
EIN WALZERTRAUM
Premiere: 21.8. 2019. Besuchte Vorstellung: 26.8. 2019
„Einmal noch leben, eh es vorbei“, singt der Leutnant Niki, als er sich ins Wiener Damenkapellengewuhrl stürzt. Gleiches mag sich Heinz Hellberg gedacht haben, als er nach nunmehr 20 Jahren zum letzten Mal mit einer Produktion der Operettenbühne Wien auf die Bretter der Luisenburg trat. Operettenweisheiten sind eben erstaunlich oft - Weisheiten.

Gespielt wird eine der Meisteroperetten der sog. Silbernen Ära. Silbern? Straus' „Walzertraum“ ist nicht weniger genial als die „Lustige Witwe“, die seinerzeit vom 1907 uraufgeführten Werk – bezogen auf die Aufführungszahlen – schon bald überholt wurde. Heute steht sie im Schatten der „Witwe“, wenn sie auch die selben musikalischen Meriten aufweist wie das Werk um die Frau, deren Millionen geheiratet werden sollen: jede Menge einprägsame Melodien, feine Instrumentation, Sentiment und Humor. Bei Straus wird eine Frau geheiratet, die sich ihren Mann erst erobern muss. Sie tut es mit Hilfe der Musik und dessen, was man seinerzeit und wohl noch heute (und nicht völlig zu Unrecht) als „wienerisch“ empfinden mag: mit Charme, Luftigkeit und Erotik. Was die Wienerische Musik betrifft, so hat die Operettenbühne allerdings zuviel des sog. Guten getan. Nicht weniger als 6,1 Stücke, die am Nachmittag zu Gehör gebracht werden, stammen nämlich nicht aus dem „Walzertraum“, sondern wurden von Ralph Benatzky (das Mehlspeislied aus dem „Kleinen Café“), Paul Abraham (das Schwipslied aus der „Blume von Hawai“) und anderen komponiert.

Dass Hellberg das „Fiakerlied“ als Hommage auf das eigene Leben und als Abschiedslied von der Luisenburg singt, mag menschlich verständlich sein – als Showstopper tut er dem Stück keinen Gefallen. Kommen hinzu die Tritsch-Tratsch-Polka (immerhin eine Gelegenheit fürs Ballett, die Beine zu schwingen), das einst von Hans Moser gesungene Wiener Lied „Mein Herz, das ist ein Bilderbuch“ - als Einlage für den ausgesprochen guten Bass Viktor Schilowsky, der sonst kaum was zu singen hätte -, ein kleines Duett als zusätzliche 3. Akt-Einlage für die Frau des regieführenden Intendanten, deren Rolle die Tschinellen-Fifi, neben der Kammerfrau Friederike als zweite komische Figur aufgewertet wurde, und eine radikale Kurzversion des Donauwalzers. Dafür hat man die Chorintroduktionen des ersten, zweiten und dritten Akts gestrichen bzw. ans Orchester delegiert, denn auf der Bühne stehen lediglich ein paar Statisten, sodass schon der erste Dialog des ersten Akts unsinnig wird. Die Andeutung einer Rahmenhandlung – ein junger betrunkener Mann träumt sich, in einem Ikea-Bett schlafend, in die Handlung hinein – ist dramaturgisch so überflüssig wie die meisten Einlagen.

Künstlerische Freiheit? Nein – diese Aufführung bietet den prekären Fall einer schlampigen Werkbehandlung. Zugegeben: die Aufführung würde ohne die 6,1 Einlagen nur 90 Minuten dauern – aber sie würden völlig genügen, um dem „Walzertraum“ Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Der Rest ist ein touristisches Bilderbuch aus dem neuen Wien, oder: Wie der kleine Moritz sich eine Wiener Operette vorstellt. Wenn so die Tradition aussieht, von der Hellberg spricht („Die Operette ist keine Plattform für die Moderne“), dann hat Hellberg, der Autor dieser Bühnenfassung, irgend etwas missverstanden.
Als ob die Substanz von Straus' Meisterstück nicht für eine gute Aufführung ausreichen würde.
„Besser gut erstorben als schlecht modernisiert“, sagt Hellberg auch. Und also sehen wir wieder auf die typischen Dekore im Stil der Operette einer vergangenen Nachkriegszeit: mit kräftigen Farben, denen sich die polnisch anmutenden Pastelltöne der Kostüme hinzugesellen. Drei hellstblaue Damen (die vermutlich unterbezahlten Damen vom kleinen Ballett) tanzen um den Prinzen herum, die schöne Prinzessin Helene trägt am Ende ein schulterfreies Ding in einer Art Créme, die Leutnant tragen preußischblau mit roten Krägen.

Der Preuße, der hier auf den Namen Graf Lothar hört, darf sich in weiß fortbewegen und dabei lustig steptanzen, bevor sich Helene zwischen zwei Spiegeln zärtlich hin- und herwiegt: „Ich hab einen Mann...“
Und wie wird gesungen? Stefan Reichmann singt einen baritonalen Niki, der nur im Duett mit dem Montschi des Alexander M. Helmer nicht gut zusammenkommt: weder in der Höhe noch im Rhythmus. Ella Tyran ist eine gute Helene, deren Stärken eher in der vokalen Mitte als in der stark vibrierenden, dabei doch starken Höhe liegen; einen rundum guten Eindruck macht Elisabeth Hillinger als Damenkapellenleiterin Franzi Steingruber. Elfie Gubitzer ist eine an F.F. Jenkins erinnernde Friederike, Viktor Schilowsky – siehe oben. Jan Reimitz spielt mit deutlichem Witz den preußisch anmutenden Graf Lothar (früher hieß er „Wendelin“), und die Prinzipalin Susanne Hellberg darf mit ein paar Extras als Tschinellen-Fifi die große Trommel schlagen: zum Vergnügen des Publikums, das am Ende auch das Orchester, das unter Laszlo Gyüker einen fast „wienerischen“ „Walzertraum“ spielt, beklatscht.
Wobei der Operettenfreund natürlich – es ist so ungerecht wie unvermeidbar – an die Referenzaufnahme des Werks denkt, mit der verglichen diese Bühnenfassung zwar nicht den Charme des Stücks, aber dessen dramaturgische Geradlinigkeit verfehlt hat.
Unüberholt: die wunderbare Einspielung des Walzertraums aus dem Jahre 1970: mit der Traumbesetzung Nicolai Gedda, Anneliese Rothenberger, Edda Moser, Brigitte Fassbaender, Wolfgang Anheisser, Willi Brokmeier und dem Chor der Bayerischen Staatsoper, idiomatisch begleitet vom Symphonie-Orchester Graunke.
Frank Piontek, 27.8. 2019
Fotos: ©Claudius Schutte und Frank Piontek
DIE ZIRKUSPRINZESSIN
Gastspiel der Operettenbühne Wien.
Premiere: 15.8. 2014. Besuchte Vorstellung: 17.8. 2014
Zwei Märchenaugen – eine grundehrliche Produktion
Was braucht man für eine gutgemachte Operette? Eine ganze Menge: Ausgezeichnete Sänger (denn Operette ist bekanntlich nicht leichter zu singen als Oper – schon gar nicht vor 2000 Zuhörern), die auch ein bisschen tanzen können und im Übertreiben authentisch „rüberkommen“, komisch begabte Schauspielsänger, einen hervorragenden Dritte-Akt-Komiker, ein gutes Orchester unter einem stilsicheren Dirigenten, eine gute Ausstattung (auf dies es nur bedingt ankommt), einen vortrefflichen Chor und eine ehrliche Regie, die das Werk Ernst nimmt. Meistens mangelt es an mindestens einem Teil: die Regie zerschreddert das Werk, weil es klüger sein will als seine Autoren (wobei die Ausnahmen – siehe Konwitschnys kongeniale Dresdner „Csárdásfürstin, die der Rezensent an einem unvergesslichen Silvesterabend miterleben durfte). Bisweilen scheitern die Sänger an den hohen Ansprüchen der Partie, manchmal singen sie ausgezeichnet, können sich aber nicht bewegen – und wer kann schon elegant über die Bühne tanzen?

Unglaublich, aber wahr: wer 2014 in die großdimensionierte Luisenburg fährt, wo seit vielen Jahrzehnten Sommerfestspiele vor dem unvergleichlichen oberfränkischen Felsenlabyrinth veranstaltet werden, erlebt eine bewegende, weil grundehrliche „Zirkusprinzessin“, die über all das verfügt, was eine „normale“ Operetten-Aufführung verlangt. Die Operettenbühne Wien gastiert nun schon seit 15 Jahren unter ihrem Leiter und Regisseur Heinz Hellberg oben im Fichtelgebirge bei Wunsiedel, wo sich nicht Fuchs und Hase Gute Nacht sagen, sondern vor einem begeisterungsfähigen Publikum in der freien Natur das Beste vom Besten auf die Holzbühne vor den Felsformationen kommt. Akustisch werden die Sänger übrigens begünstigt: denn die Zuschauer sitzen auf den Tribünen unter einem Zeltdach, das nur dann unangenehm wird, wenn der Regen darauf trommelt. Ansonsten trägt hier jeder Ton – und trotzdem ist es eine außerordentliche Leistung: die Töne bis in die oberste Reihe zu tragen, dass noch die letzte, gelegentlich auch etwas schwächere Pointen mit einer unheimlich anmutenden Präzision ihre Ziele erreichen.

Wenn zudem noch mit der Ungarin Judit Bellai (die eine Russin zu spielen hat) und ihrem Kollegen Csaba Fazekas zwei Sänger auf der Bühne stehen, die vokal und schauspielerisch, optisch und sensitiv wunderbar eingespielt sind, wenn zudem noch die Höhe der Operettendiva rund und schmeichelnd und die Tiefe angenehm „mällodrramattisch“ rollt, und wenn der Tenor mit einer schwingenden Höhe und einer flexiblen Festigkeit gesegnet ist: dann ist das Operettenglück schon perfekt. Zwei Märchenaugen – und -stimmen... Sie singen gut, sie spielen gut, sie schauen blendend und aus, sie besitzen eine jugendliche Ausstrahlung, nur geigen kann er nicht – aber wer agiert schon wie Hubert Marischka, der 1926 in seinem Theater an der Wien die Rolle des zum Zirkusreiter herabgefallenen Fedja, der Jahre später seine geliebte „Lustige Witwe“ Fedora wiedertrifft? Fazekas ist und hat nicht nur eine bühnenwirksame Erscheinung, von dem jeder Operettentenor träumen mag. Er erfüllt seinen lyrisch-dramatischen Part auch mit einer Intensität und einer Stimmschönheit, die an den konfliktreichen Höhepunkten der Handlung ins Dramatische wächst. Der Sänger stand jahrelang im Chor der Bayreuther Festspiele – was Drama ist, muss man ihm nicht erklären.
Und gut sehen sie beide aus: Lucya Kerschbaumer hat der Diva einige schöne Kostüme auf den Leib geschneidert. Der Schauwert der Dekoration mag – das sind so die Bedingungen der Freilichtbühne – geringer sein als der einer Produktion in einem „ordentlichen“ Haus: die Kostüme der Sopranistin machen alles wett. Ein blutrotes und ein goldglänzendes Gewand, ein blütenweißes, doch schlichtschönes Hochzeitskleid (für den zweiten Akt mit seinem „tragischen Finale“), schließlich ein edles Teil in Violett: das sind so die Prächtigkeiten, über die die Ausstattung am richtigen Platz verfügt. Ganz zu schweigen vom kleinen, aber mit sechs Profis vollkommen besetzten Operettenballett: die Trikotmädels (mit denen Kálmán seine berühmteren Mädis vom Chantan parodierte) tragen zuerst Haarbekrönungen wie aus Bonbonpapier, bevor sie im dritten Akt, dem Hotel-Akt, sehr reizend als Kellnerinnen und Serviermädel paradieren.

Und die Choristinnen, die weder an die Uraufführungskleidung der 20er noch an die Spielzeit von 1912 erinnern, sondern sich noch ein bisschen im glänzenden Fin de Siècle tummeln (übrigens mit einem hauchzart-charmanten Anklang an die Wiener Moderne), tun ihr Bestes, um zusammen mit den „schneidigen“ Offizieren und Husaren (berühmter Marschchor!) den Geist der Operettenwelt von anno 1900 auf die rohe Bühne zu holen. Den Rest erledigen die zwei zurückhaltend und poetisch erscheinenden Weißclowns, die auf mit ihren Pantomimen das Glück und das Unglück des Operettenpaares geschmackvoll akzentuieren.
Musikalisch aber ist das Werk so tief in den Zwanzigern angesiedelt, sodass das Wort von der angeblich verstaubten Operette fehl am Platz ist. Schlager mit Unsinnstexten – ein Spezialfach der Operettenbuchfabrik Brammer und Grünwald -, ein ungarischer Shimmy, Foxtrottrhythmen: da ist vor allem das „niedere“ Paar zuhause, das auch a bissl „obszöner“ agieren kann - also ganz im leicht „frivolen“ Geist der modernen Kálmán-Operette (für die auch ein offensives Hinternschwenken der Dame einsteht. Der Szenenapplaus sollte nicht mit der politisch korrekten Lupe betrachtet werden). Für die herzbewegenden Sentimentalitäten, die tiefen Gefühle im Takt eines schön gemachten, getanzten und gesungenen Walzerduetts ist ja traditionell das „hohe Paar“ zuständig. Susanne Hellberg aber ist eine ganz entzückende Wiener Soubrette, die zusammen mit David Hojsak als Toni (dem pseudoadligen Sohn des „Erzherzog Karl“) einfach ideal agiert. Wunderbar, mit welcher Leichtigkeit die beiden akrobatisch begabten Sänger den immer noch zündenden Witz der „niederen“ Gesellschaftsklassen bringen, den die Librettisten ihren Rollenvertretern einschichtig-lustvoll auf den beweglichen Leib und in die frechen Kehlen schrieben.

Bleiben zu loben: Viktor Schilowsky, der mit ausgesprochen authentischer Aussprache den komisch aufgeregten Fürsten Sergius Vladimir macht, der sich, ein bisschen wie der Oberst Ollendorf im „Bettelstudenten“, für die Schmach der Zurückweisung durch die Operettendiva rächt. Sehr komisch, weil sehr trocken, agiert der Komiker, also der Oberkellner Johann Pelikan: Peter Erdelyi lässt die (mögliche) Erinnerung an den Uraufführungs-Pelikan Hans Moser erst gar nicht aufkommen. Sylvia Denk ist eine wunderbar wienerische, halb raunzende, halb sentimentale Clara Schlumberger, die das Liebesglückerl ihres Sohnes schließlich mit einer sentimentalen Erinnerung legitimiert: ist doch die Frau ihres Sohnes rein zufälligerweise die Tochter des Mannes, den sie einst geliebt hat. Ui jöh...
Auch die Operette ist ein Genre, das man lieben muss, wenn Werke wie „Die Zirkusprinzessin“ gut gemacht werden. Letzten Endes muss auch die Operettenbühne Wien nicht auf ein authentisch spielendes Orchester verzichten: Dorian Molhov sieht mit Dinnerjackett und Sonnenbrille zwar nicht aus wie ein „typischer“ Dirigent – aber er hat das gar nicht so kleine Orchester gut unter Kontrolle: samt ungarischer Klarinette, Roaring-twenties-Schlagwerk und Altwiener Geigen. Ein Stück Wien, exportiert in die Tiefen des Fichtelgebirges – auch so kann ein Werk, das einst im „Bayreuth der Operette“ uraufgeführt wurde, in der Nähe der Festspielstadt seine bezwingende Lebendigkeit beweisen: mit einem äußerst harmonischen Ensemble von Sängern, Musikern, Tänzern und einem Regisseur, der sein Handwerk versteht.
Wer angesichts der relativ sparsamen Dekoration und der überzeugenden Sänger und Spieler den „Glanz“ vermisste, hat einfach nicht hingehört. Mehr ist für Kálmáns schönes Stück (an das die Librettisten selbst aufgrund der dramaturgischen Verwandtschaft zur vorangegangenen „Mariza“ nicht ganz geglaubt haben) vielleicht nicht zu machen.
Frank Piontek 18.8.14
Fotos: Hannes Bessermann (Luisenburg-Festspiele) und Claudius Schutte. Die Fotos zeigen nicht durchgehend die Hauptrollensänger der besuchten und besprochenen Vorstellung. Nicht abgebildet werden konnte Csaba Fazekas als Mr. X.