Anteil – und sehr viel Verschiedenes aufweist, denn der gesamte zweite Teil dieser kurzweiligen Choreographie des Hauschoreographen Yuki Mori ist ein symbolistisches Werk aus einem Guß. Es gilt, was Peter Wapnewski seinerzeit über „Riccardo W.“ in der „Zeit“ veröffentlichte: „Der Tanz als sinnliche Form einer Idee, der Gestus als bewegte Materialisierung des Gedanklichen, die Pantomime als körperhafter Ausdruck einer Emotion: das könnte diesem anderen Wagner sehr wohl gerecht werden. Dem, der hinter seinen fundierenden Redseligkeiten nur das große Stummsein verstecken will; der sich am 21. Januar 1883 das erstaunliche Wort notiert: 'Das viele Reden und Hören verhindert das Sehen.'“ Und also tanzen die jungen, exzellenten Tänzer des Ensembles einen Wagner, der uns vielleicht nicht wirklich tief bewegt – wobei die Ausnahme die Regel bestätigt -, aber immer interessiert. Funktioniert die Koppelung großer, bedeutender Musik mit neu erfundenen Tanzschritten? Durchaus. Hier erklingt nicht allein Wagner, sondern auch – selten in harten Brüchen (wie nach dem brutal abgeschnittenen „Rheingold“-Vorspiel) - der erste Satz aus Alexander von Zemlinskys frühmodern flirrender Sinfonietta und die beiden ersten Sätze der B-Dur-Symphonie des fortgeschrittenen Wagnerianers Ernest Chaussons: eine Musik der Begeisterung. Peter Wapnewski kann beruhigt werden, wenn er schreibt: „wo man den Griff zu großer Partitur wagte, besteht allemal die Gefahr wechselseitiger Aufhebung, ja Dementierung der beiden Künste.“ Die Gefahr wurde in Regensburg gebannt, weil mit „Nummern“ wie „Isoldes Liebestod“, der vom Klaviersatz ins Orchester glitt, eine intelligente, tiefsinnige, letzten Endes unaussprechliche Dramaturgie ins Tanzwerk gesetzt wurde. Wenn sich Wagner von Mathilde verabschiedet, dann verabschiedet sich zugleich Wagner von seiner jungfräulich weißgekleideten Kunst- und Kunsttraumfigur Isolde - die wiederum nicht allein Isolde, sondern jegliche wagnersche Operntraum- und Lebensfrau bedeuten könnte. Wenn sich Mathilde von Richard verabschiedet, dann trennt sie sich zugleich von seinem Dämon, von seiner künstlerischen „Mission“ (wie am Abend ein dem Ballett eher fern stehende Frau ganz richtig bemerkte). Voilà: mit einem derartig zarten Arrangement wird mehr erklärt als durch viele Worte (schon in Panovs Ballett gehörte die Minna-Mathilde-Bülow-Cosima-Konstellation zu den gelungensten Sequenzen). Ljuba Avvakumova und Harumi Takeuchi tanzen die beiden wichtigen „Visionen“, die an diesem Abend vieles sind: vor allem aber überpersönliche, betont ästhetisch agierende Figuren, die Wagner lebenslang begleitet haben.

In diesen Augenblicken wachsen die Tänzer über das Korsett hinaus, das ihnen der Durchgang durch einige charakteristische Lebensstationen auferlegt. Es macht im übrigen immer Freude auf die Truppe zu schauen, auf die typischen Bewegungen des nervösen Richard, der von Claudio Constantino als Gefangener seiner Sehnsüchte gestisch gezähmt wird. Es macht ungeheure Freude, Mathilde als euphorischen Schmetterling in eine Szene einbrechen zu sehen, die unversehens fröhlich und erotisch zu glühen beginnt; man wird sich die rothaarige, leuchtende Ina Brütting merken.

Es ist schlicht packend, wenn Caroline Fabre als Cosima Richards Vergangenheit – die Vergangenheit eines von seinen Gläubigern gehetzten Menschen – buchstäblich vom Tisch wischt; in der Geste und in ihren weit ausladenden Schritten überrascht sie uns mit einer weiblich-männlichen Dominanz, die verstehbar macht, wieso Wagner der jungen Frau zunächst verfallen war. Es scheint, als seien ihre Drehungen noch begeisterter als die der anderen Figuren.

 

Die Drehung: sie ist das Hauptmerkmal in dieser Arbeit Yuki Moris, die noch letzte Erinnerungen an den klassischen Tanz enthält – so wie Wagners Neues Musikdrama sich von der „Oper“ emanzipierte, ohne sie ganz vergessen machen zu können. Bei aller Symbol- und latenten Rätselhaftigkeit der Gesten und Schritte, die der Modern Dance dem Choreographen zur Verfügung stellt, werden indes die komplexen Beziehungen zwischen den Figuren stets klar gemacht. Betörend, wie Cosima schon zu Beginn vor Richard auf die Knie geht – und bewegend, wie Minna vor der beginnenden Zweiheit von Richard und Mathilde ins Dunkel zurückweicht. Andrea Vallescar spielt Minna – und wie sie sie spielt! Als kraftvolle und gedemütigte Gattin eines Genies, das nicht Anderes kann als stets Grenzen zu überschreiten.

Wagner war ein Gefangener seiner Sehnsüchte, der aus der ewigen Unbefriedigung die Kraft für seine unfassbaren Schöpfungen zog. Der gesamte zweite Teil des Abends heißt denn auch schlicht „Sehnsucht!“ Nun hört man lediglich das Vorspiel zu „Parsifal“ und den „Karfreitagszauber“. Männer und Frauen, Gruppen und namenlose Individuen rücken an die Stelle der konkreten, durch den Tanz allerdings schon stark verfremdeten historischen Figuren. „Durch den Geist von Richard Wagner ziehen die Erinnerungen, Ängste und Hoffnungen, die sein Leben und Schaffen bestimmt haben. Seine Gedanken nehmen Gestalt an und werden zu Männer und Frauen, Helden und Walküren, Paaren und Einsamen, die die Erinnerung ihrer eigenen Geschichten träumen.“ Nein, man muss nicht wirklich an Walküren denken; es ist gut so, weil es von allem abstrahiert, was an Wagners Werken konkret ist. Im hellen Blau der schlicht schönen Sommerkostüme Thomas Kaisers entwickelt sich ein Lebensdrama, das seinen Rhythmus scheinbar gegen die Langsamkeit der Musik setzt – bis man merkt, dass es entweder taktgenau auf die Akzente der Musik hin organisiert wurde oder jene Spannungen in die Geste bringt, die die Musik in ihrem Innersten enthält.

So etwas nennt man wohl dialektisch – alles andere wäre eine Verdoppelung von Musik und Tanzschritt gewesen, in dem die Wagnermusik, die vom Philharmonischen Orchester Regensburg unter Philip van Buren meist sicher gebracht wurde, nur noch als Filmmusik gebraucht worden wäre. So aber gewann sie eine Eigenständigkeit gegenüber der Szene, die ihre Geschichte aus dem subtilen Geist der Musik schöpfte: die Euphorie und die Trauer, die geheime Melancholie und die Hysterie. Eben ganz in Wagners dramatischem Geist.

Frank Piontek                                                          Fotos: Ralf Mohr

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