DRESDEN KONZERTE
8. 10. 2022 Konzertsaal des Kulturpalastes Dresden
Dresdner Philharmonie mit konzertantem „Siegfried“
Marek Janowski setzt die Ring-Aufführung der DD-Philharmonie fort
Von den Segmenten des „Ring des Nibelungen“ hat „Siegfried“ die komplexeste Entstehungsgeschichte. Als der 30-Jährige Richard Wagner im Jahre 1843 beim Kuraufenthalt in Teplitz erste Berührungen mit Jacob Grimms „Deutsche Mythologie“ hatte, faszinierte ihn bereits neben Wotan und den Walküren die Person Siegfrieds.
Die aus Meißen stammende Dichterin und spätere Frauenrechtlerin Luise Otto-Peters (1819-1895) entwickelte 1844 erste Ideen für eine große heroische Oper über die Nibelungensage und trug den Entwurf auch dem, von ihr verehrten Hofkapellmeister zur Vertonung an. Der selbstbewusste Wagner lehnte ab und meinte, wenn er den Stoff aufgreifen werde, wird er selbst dichten.
Er begann auch in den Folgejahren, sich ernsthaft mit den mittelalterlichen Dichtungen zu beschäftigen und hatte 1848 Prosaentwürfe und eine Dichtung „Siegfrieds Tod“ sowie ein Ring-Konzept auf dem Papier. Das war noch in Dresden, so dass wir in Sachsen in den Naturschilderungen eher die Elbe statt des Rheins zu erkennen glauben.
Im Züricher Exil entstanden bis 1851 eine Prosa-Skizze und die Urschrift „Der junge Siegfried“.
Im Zusammenhang mit der Walküre-Dichtung kam es dann im Folgejahr zum Entschluss, „Siegfrieds Tod“ den „Jungen Siegfried“ voran zu stellen.
Es entstanden bis zum Dezember 1856 die Kompositionen des „Rheingoldes“ und „Die Walküre“.
Der Kopfeintrag der Siegfried-Orchesterskizze trägt das Datum 22. September 1856 und der Partitur-Reinschrift den 12. Mai 1857.
Aus uns bekannten Gründen unterbrach Richard Wagner im Juni 1857 mitten im zweiten Akt die Arbeit am „Siegfried“ und konzentrierte sich auf den Text und in der Folge auf die Fertigstellung von „Tristan und Isolde“.
Eine 1845 in Marienbad geschaffene Skizze wurde im Anschluss zu den „Meistersingern von Nürnberg“ zwischen geschaltet.
Erst vom Ende September 1864 gibt es einen Eintrag über die Weiterführung in der „Siegfried-Partitur-Reinschrift“ sowie am Ende des Jahres 1865 die Vollendung des zweiten Aufzugs.
Diesem Zwischenabschluss folgte eine weitere Unterbrechung der Arbeit am „Siegfried“ bis zum März 1869, der in Hinsicht auf bestimmte Stilelemente im dritten Aufzug besondere Bedeutung zugemessen wird.
Die Arbeit am dritten Aufzug war offenbar 1869 abgeschlossen. Die Vollendung des „Siegfried“ wurde aber offenbar gegenüber dem König Ludwig II. bis 1871 unter Verschluss gehalten, um den Befehl bezüglich einer vorzeitigen Aufführung analog des „Rheingolds“ und der „Walküre“ auszuschließen. Denn bereits am 2. Oktober 1869 begannen die Arbeiten an der Götterdämmerung.
Den Abschluss des „Siegfrieds“ hat Wagner noch am 27. März 1872 verleugnet.
Wenn es bei den Musikern der Dresdner Philharmonie bei den Aufführungen des „Rheingoldes „ und der „Walküre“ noch Reste von Nervosität und, ob der Größe der Aufgabe, noch mangelndes Selbstbewusstsein gegeben haben sollte, so waren diese bei der konzertanten Aufführung des „Siegfried“ überwunden. Das Orchester hatte weitere Statur gewonnen und steigerte sich zum dritten Aufzug.
Guten Rhetorikern gleich, konnten Marek Janowski und das ihm verschmelzende, blind vertrauende Orchester differenzierende Stimmungen erzeugen. Ohne Verständnisprobleme wechselte Janowski von der Darstellung von Missgunst, Mord, Allmachtsgehabe, Ernüchterung und Resignation zu „leuchtender Liebe, lachendem Tod“.
Dabei konnte der Dirigent der Partitur immer wieder Feinheiten und neue Aspekte entlocken, so, als habe er Wagners letzte Geheimnisse verstanden. Im dritten Aufzug waren insbesondere von den Streichern scheinbare Nichtigkeiten zu hören, die uns eine Darbietung aus dem Graben zwangsläufig vorenthalten muss. Trotz seines flotten Tempos unterschlug uns Janowski keines der Details.
Die, ob der Komponier-Pause doch etwas anders geartete Musikalität des zweifelsfrei schönsten, des dritten Aufzugs konnte Janowski mit guter Wirkung kompensieren.
Die Anordnung des Orchesters hinter den Singenden, nur Fafner und der Waldvogel durften sich vom ersten Seitenrang artikulieren, ermöglichte, das der Gesang von der Orchesterwucht in das Publikum regelrecht getragen wurde.
Vincent Wolfsteiner verwöhnte die Titelpartie mit einer durchsetzungsfähigen Höhe, ausnehmend schöner Mittellage und in der Tiefe, ohne uns den metallischen Anklang seiner Stimme vorzuenthalten. Souverän ging er in den schnellen Passagen der ersten Aufzüge Janowskis Tempo mit, ohne seine Textverständlichkeit zu vernachlässigen.
Die Brünnhilde, uns von Wagner bis zum dritten Aufzug leider entzogen, war von Catherine Forster mit sichtbarer Freude und Souveränität gesungen worden. Mit Durchschlagskraft ließ sie ihre dunkelgoldene Stimme zur Gestaltung einer selbstbewussten Frau entfalten.
Einen überzeugenden Wanderer-Wotan mit trocken-markantem Schmelz in seiner warmen Stimme und einer glänzenden Textverständlichkeit offerierte uns der lettische Bariton Egils Silins. Ohne Schnörkel, geradlinig blieb er selbst in der Niederlage überzeugend.
Ihm partnerschaftlich erfreute auch die Erda. Mit schöner Stimme und souveräner Stimmführung glänzte Wiebke Lehmkuhl mit ihrem eindringlichen Rollenportrait.
Der Zwerg Mime von Jörg Schneider war der üble Kerl, dem auch übel mitgespielt wird. Mit näselnder, zänkischer Stimme spielt er seine Hinterlist auf das glaubwürdigste.
Ein ausdifferenziertes Portrait des Alberich konnte Jochen Schmeckenbecher mit seiner Kraft, Bosheit und Machtgier, dabei nicht ohne Ängstlichkeit einschließlich auch einer gewissen Menschlichkeit, abbilden.
Auch Rúni Brattaberg wusste seinen prachtvollen Bass als Fafner von der rechten Ecke der Chorempore aus, in Stellung zu bringen.
Mit einer jungen, flutenden, biegsamen Sopranstimme erfreute vom rechten Seitenrang mit Christina Landshammer ein bezaubernder Waldvogel.
Zu einem Höhepunkt des Abends gestaltete die Solo-Hornistin der Dresdner Philharmonie Sarah Ennouhi mit ihrer Interpretation von Siegfrieds Hornruf.
Fazit dieses vorletzten Abends des „konzertanten Dresdner Ringes“: dieses Format ist eigentlich im Zeitalter des überbordeten Regietheaters die authentische Möglichkeit, Richard Wagners Intensionen einem aufgeschlossenem Publikum nahe zu bringen.
Begeisterter, lang anhaltende Bravorufe und stehende Ovationen machten den Abend zu einem Erfolg für die beteiligten.
Nachtrag: Intensive Marketingarbeit der vergangenen Woche unter der Dresdner Studentenschaft hatte mit einem 15-Euro-Ticket die gröbsten Lücken im Publikum gefüllt. Leider dünnte sich das nach der ersten Pause wieder aus. Wenn aber nur eine Handvoll der Konzertaspiranten Geschmack an der Hochkultur fänden, wäre schon ein Erfolg akzeptabel.
Thomas Thielemann
© Oliver Killig
Thomas Thielemann, 11.10.22
Konzerte am 30. September und am 2. Oktober 2022
Marek Janowski mit konzertanten „Rheingold“ und „Die Walküre“ in der Dresdner Philharmonie
Der 1939 in Warschau geborene aber in Wuppertal aufgewachsene Dirigent Marek Janowski ist einer der wenigen Wagnerinterpreten, von dem gleich zwei Gesamteinspielungen des „Ring des Nibelungen“ existieren. Vom Dezember 1980 bis zum April 1983 spielte er mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden und einem hochkarätigen Solistenensemble das Werk Richard Wagners (1813-1883) im Studio „Lukaskirche Dresden“ als Co-Produktion des VEB Deutsche Schallplatten mit Ariola-Euro Disk erstmals digital ein.
Die grandiosen Sängerinnen, wie Jessye Norman, Jeannine Altmeyer, Ortrun Wenkel und Sänger wie Theo Adam, René Kollo, Peter Schreier, Matti Salminen, und Siegfried Jerusalem sowie die prachtvolle Sächsische Staatskapelle unter Janowski machten die Aufnahme für viele Wagner-Freunde bis heute zu einer Referenzeinspielung. Für uns war damals der Erwerb der vier Kassetten mit den drei bzw. fünf Langspielplatten ein finanzieller Kraftakt, zumal die hart erarbeitete Sendung nach einmaligem Hören zu Mariannes Patentante, einer leidenschaftlichen Wagner-Verehrerin, in den Schwarzwald ging und gegen Dinge des täglichen Bedarfs eingetauscht wurde. Aber inzwischen können wir uns mit den CD- Bearbeitungen der LP-Einspielungen von RCA/Sony trösten. In den Jahren 2012 und 2013 hatte Marek Janowski für das Premium-Label Pentatone Classics bei vier Konzertanten Aufführungen mit dem Rundfunksinfonieorchester Berlin in der Berliner Philharmonie eine „Ring-Gesamtaufnahme“ in der Multi-Kanal-Technik SACD eingespielt. Dem Maestro wurde nachgeredet, er habe bei den Berliner konzertanten Aufführung vor allem Wert auf eine glänzende orchestrale Durchdringung des Wagnerschen Opus gelegt. Dieser Verdacht erhärtete sich auch, als er in den Jahren 2016 und 2017 als spätberufener Debütant im Bayreuther Festspielhaus als eine Art Einspringer von Kirill Petrenko die Dirigate der Ring-Inszenierung von Frank Castorf übernahm. Der bekennende „Eiferer wider des Regie-Theaters“ hatte das Primat der Urgewalt der Wagnerschen Musik behaupten lassen, sich wenig um das Bühnengeschehen gekümmert und die Tempi des „Ringes des Janowski“ durchgezogen. Und die Festspielbesucher hatten das hingenommen, auch wenn es vereinzelte Buh-Rufe zu Janowskis Dirigat gegeben hatte.
Mit Beginn der Saison hat Marek Janowski seine letzte Spielzeit bei der Dresdner Philharmonie begonnen. Von 2001 bis 2003 war er, und seit 2019 ist er Chefdirigent des Orchesters. Als eine Art Abschiedsgeschenk wollte er jedem Musiker des Orchesters die Möglichkeit geben, zumindest einmal in seinem Berufsleben Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ als Gesamtheit mitgespielt zu haben. Eventuell wollte Marek Janowski auch die begrenzte Klangentwicklung der im Dezember 1980, im August 1981, im März 1982 und im April 1984 im Anschluss an die Schallplattenaufnahmen in der „Vorgänger-Mehrzweckhalle“ von dem damals Mittvierziger dirigierten konzertanten Aufführungen vergessen machen.
Ob unserer selten erfüllten hohen Ansprüche an das Regietheater im Opernhaus sind wir zunehmend zu begeisterten Anhängern konzertanter Opernaufführungen geworden. Die ausschließliche Konzentration sowohl der Agierenden als auch der Hörenden auf das Musikalische lassen immer wieder Sternstunden im Konzertalltag erreichen. Eine Darbietung, die das Szenische ausblendet oder nur andeutet und das Musikalische schärft und in den Vordergrund stellt, kann näher an das Kunstwerk führen, auch wenn das zunächst paradox erscheinen mag. Wagner hatte das enorme Orchester nicht nur wegen eines gewaltigen Klangeindrucks entwickelt. Die monströse Instrumentenausstattung soll vor allem subtile Partiturstellen auch differenziert zum Hörer bringe. Das aber ist letztlich nur über die direkte Konfrontation des Orchesters mit den Hörenden zu erreichen und mit Musik aus dem Graben nicht realisierbar. Dabei ist gerade in unserer Zeit auch der Verzicht auf Bebilderung und optisch wahrnehmbare Interpretation unter Umständen auch eine Kostenfrage, insbesondere wenn es um eine geringe Anzahl von Aufführungen geht. Selbst Richard Wagner klagte im Angesicht des Aufwandes an Kostümen und Bühnenausstattung in einem schwachen Moment: „… nachdem ich das unsichtbare Orchester erschaffen, möchte ich auch das unsichtbare Theater erfinden“.
Nicht ohne Grund zog sich Janowski in den neunziger Jahren vom Hamsterrad des Opernbetriebs zurück und setzt mit seinen konzertanten Darbietungen der Musikdramen Wagners ein Gegengewicht zu den szenischen Extremen der Bühne.
Die Orchesterouvertüre des „Rheingold“ ließ die Hörer am 30. September bereits in der Schönheit der Wagnerschen Komposition eintauchen. Janowski setzte auf Präzision und Durchsichtigkeit, verzichtete auf Pathos, fasziniert mit einem zupackenden, kräftig akzentuierten, dramatisch angeheizten Dirigat. Auch war ein Glücksfall des Abends, dass den Sängerinnen und Sängern der Abende die Charakterisierung der Wagnerschen Figuren, unabhängig von der Größe der Rolle, hervorragend gelang. Die Solisten waren um das Orchester herum angeordnet, schlossen die Musiker gewissermaßen ein. Die koketten Rheintöchter, von Marek Janowski links hinter das Orchester verortet, waren mit den Altistin in Christina Landshamer und Christel Loetzsch sowie der Mezzosopranistin Roxana Constantinescu vokal besten aufeinander abgestimmt, dabei doch individuell unterscheidbar. Mit seiner Alberich-Darbietung zeigte Jochen Schmeckenbecher ein Glanzstück baritonal-ausdrucksvoller Rollengestaltung. Sowohl als verhaltensgestörter geiler Laffe beim Liebesverlust, als auch als Machthaber über dem Nibelungen-Arbeitsvolk sowie mit seinem markerschüttertem Fluch, nachdem ihm der Ring entrissen worden war, bot er die Versagerfigur des Alberich stimmlich mit höchster Intensität.
Jovial, herablassend gegenüber Fricka und arrogant gegen die Riesen war der Wotan Egils Silins stimmlich und der Rolle entsprechend dem Alberich ein kongenialer Gegenspieler. Wie infam sein Wotan den Loge Christian Elsners benutzt, um in den Besitz des Ringes zu kommen war schon beeindruckend. Christian Elsner erledigte seine Aufgaben gern und ohne Skrupel mit einem exzellenten farbenreichen Tenor. Die Mezzosopranistin Marina Prudenskaya agierte als Fricka in ihren Einforderungen an Wotan, bezüglich dessen ehelicher Untreue, etwas zu milde, obwohl ihre flexible Stimme durchaus Aggressivität bieten konnte. Eine ergreifende Charakterstudie der Hilflosigkeit zeigte die auf den linken Podest-Rand verbannte Regine Hangler als eine hervorragend singende Freia.
Das Riesen-Paar, der in Kuwait geborene Tareq Nazmi als Fasold und der von den Färöer-Inseln stammende Rúni Brattaberg als Fafner, beide mit beeindruckenden Bass-Stimmen ausgestattet, sicherten aus ihrer Position im ersten Rang ihre Besonderheiten: Fafner grob und gemein, Fasold eher mit Gefühlen für Freia sowie Bemühungen um Ausgleich. Die Göttergeschwister Froh von Bernhard Berchtold und Donner von Markus Eiche schmetterten ihre stimmgewaltigen Beiträge vom rechten Podest-Bereich. Als vor Angst schlotternder Mime hatte Jörg Schneider einen, die Figur in das Geschehen des Ring-Gesamtwerkes eingebringenden, überzeugenden Auftritt. Von der oberen Mitte des Chores, hinter dem inzwischen ruhenden Nibelungen-Arbeitsvolk, meldete sich eine mahnende Wiebke Lehmkuhl –Erda. Mit volltönender Altstimme ließ sie nachdenkliche Momente in der konfliktbelasteten Handlung einfließen, bevor Meister Janowski den Einzug der Götter nach Walhall in seinem vollen Glanz entfaltete.
Für die konzertante Darbietung am 2. Oktober 2022 war „Die Walküre“ der am besten geeignete Teil des „Ringes“. Dieser Teil der Tetralogie verfügt über die spannendste Orchesterdramaturgie und entwickelt hinsichtlich der Handlungsentwicklung am Ende des ersten Aktes eine gewaltige sinfonische Komponente. Die Rollenverteilung ist überschaubar und psychologisch klar definiert, so dass, eine sängerisch beeindruckende Darbietung vorausgesetzt, das Gegenstück der Opernbühne kaum mehr zu bieten hat. Nun war aber das Aufgebot in der Dresdner Philharmonie der Singenden regelrecht gigantisch: Da war das Geschwister-Paar. Spannend konnten Emely Magee und Vincent Wolfsteiner mit vokalen Mitteln die tiefe Verzweiflung, die Erkenntnis der Geschwisterliebe, die Euphorie der Befreiung mit vokalen Mitteln des Paares vermitteln, obwohl beide rechts und links vor dem Dirigenten auf Abstand gehalten worden waren.
Den Siegmund offerierte uns der Tenor mit reifer, charaktervoller Stimme, deren leidenschaftliche vokalen Aufschwüngen durch kammermusikalische Intimität relativiert wurde. Die Sopranistin Emily Magee entwickelte vor allem im zweiten Akt höchste Emotionalität. Nur wenige Sängerinnen werden die Sieglinde so vollendet, stimmlich packend und mitfühlend in ihrer Verletzlichkeit darstellen.
Mit tiefer Schwärze hatte der Bassist Tareq Nazmi seinem Hunding eine beklemmende Bühnenpräsenz vermittelt. Grantig und toxisch, nicht ohne Subtilität meldete er seine Ansprüche und Positionen vom rechten Bühnenrand.
Höchste Bewunderung verdient der Wotan-Darsteller Egils Silins. Mit seiner warmen, biegsamen Stimme, einer ungebrochenen Intensität und Ausdauer füllte er die lyrischen Räume von der Verteidigung gegenüber Fricka, die Strenge gegenüber seiner Lieblingstochter Brünnhilde bis zu deren Verabschiedung aus. Die ausufernden Monologe mit seinen Dilemmata gestaltete Silins zum besonderen Erlebnis und ließ dabei durchaus menschliche Aspekte zu hören. Mit eisiger Kälte zerstörte ihm die Fricka der Marina Prudenskaya unter dem Vorwand ihrer amtlichen Befugnisse die Möglichkeit, mit Siegmund einen potenten Gegner zu Alberich zu schaffen und somit den von Fafner bewachten Macht- sichernden Ring zu erobern.
Nicht verhindern konnte Fricka, dass die mit einem leuchtend-kraftvoll ausgesungenen Kraftfeld aufwartende Brünnhilde der Catherine Forster die verzweifelte Sieglinde mit dem inzestuös gezeugten Siegfried-Fötus rettete. Frisch, unangestrengt und sauber wurden die schwergewichtigen Hojotoho-Rufe intoniert, ergreifend ihre Todesverkündigung geboten und, durchaus selbstbewusst-fordernd, mit klarer perfekt phrasierender Stimme das Annehmen der Strafe akzentuiert.
In diesem Kraftfeld konnten die acht Walküren von der Brüstung des linken Seitenranges ihre individuellen Fähigkeiten unter optimalen Bedingungen entwickeln sowie mit geballter Stimmkraft aufwarten. Mit der Helmwige der Regine Hangler, der Gerthilde von Hailey Clark, der Ortlinde der Miriam Clark, der Siegrune von Valentina Kutzarova, der Roßweiße von Roxana Constantineseu, der Schwertleite von Christel Loetzsch und der Grimgerde von Christina Bock waren auch ordentliche Schwergewichte aufgeboten worden. Die eigentliche Sensation beider Abend waren aber die Musiker der Dresdner Philharmonie unter Marek Janowski. Die gewaltig besetzten Instrumentengruppen musizierten hochkonzentriert und setzten mit sichtbarer Begeisterung die Janowski-Forderung der Ultra-Präzision mit betörenden Einzel- und Gruppendarbietungen um. Dem Dirigenten gelang, mit seinen Interpreten sowohl transparenten als auch homogen-dramatischen Orchesterklang auf höchstem Niveau zu schaffen. Sauber intoniertes Blech, die kraftvoll tönenden sechs Harfen, das Cello-Solo im ersten Akt sowie unzählige detaillierte Ausführungen und dynamische Tempoabstufungen machten den besonderen Blick vom Mittelrang in „den Maschinenraum der Orchesterklangentstehung“ zu einem besonderen Erlebnis. Außer den Besonderheiten der Wagner-Tuben stellte der Orchestergast Kristof Lehmgrübner diskret am Podestrand ein extrem langes „Stierhorn“ vor. Die direkte Klangkonfrontation ließ uns eine Vielzahl von Details aus dem Getriebe des Wagnerschen Klangzaubers erleben, die uns ein im szenischen Ring üblicher Klangbrei aus dem Graben vorenthält oder eine Ablenkung auf das Visuelle entgehen lässt. An nur wenige musikalische Ereignisse können wir uns erinnern, bei denen sich Werktreue, Professionalität und künstlerische Besessenheit auf das Vollkommenste ergänzten.
Nach einer wohltuenden Pause setzten frenetische stehende Ovationen für die Singenden, die Musizierenden und vor allem für den sichtlich angegriffenen Maestro ein und ließen die Erwartungen auf die kommenden vierzehn Tage steigern.
Für uns, die im Laufe der Jahre mehrfach den „Ring des Nibelungen“ in gelungenen oder auch problematischen szenischen Aufführungen erlebten, erschien Marek Janowski als ein Restaurator, der unter der Übermalung eines Gemäldes das vom Maler ursprünglich geschaffene Werk offenbart. Uns hat er an den Abenden im Konzertsaal des Kulturpalastes einen neuen und eventuell den wahren Richard Wagner nahe gebracht.
Autoren der Bilder: © Oliver Killig und © Markenfotografie (Bild 0)
Thomas Thielemann, 05.10.22
22. September 2022 Konzertsaal im Kulturpalast Dresden
Leonidas Kavakos gratuliert der Staatskapelle am 474. Gründungstag
Am 22. September 1548 unterzeichnete Moritz von Sachsen (1521-1553) die Gründungsurkunde der Kurfürstlichen Kapelle
Der Leipziger Bürger-Kantor Johann Sebastian Bach (1685-1750) hatte eine doch etwas ironische Distanz zum höfischen Dresdner Musikleben. Als er 1731 im Zusammenhang einer Orgelkonzert-Reise am 13. September mit seinem Sohn Wilhelm Friedemann (1710-1784) im „Großen Opernhaus“ am Zwinger die Uraufführung der Oper „Cleofide“ von Johann Adolph Hasse (1699-1783) besuchte, soll er dem jungen Begleiter „Da wollen wir mal die Dresdner Liedchen hören“ zugeraunt haben.
Das hatte zwar Bach nicht gehindert, sich 1733 in Hinsicht auf die gegenüber Leipzig komfortableren Arbeits- und Lebensbedingungen mit einer katholischen Messe in h-Moll, heute als Urfassung der h-Moll-Messe „Missa BWV 232 I“ bekannt, als „Compositeur bei der Hof Capelle“ zu bewerben.
Aber den Titel als „Königlich Polnischen und Kurfürstlich Sächsischen Hofkapellmeister“ schnappte ihm besagter Hasse im gleichen Jahr weg, so dass Bach erst 1736 von August III. (1696-1763) nach einigen weiteren Huldigungs-Kompositionen den Titel „Königlich Polnischer und Kurfürstlich-sächsischer Compositeur bey Dero Hoff-Capelle“ nebst einem Honorar erhielt.
Die Hofkapelle hat Bach nie dirigiert. Da aber inzwischen die Gepflogenheit, mit den jährlichen Geburtstagskonzerten der „Gesellschaft der Freunde der Sächsischen Staatskapelle Dresden“ am 22. September mit Kompositionen früherer Musiker des Traditions-Klangkörpers an diesen Teil der Orchester-Tradition zu erinnern, verschwunden ist, war es durchaus angängig, das von Leonidas Kavakos gestaltete Konzert mit der Rekonstruktion nach Bachs Cembalokonzert BWV 1052, dem „Violinkonzert d-Moll BWV 1052“ zu eröffnen.
Leonidas Kavakos hatte dazu seine „Willemotte-Stradivari“ von 1734 mitgebracht. Geschaffen wurde das außergewöhnliche Instrument 1734, als Antonio Stradivaris Söhne die legendäre Werkstatt in Cremona bereits führten und er sich ob seiner 90 Lebensjahre Zeit zum Experimentieren nahm. Er vergrößerte die Wölbung des Instruments, um mehr Raum im Korpus für Klangproduktion, Farbe und Klangtiefe zu schaffen. Die Klangbreite des Instruments mit seiner Intensität und der darunterliegenden Dunkelheit kombiniert das Beste der Instrumente Stradivaris mit denen der Werkstatt Guarneris, ohne dabei das Stradivari-typische Zischen in den Hohen Lagen zu opfern. Namensgeber der Geige war der Amsterdamer Violinist Charles Willemotte, auch Wilmotte (1817-1883). Leonidas Kavakos konnte 2017 nach mehreren Anläufen das außergewöhnliche Instrument käuflich erwerben. Vor ihm hatten das Instrument unter anderem der Violinist und Komponist Jean Baptiste Cartier (1765-1841) sowie die deutsche Geigerin Maria Lidka (1914-2013), letztere bis in ihr hohes Alter, gespielt.
Die Ursprünge des BWV 2052 gehen mit einer gewissen Sicherheit auf Bachs Weimarer Zeit zurück. Wahrscheinlich ist Bach von Johann Georg Pisendel (1687-1755) mit Vivaldis berühmten Violinkonzerten bekannt gemacht worden. Ob Bach intuitiv das Potenzial der modischen Gattung erkannte, ist nicht belegt. Zumindest experimentierte er mit dem Genre und schuf mit dem „Violinkonzert in d-Moll“ mit vielen Saitenkreuzungen und offenen Saitentechniken eine derartige technische Herausforderung, die nur wenige Geiger bewältigen konnte und damit kaum interessierte, so dass das Notenmaterial verloren ging.
Da aber Bach seine einmal gehabten musikalischen Ideen immer wieder einsetzte, hat er seine Weimarer Melodie in den Kantaten BWV 146 und 188, sowie im Leipziger Collegium Musicum, wo er oft Cembalo-Soli spielte, eingebracht. Möglicherweise hat er die Tonfolge 1724 auch auf einer der Dresdner Silbermann-Orgeln vorgestellt. Bachs Sohn Carl Philipp Emanuel hat 1734 eine Partitur der Orchesterstimmen (BWV 1052a) erstellt, der später auch eine Cembalo-Stimme hinzugefügt wurde.
Carl Philipp Emanuels Arbeit bot eine gute Grundlage für Rekonstruktionen des d-Dur-Violinkonzertes seines Vaters.
Im Konzertleben des 19. und frühen 20. Jahrhunderts etablierten sich Bachs Violinkonzerte nur zögerlich. Die Weiterentwicklung der zu Beginn des 18. Jahrhunderts aus Italien übernommenen Concerto-Form durch Johann Sebastian Bach beruhte auf der motivisch-thematischen Einbeziehung der Solostimme in das Orchester sowie die kontrapunktische Durcharbeitung des Satzgeschehens, was erst nach und nach Anerkennung fand.
Im Konzert stellte Leonidas Kavakos die von dem Musikwissenschaftler, Musikpädagoge und Dirigent Wilfried Fischer für die „Neue Bachausgabe“ editierte Rekonstruktion des „d-Moll-Konzertes BWV 1052 für Violine, Streicher und Basso continuo“ vor.
Impulsiv, erfrischend, ohne ehrfurchtsvolle Erhabenheit und mit makelloser Intonationssicherheit näherte sich Leonidas Kavakos mit den Musikern der Sächsischen Staatskapelle dem Kopfsatz-Allegro der Bach-Rezeption.
Das Adagio intonierte Kavakos betont konzentriert und langsam. Mit subtil-feinsten Abstufungen wurden die Feinheiten der Komposition ausgelotet. Der Solist stand mit dem Farbenreichtum seiner „Willmotte“ im Vordergrund und ließ dem Streichorchester und dem Basso continuo wenig Raum.
Erst mit dem abschließenden Allegro gab der Solist mit einer Öffnung seiner Virtuosität auch den Streichern des Orchesters die Gelegenheit, ordentlich gegenzuhalten.
Im zweiten Teil des Konzertes interpretierte Leonidas Kavakos mit Musikern der Staatskapelle von Sergej Prokofjew (1891-1953) dessen Erste Symphonie D-Dur, die „Symphonie classique“.
Drei sinfonische Versuche benötigte der junge Komponist, ehe er seine erste Symphonie D-Dur als sein Opus 25 der Öffentlichkeit 1918 vorstellte. Sein erster Versuch von 1902, als er im Alter von elf Jahren unter Anleitung von Reinhold Glière (1875-1956) eine Symphonie in G-Dur schrieb und sein zweiter Anlauf von 1908, als er sich mit einer e-Moll- Komposition versuchte, blieben unveröffentlicht. Die fünf knappen Sätze der Sinfonietta A-Dur blieben von 1909 bis zu einer ersten Überarbeitung 1914 sowie der Erst-Publikation 1915 liegen. Und auch erst nach einer weiteren gründlichen Revision im Jahre 1929 erhielt die Sinfonietta ihre endgültige Opuszahl 48.
Während im Jahre 1917 in Russland die heftigsten gesellschaftlichen Umbrüche stattfanden, wurde das Jahr für den Komponisten Prokofjew zur produktivsten Zeit. Es wurde zwar berichtet, dass er die revolutionären Umbrüche im Februar 1917 begrüßt habe, aber offenbar waren ihm die Umstände der Doppelherrschaft der Kerenski-Regierung und der Sowjets unklar geblieben.
Er zog sich in die Ruhe des von seinem Vater verwalteten Landgutes zurück und arbeitete liegengebliebene Projekte auf. Er beendete die beiden seit 1907 begonnenen Sonaten op. 28 und op. 29, schrieb an den 20 „Visions Fugitiver“ nach einem Gedicht von Konstantin Balmont (1867-1942), vollendete das 1916 begonnene D-Dur-Violinkonzert Nr. 1 und schuf auch endlich seine erste Symphonie D-Dur op. 25, die „Symphonie classique“.
War es ein Ignorieren der russischen Situation, die Sehnsucht zu vergangenen Zeiten oder was sonst: jedenfalls entschloss sich der 26-Jährige Komponist, eine Symphonie zu komponieren, die dem Gefühl der Zeit Haydns und Mozarts nahe kommen solle ohne dabei seine eigene Handschrift zu verleugnen. Mit vier knapp gehaltenen Sätzen nahm Prokofjew Bezug auf die alten Zeiten, würzte die Komposition mit witzigen Verfremdungen, baute plötzliche harmonische Wendungen und irreguläre Rhythmen ein. Sobald sich der Hörer seiner Sache sicher fühle, wird er auf liebenswürdige Weise verunsichert.
In den weiteren Teilen des Konzertes war Leonidas Kavakos als Dirigent und Orchesterleiter wirksam. Ohne Dirigentenstab, aber unter effektivem Einsatz beider Arme gab er den Orchestermusikern klar artikulierte Anweisungen.
Mit dem Kopfsatz betonte Kavakos das ironisch-provokative der Komposition, während mit dem ausgewogen Melodischen des Largetto die besondere Spannung und die Prägnanz der Symphonie verdeutlicht wurde. Dem folgten das Tänzerische der Gavotte und der dann richtig aufgedrehte turbulente Finalsatz, der dann eher einer Jahrmarkt-Szene, als einem Symphonie-Schluss entsprach.
Zum Abschluss des Konzertes interpretierte Leonidas Kavakos mit den Musikern der Staatskapelle die „Symphonie Nr. 8 G-Dur op. 88“ von Antonin Dvořák (1841-1904). Vor ziemlich exakt drei Wochen hörten wir im gleichen Saal Dvořáks siebte Symphonie d-Moll mit dem Philadelphia Orchestra und dem Dirigat von Yannick Nézet-Séguin. Bei aller Wertschätzung der Gäste aus Übersee, das Gründungskonzert hat uns wieder vor Augen (und vor allem vor Ohren) geführt, mit welch wunderbarem Klang uns die Staatskapelle verwöhnt und welch ausgezeichnete Solisten sie beheimatet.
Besonders gefreute hatte uns, dass Tibor Gyenge das Pult des Konzertmeisters besetzen konnte.
Mit seiner Interpretation der achten Symphonie Antonin Dvořáks betonte Leonidas Kavakos den entspannten Optimismus, die Heiterkeit und ungebrochene Lebensfreude der Komposition. Er animierte die Musiker der Staatskapelle zu filigranem Spiel und legte auf ausgeprägte Piano-Stellen wert, nahm am Schluss des ersten Satzes die Tempi zurück, um die Intimität zu betonen.
Die Kapelle folgte seinen Intensionen mit begeisternder Spielfreude und wunderbaren Solo-Darbietungen. So erreichten uns besonders die gleißend singenden Celli-Passagen, die elegisch-virtuosen Holzbläser-Rubriken und natürlich das wunderbare Solo des Konzertmeisters. Mit Zurückhaltung und ohne zu verkitschen, zwischen Leichtfüßigkeit und verhaltener Schwermut wurde der walzerartige dritte Satz gespielt, bis dann dynamisch die Trompeten die Fanfare des Finales einleiteten. Die Celli mit warmen Kantilenen und eine hervorragende Solo-Flöte übernahmen, und gaben dem Dirigenten Gelegenheit zu einer gewissen Entschleunigung, bis dann die geballte Kraft der Staatskapelle, keinen Effekt scheuend, mit dem rasenden Furiant den Schluss gestaltete.
Mit frenetischem Applaus dankte das Publikum dem Orchester und vor allem dem Gastgeber Leonidas Kavakos.
© Markenfotografie
Thomas Thielemann 24.9.22
Gastkonzert des Philadelphia Orchestra
featuring Lisa Batiashvili / Dirigat von Yannick Nèzet-Séguin
Der aus Schleswig-Holstein stammende Geiger Johann Friedrich Scheel (1852-1907) war nach Orchestermusiker- und Musikdirektortätigkeiten in Chemnitz 1893 in Bremen mit Hans von Bülow (1830-1894) zusammengetroffen, wo der gesundheitlich angeschlagene Bülow ein aus fünfzig Musikern bestehendes Orchester für Konzerte im Umfeld der Weltausstellung „World´s Columbian Exposition“ in Chicago zusammenstellte. Wahrscheinlich an Stelle des erkrankten Bülows dirigierte Scheel zur Weltausstellung das sogenannte „Hans von Bülow Orchester“.
Nach Orchestertätigkeiten in einem „Imperial Vienna Prater Orchestra“ und einem „San Francisco Symphony Orchestra“ dirigierte Scheel 1899 in einer sommerlichen Konzertserie ein „The New York Orchestra“ in Philadelphia mit einer offensichtlich hohen Qualität. Das begeisterte musikliebende Großbürger der Stadt, dass diese sich zu einer „Philadelphia Orchestra Association“ zusammen schlossen und Scheel mit dem Aufbau eines professionellen Klangkörpers für die von deutschen kulturellen Einflüssen geprägten Millionen-Stadt beauftragten.
Bereits im November dirigierte Fritz Scheel das erste Konzert des „Philadelphia Orchestra“, rekrutierte in Europa auf zwei Reisen 1901 und 1902 weitere fähige Musiker. Bereits vier Jahre später kam es mit dem Gastdirigat von Richard Strauss zu einem ersten Kontakt des Ensembles mit einem Weltstar. Zwei Jahre später präsentierte der junge polnische Pianist Artur Rubinstein (1887-1982) sein Können mit dem Orchester.
Im November 1909 dirigierte Sergei Rachmaninoff mit dem „Philadelphia“ die amerikanische Erstaufführung seiner zweiten Symphonie und brillierte zudem als Pianist.
Von 1912 an leitete über 23-Jahre der berühmt-berüchtigte Innovator Leopold Stokowski (1882-1977) das Orchester, verschaffte ihm mit dem „Philadelphia Sound“ ein völlig anderes Klangbild und führte es in die Reihe der „Big Five“, der fünf bedeutenden Klangkörper der USA.
Seit dem Jahre 2012 ist der Franko-Kanadier Yannick Nézet-Séguin dem Orchester als Musikdirektor verbunden.
Die Georgierin Lisa Batiashvili spielte im ersten Konzert-Teil mit dem Gastorchester das „Violinkonzert Nr. 1 op. 35“ des polnischen Komponisten Karol Szymanowski (1882-1937), das 1916 auf dem Gut eines polnischen Mäzens entstanden und 1922 in Warschau uraufgeführt wurde. Für viele Musikfreund steht das einsätzige Werk mit seinen avantgardistischen Zügen, dem impressionistisch-filigranen Klangfarbenreichtum und der raffiniert-motorischen Rhythmik für eine Zeitenwende der national-polnischen Moderne. Die Harmonien des individuellen Expressionismus hatten sich doch vom spätromantischen Tonalen Mahlers und Strauss deutlich entfernt.
Die Melodien in höchster Lage, die technischen Raffinessen spielte die Geigerin souverän als ein stetes Fließen und entwickelte einen kaum greifbaren Klangteppich. Die erstaunliche Fülle und Komplexität, die Aufruhr exquisiter Harmonien wurden mit scheinbarer Leichtigkeit über Nézet-Séguins orchestralen Hintergrund gehoben. Formal als einsätziges Werk, lassen sich fünf Phasen einer großen Fantasie ausmachen: das „Vivace assai“ bestimmte eine märchenhafte und das „Andantino“ eine leidenschaftlich- gesangliche Interpretation, der ein Scherzo folgte. Ein verklärender Übergang führte zu einem „Vivace“ mit der Kadenz und Rückgriffen auf das Gehörte.
Die Solistin spielte die Violine Cozio-Nr. 61377 aus der Werkstatt von Antonio Gaurneri del Gezù von 1739.
Zum zweiten Stück der Programmfolge:
Auch so etwas passiert in den besten Häusern, wie in der berühmten Pariser Musikerfamilie Viardot: zwei Männer verliebten sich in die Tochter des Hauses. Im Februar 1877 verlobte sich besagte Marianne Viardot (1854-1919) mit dem Komponisten Alphonse Duvernoy (1842-1907), löste kurze Zeit später das Heiratsversprechen und verlobte sich im Juli des gleichen Jahres mit Gabriel Fauré (1845-1924), heiratete dann aber doch Duvernoy.
Der russische Dichter und Meister des melodramatischen Impressionismus Iwan Turgenjew (1818-1883), der seit 1855 in Baden-Baden und Paris lebte, ließ sich vom Verhalten der Marianne Viardot 1881 zu seiner Novelle „Le Chant de l´amour triomphant“ inspirieren:
Ein Musiker, in seiner unglücklichen Leidenschaft für Valeria von dieser verschmäht, lädt diese zu einem Abendessen, bei dem er mit einem geheimnisvollen Wein und einer mit einer indischen Geige vorgetragenen leidenschaftlichen Melodie die Geliebte zurück gewinnt.
Für den belgischen Geiger Eugène Ysaÿe (1858-1931) vertonte der französische Komponist Ernest Chausson (1855-1899) 1896 das Sujet zu seinem „Poème pour violon et orchestra op. 25“ und damit zu seinem bekanntesten Werk.
Wie einen großen sanft dahingleitenden Klangstrom ließ Lisa Batiashvili das Werk des Spätromantikers dahin gleiten und doch ist der Zuhörer gebannt von ihrem tiefenentspannten Espressivo und dem wunderbar leuchtendem Gesangston.
Yannick Nézet-Séguin konnte hier mit seiner Orchesterbegleitung eine von Schwüle und Phrasen ferne kultivierte Farbpalette aufbieten, so dass eigentlich Lust auf mehr Musik des „César Franck-Richard Wagner- Adepten“ Ernest Chausson entstanden war.
Der böhmische Komponist Antonin Dvořák (1841-1904) hat neun Symphonien geschaffen. In den Konzertprogrammen finden sich aber nur die drei letzten Symphonien des Romantikers, und da vor allem seine „Symphonie aus der neuen Welt Nr.9“. Nur gelegentlich trifft man das Adagietto aus der 5. Symphonie als Füllsel im Konzertsaal. Und hätten wir nicht die wunderbaren Einspielungen der frühen Dvořák-Symphonien von István Kertész aus den 1960-er Jahren in den Dicographien, so wüssten wir nicht, welcher Schatz da ungehoben bleibt.
Schaut man sich die Entstehungsjahre der Kompositionen an, so erklärt sich schon einiges. Seine ersten beiden Symphonien komponierte Dvořák 1865 im Alter von 24 Jahren. In den Jahren 1873 bis 1875 folgte in jedem Jahr eine weitere Komposition. 1880 kam mit der sechsten eine folgende Symphonie Dvořáks. Man erkennt zwar von Symphonie zu Symphonie eine Weiterentwicklung des Komponisten, die Initialzündung sicherte Dvořák aber erst seine Freundschaft mit Johannes Brahms und das Hören dessen dritter Symphonie im Jahre 1884.
Der farbenreich, glasklar sezierte lyrische Kopfsatz, die motivisch-melodischen Wandlungen im poco Adagio oder die bis zum extremen Piano eingedämmte Dramatik des Finalsatzes führen die Einstufung Dvořáks als böhmischen Musikanten und Brahms-Adepten ad Absurdum.
Yannick Nézet-Séguin schien auch die geistige Nähe zu Brahms wenig zu interessieren. Er betonte das slawisch fließende der Komposition, ohne sich dabei in breite oder zähe Tempi zu verlieren. Wie aus einem Guss präsentierten sich der Dirigent und seine Musiker, als sie Dvořáks siebte Symphonie mit ausbalancierter Instrumentation und Dynamik darboten. Da reichten Blickkontakt und sparsame Handbewegung, um die freudig Musizierenden in die passende Richtung zu führen. Gelegentlich schoben sich die Anekdoten ins Bewusstsein, dass der Komponist sich in seinem Spleen für Dampflokomotiven habe von deren Arbeits- und Pfeifgeräuschen inspirieren lassen.
Wie bereits am Vorabend wurde das ausgedünnte Publikum erst mit der bekannteren Symphonie Dvořáks richtig warm, spendeten dann aber um so begeisterter den heftigen Applaus.
© Oliver Killig
Thomas Thielemann, 9.9.22
1. September 2022 Konzertsaal im Kulturpalast Dresden
Gastkonzert des Pittsburgh Symphony Orchestra in Dresden
Der Chefdirigent Manfred Honeck stellt sein Orchester mit Hélène Grimaud vor
Am 1. September 2022 eröffnete das Pittsburgh Symphony Orchestra mit einem Gastkonzert im Kulturpalast die Herbst-Saison der Dresdner Musikfestspiele. Der Leiter des Konzertes war der seit 2009 amtierende Chefdirigent des Orchesters Manfred Honeck.
Das Konzert wurde mit einer Bearbeitung der „Fünf Stücke für Streichquartett“ des deutsch-böhmischen Komponisten Erwin Schulhoff (1894-1942) aus dem Jahre 1923 eröffnet.
Schulhoff, Spross einer Prager deutsch-jüdischen Kaufmannsfamilie war lange vergessen. Erst in den letzten Jahren werden seine interessanten Vermittlungen zwischen Jazz und Klassik wieder entdeckt. Als bekennender Kommunist und sowjetischer Staatsbürger, er starb in einem Internierungslager, wird Schulhoff oft auf seine Berührungen mit dem Dresdner Dadaismus und dem Künstlerkreis um Otto Dix von 1919 bis 1922 verkürzt. Aber nur wenige Komponisten waren so breit aufgestellt und derart experimentierfreudig wie Erwin Schulhoff.
Schulhoff setzte große Erwartungen in das revolutionäre Potential moderner Musik und erhoffte eine Erneuerung des zur Dekadenz verkommenden bürgerlichen Musiklebens. In von ihm organisierten „Fortschrittskonzerten“ wurden Alban Berg, Schönberg, Webern und Skrjabin gespielt.
Andererseits fiel er sarkastisch und schonungslos über alle gesellschaftlichen Erwartungen her und schuf Persiflagen von enormer Musikalität, ohne seine eigenen Arbeiten zu schonen.
Die Bearbeitung der „Fünf Stücke für Streichquartett“ für Streichorchester und Schlagzeug Schulhoffs von Manfred Honeck und Tomáš Ille war natürlich neueren Datums. Honeck ließ die Pittsburgher die spannend mit dem Absolutum des Expressionismus verkreuzten Folklore-Bruchstücke „kontrolliert-entfesselt“ spielen und wärmte damit seine Zuhörer auf das Beste für Maurice Ravels „Konzert G-Dur für Klavier und Orchester“ auf.
Ravel (1875-1937) hatte das wohl am aufregendsten instrumentierte Konzert für ein Soloinstrument und Orchester „heiter und brillant zwischen Mozart und Saint-Saens, Jazz und baskischer Folklore“ angeordnet, in den Jahren 1929 bis 1931 geschrieben.
Für das Dresdner Konzert war die Ausnahme-Pianistin Hélène Grimaud als Interpretin des elektrisierenden Werkes gewonnen worden. Sie spielte ihren Part gelockert, lebhaft und entwickelte elastische meditativ entspannte Gelöstheit. Beeindruckend die innige Gestaltung der lyrischen Passagen des Kopfsatzes. Die schier endlosen unmoralischen Schönheiten des zweiten Satzes präsentierte die Solistin zu einem farbenreichen Klangspektakel im Zusammenspiel mit den von Manfred Honeck entspannt eingebundenen Holzbläsern des Orchesters. Besonders eindrucksvoll waren die konzentriert musizierenden Streicher, die einen angenehmen, warmen Klang sicherten.
Als Zugabe erfreute Hélène Grimaud ihr Publikum mit einem Stück aus Sergej Rachmaninoffs Études Tableaux op. 39.
Im zweiten Konzert-Teil präsentierte uns Manfred Honeck das Orchester mit Peter Tschaikowskis (1840-1893) „Fünfter Symphonie e-Moll op. 64“, und damit seinen Klangkörper mit einem häufiger gehörten Werk. Auch kennen wir mehrere Einspielungen Honecks der Komposition mit deutschen und österreichischen Musikern, so dass unser Ohrenmerk auf der Qualität der „Pittsburgher“ gelegt werden konnte.
Die Amerikaner spielten die Symphonie wunderbar knackig, selbstbewusst, spritzig und mutvoll.
Es war eigentlich alles da: Musikalität, Spannung und Kraft. Im Spannungsfeld zarter Sanftheit bis zu machtvoller Gewalt spielten die Musiker präzise, auf den Punkt und setzten Honecks Vorstellungen von einem kaum hörbaren Piano hervorragend um. Das Schicksalsmotiv bot das Orchester mit einem komplex-begeisternden Klangbild. Herausragend kam auch das Horn-Solo zur Geltung. Aber als Staatskapellen-Verwöhnter, konnte ich nur konstatieren, was wir in den Dresdner Orchestern für hervorragende Solisten haben.
Die ersten Sätze spielte das Orchester noch zurückhaltend. Aber besonders im Finalsatz kam die amerikanische Herkunft des Klangkörpers richtig durch.
Das veranlasste das zwar gut gefüllte, aber nicht annähernd ausverkaufte Auditorium zu stürmischen, teils stehenden Ovationen.
© Oliver Killig
Thomas Thielemann, 2.9.22
Datum und Ort des Konzertes: 29. August 2022 Frauenkirche Dresden
Das Mahler Jugendorchester mit Bruckners siebter Symphonie
Das hochrangige Konzert mit dem „Einspringer“ Jukka-Pekka Saraste musste in den Kuppelbau ausweichen
Über Jahre startete die Sächsische Staatskapelle ihre Saison mit einem Gastkonzert des Gustav-Mahler-Jugendorchesters, um den Profis von Morgen im Rahmen der seit 2012 bestehenden Patenschaft eine herausragende Präsentation ihres Könnens zu ermöglichen.
Zu Beginn der Saison musste das Konzert in der bezüglich der Klangentwicklung schwierigen Frauenkirche stattfinden, da sowohl in der Semperoper, als auch im Konzertsaal des Kulturpalastes noch Instandhaltungsarbeiten ausgeführt wurden.
Während die Partituren der Symphonien Anton Bruckners (1824-1896) der Nummer 5 B-Dur aus dem Jahre 1875 und der Nummer 6 A-Dur aus den Jahren 1879 bis 1881 noch ohne Uraufführung in Graz bzw. in Wien schlummerten, erfolgte die Uraufführung der vom September 1881 bis zum September 1883 komponierten 7.Symphonie bereits am 30. Dezember 1884 in Leipzig durch den damals 29-jährigen Kapellmeister des „Neuen Theaters“ Arthur Nikisch (1855-1922) mit Musikern des Gewandhausorchesters.
In Wien hatte die Komposition Bruckners wenig Interesse gefunden, so dass, als 1883 der Pianist und Bruckner-Schüler Joseph Schalk (1857-1900) nach Leipzig gekommen war und er eine „vierhändige Klavier-Bearbeitung von Bruckners Siebter Symphonie“ im Gepäck mitführte, er die Symphonie Nikisch vorstellen konnte. Der Theater-Kapellmeister fing sofort Feuer und verkündete, das Werk zur Aufführung bringen zu wollen.
Mit einem intensiven Briefwechsel zwischen dem sechzigjährigen Bruckner und dem kaum halb so alten Nikisch sowie den Querelen zwischen Gewandhaus und Oper, kamen die Vorbereitungen zäh voran. Kurz vor Jahres Schluss 1884 erfolgte die Uraufführung der Symphonie als Konzert zu Gunsten des Wagner-Denkmalfonds. Bruckner war extra wegen des Konzertes am 27. Dezember in Leipzig angereist.
Eine gedruckte Partitur stand noch nicht zur Verfügung, so dass Nikisch die Uraufführung aus einem „Autograph“, einer Arbeitspartitur Bruckners mit allerhand Überarbeitungen und Anmerkungen von der Hand des Komponisten, dirigieren musste.
Wie heute über diese „Uraufführung“ geurteilt würde und wie zufrieden der Komponist mit Nikischs Interpretation war, kann nur vermutet werden. Der Kritiker der „Leipziger Nachrichten“ Bernhard Vogel schrieb am 1. Januar 1885: „Das Werk fordert die höchste Bewunderung“ Sicher ist, dass Bruckner unzufrieden war, dass in Leipzig keine Wagner-Tuben für die nach Wagners Tod nachkomponierte Coda des Adagios zur Verfügung standen. Die Wagner-Tuba, eigentlich eher eine Horn-Variante, mit ihrem runden, satt-warmen irgendwo zwischen Horn und Posaune angesiedeltem Klang, wird bevorzugt in vierer- oder achter- Gruppen eingesetzt, liefert besondere Hörerlebnisse.
Gesichert ist, dass Nikisch im Adagio den Effekt eines Beckenschlags, unterstützt von Pauken und Triangel, dem ihm zugänglichen Notenmaterials zugefügt hatte und damit in der Bruckner-Rezeption einen regelrechten Glaubenskrieg entfesselte.
Ob der „Beckenschlag“ mit Bruckner abgestimmt war, bleibt unklar. Gesichert ist aber, dass „Beckenschlag, Pauken und Triangel“ mit Bruckners Zustimmung in den von Joseph Schalk sorgfältig überwachten Erstdruck der Partitur der Siebten Bruckners aufgenommen worden ist.
In Leipzig erfolgten bei „Engelmann & Mühle“ das Stechen der Partitur-Druckplatten nach einer „Reinschrift“, die sich heute als „Handschrift 19479“ in der Wiener Nationalbibliothek befindet, sowie wahrscheinlich auch der Druck der Partitur-Noten. Als Verleger des Erstdruckes war der Wiener Konzertagent und Musikalienhändlers Albert J. Gutmann (1852-1915) wirksam.
Die Aufführung seiner siebten Symphonie in München durch Hermann Levi (1839-1900), dabei aber mit Wagner-Tuben, dürfte den Komponisten befriedigt und den Durchbruch der „Siebten“ sowie des Symphonikers Anton Bruckner gesichert haben.
Am 29. August 2022 hatte der finnische Dirigent Jukka-Pekka Saraste die Aufgabe, diesen Monolithen gemeinsam mit dem Gustav-Mahler-Jugendorchester unter der Kuppel der Frauenkirche zu bearbeiten.
Ursprünglich war Herbert Blomstedt als Dirigent dieses Konzertes benannt worden. Ein Unfall des 95-Jährigen zwang ihn allerdings zu einer Konzertpause. Blomstedt als häufig in Dresden gastierender Musiker kennt natürlich die Tücken der Klangverbreitung im Kuppelbau. Wie aber wird sich der designierte Chefdirigent des „Helsinki Philharmonic Orchestra“ mit dem ungewöhnlich langen Nachhall auseinandersetzen können?
Zunächst war es auch beeindruckend, wie der finnische Maestro mit den komplexen Bedingungen zurechtkam.
Fast kammermusikalisch ließ Saraste die Melodie des Hauptthemas des Allegro moderato aus der Tiefe aufsteigen. Erst nach und nach trat das gesamte Orchester hinzu und entwickelte aus der warmen dunklen Streichermelodie eine zurückhaltende gemessene Holzbläserdramatik, ohne dabei zu schleppen.
Die Zurückhaltung opferte zwar manche Feinheit der Partitur, kam aber dem Gesamteindruck entgegen.
Das Adagio stützte Saraste vor allem auf den prachtvoll-üppichen Streicherteppich des Gustav-Mahler-Jugendorchesters und ließ die Bläser nur zurückhaltend ergänzen. Die Wagner-Trompeten konnte man fast nur sehen und auch der ominöse Beckenschlag blieb ein vor allem optisches Ereignis.
Das Vertrauen auf Melodie und Kantabilität der Partitur, die Beschränkung auf den monumentalen Klagegesang mit dem düsteren Beginn und dem feierlichen Ende waren dem Gesamteindruck nur zuträglich.
Ob nun Saraste das wundervolle Ländler-Imitat des Scherzos, das wilde Karussell schöner Details nicht einem zurückhaltenden Rhythmus opfern wollte? Jedenfalls löste er im dritten Satz die Zügel, so dass sich der „Frauenkirche-typische Klangbrei“ aus der Kuppel auf das Auditorium herabstürzte. Ein Aufbranden und Verebben großer Gefühle war mit dem extremen Nachhall einfach nicht zu erreichen.
Zu meinem Bedauern fand Saraste auch im Finale mit der „für den schwerblütigen Bruckner-fröhlichster Musik“ nur begrenzt zum Konzept des Kopfsatzes zurück, so dass für mich der zwiespältige Eindruck blieb.
Den Konzertbesuchern hatte es gefallen, so dass der Dirigent und das Orchester frenetisch gefeiert wurden.
Thomas Thielemann, 1.9.22
Autoren der Bilder: ©Header Large Jukka-Pekka Saraste
©Cosimo Filippini Orchester-Tutti
©Matthias Creutziger Orchesterdetail
13. August 2022 Frauenkirche Dresden
Midori und der „Ruhm von Cremona“
Die japanische Stargeigerin begeht ihr vierzigjähriges Konzertjubiläum
Im Jahre 1963 hatte der italienisch-amerikanische Geiger Ruggerie Ricci (1918-2012), unterstützt von dem polnischen Pianisten Leon Pommers (1914-2001), in einer LP-Einspielung „The Glory of Cremona“ 15 Violinen aus den Cremonaer Werkstätten von Andrea Amati (um 1505-1577), Gasparo da Salo (1540-1609), Nicola Amati (1596-1684), Antonio Stradivari (1648-1737), Carlo Bergonzi (1683-1747) und Guiseppe Guarneri del Gesù (1698-1744) mit Tonbeispielen, die er für die jeweiligen Instrumente für besonders geeignet hielt, vereinigt. Der Gesamtwert der Instrumente würde nach heutigen Schätzungen weit über zehn Millionen US-Dollar betragen.
Diese Besonderheit ergänzte Rucci mit einer 7“- Vinyl mit kurzen Solo-Anspielungen des 1. Violinkonzertes von Max Bruch.
Obwohl mir von Riccis Einspielung nur eine Compact-disk und einige You-Tube-Schnipsel zur Verfügung stehen, folge ich gern den gehäuften Beurteilungen vieler Kenner, dass die Violine „ ex-Huberman“ aus der Werkstatt Guarneris, insbesondere bei den Bruch-Anspielungen, bezüglich Komplexität und Oberklang, der Stradivari-Phalanx den Rang abgelaufen habe. Das Instrument war gemäß Cozio-Archiv-Nummer 40406 vermutlich im Jahre 1731 von Bartolomeo Guiseppi Guarneri, gefertigt worden. Guarneri wurde wegen der IHS-Kennzeichnung (lesum Habemus Socium= wir haben Jesus als Gefährten) seiner Zettel als „del Gesù“ (von Jesus) benannt.
Der wahrscheinlich wichtigste Violinsolist der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Bronisław Huberman (1882-1947), spielte das Instrument vor allem, nachdem ihm 1936 seine Stradivari „ Gilbert ex Gibson“ von 1713 gestohlen worden war. Huberman, der sich selbst als „Pole, Jude, Freier Künstler und Pan-Europäer“ charakterisierte, war der Gründer des Vorlauf-Klangkörpers des „Israel Philharmonic Orchestra“, hatte aber auch 1938 den Boykott der Musik Richard Wagners in Israel durchgesetzt.
Mit dem Versterben des Diebstahl-Hehlers Julius Altmann (-1986) erhielt die Stradivari nach einem halben Jahrhundert anonymer Dienste für Salonmusik- und Orchestereinsätze ihre Identität zurück. Da war aber Huberman bereits fast 30 Jahre tot.
Derzeit wird die Violine als Stradivari „Gibson ex Huberman“ von Joshua Bell gespielt, nachdem er das aufwendig rekonstruierte Instrument für fast vier Millionen US-Dollar ersteigern konnte.
Das nach Aussage von Paul Caswell „Guarneri-Siegerinstrument“ war nach Hubermans Tod vom Instrumentenbauer und Sammler Rembert Wurlitzer (1904-1963) übernommen und 1956 aus dessen Sammlung an Ruggiere Ricci ver-kauft worden.
Zur Geschichte der „Guarneris del Gusì ex-Huberman“ gehört auch, dass Rucci im Jahre 1985 an die Instrumentenbauer Gregg T Alf und Joseph Curtim den Auftrag erteilte, das Instrument mit zeitgenössigen Möglichkeiten nachzubauen. Der gelungene Nachbau wurde 2013 beim Instrumenten-Auktionshaus „Tarisio“ wegen seiner Klangqualität für 132.000 US-$, dem bisherigen Höchstpreis der für eine Violine eines zeitgenössigen Instrumentenbauers erzielt worden ist, versteigert.
Das Original-Instrument „Guarneris des Gusi ex-Huberman“ erwarb um die Jahrtausendwende die „Familienstiftung Hayashibara“ und stellte es der japanischen Ausnahmesolistin Midori lebenslang zur Nutzung zur Verfügung.
Am 30. Dezember 1982 hatte sich die elfjährige Gotö Midori in einem Konzert der New York Philharmonic zum ersten Mal als Violine-Virtuosin öffentlich vorgestellt. Mit einem eisernen Perfektionsstreben, aber immer wieder von Minderwertigkeitsgefühlen und Selbstzweifeln geplagt, entwickelte die junge Frau als „MIDORI“ eine unvergleichliche Solistenkarriere. Nach Krisen von Depressionen und Magersucht-Erkrankungen gelang ihr, immer wieder Stabilität und Zuversicht zu gelangen, so dass sie mit einer Welt-Tournee für das Ende des Jahres ihr vierzigjähriges Bühnenjubiläum vorbereiten kann.
© Jörg Schöner
Am 13. August 2022 hatte sie in der Dresdner Frauenkirche Station genommen, um sich mit dem Violinkonzert D-Dur von Johannes Brahms und der phantastischen „ Guarineri ex-Huberman“ gemeinsam mit dem „Moritzburg Festival Orchester“ zu präsentieren.
Im Jahre 2006 hatten wir in einem Konzert in Braunschweig Midori noch als eine zurückhaltende junge Frau empfunden, die sich dem Dirigenten und Orchester nahezu unterordnete, und ihr Publikum vor allem mit ihrer Virtuosität beeindrucken konnte.
Im vierzigsten Jahr ihrer Konzerttätigkeit erlebten wir eine Solistin, die sich selbstbestimmt neben dem Orchester den Fährnissen der Klangentwicklung im Kuppelbau entgegenstemmte.
Dem Vernehmen nach hat der bekennende Pianist Johannes Brahms (1833-1897) sein Violinen-Konzert im Sommer 1878 in Pörtschach am Wörthersee, wo „die Melodien nur so herumliegen“, geschrieben. Im gleichen Zeitraum entschloss sich der 45-Jährige, der sich bis dahin immer glatt rasiert zeigte, sich künftig nur noch vollbärtig seinen Anhängern zu zeigen. Irgendetwas ist da mit dem Mittvierziger passiert, dessen Erklärung uns die Musikwissenschaft noch schuldig bleibt.
Zumindest wollte der Komponist seinen Versuch eines Violinkonzertes auf einer Tournee vorstellen, aber sein Freund Joseph Joachim (1831-1907) hatte die Sache so gedeichselt, dass das Konzert unbedingt in Leipzig, also in einer damaligen Zentrale der Musikwelt, präsentiert werden sollte.
Brahms hatte sich bei einem Besuch vor dem Konzert verplaudert, so dass ihm nicht ausreichend Zeit zum Umkleiden blieb. Mit rutschenden Hosen, ungeordnetem Hemd stand der Schöpfer des Werkes am 1. Januar 1879 im Gewandhaus und konnte zunächst nur einen mäßigen Erfolg seines D-Dur-Violinkonzertes konstatieren. Erst Wochen später hat Eduard Hanslick (1825-1904) den Erfolg des Brahms-Opus 67 eingeleitet, indem er es in eine Reihe der Beethoven- und Mendelssohn-Violinkonzerte stellte. Da, wo wir es ob seiner lyrisch-heiteren, innigen Ausdruckshaltung, seiner klassischen Ausgewogenheit so wie seiner Vollendung des Stils noch immer sehen.
Fast geheimnisvoll kam die Einleitung des Brahms-Violinkonzertes vom „Moritzburg Festival Orchester“ in den Raum der Frauenkirche und löste unmittelbare Erwartungen und Emotionen aus. Aber bereits die ersten Feinheiten des Auftaktes werden vom Nachhall überdeckt. Zart versuchte sich die Solo-Violine der Midori vergeblich dem Orchesterklang beizumischen, um die Herrschaft von den Streichern der Kapelle zu übernehmen. Mithin wurde klar, dass wir uns auf das wunderbare Instrument fokussieren müssen, wenn wir vom Konzert etwas mitnehmen wollen.
Die mit filigraner Instrumentalkunst sowie hoher Durchsetzungsfähigkeit ausgestattete versierte Technikerin formte die melodischen Linien der Partitur hell-glänzend und nuancenreich. Insbesondere beim Spiel des Kopfsatzes ließ sie sich Zeit und versuchte immer die Erhaltung der Klarheit des Klanges und die Reinheit der melodischen Linienführung zu erhalten.
Dabei unterstützte sie der volle, etwas dunklere Klang der Guarneris-Violine auf das Vortrefflichste.
Mit ihrer Adagio-Interpretation versuchte Midori immer wieder Interpretationsräume zu öffnen, um verborgene Schönheiten zu entdecken. Dabei verfügte ihr Spiel über einige schöne, zarte Wendungen, die zu seltener Intimität führten.
Fast gegensätzlich nutzte sie den folkloristisch gefärbten Finalsatz, um ihrem allgemeinen Gefühl von Freude und Energie Ausdruck zu verleihen.
Der Dirigent des Abends, der Katalane Josep Caballé Domenech, hatte eine offene Herangehensweise der Orchesterbegleitung bevorzugt und war Auseinandersetzungen mit der Solistin ausgewichen. Seine ruhigere und geschickte Behandlung der Holzbläser- und Streicherpassagen war dem Gesamteindruck zuträglich. Auftrumpfende Tutti-Stellen ließen die akustischen Verhältnisse im Kuppelbau ohne hin nicht zu.
Von den Besuchern des Konzertes wurde die Solistin heftig gefeiert und bedankte sich mit einer Zugabe.
Die im zweiten Teil des Konzertes angekündigte Darbietung von Beethovens siebter Symphonie A-Dur konnte ob der Klangentwicklung im Kirchenraum nur problematisch werden.
© Oliver Killig
Thomas Thielemann, 14.8.22
15. Mai 2022 Konzertsaal des Kulturpalastes Dresden
Filarmonica della Scala mit Mahlers Erster
Riccardo Chailly bei den Dresdner Musikfestspielen
Der Sohn des italienischen Komponisten Luciano Chailly (1920-2002) Riccardo ist in Sachsen ob seiner mehrjährigen Tätigkeit als Kapellmeister des Leipziger Gewandhaus-Orchesters kein Unbekannter.
Zu den Dresdner Musikfestspielen 2022 war er am 15. Mai 2022 mit „seiner“ „Filarmonica della Scala“, dem symphonischen Zweig des berühmten Mailänder Opernhauses, in den Kulturpalast der Landeshauptstadt gekommen.
Für eine Interpretation des „Violinkonzertes e-Moll op. 64“ von Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) hatte er den in Taiwan geborenen und in Australien aufgewachsenen Solisten Ray Chen mitgebracht.
Das Konzert, 1844 in Bad Soden in entspannter Umgebung entstanden und 1845 in Leipzig uraufgeführt, gehört zu den beliebtesten und meistgespielten Werken der Geigenliteratur.
Den ersten Satz spielte Chen mit der Stradivari „Samazeuilh“ aus dem Jahre 1735 beherzt, technisch lupenrein und mit einer wundervollen Kadenz. Den zweiten Satz, mit zartem, fast überirdischem Ton, ließ er insbesondere in den lyrischen Passagen ruhig angehen, ohne die Spannung zu verlieren.
Den Finalsatz gestaltete Chen folgerichtig mit einem intensiven Pathos, mit geräuschhaften Bogenstrichen und energischen Gesten, während Riccardo Chailly im Hintergrund mit perfekter Balance die melodische Begleitung sicherte.
Den Kopfsatz der „ersten Symphonie D-Dur“ von Gustav Mahler (1860-1911) ging Riccardo Chailly im zweiten Konzertteil zunächst gemächlich an. Unterstützt von phantastischen Solo-Bläsern gestaltete er fast aus dem Nichts eine zarte Schilderung des Erwachens der Natur, bevor Volkslied-Intonation und gelöstere Stimmungen das Klangbild intensivierten. Nach der von Mahler ausdrücklich gewünschten Satzpause führte Chailly das Orchester mit der erreichten Intension das Scherzo wie auf einem Plateau, um sich im „Feierlich-Bewegtem“ auf seine Kompetenz zu konzentrieren. Wie eine Oper inszenierte er lang aushaltend Gefühle des Kampfes, entwickelte berauschende Höhepunkte. Trotz aller Spannung und Aufregung gelingt es dem Italiener sein hervorragend eingestelltes Orchester zu einem scheinbar endgültigen Triumph zu führen.
Damit hatte sich Chally aber die Möglichkeit genommen, mit dem Finalsatz den Ausdruck einer verzweifelten Situation zu entwickeln, so dass er fast zwangsläufig eine rasante Schlussentwicklung bieten musste und dank der Qualität des Orchesters auch bieten konnte.
Die Besucher des ohne Leerplätze besetzten Kulturpalastes reagierten auf die Mahler-Interpretation der „Filarmonica della Scala“ mit frenetischem Beifall. Auch hätte ich mir als „Halb-Leipziger“ nie vorstellen können, einem Chailly-Konzert mit stehenden Ovationen zu danken.
Thomas Thielemann, 17.5.22
© Oliver Killig
13. Februar 2022 Semperoper Dresden
Aufwühlender Bruckner im Gedenkkonzert
Christian Thielemann ehrt mit der Sächsischen Staatskapelle die Opfer des Bombenterrors vom 13. Und 14. Februar 1945.
Als die Marianne und ich uns 1960 als Studenten in Dresden kennen lernten, uns ineinander verliebten und bald auch heirateten, standen Studium, Familiengründung mit dem ersten Sohn im Mittelpunkt, so dass die Erinnerung an die Bombennacht vom 13. zum 14. Februar 1945 die Dresdnerin noch nicht erkennbar belasteten.
Nach Jahrzehnte langem Wohnen in Leipzig und in einem nordhessischen Dorf nach Dresden zurück gekommen, meldeten sich bei der inzwischen Verrenteten die Erinnerungen an jene Nacht, als die Sechsjährige aus dem Keller des zerstörten Hauses in der Bergmannstraße befreit, zwischen ihrer Großmutter und der Mutter mit dem Kinderwagen der jüngeren Schwester durch das brennende Dresden irren musste. Befeuert war das, weil unser Erscheinungsbild, aus der ländlichen Idylle Nordhessens gekommen, des Dresdens der Anfangsjahre des Jahrtausends offenbar von der NPD nicht unwesentlich geprägt wurde.
Zumindest beeinflusste es unseren Eindruck vor allem in der Zeit um den 13. Februar. Da wurde demonstriert und zum Teil hasserfüllt um die Opferzahlen gerungen. Die Jahrelang als verbindlich geltenden Todeszahlen von 35 000 Opfern, von Historikern auf 25 000 Tote heruntergerechnet, wurden als zu niedrig empfunden und bis auf 200 000 Opfer argumentiert. Das jeder Umgekommene einer Zuviel war, galt ohnehin nicht als Argument.
Das hatte bei uns zunächst eine gewisse Überwindung erfordert, nicht ins hessische Idyll zurückzugehen. Vor allem die Initiativen unserer damaligen Nachbarin, der Dresdner Oberbürgermeisterin Helma Orosz, eine Therapie, kulturelle Erlebnisse und neues, gewissermaßen überbordendes Leid, glätteten die Situation.
Gelegentlich wird gefragt, warum ausgerechnet in Dresden die Erinnerung an den Februar 1945 so wach gehalten ist, obwohl doch viele Städte Deutschlands ähnlich intensiv zerstört waren?
Da ist zu wissen, dass die Stadt Dresden bis zum Februar 1945 kaum Bombenangriffe erlebt hatte und nur das Vorrücken der Truppen der „Roten Armee“ als der Auslöser des totalen Terrors anzunehmen ist. Dabei ist in der Bevölkerung auch der von einem Historiker geäußerte Verdacht lebendig, dass die Alliierten die unzerstörte Barockstadt, wie in Japan die Stadt Hiroshima, als Demonstrationsobjekt der Möglichkeiten ihres Zerstörungspotentials zurück gestellt hatten, um dann umso brutaler zuzuschlagen.
Mit würdigen Konzerten gedenkt die Sächsische Staatskapelle seit 1951 am 13. Februar der Opfer und der Zerstörung der Stadt als Mahnung, Zeichen der Versöhnung mit der Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben in der gesamten Welt.
In diesem Jahr gehörte das Konzertprogramm Anton Bruckner (1824-1896).
Nachdem gegen Ende der 1880-er Jahre in Wien bei Anton Bruckner eine Herzschwäche und Diabetes diagnostiziert worden waren, zog er sich zunehmend aus seinen Ämtern an der Universität, dem Konservatorium sowie der Hofkapelle zurück, um eine Abrundung seines symphonischen Schaffen zum Lebensinhalt zu gestalten.
Die ersten Skizzen zu seiner neunten Symphonie hat der 62-jährige Anton Bruckner unmittelbar nach Abschluss der Komposition seiner achten Symphonie 1897 entworfen. Die Arbeit am ersten Satz wurde aber unterbrochen, weil Bruckner zunächst Revisionen seiner achten und seiner dritten Symphonien vornahm. Hinzu kamen in der Folge Überarbeitungen an den Symphonien Nummer zwei, Nummer eins und Nummer vier sowie der f-Moll-Messe.
Der erste Satz der neunten Symphonie, Feierlich, misterioso, war dann im Dezember 1893 fertig gestellt. Der zweiten Satz, Scherzo, bewegt, lebhaft-Trio, mit Entwürfen von 1889 fanden im November 1894, allerdings mit drei unterschiedlichen Ausführungen des Trios, ihre Vollendung. Die wahrscheinlich etwas kompaktere Arbeit am dritten Satz, Adagio, langsam, feierlich, war im Mai 1895 abgeschlossen.
Von dem von Bruckner geplanten vierten Finalsatz sind nach seinem Tode mehr als 500 Takte in Skizzen und Entwürfen aufgefunden worden, von denen 172 Takte vollständig bzw. 200 Takte zum Teil orchestriert sind. Der Schluss des Finales, bei Bruckner üblicherweise Ziel und Höhepunkt des Gesamtwerkes, fehlt allerdings vollständig.
Nicht verwunderlich, dass es zahlreiche Versuche gibt, mit Hilfe der hinterlassenen Relikte einen Bruckner-adäquaten Finalsatz seiner neunten Symphonie zu schaffen.
Wir besitzen eine Einspielung von Bruckners Neunter der Berliner Philharmoniker mit Simon Rattle aus dem Jahre 2012 mit einer von dem italienischen Komponisten Nicola Samale (*1941) unter Beteiligung drei weiterer Musikwissenschaftler fertig gestellten Rekonstruktion des Finalsatzes. Auch wenn Teile von authentischen Skizzen gekommen sein mögen, ist es günstigstenfalls eine Illusion von „Bruckner“, bleibt ein schwacher Abklatsch.
Die Erkenntnis des Schwerkranken, dass er die Kraft zur Vollendung des Finales seiner Neunten nicht aufbringe könne, beschäftigten Bruckner, so dass er den Vorschlag enger Vertrauter aufnahm, die Symphonie statt mit einem vierten Satz mit seinem Te Deum abzuschließen. Er hatte allerdings Bedenken, die Symphonie, die in d-Moll steht, in C-Dur des „Te Deum“ enden zu lassen. Er habe auch den Vertrauten eine Überleitungsmusik die vom E-Dur der Schichtung des Adagios zum C-Dur führte, vor gespielt. Bruckners Schüler August Stradal (1860-1930) habe die Überleitungsmusik zwar nach dem Gedächtnis notiert, noch bleibt sie aber verschollen.
Im Gedenkkonzert wurden von der Sächsischen Staatskapelle mit dem Dirigat seines Chefdirigenten Christian Thielemann die drei Sätze der Symphonie mit dem Te Deum kraftvoll und zugleich sensibel hintereinander dargeboten.
Das Te Deum Bruckners reicht mit seiner formalen und ästhetischen Konzeption weit über die Grenzen reiner Kirchenmusik hinaus und gilt als zentrales Dokument seiner Frömmigkeit. Komponiert im Jahre 1881 überarbeitete Bruckner das Chorwerk in der Zeit von 1883 bis 1884 wahrscheinlich im Zusammenhang mit der Arbeit an seiner siebten Symphonie.
Dem Anlass der Aufführung entsprechend, verzichtete Christian Thielemann auf eine effektvolle Interpretation der Symphonie. Mysteriöser lassen sich die Eröffnungen der Blechbläser kaum denken, wie im Konzert gespielt. Präzise, fast schroff wurde dann das wuchtige Hauptthema des ersten Satzes in einer Art herausgearbeitet, wie es nur Klangkörper vom Range der Dresdner Staatskapelle können. Mit wohlüberlegter Disposition staffelte der Dirigent die Höhepunkte und spart das Maximum für den Schluss auf. Gekonnt glättete er formale Brüche mit organischen Tempofreiheiten und ließ sich von seinem intuitiven Formgespür leiten.
In der Folge entstand bei mir der Eindruck, dass der Dirigent Ansätzen nachgespürt habe, was Bruckner an der Komposition bei längerer Lebenszeit noch geglättet hätte.
Das Scherzo mit dem markanten Paukenmotiv ließ Christian Thielemann drängend, mit straffen Tempi spielen, so dass der Eindruck eines Totentanzes entstand. So ist die Interpretation nicht so sehr als eine Verklärung, als vielmehr ein Auflehnen, ein Ankämpfen gegen den Tod zu empfinden. Besonders fulminant empfand ich die Betonung der von Bruckner in die Partitur regelrecht eingeschmuggelten Bauerntänze.
Umso exzellenter traten dann im Adagio die Möglichkeiten der Klangschönheiten des Orchesters hervor. Die Verbindungen zu den Tristan- und Parsifal-Motiven des ersten Themas weckten eine unendliche Sehnsucht nach Ruhe und einem Abschluss gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Aber auch hier schlichen sich Momente der Niedergeschlagenheit und der Verzweiflung in die Darbietung ein. Die Angst des Menschen vor dem Tode meldet sich
Christian Thielemann gestaltet in diesem Pseudo-Finalsatz Klangdispositionen, Übergänge und Stimmenbalancen von geradezu überirdischer Schönheit und Homogenität. Sein Gespür für die Dramatik der doch heiklen Partitur Bruckners ist einfach einzigartig und dürfte gegenwärtig kaum zu überbieten sein.
Das „Te Deum“ entwickelte Christian Thielemann mit den Musikern der Staatskapelle auf das feinste ausbalanciert und mit einer mitreißenden Dynamik, die von verzagtem Piano bis zum gewaltigen Fortissimo reichte. Die Streicher schufen für die Bläser und vor allem für den Sächsischen Staatsopernchor Dresden mit großartigen Klangfarben einen stabilen Klangteppich. Gefreut haben uns die Horn-Soli von Robert Langbein und die Vorstellung des rumänischen Gast-Konzertmeisters Dragos Manza am Ersten Pult.
Dem Chor kam ohnehin eine außergewöhnliche Bedeutung zu, hatte ihm doch Bruckner mit breiten Forte-Passagen und Dissonanzen komplexe Aufgaben zugeschrieben, die vom Sächsischen Staatsopernchor mit Klangkraft und präziser Dynamik überzeugend gelöst wurden. Nie war in einer mittleren Lautstärke gesungen worden, stets blieben Kontrast und Intimität zutreffend ausgebildet. Wenn Kraft entfaltet wurde, geschah das immer mit Formgefühl und stimmlicher Konzentration, so dass auch die Soprane nicht in problematische Randlagen gerieten. Der Chor war von André Kellinghaus auf das bewundernswerteste auf diese anspruchsvolle Aufgabe vorbereitet gewesen.
Die Stimmen der Solisten waren glänzend aufeinander abgestimmt und für die nachklassische Schlichtheit ihrer Passagen hervorragend geeignet. Die Sopranistin Camilla Nylund faszinierte mit ihrem weichen, leuchtenden Timbre, ihren klaren Spitzentönen und ihrem starken Ausdruck. Dazu passte hervorragend der klangsatte, samtige Mezzosopran von Elena Zhidkova, der gravitätische Bass von Franz-Josef Selig und der höhensichere sensible Tenor von Benjamin Bruns, der vor allem mit dem souverän dargebotene Tenor-Solo im „Te ergo quaesumus“ imponierte. Gleichwie, ob die Solisten zu zweit, zu dritt oder als Quartett sangen, bestach die Konvergenz der Klänge.
Mit einer Minute des Gedenkens an die Opfer der Terrorangriffe wurde das würdige und berührende Konzert abgeschlossen.
Bildrechte: Sächsische Staatskapelle Dresden ©Matthias Creutziger
Thomas Thielemann, 15.2.2022
4. Symphoniekonzert am 17. Dezember 2021
Am 17. Dezember 2021 hat die Dresdner Staatskapelle mit dem Dirigenten-Debüt des Ossetiers Tugan Sokhiev das 4. Symphoniekonzert der Saison 2021/22 mit geändertem Programm aufgezeichnet. Gespielt wurde Borodins Ouvertüre zu "Fürst Igor" und Tschaikowskis "Fünfte Symphonie". Die Aufzeichnung wird am 21. Dezember 2021 ab 20 Uhr 05 und am 12. Januar 2022 ab 20 Uhr 03 gesendet.
Unser Opernfreund-Kritiker war nicht zugerlassen, aber immerhin schöne und aussagekräftige Bilder vom Abend - besonderer Dank dafür an Matthias Creutziger.
14. November 2021 Semperoper Dresden
Zwei Ungarn und zwei Franzosen mit Antoine Tamastit und Lorenzo Viotti
Bartók, Kodaly, Poulenc und Ravel in beglückender Gemeinschaft
im 3. Symphoniekonzert der Sächsischen Staatskapelle 2021/22.
Mit dem Dirigenten-Namen „Viotti“ verbinden wir in Dresden, intensiver noch in Leipzig beim MDR –Rundfunksymphonieorchester, die Persönlichkeit des immer freundlichen, zugänglichen sorgfältigen Arbeiters Marcello Viotti (1954-2005), dessen 2005 mit der Staatskapelle geplante Tournee seinem Schlaganfall-Tod zum Opfer fiel.
Marcellos Sohn Lorenzo Viotti war mit Musikern der Staatskapelle bisher lediglich im Orchestergraben der Semperoper bei der musikalischen Leitung von Aufführungen des „Rigoletto“ und der „Madam Butterfly“ sowie im ZDF-Adventskonzert in Erscheinung getreten. Mit dem 3. Symphoniekonzert der Saison 2021/22 reiht sich der 1990 geboren in die Kategorie der hochkarätigen Gastdirigenten der Sächsischen Staatskapelle ein.
Konzertstücke mit interessanten Werkgeschichten standen auf dem Programm:
Für Béla Bartóks „Konzert für Viola und Orchester“, im Index von Andras Szöllösy (1921-2007) das Werk Sz 120, sowie zum Auftakt seiner Tätigkeit als „Capell-Virtuos“ der Saison 2021/22 war Antoine Tamestit mit der Stradivari-Viola von 1672, der sogenannten „Mahler“, in den Semperbau gekommen.
Béla Bartók, 1881 im Königreich Ungarn der Österreich-Ungarischen Monarchie geboren, gilt als einer der bedeutendsten Vertreter der Moderne in der Musik. Im Jahre 1940 in die USA emigriert, höhlten gesundheitliche Probleme, existenzielle Sorgen und fehlende Resonanz seine schöpferische Kraft aus.
Der schottische, seit den 1930er Jahren in den USA lebende Bratschist William Primrose (1904-1982) war ungeachtet der misslichen Situation Bartóks der Auffassung, dass nur dieser ihm ein Stück schreiben könne, welches die Möglichkeiten seiner Amati-Viola ausreizen könne. Deshalb bat er im Winter 1944 Béla Bartók, ihm ein Konzert zu schreiben, bei dem er sich „in keiner Weise durch scheinbare Grenzen des Instruments eingeschränkt fühlen sollte“. Die Leukämieerkrankung des Komponisten war zu dieser Zeit bereits fortgeschritten, so dass er ständig unter Fieber litt. Er ahnte offenbar seinen Zustand, obwohl man ihm die Dramatik seiner Situation verheimlichte. Am 8. September 1945 signalisierte er zwar dem Auftraggeber, dass Konzert sei fast fertig. Er arbeite nur noch an der Orchestrierung. Als Bartók aber am 26. September 1945 verstorben war, existierten lediglich ein Partitur Entwurf des ersten Satzes und Gerüste mit Skizzen, die den Formenaufbau des zweiten und dritten Satzes nur erahnen ließen.
Der Komponist, Schüler und enger Freund Bartóks, Tibor Serly (1901-1978) hat die Komposition 1949 fertiggestellt, so dass am 2. Dezember 1949 die Uraufführung vom Minneapolis Symphony Orchestra mit dem Solisten Primrose erfolgen konnte.
Kaum verwunderlich, dass im Jahre 1994 der Komponist André Kasparov (*1966 in Baku) begann, mit Bartóks Sohn Peter und Nelson Dellamaggiore die Bratschen-Relikte auf Schnittmengen mit Bartóks 3. Klavierkonzert zu untersuchen und Serlys Arbeit einer Revision zu unterziehen. Gemeinsam mit dem US-amerikanische Bratschisten Paul Neubauer (*1962), einem Schüler Pimroses, entstand daraus eine neue, möglicherweise den Intensionen Bartók nähere, Fassung des Sz 120.
Der sich als Weltbürger verstehende, mit Staatsbürgerschaften Ungarns, Großbritanniens und der USA ausgestattete, Solo-Bratscher Csaba Erdélyi (*1972) hatte sich schon früher, und zwar über zwanzig Jahre mit dem Originalmanuskripten Bartóks beschäftigt. Umfangreiche Abstimmungen mit den Bartók-Forschern Elliott Antokoletz und László Somfai sowie den ungarischen Komponisten Péter Eötvös und György Kurtág führten zu einer weiteren Restaurierung und Orchestrierung des „Konzertes für Viola und Orchester in a-Moll, Sz 120.
Zu allem Überfluss verarbeitete Tibor Serly die Bartók-Entwürfe noch zu einem Cellokonzert.
Im dritten Symphoniekonzert kam die Fassung des Bartók Bratschenkonzertes von Dellamagiore und Neubauer zur Aufführung.
Antoine Tamestit und die Stradivari-Viola mit ihren dunkelfarbigen Tönen sind zweifelsfrei die ideale Kombination für eine Darbietung der Bartók-Intuitionen. Nur mit ihnen können wir uns eine mit derartiger Energie so hinreißend hingebungsvolle Vermittlung von Bartóks Klangwelten vorstellen. Im Zusammenwirken mit dem Orchester zeichnete er mit dem Instrument die aufeinanderfolgenden Form- und Satzteile als faszinierende Klangbilder und Stimmungen, verleiht damit seinem Vortrag eine enorme Spannung. Das Orchester unter Lorenzo Viotti erwies sich als kongenialer Partner des Solisten. Im Finale des Allegro moderato begeisternden die triumphierenden Blechbläser, während im zweiten Satz „Lento“ die Solo-Viola Tamestits über den delikat hauchenden Orchester-Streichern spielend, eine regelrechte Spiritualität erzeugte.
Wie eine Erlösung wirkte, als gegen Ende des dritten Satzes folkloristisch Inspiriertes in einen furiosen Reigen des Wechsels zwischen dem tänzerischen Solisten und dem Orchester zur Schluss-Ekstase führte.
Eingeleitet worden war das Konzert mit den „Tänzen aus Galanta“ von Zoltán Kodály (1882-1967). Das Leben und Schaffen Kodálys war mit Bela Bartók vor allem bei der Ungarischen Volksliedforschung vor dem ersten Weltkrieg und der gemeinsamen Tätigkeit bei der Sammlung von Soldatenliedern im Budapester K.u.K.-Kriegspressequartier während des ersten Weltkriegs verwoben.
Zur echten Volksmusik fanden Bartók und Kodály erst später, als sie ungarische, rumänische und slowakische Folklore nach musikethnologischen Kriterien sammelten und editierten.
Die 1933 entstandene Partitur der „Tänze aus Galanta“ gilt als hervorragendes Beispiel der Integration volksmusikalischen Materials in eine formal kombinierte Komposition.
Mit der kompletten Solo-Virtuosität, die von den Musikern der Staatskapelle aufgeboten werden konnte, wurden die Tänze mit ihren folkloristischen Motiven und den raschen Tempi Wechseln scheinbar schwerelos gespielt.
Zunächst erfreute uns im zweiten Teil Francis Poulenc (1899-1963) mit seiner Suite für Orchester FP 111 „Les animaux modèles“ frei übersetzt: die „Mustertiere“ aus den Jahren 1940 bis 1942.
Von der Persönlichkeit Poulencs wurde berichtet, es wohnten in ihm zwei Seelen: die eines Mönchs und eines Lausbuben. Neben seiner tiefen Religiosität war er auch ein hochpolitischer Mensch. Er unterstützte die Résistance, den Kampf gegen die deutschen Besatzer und wollte mit seinen Kompositionen in den dunkelsten Tagen seinen französischen Mitbürgern Optimismus und Hoffnung geben. Was eignete sich da besser, als die Fabeln seines Landsmanns Jean de La Fontaines zur Vorlage zu nehmen?
Die so selten französisch- typische Partitur dirigierte Viotti mit offener Kraft und prägnanter Weichheit. Eine charmante, von Melancholie durchzogene, belebende Musik, voller kommunikativer Lebensfreude und purem Elan durften wir erleben. Für viele eine Neuentdeckung der selten gespielten sechsteiligen Suite. Warum diese Musik nicht öfter zu hören ist, bleibt ein Rätsel.
Als einer der wichtigsten Vertreter der Impressionisten der Musik war Maurice Ravel (1875-1937) unter den großen Musikern der neueren Zeit einer der seltsamsten Charaktere. Als Sohn eines Schweizer Ingenieurs und eines baskischen Mannequins, kleinwüchsig mit großem Kopf, blieb er lebenslang gefühlsscheu, distanziert, mit einem eigentümlichen Zug zur Kindlichkeit. Dabei war er dandyhaft-elegant und immer ironisch, was zu scheinbar leidenschaftslos strukturierten Kompositionen mit einem dämonisch hintergründigen Klang führte.
Die Vertonung eines spätantiken Liebesromans des Longos von Lesbos (2./3. Jahrhundert) für die legendären „Ballets russes“ in Paris brachte Ravel wegen Auseinandersetzungen mit den Auftraggebern vor allem nur Ärger ein. Der Choreograph Michael Fokine wollte den Stoff archaisch, in traditionell-klassischer Darstellung, wie auf Vasen und Fresken der Antike dargestellt, interpretiert haben, während Ravels Vision vom alten Hellas, völlig gelöst von der historisch-geografischen Wirklichkeit, eher romantisierend-phantastischem Charakter entsprach.
Mehrfach wurde die Uraufführung verschoben; auch drohte das Projekt zu platzen.
Nachdem trotz der zum Teil handfesten Querelen das Ballett im Juni 1912, drei Jahre nach Beginn der Arbeit, zur Aufführung kam, blieb der Erfolg zunächst verhalten. Die fließende, improvisatorisch anmutende Rhythmik und die opulente Instrumentation der Komposition gingen fast unter, auch weil die vertrackte Musik den Tänzern arg zu schaffen machte.
Mit zwei „Auskoppellungen“, den beiden Suiten „Daphnis et Chloé“ konnte der zunächst verärgerte Ravel über die Konzertpodien seiner individuellen Meisterschaft zur Rehabilitierung verhelfen.
Im Konzert dirigierte Lorenzo Viotti die Suite Nummer zwei, den letzten Teil der „ choreografischen Symphonie“ Ballettmusik „Daphnis und Chloé“ ohne Chor in der reinen Orchesterfassung.
Mit Eleganz und Raffinesse schuf er mit dem Orchester eine im Licht der aufgehenden Sonne prachtvolle Morgenlandschaft. Das Flötensolo der Nymphe bilde eine faszinierende Überleitung zur pantomimischen Vereinigung des Daphnis mit der Chloé bevor die Handlung vom Dirigat in einen orgiastischen Schlusstaumelgeführt wurde.
Zu unserer Freude erlebten wir Tibor Gyenge als den Konzertmeister des 3. Symphoniekonzerts am ersten Pult und, gemeinsam mit Antoine Tamastit, in einer tollen Zugabe für Violine und Viola.
Außerdem waren zahlreiche „Aufrückungen“ im Orchester von geschätzten und uns vertrauten Leistungsträgern der Staatskapelle zu konstatieren.
Autor der Bilder:Matthias Creutziger
Thomas Thielemann, 14.11.21
6. November 2021
Christian Thielemann ehrt einen großen Vorgänger
Zum 175. Geburtstag des Ernst von Schuch
Als im Jahre 1872 der umtriebige Sänger und Impresario Bernhard Pollini mit einer hervorragenden italienischen Operntruppe von Lemberg kommend in Dresden gastierte, brachte er als Dirigenten den 1846 in Graz geborenen Ernst Schuch mit. Der noch unbekannte Kapellmeister löste beim Publikum, aber vor allem bei den Musikern der Königlichen Hofkapelle, Enthusiasmus und Begeisterung aus, als er „ohne jede Probe“ eine Aufführung wagte und mit offenbar schlechtem Notenmaterial das recht differenziert aufgestellte Orchester zu anspruchsvollen Leistungen führte. Vor allem begeisterte der 26-Jährige den damaligen Direktor der Dresdner (italienischen) Hofoper, den Grafen Julius von Platen-Hallermund (1816-1889), der Schuch am 1. August 1872 als Musikdirektor des Königlichen Hoftheaters engagierte. Recht rasch wurde er zum Kapellmeister, 1882 zum Musikdirektor und schließlich 1889 zum Generalmusikdirektor befördert.
Schuch formte das Haus zu einer der führenden Musikbühnen, erweiterte die Hofkapelle zur berühmten Klangkultur und schuf mithin ein Ensemble von Weltruf. Mit diesem pflegte er das Repertoire seines Amtsvorgänger Richard Wagner, den er verehrte. Dem Dresdner Publikum erschloss er dessen spätere Kompositionen und präsentierte das Wirken der zeitgenössischen italienischen und slawischen Opernkomponisten.
Die Arbeitsbeziehung und spätere Freundschaft Ernst von Schuchs mit dem achtzehn Jahre jüngeren Richard Strauss (1864-1949) verdanken wir Bolko von Hochberg, dem Intendanten der Berliner Lindenoper. Im Verbund mit preußischen Zensoren verhinderte er aus moralischen Gründen eine dortige Uraufführung der Oper „Feuersnot“ des jungen Hofkapellmeisters Strauss. So kam es 1901 „trotz mancher sittlicher Bedenken“ zur Aufführung dieser Kritik an kleinbürgerlicher Doppelmoral in Dresden und vor allem zur intensiven und langandauernden Schuch-Strauss’schen-Partnerschaft.
Schuch verstand, so Strauss, jede meiner Bitten. Ein Blick, ein Kopfnicken- ich oder er-, und das Verstehen war da.
Der „Feuersnot“-Uraufführung folgte 1905 die Erstaufführung der „Salome“ nach Oskar Wilde, 1909 der „Elektra“ und 1911 mit Hugo von Hofmannsthals Libretto und Max Reinhardts Regie „Der Rosenkavalier“. Mit Sonderzügen wurden Opernfreunde nach Dresden gebracht, um Strauss-Schuch Reinhardts-Arbeit zu erleben.
Außer der Musik verband die Beiden gutes Essen und das Skatspielen jedoch so manche Unstimmigkeit zwischen ihnen musste die Freundschaft überdauern, zumal der Komponist den Sängerinnen und Sängern nicht nur beim Singen, sondern auch mit den erotisch aufgeheizten Stoffen der Opern einiges flaue Unbehagen bescherte.
Obwohl Strauss dem Freund mitteilte, „wenn Sie (!!!) nicht wären, könnte mir das gesamte Dräsden gestohlen bleiben“, überlebte auch der Tod Ernst von Schuchs die Verbindungen des Richard Strauss zur Staatskapelle und brachte mit „Intermezzo“ (1924), „Die ägyptische Helena“ (1928), trotz politischer Einflussnahme 1933 „die schweigsame Frau“ und mit 1938 „Daphne“ insgesamt neun Opernuraufführungen des Komponisten nach Dresden.
Auch als Konzertdirigent setzte sich Schuch für Werke von Felix Dräseke, Gustav Mahler und Richard Strauss ein und brachte gleichfalls Erstaufführungen nach Dresden.
In den zweiundvierzig Jahren der Schuch-Ära kamen insgesamt 51 Ur- und 120 Erstaufführungen zustande.
Schuchs Persönlichkeit wird als faszinierend beschrieben: überlegen in der Führung des musikalischen Apparats, dynamisch in seinem Wesen, unerbittlich in seinen Forderungen, aber menschlich im persönlichen Umgang.
Tagsüber übertrug der Generalmusikdirektor die „Schuchsche Hetz und Hast“ auf seine Mitarbeiter, strahlte dagegen am Abend während der Vorstellung eine stoische Ruhe und Sicherheit aus.
Die Schuchs führten in Radebeul-Niederlößnitz ein ruhiges Landleben mit österreichischer Gastfreundschaft und einer Köchin, die von Johann Strauß „ab-engagiert“ war. Wohl alle namhaften Musiker und Theaterleute der Zeit waren dort ohne Förmlichkeiten zu Gast gewesen. Einer der Nachbarn war die Familie von Karl May, mit der mäßiger Umgang gepflegt wurde.
Die kunstsinnige Familie fühlte ich in Sachsen einfach wohl. Hatte der Geheime Hofrat Schuch Probleme mit der Intendanz, so ging er zum König. So erreichte Schuch beim König den Rückbau einer 1910 vom Grafen von Seebach (1854-1930) im Orchestergraben der Oper veranlasste bauliche Veränderung.
Für die Fahrten des Maestro in den Semperbau war zur Probenzeit ein Eisenbahn-Sonderzug, genannt der „Schuch-Zug“, von der Station „Weintraube“ eingerichtet.
Den Verlockungen von Berufungen an die Wiener Oper lehnte er zumindest zweimal ab. Da half auch die Verleihung des Titels eines „Edler von Schuch“ im Jahre 1898 durch Kaiser Franz Joseph nicht.
Nur wenige Gastdirigate führten Ernst von Schuch nach Berlin, München, Wien, Paris und Bayreuth.
Am 10. Mai 1914 endete wenige Tage nach der Dresdner Erstaufführung des Parsifal die Ära Schuch mit dem Versterben des großen Musikers.
Zum Anlass des 175. Geburtstags ehrte die Sächsische Staatskapelle Dresden am 6. November 2021 den prägendsten Generalmusikdirektor ihrer Orchestergeschichte mit einem Konzert unter der Leitung eines der profiliertesten Nachfolger Schuchs Christian Thielemann und erinnerte an die fruchtbare Partnerschaft Ernst von Schuchs mit Richard Strauss.
Mit der Vertonung eines Gedichts von Joseph von Eichendorf „Im Abendrot“ versuchte der Vierundachtzigjährige die schwierigen Lebensumstände der Nachkriegszeit zu bewältigen. Strauss lebte ohne festen Wohnsitz in der Schweiz, war wegen seines Verhältnisses zum Nationalsozialismus umstritten. Die zitterige Handschrift des Autographs deutet, welchen Ursprung diese Musik hat. Nur als persönliches Bekenntnis, dem nahen Tod entgegenzugehen, ist das im Mai 1948 komponierte „Im Abendrot“ zu begreifen.
Die drei Lieder nach Hermann Hesse sind später entstanden, nachdem die Familie zufällig in einem Schweizer Hotel mit dem Lyriker zusammengetroffen war. Bei Hesse fand Strauss den Weg zu überzeitlichen, humanistischen, ein Menschenleben überdauernde Werte. Da war noch einmal der Versuch einer optimistischen Grundstimmung zu spüren.
Entsprechend differenziert interpretierte die Wahl-Dresdnerin Camilla Nylund im Gedenkkonzert den für mich nicht unproblematischen eigentlich „Nicht-Zyklus“ der vier Letzten Lieder: die Hesse-Lieder stimmbetont mit ihrem enormen wunderbaren Sopran und das abschließende „Im Abendrot“ entsprechend gefühlsbetonter.
Mit warmem Grundton ließ Christian Thielemann die Musik fließen, das Orchester licht und bei aller Transparenz zwar melancholisch, aber auch versöhnlich spielen.
Im zweiten Konzertteil wurde Richard Strauss „Ein Heldenleben“ intoniert.
In München wollte man dem selbstbewussten noch nicht fünfunddreißigjährigen Richard Strauss den 1897 vakanten Posten des Generalmusikdirektors nicht geben, weil er den Verantwortlichen noch zu unerfahren galt. Dabei waren seine Erfolge als Opern- und Konzertdirigenten in Meiningen, Weimar nebst München gefestigt und sein Kompositions-Werkverzeichnis bis zur Ziffer vierzig vorgedrungen. In Berlin fand er 1898 als „Erster königlich –preußischer Hofkapellmeister“ beste Arbeitsbedingungen vor.
Noch vor seinen Opernerfolgen arbeitete er, fast trotzig, an zwei symphonischen Tondichtungen: dem Satyrspiel „Don Quichote“ mit der literarischen Figur im Zentrum und einem Stoff „eines nicht näher bezeichneten anonymen Helden, der sich ebenso gegen echte oder eingebildete Widersacher auflehnt, liebt, kämpft und schließlich der Welt entsagt“.
Don-Quichote wollte Strauss nicht sein, so dass diese Tondichtung bereits 1897 fertig gestellt war. Am „Heldenleben-Opus 40“ arbeitete er noch bis zum März 1899. Der Verdacht, mit dem Helden habe sich Strauss selbst verewigt, lag und liegt nahe. Er hat auch nie bestritten, dass er „autobiographische Mitteilungen“ durchaus verarbeitet habe. So wurde seinen Kritikern mit dem zweiten Teil der Komposition ein Denkmal als „Herde blökender Hammel“ gesetzt. Auch porträtierte er mit dem dritten Satz seine kapriziös-impulsive Ehefrau Pauline, im Konzert von Matthias Wollongs mit einem wundervollen Violin-Solo mit sinnlichem Flair ausgestaltet.
Dem Werk dürfte aber gerecht werden, wenn man den Unterschied zwischen autobiographischer, subjektiver Wahrheit und der historischen, objektiven Wahrheit berücksichtigt. Die vom Komponisten ursprünglich den Partitur-Teilen „zum besseren Verständnis vorangestellten Zwischenüberschriften“ hat Strauss zwar später streichen lassen, geben aber dem Interpreten die Möglichkeit, die eigene Individualität in sein Dirigat einzubringen, so dass wir in der Aufführung eine Verschmelzung von drei Persönlichkeiten erlebt haben könnten.
Zumindest erlebten wir eine Darbietung des Heldenlebens wie aus einem Guss.
Die bestens aufgelegte Staatskapelle überzeugte mit ihrem breiten, opulenten Streicherklang und der homogenen Bläsergruppe sowohl in der epischen Breite, als auch in den subtilen Pianissimo. Da stimmte eigentlich Alles.
Thomas Thielemann 7.11.2021
Autor der Bilder: Oliver Killig
3. November 2021 im Kulturpalast Dresden
Lang Lang und Bachs „Goldberg-Variationen“
Dass der 1727 in Danzig geborene Cembalist und Organist Johann Gottlieb Theophilus Goldberg zum Namenspatron des bedeutendsten Variationswerk der Musik „BWV 988“ wurde, verdankt er, wie so oft im Musikleben, dem Umstand, dass eine gut erfundene Anekdote den Weg in die Konzertprogramme findet und in der Folge nicht mehr zu tilgen ist.
Das Talent des Sohnes eines Lauten- und Streichinstrumentenbauers wurde vom damaligen russischen Botschafter in Sachsen, dem Reichsgrafen Hermann Carl von Keyserlingk (1696-1764) entdeckt, der den etwa Zehnjährigen nach Leipzig zu Johann Sebastian Bach (1685-1750) brachte. Bach betreute ihn fast zehn Jahre gemeinsam mit dem älteren Bach-Sohn Wilhelm Friedemann (710-1784). Wegen Goldbergs Gabe, schwierigste Partituren vom Blatt zu spielen, seiner spielerischen Präzision und seines hohen Improvisationsvermögens, erachtete ihn Bach als seinen begabtesten Schüler.
Der als Begründer der historischen Musikwissenschaften geltende Johann Nikolaus Forkel (1749-1818) und Verfasser der ersten Bach-Biografie (1802) hat es in die Welt gesetzt: die berühmten dreißig Variationen seien 1741 auf Bitten Keyserlinks für Goldberg geschrieben worden, damit dieser die schlaflosen Nächte des Botschafters ein wenig aufheitern könne. Goldberg hat tatsächlich des Nachts in einem Vorzimmer Keyserlingk vorgespielt. Aber was er spielte, und ob die Variationen der „Aria“ dabei waren, ist nicht belegt. Später haben Spötter aus dem Vorspielen das Einschlafmittel des Reichsgrafen gemacht.
Johann Gottlieb Goldberg war indes bereits an Tuberkulose erkrankt und 1756 im Alter von 29 Jahren in Dresden verstorben.
Über das „was“, „wann“, „wo“ der dreißig Variationen bleiben für die Musikwissenschaft noch viele offene Fragen. Bis zur Vermutung, dass Johann Sebastian Bach nicht der Urheber der einleitenden langsam schreitenden „Aria“ sei, scheint alles erlaubt.
Eventuell stimmt doch, dass das gewaltige „BWV 988“ im Ursprung eine „Clavier Übung bestehend aus einer ARIA mitverschiedenen Veränderungen vors Clavicimbal mit 2 Manualen“, war, die Bach selbst im Jahre 1741 drucken ließ, deren Urschrift aber noch immer verschollen bleibt.
Aber ist das Alles wichtig?
Der Titel „Goldberg-Variationen“ für „das gewaltigste Variationswerk“ hat sich erst seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts auf Forkels Initiative hin eingeprägt.
Als 2004 Christoph Eschenbach den chinesischen Pianisten Lang Lang (*1982) zum ersten Mal nach Bad Kissingen brachte, war er in Deutschland noch kaum bekannt. Die umtriebige damalige Intendantin des „Kissinger Sommers“ Kari Kahl-Wolfsjäger organisierte, zumindest in unserer verklärten Erinnerung, an jedem Abend, dass Mitwirkende der Konzerte mit Mitgliedern des Fördervereins zum Gedankenaustausch zusammen kamen. Bei dieser Gelegenheit konnten wir nach seinem tollen Einstandskonzert mit dem etwas unsicheren jungen Mann ob des beiderseitig schlechten Englisch gut kommunizieren.
Dank einer fast familiären Beziehung zur Frau Kahl-Wolfsjäger ist der Pianist bis zum Ende der außergewöhnlichen Intendanz der Musikmanagerin 2016 trotz seiner Weltkarriere in jedem Jahr in Bad Kissingen zu Gast gewesen.
Inzwischen polarisiert er auch die Klassikwelt, vermutlich ohne es zu wollen. Viele sehen in ihm den Pop-Star, den Showman, der die europäische Musik nur oberflächlich verinnerlicht habe. Da hilft auch seine Plattenfirma DG ordentlich nach, wenn sie ihn zum Überpianisten und Tasten-Titanen stilisiert. Wir attestieren ihm aber unbedingt, dass er neben seiner nie umstrittenen technischen Brillanz inzwischen einen von echter Empathie geprägten Zugang zur westlichen Musik vom Barock bis zur Klassik gefunden hat.
Das Notenmaterial der Goldberg-Variationen habe Lang Lang jahrelang studiert und sich viele Gedanken über eine eigene Herangehensweise zu den Tempi, Modulationen, zum Pedalgebrauch und zu den Lautstärken gemacht, ehe er im Alter von 38 Jahren zwei zum Teil eigenwillige Einspielungen vorlegte, einmal im Studio aufgenommen und das andere Mal als Liveaufzeichnung eines Konzertes in der Thomaskirche zu Leipzig.
In einem Konzert am 3. November 2021 stellte Lang Lang „seine Goldberg-Variationen“ im großen Auditorium des Konzertsaales im Kulturpalast dem Dresdner Konzertpublikum vor.
Nachdem der Pianist sein Publikum mit Robert Schumanns Arabeske op. 18 unspektakulär, fast beiläufig, auf das Hören eingestimmt und sich selbst für das Spielen aufgewärmt hatte, legte er mit der Aria los.
Auffallend war vom ersten Anschlag die fröhliche Grundstimmung der Darbietung dieses anspruchsvollsten Schlüsselwerkes des 18. Jahrhunderts. Lang Lang nahm uns in Johann Sebastian Bachs Räume mit, in denen wir uns mal flott schreitend, mal gemächlich verharrend, aber immer staunend umsehen durften.
Für viele Kritiker sind Lang Langs Goldberg-Variationen mit seinen äußerst subjektiv artikulierten, zum Teil extrem langsam und den zum Teil sehr schnell gespielten Stücken, Anlass zum Verriss. Seine oft schroffen Tempi-Wechsel machten den Vortrag indes richtig lebendig, haben zumindest mir zugesagt. Doch ich möchte mich dem Vorwurf, Lang Langs Demut vor dem Werk sei gespielt, nicht anschließen.
Ich möchte nicht behaupten, dass sich mir mit dem Abend der hochkomplexe Aufbau Bachs freier Phantasie- und Gedankenwelten bis ins Letzte erschlossen habe. Dazu fehlt mir die Kompetenz. Aber wie der Pianist die im Stück verborgenen Möglichkeiten farbenreich-differenziert auffächerte, auch immer eine hohe Spannung sicherte, war erkennbar. Da war nicht der geringste Anklang an „Keyserlinks Schlafmittel“ zu spüren.
Wer Show erwartet hatte, blieb enttäuscht.
Spontan stehender Applaus der 2400 Hörer löste nach knapp neunzig Minuten die Anspannung.
Seit den „Gurre-Liedern“ im März 2020 war dieser 3G-Abend unser erster Konzertbesuch in einem vollständig besetzten Saal.
Bildrechte: Alegria Konzert © Olaf Heine
Thomas Thielemann, 5.11.2021
9. Oktober 2021 Semperoper Dresden
2. Symphoniekonzert der Sächsischen Staatskapelle Dresden
Solisten der Staatskapelle bieten außergewöhnliches Tripelkonzert von Ludwig van Beethoven
Im ersten Teil des Konzertes stand Ludvig van Beethovens „Konzert für Klavier, Violine, Violoncello und Orchester C-Dur op.56“ auf dem Programm.
Dem, umgangssprachlich schlicht als Beethovens Tripelkonzert bezeichneten, in der Originalausgabe von1807 aber als „Grand Concerto Concertant“ betitelten Konzert für Klavier, Violine und Violoncello C-Dur op. 56 wird oft die unausgeglichene Behandlung der drei Solo-Partien vorgeworfen. In der solistischen Triogruppe fällt der unproblematische flüssig gehaltene Klavierpart im Gegensatz zum differenzierten Streicherduo auf. Noch immer kann man lesen, Beethoven habe mit der geradlinigen Gestaltung des Klavierparts seinem prominenten Klavierschüler Erzherzog Rudolph (1788-1831) die Möglichkeit eines solistischen Auftritts verschaffen wollen, während als Streicher Berufsmusiker vorgesehen waren.
Inzwischen gilt diese Anekdote als vom zeitweiligen Sekretär und späterem Biographen Beethovens Anton Schindler (1795-1864) gut erfunden, denn in früheren Quellen gibt es keine diesbezüglichen Hinweise. Auch habe der Komponist den Erzherzog erst 1808 kennen gelernt. Offenbar wollte nämlich Beethoven das Konzert vom Klavier aus leiten und trotzdem die Übersicht behalten.
Es besteht auch der Verdacht, dass der unkonventionelle Beethoven das Tripelkonzert überhaupt nicht für das Konzertrepertoire gedacht habe und eigentlich nur ein Paradestück für den Geiger Carl August Seidler (1778-1840) und vor allem dem ihm befreundeten Cello-Virtuosen Antonín Kraft (1749-1820) komponieren wollte.
Auch konnte ich keine Hinweise finden, ob und wie das Tripelkonzert unmittelbar nach der Entstehung 1804 in Wien aufgeführt worden ist. Erst, nachdem ein Klaviertrio eine kammermusikalische Aufführung vorgestellt hatte, kam mit einem Konzert am 18. Februar 1808 im Gewandhaus zu Leipzig eine Uraufführung zustande. Aber auch dann verblieben weitere zwölf Jahre bis zum nächsten Einsatz des Werkes.
Häufig wird die Überbetonung der Solisten gegenüber einem schwunglosen Orchesterpart erwähnt und dass andererseits die Streicherpartien „mehr schwierig als dankbar“ seien.
Der Cello-Solist unseres Konzertes, Norbert Anger, reklamierte die Komposition folglich für sein Instrument als „verstecktes Cellokonzert“, übernahm umgehend die Führung des Solisten-Trios. Hatte ihm doch Beethoven in der Partitur mit der Vorstellung der meisten Themen und dem zweiten Satz „Largo“ exzellente Vorlagen geliefert.
Sein Cello aus der Werkstatt des ersten bekannten neapelionischen Instrumenten-Meisters Alessandro Gagliani (1660-1725) begeistert mit seinem faszinierenden Klangbild.
Trotzdem missbrauchte der Cello-Virtuose seine komfortable Position nicht und ließ seinen Partnern ausreichend Platz für ihr Spiel. Unser Konzertmeister und inzwischen als Solist bewährter Matthias Wollong war ihm dabei mit seinem Instrument aus der Werkstatt von Andrea Guarnari (um 1626-1698) aus dem Jahre 1676 gleichberechtigter und immer wacher aufmerksamer Partner.
Mit der Doppelfunktion von Myung-Whun Chung als Klaviersolist und Orchesterleiter war mit der Aufführung die Komposition auf ihre Ursprünge zurückgeführt worden, auch wenn er als Dirigent von Thomas Meining und Holger Grohs hervorragend unterstützt wurde.
Es war faszinierend, zu erleben, wie konzentriert und gleichzeitig entspannt unsere „Hausgewächse“ miteinander musizierten. Ihr Zusammenspiel baute die Spannungen zwischen den drei oft kammermusikalisch gefärbten ausdrucksstarken Solopartien auf, ohne dem Orchesterpart seiner Bedeutung zu berauben.
Mit schlanker Klanggebung, sensiblen Tempovariationen und perfekt gesetzten Akzenten brachte sich das Orchester als vierter Partner ins Spiel
Letztlich war eine spannende und zugleich entspannte kompakte Aufführung entstanden, die der “Viererkonferenz“ im Konzertrepertoire ihre Daseinsberechtigung bescheinigte. Welches Orchester kann eine derartige Leistung aus eigener Kraft aufbringen?
Für mich stellte das gestrige Konzert damit in einem gewissen Gegensatz zur oft zitierten „Referenzeinspielung“ des Herbert von Karajans von 1969 dar, über deren Entstehung der dort als Cellist tätige Mstislav Rostropowitsch in seinen Memoiren spottete: „Ich habe versucht Beethoven zu spielen. David (Oistrach) hat geglaubt er spielt Beethoven. Svjatislav (Richter) spielte wie immer nur sich selbst und Karajan glaubte, er sei Beethoven.“
Eine packende Interpretation der vierten Symphonie von Johannes Brahms des Ersten Gastdirigenten mit einer begeisternden Leistung des Orchesters rundete das Konzert ab.
Autor der Bilder: Matthias Creutziger
Thomas Thielemann, 11.10.2021
18. September 2021
Hollywood im Dresdner Kulturpalast
Todd Fields dreht mit Cate Blanchett und den Musikern der Dresdner Philharmonie
Es wird kolportiert, der US-amerikanische Schauspieler und Filmproduzent Todd Fields habe fünfzehn Jahre an der Vorbereitung eines Film-Dramas über das Schicksal der erfolgreichen Musikerin Lydia Tár und deren Adoptivtochter Petra gearbeitet.
Weder das Wissen meiner zahlreichen betagten Musikfreunde noch die Internet-Suchmaschinen konnten Informationen zu einer Musikerin Lydia Tár etwas beitragen. Offenbar hat der mehrfach für einen Oskar-Nominierte fiktive Personen im Blickfeld.
Da der Handlungsort die deutsche Hauptstadt sei, wurde mit den Dreharbeiten im August dieses Jahres in Berlin begonnen. Die Hauptrolle hat Cate Blanchett übernommen.
Für die Konzertsequenzen des Filmprojekts wurde allerdings der Konzertsaal des Dresdner Kulturpalastes gewählt und zur Mitwirkung der russische Dirigent Stanislav Kochanovsky sowie 93 Musiker der Dresdner Philharmonie verpflichtet.
Ein Team von 120 Mitarbeitern der „X Filme International“ war zu den Dreharbeiten nach Dresden gekommen und hatte für die Maskenarbeiten, Catering bzw. als Aufenthaltsbereiche rund um den Kulturpalast Trucks geparkt sowie Zelte aufgestellt.
Gustav Mahlers fünfte Symphonie war für den Film möglicherweise wegen des Ohrwurm-Adagietto ausgewählt worden. Andererseits bietet sie aber wegen der Fülle von Themen, Gegenthemen, schnellen Stimmungswechseln und dem gewaltigen Dynamikumfang hervorragende Anknüpfungspunkte für eine reiche Filmmusik der Komponistin Hildur Guðnadóttir.
Jugendlich wirkende Dirigenten in den Vierzigern, die sich auch noch ordentlich bewegen und bereits akzeptabel Mahler interpretieren, sind nicht unbedingt häufig. Deshalb war die Wahl des 1981 in Leningrad geborenen Stanislav Kochanowsky für die Filmarbeit keine Überraschung, obwohl er im westeuropäischen Musikleben bisher wenig aufgefallen ist.
Dem ersten Satz der Symphonie des Dirigats fehlte doch der rechte Sinn für Balance, rhythmische Präzision und technische Sicherheit, wie die komplexe Partitur straffe Ansagen erfordert hätte. Auch drängte sich das Blech recht grob in den Vordergrund ohne die langen Passagen ordentlich freizulegen.
Den zweiten Satz empfand ich akzeptabel und das Scherzo richtig gut interpretiert, zumal ich mich inzwischen an die robusten Blechbläser gewöhnt hatte.
Seit Visconti mit seinem Film „Tod in Venedig“ das Adagietto einem breiten Publikum fast verramscht hatte, ist es für den anspruchsvollen Konzertbetrieb schwierig, beim Hörer die Kino-Assoziationen aus dem Kopf zu treiben. Ob bewusst, Kochanowsky ließ das Adagietto richtig verkitscht und süßlich spielen und bot damit einen regelrechten Gegensatz zum Scherzo und dem Finale. Eventuell deshalb auch die lange Satzpause vor der vermeintlichen Liebeserklärung an Alma Schindler und kaum Anklänge an Rückert „ich bin der Welt abhandengekommen“.
Die stationären Kameragruppen fielen im Konzertablauf letztlich nicht auf. Die 3-G- Regel, streng kontrolliert, erlaubte uns auf dem Platz die „MNB“ abzunehmen. Die Streicher spielten in klassischer „zwei-Musiker-ein Pult“ Anordnung und ein Statistenblock hatte ohne Zwischenleersitz platz genommen.
Mein persönlicher Glanzpunkt des „Events“ war das Gespräch mit einer Kameragruppe vor dem Konzert, die das Schließen einer Saaltür hinter „Besuchern“ aufzunehmen hatte. Mein Erstaunen, dass die Firma ARRI seit 1914, und noch immer in der Spitze der Filmaufnahmetechnik trotz kaum vergleichbarer Technik behauptet, brachte mir ein Altmännergespräch über meine Berührung mit der Arriflex16-Technik von vor fast sechzig Jahren und eine ausführliche Erläuterung des gestern zum Einsatz gebrachten Systems ARRI-ALEXA durch die jungen Männer ein.
Thomas Thielemann, 20.9.2021
Moritzburg für alle
Orchesterkonzert zum Abschluss des Moritzburg-Festivals 2021 mit Werken von Arriaga, Beethoven und Schumann
Im August jeden Jahres wird im einzigartigen Ambiente des Jagdschlosses Moritzburg unter der künstlerischen Leitung von Jan Vogler eines des renommiertesten Kammerfestivals von jungen Musikern gestaltet. Die chinesische Violinistin Mira Wang organisiert seit 2006 eine weltweite Ausschreibung, um Musikstudenten für eine mit dem Festival verbundene Kreativwerkstatt, in der Nachwuchstalente Impulse für den Aufbau eines Kammermusikrepertoires oder als Orchestermusiker erhalten, nach Moritzburg zu holen.. Diese etwa vierzig Instrumentalisten bilden dann auch das Moritzburg Festival Orchester, als dessen Chefdirigent seit 2019 der Katalane Josep Caballé Domenech wirkt. Den Dresdnern ist der Dirigent in bester Erinnerung, als er 2013 die Premiere der Carmen-Inszenierung von Axel Köhler als künstlerischer Leiter betreute.
Das Orchesterkonzert „Moritzburg für alle“ mit Kompositionen von Juan Crisóstomo de Arriaga, Ludwig van Beethoven und Robert Schumann fand für ein größeres Auditorium im Konzertsaal des Dresdener Kulturpalastes statt.
Das Geiger- und Komponisten-Talent Juan Cristómo de Arriaga y Balzola (1806-1826) gilt für viele Musikfreunde als der „Spanische Mozart“. Bereits mit dreizehn Jahren nahm er sich die dramatische Dichtung seines Landsmannes Luciano Comella (1751-1812) „ Die glücklichen Sklaven“ (im Original „Los esclavos felices“) vor, um daraus eine Oper zu schaffen. Dabei sollte es dem frühreifen Multitalent bekannt gewesen sein, dass sein produktiver Landsmann Blas de Laserna (1751-1816) und Freund des Comella eine gleichnamige Oper bereits 1793 in Madrid zur Aufführung gebracht hat.
1860 sei Arriagas Werk in Bilbao aufgeführt worden. Von der Partitur sind allerdings nur die Ouvertüre und Arien-Fragmente erhalten geblieben. Als Arriaga 1821 an das Pariser Konservatorium ging, nahm er die Ouvertüre mit und revidierte die Komposition entsprechend den Studienfortschritten bei seinen Lehrern Fetis und Cherubini. Auch Einflüsse der Wiener Klassik und Rossinis sind in der erfrischenden Ouvertüre zu erkennen.
Noch vor dem Erreichen seines zwanzigsten Geburtstags starb Juan Chrisostomos de Arriaga 1826 an Tuberkulose.
Seine Symphonie in D-Dur von 1824 und seine Streichquartette, die bei aller Formstrenge elegant, leicht und melodiös daher kommen, zeugen von einer eigenen Tonsprache, bei allen Einflüssen von Haydn und dem frühen Beethoven sowie Parallelitäten zu Franz Schubert.
Dem Aufleben des baskischen Nationalismus verdanken wir die Wiederentdeckung des in Vergessenheit geratenen Schaffens.
Mit anmutigem Fluss der Melodie eröffnete das Orchester die Ouvertüre. Mit natürlicher, frischer Lebendigkeit wurde ein detailliertes Klangbild gezeichnet, ohne dass dabei Anklänge an Rossini, insbesondere hinsichtlich der Betonung der Holzbläser, geleugnet wurden.
Dem, umgangssprachlich schlicht als Beethovens Tripelkonzert bezeichneten, in der Originalausgabe von1807 aber als „Grand Concerto Concertant“ betitelten Konzert für Klavier, Violine und Violoncello C-Dur op. 56 wird oft die unausgeglichene Behandlung der drei Solo-Partien vorgeworfen. In der solistischen Triogruppe fällt der unproblematische flüssig gehaltene Klavierpart im Gegensatz zum differenzierten Streicherduo auf.
Der Klavierpart sollte dem in der Entstehungszeit 1803 bis 1804 noch jungen Beethoven-Klavierschüler Erzherzog Rudolph (1788-1831) zugedacht gewesen sein, während als Streichereinsätze renommierte Berufsmusiker vorgesehen waren. Inzwischen gilt diese Anekdote als vom zeitweiligen Sekretär und späterem Biographen Beethovens Anton Schindler (1795-1864) gut erfunden, denn in früheren Quellen gibt es keine diesbezüglichen Hinweise. Auch habe der Komponist den Erzherzog erst 1808 kennen gelernt. Vermutlich wollte Beethoven das Konzert vom Klavier aus leiten.
Auch besteht der Verdacht, dass der unkonventionelle Beethoven das Tripelkonzert überhaupt nicht für das Konzertrepertoire gedacht hatte und eigentlich nur ein Paradestück für den Geiger Carl August Seidler (1778-1840) und vor allem für den ihm befreundeten Cello-Virtuosen Antonín Kraft (1749-1820) komponieren wollte.
Häufig wird die Überbetonung der Solisten gegenüber einem schwunglosen Orchesterpart erwähnt und dass andererseits die beiden Solo-Streicherpartien „mehr schwierig als dankbar“ seien
Der Cello-Solist unseres Konzertes, Jan Vogler, inzwischen im 58. Lebensjahr, reklamierte die Komposition folglich für sein Instrument als „verstecktes Cellokonzert“, übernahm umgehend die Führung des Solisten-Trios. Hatte ihm doch Beethoven mit der Vorstellung der meisten Themen in der Partitur und dem zweiten Satz „Largo“ exzellente Vorlagen geliefert.
Trotzdem missbrauchte der Cello-Virtuose seine komfortable Position nicht und ließ seinen jüngeren Partnern ausreichend Platz für ihr Spiel. Der als einer der aufregendsten und einzigartigsten Instrumentalist der Gegenwart geltende finnische Pianist Juho Pohjonen zeigte nicht die geringsten Anzeichen einer Unterforderung seines virtuosen Könnens. Selbstbewusst bewegte sich sein Spiel im Solisten-Trio.
Dem neunzehnjährigen Kevin Zhu, der mit einer 1722 gefertigten Stradivarius-Geige angereist ist, war der Violen-Part übertragen worden. Zhu war uns bereits von seiner Mitwirkung beim 24-Stunden-Lifestreamfestival „Music Never Sleeps DMF“ der Musikfestspiele 2020 mit seiner Violine-Bearbeitung des „Morgen“ von Richard Strauss bekannt. Zhu komplettierte das engagierte Gespräch zwischen den drei Solisten, zu dem das Orchester unter Josep Caballé Domenech wichtige Aspekte beizusteuern wusste.
Letztlich war eine spannende Aufführung entstanden, die der “Viererkonferenz“ ihre Daseinsberechtigung im Konzertsaal bescheinigte.
Für uns aufgeschlossene Musikfreunde ist es unverständlich, dass gleichzeitig zwei die Musik ihrer Epoche so maßgeblich beeinflussende Komponisten, nämlich Richard Wagner von 1843 bis 1849 und Robert Schumann von 1844 bis 1850, in der von 90 000-Einwohnern bevölkerten Stadt Dresden lebten, ohne dass intensive Wechselwirkungen zwischen ihnen entstanden wären. Schumann ließ Wagners Einladungen zu den Uraufführungen von „Rienzi“, da hätte der einflussreiche Musikkritiker der „Neuen Zeitschrift für Musik“ noch aus Leipzig anreisen müssen, und des „Fliegenden Holländers“unbeantwortet. Auch reagierte er distanziert auf Wagners fast flehentliches „wertester Freund, halten wir doch zusammen! Wer weiß, wozu das gut sein dürfte,-zumal da ich hoffe, dass wir uns in unserer künstlerischen Richtung doch begegnen“. Die Hofmusikerkreise und die Theaterszene erschlossen sich dem Ehepaar Schumann nicht. Ihr Umgang konzentrierte sich auf einen Kreis bildender Künstler mit glanzvollen Klavier- und Kammermusikmatineen für geladene Gäste. Der immer wieder hervorgehobene Meinungsaustausch der beiden über die Situation der Oper blieb unerquicklich. Während sich Wagner vom „Rienzi zum Lohengrin“ entwickelte, blieb Schumann mit der „Genoveva“ bei einem Paradestück der theatralischen Moderne hängen. Schumann verfolgte zwar die musikalischen und politischen Entwicklungen mit wachem kritischem Blick, vermied aber die Verbindungen zu Wagners Umgang.
Freudig begrüßte er den „Völkerfrühling 1848“. Die Dresdner Maiaufstände 1849 verlebten die Schumanns allerdings im Müglitztal auf dem Landgut Maxen der Kunstfreunde Amalie Friedericke Serre (1800-1872) und Friedrich Anton Serre (1789-1863) 18 Kilometer südlich der Stadt, während der Hofkapellmeister Richard Wagner in den Strudel der Ereignisse gerissen wurde.
Zu dieser Zeit war aber die träumerisch fantasievolle Komposition op. 61, die wir inzwischen als Schumanns zweite Symphonie benennen, bereits im Leipziger Gewandhaus aufgeführt worden. Für die Arbeit in der Zeit vom Dezember 1845 bis Oktober 1846 hatte Robert Schumann nach schweren seelischen sowie körperlichen Depressionsfolgen seine ungleichen Charaktere Florestan und Eusebius befragt, aber auch Johann Sebastian Bach zur Mitwirkung herangezogen, die C-Dur-Komposition geschaffen und nach Leipzig zur Uraufführung gegeben.
An Josep Caballé Domechs Interpretation der Schumann Symphonie hat mir besonders gefallen, dass er Glättungen von Spuren der psychischen Schwankungen des Komponisten vermieden hat und die Brüche der Komposition eher betonte. Dem noch nach Momenten der Hoffnung suchender erster Satz folgte ein zurückhaltend differenziertes Scherzo mit einem faszinierenden Zusammenspiel der Streicher. So als warnte Eusebius, „sei vorsichtig. Du hast die Krankheit noch nicht überwunden“.
Lediglich im „Adagio espressivo“ liess Domech Emotionen zu, um dann mit Triumph den Finalsatz zu gestalten.
Interessant war mir, dass abgesehen von den beiden jüngeren Solisten und der Konzertmeisterin nur etwa jeder vierte der doch jungen Orchestermusiker eine Digital-Partitur mit einem Tablet auf dem Pult liegen hatte und inzwischen auf die Papierform verzichtete.
Thomas Thielemann 22.8.2021
(c) Nicolaj Lund / Oliver Killig / Steffen Henicke
23. Juni 2021
Konzertsaal im Kulturpalast Dresden
Vorabendkonzert des „Schostakowitsch-Anti-Festivals Gohrisch“ in der Pandemie
Unerhört schön nannte Dmitri Schostakowitsch (1906-1975) die Gegend um den Kurort Gohrisch, als er 1960 im damaligen Gästehaus des Ministerrates der DDR, heutigem „Parkhotel Albrechtshof“, wohnte. Eigentlich sollte er in Dresden die Musik für den Film „Fünf Tage- fünf Nächte“, einer idealisierten Verklärung der Umstände, wie Rotarmisten nach dem zweiten Weltkrieg die ausgelagerten Kunstschätze der Gemäldegalerie Alte Meister aufspürten, komponieren und sich vor Ort von der zerstörten Stadt inspirieren lassen. Die Organisatoren wollten dem Gast im 40-km entfernten Luftkurort gute Wohnbedingungen bieten.
„Die schöpferischen Arbeitsbedingungen haben sich gelohnt: ich habe dort mein 8. Streichquartett komponiert.“
Im Garten des Gästehauses am Teich, unter einer Buche sitzend, arbeitete der Komponist zwischen dem 12. und 14. Juli 1960 an der Partitur dieses „ziemlich verzweifelten Stückes Musik“. Später hat Schostakowitsch das Werk als sein Requiem bezeichnet. Auch dürfte es heute sein meistgespieltes Streichquartett bzw. seine Kammersymphonie op. 110a, eine Bearbeitung des Quartetts von Rudolf Barschai, sein.
Im Anschluss an die Berliner Erstaufführung seiner fünfzehnten Symphonie durch das Moskauer Staatsorchester verbrachte Schostakowitsch im Mai und im Juni 1972 mit seiner Frau Irina einige Wochen im Gohrischer Gästehaus. Dort besuchte ihn auch Kurt Sanderling (1912-2011), der seit 1942 Schostakowitschs Schaffen als Dirigent der Leningrader Philharmoniker begleitet hatte und ab 1960 wieder in Berlin sowie ab 1964 in Dresden tätig war.
Auf Initiative des Konzertdramaturgen der Sächsischen Staatskapelle Dresden Tobias Niederschlag (geboren 1976 und derzeit Leiter des Konzertbüros des Gewandhausorchesters Leipzig) gründete sich am 22. Juni 2009 der Verein „Schostakowitsch in Gohrisch e.V.“, um den Aufenthalt des Komponisten im Kurort ins öffentliche Bewusstsein zu bringen und angemessen zu würdigen.
Mangels eines repräsentativen Konzertraums, letztlich auch aus Geldmangel, griff der Verein auf eine Scheune mit Betonwänden, Dachstuhl und Asbestdach zurück, die leergeräumt eine grandiose Akustik bietet. Dank der Mitwirkung von Musikern der Dresdener Staatskapelle zündete die Idee und 2010 waren die „Internationalen Schostakowitsch Tage Gohrisch“ als das „Ani-Festival“ geboren.
Durch die Mitwirkung namhafter Gäste ist die „Konzertscheune von Gohrisch“ inzwischen die Pilgerstätte der Verehrer des Komponisten und Menschen Dmitri Schostakowitsch. Zu den ersten Unterstützern gehörte Michael Jurowski (geboren 1945), der als Kind mit Schostakowitsch vierhändig Klavier spielte, und als besonders authentischer Interpret seiner Kompositionen gilt.
Für drei Tage, solange arbeitete der Komponist an seinem Streichquartett, beherbergt der 800-Seelen-Ort in der Nähe der Grenze zur Tschechischen Republik das weltweit einzige regelmäßige Festival für den bedeutendsten russischen Komponisten.
Pandemiebedingt musste das Festival 2020 erstmalig ausfallen und wird 2021 aus Gründen der Planungssicherheit in das „Europäische Zentrum der Künste“ Dresden-Hellerau ausweichen.
Die Geiger Gidon Kremer und Dmitry Sitkovetsky werden ab dem 24. Juni ebenso erwartet wie die Pianisten Juliana Awdeeva und Dmitry Masleev. Auch das Borodin-Quartett, die Formation Quatuor Daniel und Petr Popelkas „kapelle21“ haben ihre Mitwirkung zugesagt.
In acht Veranstaltungen erklingen unter anderem auch mehrere Uraufführungen und Deutsche Erstaufführungen von Schostakowitsch Kompositionen. So auch eine frühe Bearbeitung Schostakowitschs von Beethovens Adagio cantabile aus der „Pathétique“.
Inzwischen traditionell, bot am Vorabend der Eröffnung des Festivals die Sächsische Staatskapelle, diesmal im Konzertsaal des Dresdner Kulturpalastes, ein Vorabendkonzert unter der Leitung eines Sohnes Michael Jurowskis, Vladimir Jurowski.
Sein Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 a-Moll komponierte Schostakowitsch als op. 77 in der Zeit vom Juli 1947 bis zum März 1948 in der Zeit des beginnenden Kalten Krieges und der folglich verschärften Kulturpolitik in der UdSSR. Erst 1955, zwei Jahre nach Stalins Tod wurde das Konzert mit dem Solisten David Oistrach von den Leningrader Philharmonikern unter der Leitung von Jewgeni Mrawinski uraufgeführt.
Zu unserer großen Freude hatten 105 Musikerinnen und Musiker auf dem Podium des Dresdner Kulturpalast-Konzertsaales Platz genommen. Den gewaltigen Solopart hatte Leonidas Kavakos übernommen.
Der Solist bewältigte die Kraftprobe des über 40 Minuten fast ununterbrochenen Spiels auf eine schöne und spannende Art und Weise. Nach dem düsteren Nocturne trieb Kavakos im Scherzo das Orchester gnadenlos durch die Partitur. Der schneller und lauter werdende scheinbar nie aufhörende Rhythmus glich einer enormen Explosion. Besonders beeindruckend das Andante mit der breit angelegten Kadenz, bevor diese direkt in den letzten Satz, einem grotesken Tanz, mündete.
Stehende Ovationen dankten dem Solisten, dem Dirigenten und der hervorragend aufgestellten Staatskapelle.
Mit der Ballettmusik „L´Oiseau de feu“ konnte Vladimir Jurowski im zweiten Konzertteil sein souveränes Können als Musikalischer Leiter der Sächsischen Staatkapelle ausleben.
Die Darbietung bestach durch eine hohe Spielkultur, plastische Klangfarben und -schichtungen sowie ein hervorragend abgerundetes Klangbild. Schlieren in der Tonfolge wusste Jurowski stellenweise zu betonen und mit sicherer Hand wieder untertauchen zu lassen. Deutlich betonte er mit seiner Interpretation, wieviel russische Tradition im Frühwerk Strawinskys steckt, und stellte damit die Verbindung zu Schostakowitschs Werk her.
Thomas Thielemann 25.6.2021
Rechteinhaber der Bilder: Oliver Killig (Konzertscheune Gohrisch)
Matthias Creutziger (Vladimir Jurowski)
Alfonso Salguiero (Leonidas Kavakos)
12. Juni 2021 im Kulturpalast Dresden
Rudolf Buchbinder, das Kammerorchester Wien-Berlin und viel Mozart
Die Rivalität der Wiener und der Berliner Philharmoniker um den Spitzenplatz des weltbesten Orchesters war für Simon Rattle 2005 Anlass, zu seinem 50. Geburtstag ein gemeinsames Konzert beider Klangkörper zu dirigieren. Diese erste erfolgreiche Zusammenarbeit der konkurrierenden Orchester führte zum Entschluss, in einer gelegentlichen Formation die besonderen Qualitäten beider Ensembles, die geschmeidige Eleganz und Noblesse der Wiener mit dem zupackenden, leidenschaftlichen Spiel sowie der solistischen Brillanz der Bläser der Berliner, zu kombinieren. Seit Beginn dieser Zusammenarbeit ist Rainer Honeck Konzertmeister, Dirigent und Künstlerischer Leiter. Honeck, 1961 in Nenzing (Vorarlberg) geboren, ist seit 1984 Konzertmeister des Orchesters der Wiener Staatsoper und seit 1962 Konzertmeister der Wiener Philharmoniker.
Das Klavierkonzert Nr.9 in Es-Dur KV 271, vermutlich im Dezember 1776 oder im Januar 1777 entstanden, ist wahrscheinlich Mozarts erste bedeutende Komposition. Mit der Meisterschaft seiner Orchestrierung und in seiner, alle Konventionen sprengenden Wirkungen hat es keine Vorgänger in seinem Genre.
Zur Herkunft der unterschiedlichen Beinamen des Konzertes, „Jenamy“, „die jenomy“ oder „Jeunehomme“, gibt es reichliche Deutungen. Inzwischen scheint aber sicher, dass die Tochter des französischen Tänzers Jean-Georges Nowerre (1727-1810), eines Freundes Mozarts, Adressatin dieser Widmung war. Nowerre wirkte von 1767 bis 1774 als Ballettmeister in Wien. Dessen älteste Tochter Luise Victoire (1749-1812), eine gute Klavierspielerin, war mit einem Joseph Jenamy verheiratet und Mozart habe sie sehr verehrt.
Für eine Interpretation von Mozarts frühem Klavierkonzert Nr. 9 Es-Dur KV 271 war Rudolf Buchbinder in den Konzertsaal des Kulturpalastes nach Dresden gekommen. Sonst ein häufiger Gast der Sächsischen Staatskapelle, mit der er auch oft als Solist und Leiter der Konzerte musizierte, war er Solopartner des Kammerorchesters Wien-Berlin.
Das Buchbinders Klavierspiel auch über die Jahre neben der Reife der Technik die notwendige Spontanität behalten hat, war keine Überraschung. Auch dass uns die sprühend intelligente Mozart-Deutung ein Konzerterlebnis der Sonderklasse verschaffte, erfüllte alle Erwartungen.
Ein hell leuchtende Klangbild und die spannungsgeladene Musizierfreude des Kammerorchesters Wien-Berlin führten zu einem steten, intensiven Dialog mit dem Pianisten. Vor allem begeisterte die kühne Quecksilbrigkeit des Finalsatzes.
Im zweiten Konzert-Teil folgte Mozarts Divertimento B-Dur, KV 287, die “Zweite Lodronische Nachtmusik“. Wie im Jahre 1776, erhielt Mozart den Auftrag, auch zum Namenstag der Gräfin Maria Antonia Lodron am 13. Juni des Jahres 1777 zur Komposition und Aufführung eines Divertimentos, eigentlich einer Zerstreuung, eines Vergnügens. Mozart hatte aber für die Unterhaltung der Salzburger Gäste der Gräfin ein 45-minütiges Bravourstück für die Erste Geige vorbereitet und selbst diesen Part übernommen.
Eingebunden in eine dichte kammermusikalische Begleitung von Streichern und zwei Hörnern meisterte Rainer Honeck die Primgeiger-Aufgabe der sechssätzigen Darbietung. Von spritziger Munterkeit, Leichtigkeit und Eleganz bis zu tiefer Empfindung bot das Konzert alles, was man von großer Musik erwartete.
Thomas Thielemann, 13.6.2021
Autor der Bilder: Oliver Killig
1. November 2020 Konzertsaal des Kulturpalastes Dresden
Die Sächsische Staatskapelle geht mit Julia Fischer in den
„Wellenbrecher Lock down“
Nun hatte ich die Staatskapelle am vergangenen Dienstag zu früh in den „Wellenbrecher-Lock down“ verabschiedet. Denn kaum war der Termin „2. 11. 2020“ verkündet, lief die Organisation zur Vorverlegung des 2. Sonderkonzerts auf den Vormittag des 1. November an. Als dann noch die Krankmeldung von Nikolaj Szeps-Znaider kam, lief das Organisationsteam zur Hochform auf und gewann Julia Fischer als Solistin für das Beethoven-Violinkonzert.
Eröffnet wurde das Konzert von der Blechbläser-Gruppe mit den beiden Wiener Fanfaren TrV 250 und TrV 248, die, anders als beim ersten Konzert, einen nobleren Eindruck vermittelten.
Dann: die mit heißer Nadel genähte Kombination für das Beethoven-Violinkonzert. Da war aber nichts von Improvisation zu spüren. Eine perfekte Synchronität zwischen der Solistin und dem Orchester waren zu spüren. Die Streicher, ob der Corona-Entwicklung, wieder mit eigenen Notenpulten ausgestattet, waren aber nach meinem Empfinden nicht sehr auf Abstand bedacht, so dass sich ein ordentliches Klangbild entwickeln konnte. Besonders beeindruckten Julia Fischers extrovertiertes Spiel für die Kadenzen. Mit dem Larghetto legte sich eine recht melancholische gedrückte Stimmung über das Publikum, da nun doch eine ordentliche Unsicherheit bleibt.
Diese gedrückte Stimmung konnten auch die leicht gefederten Rhythmen des Finales und die abschließende brillante Interpretation von Robert Schumanns Opus 52, Ouvertüre, Scherzo und Finale nicht auflösen.
Autor der Bilder: Matthias Creutziger
27. Oktober 2020, Thomas THielemann
Es verabschieden sich Musiker und Chefdirigent in neuen Lockdown
Sächsische Staatskapelle mit Christian Thielemann und Rudolf Buchbinder
Ein durchweg beglückender Konzertabend, den man durch eine Rezension eigentlich nur „zerschreiben“ kann. Das Beethoven Klavierkonzert Nr. 4 mit dem sanften Anschlag Rudolf Buchbinders und der hervorragend aufgestellten Sächsischen Staatskapelle war in diesem Niveau schon öfter zu hören.
Arnold Schönbergs „Verklärte Nacht“ in der Bearbeitung für Streichorchester, seltener auf dem Konzertprogramm, bot dank des Dirigats von Christian Thielemann und der Güte der fünfzig Streicher des Orchesters, schon mit der Durchsichtigkeit Darbietung ein Novum im Dresdner Konzertleben.
Auch die Fanfaren der Blechbläser und Pauker von Richard Strauss fanden ihr begeistertes Publikum.
Ein Schatten legte sich über den Abend, als der Direktor der Staatskapelle Adrian Jones überflüssigerweise die Maskenpflicht während des Konzertes verkündete, aber gleichzeitig das Folgekonzert mit Staatskapelle und Chefdirigenten am kommenden Dienstag in Frage stellte. Hatte doch die Vor-Corona-Konzerttätigkeit im Frühjahr mit den ähnlich begeisternden „Gurreliedern“ ihren Abschluss gefunden.
Autor der Bilder: Matthias Creutziger
Thomas Thielemann, 29.10.2020
Staatskapelle Dresden besteht seit 472 Jahren
22. September 2020
Konzertsaal des Kulturpalastes Dresden
Von der kurfürstlichen Hofkapelle zur Sächsischen Staatskapelle Dresden
Am 22. September feierten die Musiker und Freunde der Sächsischen Staatskapelle Dresden im Kulturpalast der Stadt den 472. Geburtstag des Klangkörpers.
Eigentlich könnte die Kapelle auf ein längeres Bestehen blicken, wenn nicht die konfessionellen Auseinandersetzungen eine Unterbrechung der frühen Musikkultur im sächsischen Raum zur Folge gehabt hätten. Der später erste Kapellmeister der heutigen Staatskapelle Johann Walter (1496-1570), ein Freund Martin Luthers, war bereits 1524 als Bassist und kurze Zeit später als Componist einer kurfürstlichen Hofkapelle des Johann Friedrich I. von Sachsen nachweislich tätig gewesen. Der Kurfürst und Herzog aus dem Hause der ernestinischen Wettiner, auch Friedrich der Großmütige genannt, residierte in Torgau auf dem Schloss Hartenfels, dem damaligen politischen Zentrum der Reformation. Johann Walter, der nach der Herkunft seiner Mutter auch als der Blankenmüller bekannt war, wurde der Herausgeber des ersten evangelischen Chorgesangsbuches.
Eine wegen des Rüstungs-Finanzbebarfs 1526 angestrebte Auflösung der Capelle konnte durch eine Intervention Philipp Melanchtons (1497-1560) zunächst verhindert werden. Als die Hofkapelle dann trotz Gehaltsabsenkung der Musiker 1530 doch aufgelöst werden musste, wollte die Torgauer Bürgerschaft nicht auf die ihnen liebgewordene Kirchenmusik verzichten. Sie vereinte Johann Walter und einige der Musiker zur „Cantoreigesellschaft“ und stellte neben der Besoldung auch Sänger zur Verfügung. Martin Luther war über die Auflösung der Hofkapelle sehr aufgebracht und erreichte noch mit einem groben Brief, dass der Kurfürst der bürgerlichen Gesellschaft zumindest einen jährlichen Zuschuss von 100 Gulden zusagte.
In der Folge der Niederlage des Schmalkaldener Bundes 1547 verloren die Ernestiner die Herrschaft und Kurfürst wurde Moritz von Sachsen (1521-1553) aus dem Hause der anhaltinischen Wettiner.
Als Moritz die Hochzeit seines Bruders August mit einer dänischen Prinzessin auszurüsten hatte, entschloss er sich zur Gründung einer eigenen Kapelle, die zunächst bei den Hochzeitsfeierlichkeiten wirken sollte. Die Stiftungsurkunde unterzeichnete Moritz am 22. September 1548, dem Tag, der als Geburtstag der ohne Unterbrechungen existierenden sächsischen Kapelle gilt.
Die neugegründete „Capelle“ musizierte erstmals am 8. Oktober 1548 unter „Johann Walters Direction“ in Torgau, siedelte dann mit dem kurfürstlichen Hofe als dessen Hofkapelle nach Dresden.
Über lange Zeit wurden die Erinnerungskonzerte an die Gründung genutzt, um an frühere komponierende kurfürstliche und staatliche Kapellmeister und Musiker mit der Wiedererweckung ihrer Werke zu erinnern. Das waren zum Teil recht interessante und des Hörens werten Begegnungen.
In den letzten Jahren wird der Termin des Geburtstagskonzertes aber verwendet, um auch den heimischen Freunden der Staatskapelle das Programm der in jedem Jahr anstehenden Europa-Tournee vorzustellen. Dabei macht es Sinn, das Konzert nicht im Semperbau mit seinen spezifischen Bedingungen zu spielen sondern stattdessen den Konzertsaal des Kulturpalastes mit seinen breiteren Möglichkeiten zu nutzen.
Geplant war eine Tournee des Orchesters mit dem Ersten Gastdirigenten Myung-Whun Chung und dem Capell-Virtuosen Sir András Schiff mit Konzerten in Antwerpen, Luxemburg, Brüssel, Wien und Bratislava. Corona-bedingt wurde aber ein Konzert nach dem anderen abgesagt, so dass letztlich nur ein zusätzlich in die Planung einbezogenes Gastkonzert in Köln stattfinden wird.
Sein Konzert für Klavier und Orchester Nr.1, d-Moll, komponierte der junge Johannes Brahms (1833-1897) zunächst für zwei Klaviere. Jahre später, 1854 begann er die Sonate für Orchester zu instrumentieren. Zunächst als Symphonie angestrebt, entstand nach zähem Ringen und unzähligen Änderungen in den Jahren bis 1859 der Koloss des ersten Klavierkonzertes.
Auf dem Podium waren um den Dirigenten Myung-Whun Chung, den Pianisten und einem Konzertflügel der Dresdner Philharmonie herum, natürlich mit dem vorgeschriebenen Zwischenraum, auf dem restlichen Teil der 220m²-Bühne etwa 6o Musiker der Staatskapelle in den gebührenden Abständen platziert. Jeder der Musiker hatte sein eigenes Notenpult.
András Schiff meisterte die hohen technischen Anforderungen ohne dabei als Virtuose glänzen zu können, aber mit der gewohnten Souveränität.
Während man das Klavier hörte, wie man es bei Brahms von vielen früheren Aufführungen gewohnt war, unterschied sich der Orchesterklang doch deutlich vom Vertrauten. Der Orchesterpart hörte sich weicher, zum Teil leicht zerfasert und vor allem etwas stumpf an. Es war zu spüren, dass den Musikern der unmittelbare Kontakt zu den Partnern fehlte, jeder bis zu einem gewissen Grade vor sich hin spielte und sich damit die Klänge nicht wie gewohnt mischten.
Über weite Strecken tauschten Solist und Orchester die Führungsrolle, indem Schiff das Orchester begleitete.
Weniger problematisch erschien mir die anschließende Darbietung der 7. Symphonie d-Moll von Antonin Dvořák (1841-1904). Auch hier kam der Klang weicher als vertraut, doch etwas geschlossener, wenn auch nicht kompakt. Musiziert wurde gewohnt präzise, aber es fehlte eben das Mischen der Töne. Ich hatte den Eindruck, dass die Aufgabe des Dirigenten an Bedeutung gewonnen hat. Und da das Orchester mit seinem Ersten Gastdirigenten Myung-Whun Chung bestens vertraut ist, haben die Partner offenbar das Mögliche geboten.
Der traditionenell dem jährlichen Geburtstagskonzert folgende Empfang der „Gesellschaft der Freunde der Staatskapelle Dresden“ für die Musiker ihres Orchesters wurde in diesem Jahr zum Corona-Opfer.
Thomas Thielemann, 25.9.2020
Autor der Bilder: Matthias Creutziger
Variierte Saisoneröffnung 2020/21 der Sächsischen Staatskapelle
Christian Thielemann, Anja Kampe und die Musiker erreichen auch mit reduziertem Programm große Emotionen
Für das erste „Variations-Symphoniekonzert“ der „Sächsischen Staatskapelle Dresden“ der Saison 2020/21 ist die Thüringerin Anja Kampe in jene Stadt gekommen, in der sie den größeren Teil ihres Gesangsstudiums absolvierte, um unter der musikalischen Leitung Christian Thielemanns die „Wesendonck-Lieder“ Richard Wagners zu singen.
Nun ist die etwas verquirlte Geschichte um die Vertonung der Gedichte von Mathilde Wesendonck hinreichend publiziert worden, so dass ich mich auf die Konzerteindrücke konzentrieren möchte. Ursprünglich als eine Art Studie für eine Frauenstimme und Klavier komponiert, hatte der Wagner-Bewunderer Felix Mottl eine Fassung für großes Orchester geschaffen. Trotz der gegenüber einer „Tristan-Aufführung“ auf 54 Musiker reduzierten Orchesterbesetzung, gelingt es Christian Thielemann, musikalische Höhepunkte zu schaffen und endlich wieder einmal einen kompakten Eindruck von Wagner ins Haus zu zaubern. Auch wirken die Gedichte der Mathilde Wesendonck ohnehin, als seien sie aus den Texten der Musikdramen des Komponisten extrahiert. Dank der Orchesterbearbeitung Mottls gewannen die Lieder Struktur, und so konnte Anja Kampe mit ihrem von „Tristan-Harmonien“ ahnungsvoll durchzogenem Gesang die Zuhörer berühren und die Begabung und Leuchtkraft ihrer Stimme zur Geltung zu bringen. Ohne Forcieren und mit unaufdringlichem Charisma konnte sie ihre reichen Isolde-Erfahrungen einsetzen.
Mit „Der Engel“ beginnen der einfühlsame Dirigent und die Sängerin den Zyklus zunächst geradlinig, schlicht, lassen Orchestermusik und Stimme lyrisch-sanft fließen. Mit dem „Stehe still“ durfte dann das Brausen der Zeit wilder aufrauschen, ohne dass sich der Gleichklang von Solistin und Orchester verlieren. Die als Studie für den Tristan ausgewiesene Komposition „Im Treibhaus“ vermittelte bereits mit leisen ahnungsvollen Tönen das hypnotisch, schwebende des Vorspiels zum dritten Akt des Musikdramas. Mit „Schmerzen“ ließen die Interpreten den Sonnenauf- und –untergang, die Beziehung von Leben und Tod aufklingen, während mit „Träume“ noch einmal die Visionen des Tristan heraufbeschworen wurden.
Die emotional beeindrucken Wagner-Orchesterliederwurden, gewissermaßen als Auftakt des Richard-Strauss-Zyklus der Staatskapelle, von dessen Werken ein gerahmt. Zur Einstimmung hörten wir aus der Strauss-Oper „Ariadne auf Naxos“ die Ouvertüre und eine für kleines Orchester bearbeitete Tanzszene, die bereits den Eindruck vermitteln, dass es für seine Musik nicht unbedingt der großen Orchesterbesetzung bedarf, um emotionale Wirkungen zu erzielen.
Dem Ariadne-Auftakt folgte das „Duett Concertino für Klavier und Fagott“ mit Streichorchester und Harfe F-Dur Trenner-Verzeichnis 293; von Richard Strauss in den Jahren 1946 und 1947 geschrieben. Die Komposition ist Hugo Burghauser (1896-1982) gewidmet, der von 1919 bis 1938 Erster-Fagottist und ab 1932 etwas umstrittener gewählter Orchestervorstand der Wiener Philharmoniker war. Burghauser hatte sich zwar 1938 von seiner jüdischen Frau getrennt, verließ aber Österreich wegen seiner Nähe zum Austro-Faschismus. Mit Strauss war er befreundet, hatte gute Verbindungen zu Toscanini und galt als umgänglicher etwas brummiger Mensch.
Mit diesem letzten, im Dezember 1947 fertiggestellten Instrumentalwerk, schickte uns Strauss auf eine kurzweilige Reise in eine reine Welt von Märchenschönheiten, die der Altmeister mit musikalischem Augenzwinkern garnierte: ein Bär, das Fagott, umwirbt eine Prinzessin, nämlich die Klarinette. Zunächst vergeblich, aber erst als die Prinzessin mit dem Bären auch tanzt, verwandelt sich dieser in einen Prinzen. „Am Ende wirst auch du ein Prinz und lebst glücklich bis ans Ende…“ schrieb Strauss dem Widmungsträger.
Die virtuosen Solisten Wolfram Große, seit 1999 Soloklarinettist der Staatskapelle, und Philipp Zeller, seit 2015 Solofagottist des Orchesters, packten mit herzhaftem Zugriff und betörendem Schmelz die Partitur und schufen, unterstützt von einem großartigen Orchester, eine schwelgerische Klangmalerei. Nicht zuletzt ihre Lust an technischen Spielereien machte die Darbietung des dreisätzigen Werkes zum besonderen Erlebnis.
Dem Lieder-Block schloss sich mit den „Metamorphosen für 23 Solostreicher“ aus dem Jahre 1945 ein weiteres Alterswerk des Komponisten an. Richard Strauss sah diese Arbeit als traurige Elegie für die Zerstörung der deutschen Kultur im Zweiten Weltkrieg. „Mein schönes Dresden-Weimar-München, alles dahin“ klagte der 81-jährige.
Vom Beginn der Metamorphosen an wurden wir von der spätromantischen üppigen Melodiensprache des Richard Strauss erfasst und von der intimen Interpretation eingefangen. Christian Thielemann führte den Bogen der Komposition nahtlos von der düsteren Eröffnung zu einem majestätischen Gipfel und wieder zurück. Die vielschichtigen Überlagerungen der Stimmen zauberten einen faszinierend-suggestiven dichten Klangteppich in den Raum, der Resignation und Niedergeschlagenheit eigentlich nicht aufkommen ließ. Präzise präsentierten sich die hervorragenden 23 Streicher, von denen sich jeder in einen Solopart zu bewähren hatte. Wieder einmal führte Christian Thielemann vor, über welches Potential hervorragender Streicher die sächsische Staatskapelle verfügt.
Der heftige und langandauernde Applaus ließ fast vergessen, dass nur ein mäßiger Teil der Plätze im Haus besetzt gewesen waren.
Thomas Thielemann, 1.9.2020
Bilder (c) Matthias Creutziger
Staatkapelle Dresden eröffnet die Zwischensaison „Aufklang“
27. Juni 2020
Mit Purcell, Mendelssohn, Wolf und Haydn und 380 Besuchern
Am 27 Juni 2020 begann die Sächsische Staatskapelle Dresden ihre Aufklang-Zwischensaison mit einem „Außerordentlichem Aufführungsabend“ im Semperbau. Durch die Corona bedingten Umstände fand das Konzert vor nur etwa 380 Hörern im Rahmen der orchestereigenen Kammermusik statt. Geboten wurden Kompositionen von Henry Purcell, Hugo Wolf; Felix Mendelssohn Bartholdy und Joseph Haydn. Die Musikalische Leitung des Abends hatte der seit 1999 Erste Konzertmeister der Staatskapelle Matthias Wollong übernommen.
Von 1972 bis 1996 arrangierte der legendäre Kanadische Trompeter William Frederick Mills (1935-2009) für das Blechbläserensemble „Canadian Brass“ neben weit über hundert anderer Werke auch Henry Purcells (1659-1695) „Sonate für Trompete, Streicher und Basso continuo D-Dur“ ( Zimmermann-Verzeichnis Nr. 850).
Als Purcell die Vorlage komponierte, lebte er am Hofe der englischen Königin Mary II. In offenbar entspannter Atmosphäre schmachtete der Komponist die 32-jährige Königin „mit betonter Liebe gearbeiteter“ Geburtstagskantate und zahlreichen Songs an. In diesem Umfeld dürfte auch die Sonate mit ihrer beeindruckenden Leichtigkeit entstanden sein.
Entsprechend locker entledigten sich der Solotrompeter der Staatskapelle Mathias Schmutzler und die Stipendiatin Giuseppe -Sinopoli-Akademie Henrike Genieser der Aufgabe, die einfallsreiche Musik mit der Unterstützung von Horn, Posaune und Tuba zu Gehör zu bringen. Nur etwa fünf Minuten benötigten sie, das Auditorium mit zunächst ruhigen und dann mit zunehmendem Tempo in das Konzert einzustimmen.
Die Forschung vermutet, dass die Sonate eine Umarbeitung des Komponisten seiner verschollenen Ode „Light oft he World“ ist.
Als Musikkritiker hatte sich Hugo Wolf (1860-1903) mit der harten Ablehnung der Musik Johannes Brahms nicht nur Freunde gemacht. So musste er erleben, dass1886 Hans Richter und die Wiener Philharmoniker seine sinfonische Ouvertüre „Pentheselia“ auslachten und mit der Bemerkung, dass, wer solche Musik schaffe, nicht das Recht habe „Meister Brahms zu attackieren, ablehnten.
Wolf beendete deshalb seine Kritikertätigkeit und wagte den Neuanfang als Instrumentalkomponist. Innerhalb kurzer Zeit schuf er Anfang 1887 mit seinem Molto-vivo-Streichquartett einen „leichtfüßigen und delikaten Serenaden-Satz“, die italienische Serenade.
1892 entstand daraus die im Konzert gespielte Bearbeitung für Streichorchester. Eigentlich wollte Wolf diese Fassung mit weiteren Sätzen ergänzen. Aber es existieren nur die Entwürfe zu einem langsamen Satz und einer Tarantella.
Streicher der Staatskapelle spielten das kurze charmante Werk wunderbar spritzig. Technisches Können gepaart mit unbeschwerter Leichtigkeit, aber auch mit raffinierten Untertönen, begeisterte. Besonders beeindruckte das Cello-Soloständchen.
Die Kunst seines Geigenlehrers Eduard Ritz (1802-1832) und die Musik Johann Sebastian Bachs regten den 13-jährigen Felix Mendelssohn (1809-1842) an, ein d-Moll-Konzert für Violine und Streichorchester zu komponieren. Die Komposition war vermutlich zum 20. Geburtstag des älteren Freundes Ritz für ein Hauskonzert der Mendelssohns geschrieben. Die Tiefe und Romantik, die scharfen Kontraste und die Beherrschung des musikalischen Handwerkszeugs haben dem Geniestreich nach der erst 1951 erfolgten Wiederbelebung der Komposition durch Sir Yehudi Menuhin die Position MWV O3 im neuen Mendelssohn-Werkverzeichnis verschafft.
Trotz der weitgehenden Eingrenzung auf die klassischen Formen der Vorbilder hat sich die Komposition dank der jugendlichen Frische für das Podium von Streich- und Kammerorchestern erhalten. Im Konzert wurde die unter dem Ritz-Einfluss mit dem 3. Satz ergänzte Fassung geboten.
Mit seiner Guarneri-Violine aus dem Jahre 1676 Übernahm Matthias Wollong auch den Solopart des d-Moll-Konzerts. Andreas Guarneri (um 1626-1698) steht wegen seines Anfangs als Gehilfe von Nicola Amati und seiner Lehre bei Antonio Stradivari zu Unrecht im Schatten dieser Cremonenser Meister, zählen doch seine Bratschen inzwischen zu den begehrtesten Instrumenten.
Mit geigerischer Brillanz gelang Matthias Wollong die Gratwanderung zwischen der zuweilen naiv anmutenden Schlichtheit der Komposition und der tiefergehenden Empathie des musikalischen Ausdrucks.
Dem Solisten zur Seite standen hervorragende Streicher der Staatskapelle. Der Kopfsatz mit Bachschen Rhythmen lebt von der mehrfachen Wiederholung der Themen. Trotzdem gelang es der Solovioline, das Klangbild zusammen zuhalten. Im lyrischen Andante konnten sich die Agierenden vollkommen auf den Mendelssohnschen Klangzauber einlassen und im Schluss-Satz mit ihrer Begeisterung der „glühenden, jugendfrischen Heiterkeit“ des Komponisten Ausdruck verleihen.
Bereitet man sich auf ein Konzert mit Joseph Haydns (1732-1809) vermutlich 1773 komponierten Symphonie Nr. 64 A-Dur Hobokenverzeichnis I:64 vor, so stolpert man zwangsläufig über deren Beinamen „Tempora mutantur= die Zeiten ändern sich“. Die Beschriftung des Umschlags mit einem Epigramm des englischen Schriftstellers John Owen (um 1564-1622), in den eine Partitur Abschrift der 64. Haydn-Symphonie offenbar zufällig geraten war, hatte zu dieser Benennung geführt. Aber selbst mit dem Schluss-Satz der Sinfonie lässt sich kein rechter Zusammenhang mit dem ihr aufgedrückten Namen herstellen.
Haydn, angestellter Kapellmeister beim Fürsten Nikolaus I. Esterházy, musste noch die Aufmerksamkeit seines Publikums mit einem harschen Beginn seiner Sinfonien mit einem „Allegro spirito“ wecken. Mit seinem ausgehungerten Publikum musste aber Matthias Wollong nicht grob umgehen.
Er konnt die kontrastreiche Partitur mit ihrer emotionalen Lebendigkeit, den heutigen Höhrgewohnheiten weitgehend angepasst, bieten. Die lockere Natürlichkeit im Musizieren und die Detail- und Ausdrucksbesessenheit schlossen sich bei der Interpretation nicht aus. Die Besonderheiten der Partitur blieben deutlich, ohne dass der Charme des Werkes dafür geopfert war.
Das ausgedünnte Auditorium bedankte sich bei den Musikern mit stürmischem Beifall, als habe es soeben ein großes Konzert erlebt.
Thomas Thielemann 30.6.2020
Bilder (c) Markenfotografie
Mit Haydn und Beethoven gegen den Virus
Dresdner Philharmonie und das Ébène-Quartett eröffnen eine Zwischensaison
Die in Sachsen verbindlichen Regelungen und ein kluges Hygienekonzept ermöglichte der „Dresdner Philharmonie“ jeweils 498 Besucher für öffentliche Veranstaltungen in den Konzertsaal des Kulturpalastes einzuladen. Einhaltung der Abstandsregeln, ein rigides Einlass-System, Tragen von Mund- und Nasenbedeckung bis zum Erreichen des zugewiesenen Sitzplatzes, dazu eine intensive Raumbelüftung und Desinfektionsmaßnahmen erlauben fast dreißig Prozent der 1700 Plätze für ein einstündiges Konzert ohne Pause zu besetzen.
Da für die Besetzung der 210 m² Bühnenfläche natürlich auch die Grundsätze der Abstandshaltung einzuhalten waren, wählte Marek Janowski für den ersten Teil des Konzertes ein Orchesterstück mit nach heutigen Üblichkeiten kleinerer Besetzung, Joseph Haydns Sinfonie Nr. 99 in Es-Dur aus dem Jahre 1793, aus. Zwölf Bläser, einunddreißig Streicher und ein Pauker hatten auf dem Podium in gebührendem Abstand Platz genommen. Hatte Haydn die Uraufführung 1794 in London noch vom Cembalo geleitet, so sorgte trotz der gewöhnungsbedürftigen Sitzordnung der Musiker Chefdirigent Marek Janowski mit seinem engagierten Dirigat für ein ausgewogenes Klangbild, auch wenn sich das Blech gelegentlich etwas vorwagte. Ansonsten, bei aller Betonung der wirbelnden Figuren und der charakteristischen Leichtigkeit der Symphonie, betonte Janowski deren Nähe zum Streichquartett. Die Streicher waren die maßgeblichen Träger des Geschehens und gaben mit ihrem ständigen Einsatz den Ton an, während die übrigen Instrumente für die Fülle und Vollständigkeit des Klangbildes sorgten.
Die Betonung von Kontrasten, der Blick auf Details und das deutliche Modellieren waren Kennzeichen der Interpretation Janowskis. Die schnellen Sätze waren überzeugend, vor allem das finale Presto gelang brillant. Dazu kam die Spielfreude der Musiker, die insbesondere im Finale ihre Erleichterung, dass „es endlich wieder losgeht“, spüren lassen.
Der Klangunterschied im nur knapp zu einem Drittel besetzten Saal war natürlich zu hören, so dass zumindest für mich der vom Akustikbüro Peutz ausgewiesene geringe Unterschied des mittleren Nachhalls von leerem und vollbesetztem Konzertsaal nicht zum Tragen kam. Das war insbesondere bei den Ovationen spürbar.
Dem Spätwerk Joseph Haydns (1732-1809) folgte mit dem Streichquartett Nr. 2 G-Dur op. 18 /2 von 1799 ein Frühwerk Ludwig van Beethovens (1770-1827).
Als Gastensemble war das für sein breites Repertoire bekannte „Quatuor Ébène“, zu Deutsch „Ebenholzquartett“, aus Frankreich eingeladen worden. Die Violinisten Pierre Colombet und Gabriel Le Magadure, die Bratschistin Marie Chilemme sowie der Cellist Raphaël Merlin sind mit ihrem Repertoire aus klassischer und zeitgenössischer Musik bis zum Jazz bekannt geworden. Damit sorgten sie in der Musikszene zu nachhaltiger Aufregung. Mit ihrem unvoreingenommenem Blick auf die Werke, mit ihrer Lust zwischen den Stilen zu wechseln, ohne dabei Demut und Respekt zu vergessen, begeistern sie ihr Publikum.
Das als zweites aus Beethovens Streichkonzert-Zyklus Opus 18, bekannte Werk, steht noch ganz in der Tradition seiner Vorbilder Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) und vor allem Joseph Haydn. Das G-Dur-Quartett, wegen seines Hauptthemas auch „Komplementier-Quartett „ genannt, bietet mit seinem Finalsatz Bezüge zu Haydns G-Dur-Streichquartett op. 77,1 aus dem gleichen Entstehungsjahr. Es ist damit durchaus als Verbeugung des jungen Komponisten vor dem Altmeister zu verstehen.
Die Musiker des „Quatuor Ébène“ spielten das viersätzige Werk taufrisch mit Brisanz und Unbedingtheit, als wäre es gerade erst entstanden. Die Details waren gestochen scharf und ließen feinste Schattierungen zur Geltung bringen. Dabei gelang es, das Geschehen energiegeladen, expressiv, spannend zu halten und wirkungsvolle Überraschungen zu gestalten.
Das Allegro kam noch ziemlich verspielt und durchsichtigt, während die Darbietung des langsamen Satzes sich vor allem durch seine Prägnanz und der Partien der Einzelstimmen auszeichnete. Mit dem Scherzo boten die vier Musiker Überraschungsmomente mit zum Teil grenzwertigen Wirkungen. Auch die Darbietung des Schluss-Satzes „Allegro molto quasi Presto“ war von Reibungen und einer guten Portion Übermut gekennzeichnet.
Für die schwache Besetzung des Konzertraumes war der Beifall frenetisch.
Mir hat die Mut machende Veranstaltung mit dem einfallsreichen Konzept und der straffen Organisation ausgezeichnet gefallen.
Autoren der Bilder:
Kulturpalast: Nikolaj Lund
Konzertbericht: Björn Kadenbach
Thomas Thielemann, 21.6.2020
Kapelle für Kids
1. Juni 2020 Konzertplatz Weißer Hirsch Dresden
Blechbläser der Staatskapelle in einem Livekonzert vor größerem Publikum
Für über 300 Besucher hatten die Veranstalter auf dem Konzertplatz „Weißer Hirsch“ am Rande der Dresdner Heide mit zusammengenagelten weißlackierten Paletten und dem Mobiliar der Gastrono-mie Sitzplätze in Corona-adäquaten Anordnungen geschaffen. Als aber die Sitzgelegenheiten von jungen befreundeten Familien recht oft noch nach ihren Erfordernissen umgruppiert wurden, gestal-teten sich einige Abstandsrelationen im Publikum doch grenzwertig, ohne dass Ordnungskräfte zu sehen waren.
Trotzdem konnte am „Internationalen Kindertag 2020“ das offenbar erste Konzert von Musikern der Staatskapelle Dresden vor Publikum vor gut besetztem Auditorium mit „Kapelle für Kids“ ausgeführt werden.
Fünf Blechbläser der Kapelle, der Solotrompeter Helmut Fuchs, der Trompeter Sven Barnkoth, der Soloposaunist Uwe Voigt, der Solo –Tubist Jens-Peter Erbe und der Hornist Julis Rönnebeck boten gemeinsam mit dem Puppenspieler Rodrigo Umseher dem zum Teil recht jungen Publikum ein ab-wechslungsreiches musikalisches Erlebnis.
Da wurde eigentlich alles Erdenkliche zumindest angespielt: von Johann Sebastian Bach, Richard Wagner und Gustav Mahler bis zur Europa-Hymne, Pipi Langstrumpf, der Ohlsenbande, Harry Potter, Heidi sowie dem Sandmännchen in ziemlich ungeordneter Reihenfolge für die jungen Zuhörer Be-kanntes und noch Unbekanntes.
Jeder der Solisten erläuterte mit einem launischen Beitrag sein Instrument. Dazwischen moderierte der uns noch von seinem Magdeburger Engagement bekannte Puppenspieler Rodrigo Umseher mit seiner Kunstfigur Emil, einer lebendgroßen Halbpuppe, Sichtweisen junger Zuhörer. Im weiteren Konzertverlauf wurden die gespielten Passagen zunehmend etwas länger.
Insbesondere in den ersten Reihen folgten die Kids dem Geschehen recht konzentriert und begeistert.
Für ein live-Musik-hungriges, diszipliniertes Publikum, dass den eingeschränkten Sitzkomfort und die begrenzte Klangentfaltung auch akzeptiert, könnte ich mir allerdings durchaus vorstellen, dass Staatskapelle, Dresdner Philharmonie und Semperoper zumindest über die Sommerzeit 2020 einen Spielbetrieb organisieren könnten, der auch dem Sicherheitsbedürfnis der Musiker und Sänger Rech-nung trägt.
Thomas Thielemann 4.6.2020
Bilder vom Autor
1:1 Concerts der Staatskapelle Dresden:
15. Und 17. Mai 2020
Es bedurfte erst der Einschränkungen des Konzertlebens durch die Corona-Pandemie, dass die Anregungen der Performance-Künstlerin Marina Abramovic zum Trainieren des Hörens einem größeren Kreis von Konzertfreunden bekannt wurden.
Wegen der Befürchtung, dass die ständige Reizüberflutung der Zeitgenossen verhindert, dass diese Konzertveranstaltungen konzentriert wahrnehmen, hat die kreative Serbin ein System von Übungen zur Besinnung und Bewusstseinsschärfung, die „Abramovic-Methode Ausdauer und Aushalten“, entwickelt.
Anlässlich eines Symposiums zur „Zukunft des Hörens“ der Dresdner Philharmonie im Februar 2020 hatte ich die erste Berührung mit den Gedanken der Performance-Künstlerin. Aber da ich seit 1957 ziemlich intensiv Konzerte und Opernaufführungen besuche, hatte ich mich von den Anregungen zunächst kaum angesprochen gefühlt.
Im Frühjahr 2019 praktizierte Abramovic in Frankfurt mit einer größeren Gruppe über sieben Stunden mit zum Teil drastischen Übungen, gekappten üblichen Handy-Kommunikationskanälen und ohne Uhren ihr System: Langsames Gehen, mit verbundenen Augen auf kleinen Podesten stehen, Reiskörner zählen, fremden Menschen gegenübersitzend in die Augen schauen.
Tage später gab es dann ein fünfstündiges Konzert in der Alten Oper. Der Saal zur Hälfte bestuhlt und ansonsten mit Kissen ausgelegt. Nach einer gemeinsamen Übung boten Musiker nach ihren Intensionen einen Klangteppich ohne Unterbrechungen und ohne Beifall. Ein musikalisches Konzept war nicht erkennbar. Die Teilnehmer konnten zwar den Saal verlassen, wurden aber auf den Gängen und den Toiletten von Lautsprecherübertragungen eingeholt.
Mit ihrem Prinzip der zeitlichen Überdehnung setzte Abramovic die Regeln desklassischen Konzertbetriebs regelrecht außer Kraft.
Für das Kammermusik-Festival „Sommerkonzerte Volkenroda 2019“ im Thüringer Kloster Volkenroda entwickelte dessen künstlerische Leiterin Stephanie Winker mit ihrem Team, angeregt von Abramovics Performance „The Artist Is Present“, als diese im New Yorker Museum of Modern Art den Besuchern 90 Tage lang in die Augen schaute, das Format „ 1:1 Concerts“. Musiker und Besucher sitzen sich gegenüber, schauen sich eine Minute in die Augen. Dieser Blickkontakt sollte die beiden Menschen füreinander öffnen. Aus diesem Moment heraus, entscheidet der Musiker, welches Stück er spielt und lässt durch die Nähe eine besondere Atmosphäre entstehen. Der Hörer hat seine Anonymität als Teil eines Publikums verlassen, wird zum konzentrierten Hören regelrecht verurteilt und auf das Geschehen fokussiert.
Auch für den Musiker dürfte das Heraustreten aus dem Orchester und der Konzentration auf einen Zuhörer eine interessante Erfahrung sein.
Solche Konzerte können überall stattfinden. Und da sie unproblematisch die Einhaltung der Regelungen der Corona-Einschränkungen erfüllen können, ist das Konzept inzwischen mehrfach aufgegriffen worden. So haben auch Musiker der Staatskapelle Dresden an fünf unterschiedlichen Orten der Stadt Veranstaltungen im Viertelstunden-Takt angeboten.
Die Konzerte sind kostenfrei. Es wird allerdings um eine Spende für den Nothilfefonds der Deutschen Orchester-Stiftung gebeten.
Nach Monaten ausschließlich digital vermittelter Musik waren meine Frau und ich regelrecht hungrig, wieder einmal Klänge in ihrer Entstehung erleben zu können, so dass wir uns für vier der Veranstaltungen bewarben.
In der Pillnitzer Weinberg-Kirche empfing mich die junge amerikanische Geigerin Paige Kearl aus der Gruppe der zweiten Violinen der Staatskapelle. Nach der nahezu wortlosen Begrüßung gelang zumindest mir der Aufbau einer gewissen Blickkontakt-Nähe zu der Musikerin. Zunächst überraschte mich die Virtuosin mit dem zweiten Satz „Malinconia“ aus der zweiten Sonate des belgischen Komponisten Eugène Ysaÿ (1858-1931). Obwohl mir bisher unbekannt, fesselte mich doch die stilistische Nähe zu Johann Sebastian Bach. Danach spielte meine Partnerin den dritten Satz aus Bachs a-Moll-Partita.
Mich hatte das Spiel der jungen Amerikanerin emotional stark berührt. Nicht zuletzt auch dank der guten Akustik der Weinbergkirche kam der Wunsch nach einem Konzert mit großem Orchester nicht einmal auf.
Meine Frau traf in der Kunststube Pillnitz den Cellisten Bernward Gruner. Der erste Eindruck des Raumes mit den Bildern des auch malenden Künstlers und die sympathische Gastgeberin lenkten zunächst vom zu Erwartenden ab. Beim Blickkontakt wanderten ihre Gedanken, welche Empfindungen der erfahrene Musiker von der Begegnung mit ihr haben werde? Das Spiel von Prelude, Allemande und Courante aus Johann Sebastian Bachs Cello-Suite Nummer 2 d-Moll hüllte sie dann regelrecht ein, und die Musik hätte nach den wenigen Minuten nicht enden sollen.
Unsere zweite Doppelbuchung führte uns in die Bühlauer Friedenskirche, wo uns im 15-Minuten Abstand, der stellvertretende 1. Konzertmeister der Staatskapelle Tibor Gyenge erwartete. Für uns beide spielte er jeweils zunächst aus Bachs d-Moll-Partita die „Allemande“ und anschließend Fritz Kreislers Ohrwurm „Liebesleid“. Bei der anschließenden familiären „Manöverkritik“ war aufgefallen, dass bei den Blickkontakten, möglicherweise wegen unseres erheblichen Altersunterschieds, eine gewisse Unsicherheit bei dem Violinisten zu spüren war. Die Bach-Darbietungen erhielten mit der nahezu idealen Klangentfaltung in dem schlichten Kirchenraum ihren besonderen Glanz. Beim Liebesleid war dann eher der Wunsch nach einer körperlichen Bewegung spürbar.
Obwohl die Werbung für die Veranstaltungen nicht besonders intensiv war, sind die Konzerte des vergangenen Wochenendes gut ausgebucht gewesen. Die Veranstaltungsreihe soll an den kommenden Wochenenden weiter geführt werden.
Autoren der Bilder:
Marianne Thielemann-Pillnitzer Weinbergkirche Markenfotografie von Veranstaltungen
Thomas Thielemann, 18.5.2020
Die Dresdner Philharmonie, drei Cellisten und Maciej Tworek spielen Penderecki
1. März 2020 im Kulturpalast Dresden
Es ist schon eine Besonderheit, wenn zu einem Konzert geladen wird, in dem eine Musiklegende eine eigene Komposition dirigieren möchte. Am 1. März 2020 wollte der 86-jährige polnische Komponist Krzysztof Penderecki in den Konzertsaal des Dresdner Kulturpalastes kommen, um sein „Concerto grosso für drei Violoncelli und Orchester“ mit drei bereits profilierten jungen Cellisten daselbst vorstellen. Außerdem wollte er seine Auffassung von Antonin Dvořáks 8. Sinfonie interpretieren.
Wir hatten uns auf das Wiedersehen nach über vierzig Jahren Penderecki-Abstinenz gefreut.
Als wir Penderecki kennen lernten, galt er als unorthodoxer Querkopf und die personifizierte Konterrevolution, als der berühmteste Abtrünnige und Provokateur. Für ihn war sein Stil eine Synthese aus Tradition und Innovation, für seine Mitstreiter aber schlichtweg Verrat.
Jahre später, griff Penderecki 2001 mit seinem „Concerto grosso für drei Celli und Orchester“ dann Merkmale der Barockmusik, das Prinzip des Kontrastes und Ausspielen klanglicher Gegensätze auf, indem er die ausführenden Musiker in Gruppen unterschiedlicher Besetzung aufteilte. Penderecki erklärte zu seiner Komposition, dass nur wenige Instrumente für den exklusiven Einsatz in einem Dreifachkonzert geeignet seien. Aber das Cello sei das perfekte Instrument mit seiner Tonleiter von sechs oder sogar sieben Oktaven.
Es sei unglaublich, was man für Celli schreiben könne. In einem Interview zur Komposition, gab Krzysztof Penderecki pragmatisch zu Protokoll, dass er das Konzert eigentlich gern für sechs Solo-Celli geschrieben hätte, aber die zwölf erforderlichen Flugtickets würden die ohnehin begrenzten Aufführungsmöglichkeiten weiterhin zu stark einschränken.
Aber wie das bei den Dirigenten des fortgeschrittenen Alters ist, gelegentlich kränkeln sie. Und so hatte das Management der Dresdner Philharmonie den polnischen Dirigenten Maciej Tworek von der Krakauer „Capella Cracoviensis“ gewonnen, das schwere Amt des Dirigats des Concerto Grosso zu übernehmen.
Der Dirigent des Abends Maciej Tworek, der bereits mehrfach mit Penderecki zusammen arbeitete, leitete eine sanfte und eher forschende Aufführung, die das Concerto Grosso als ein reichhaltiges tragisches Werk erscheinen ließ.
Die Solo-Violoncelli greifen in verschiedenen Kombinationen in das musikalische Geschehen ein und wurden für das jeweilige konzertante Moment verantwortlich, während sich in dessen Verlauf andere Instrumente u.a. Horn, Oboe, Flöte und Klarinette ihnen anschlossen. Damit nahm das Werk den Charakter eines Orchesterkonzertes an. Die drei Solisten wurden gleichermaßen wie der Dirigent für den Konzertverlauf verantwortlich.
Die Komposition ist mit sechs Vortragsbezeichnungen angelegt, wurde aber einsätzig dargeboten.
Als Solisten des Konzertes waren drei hochkarätige Cellisten der jüngeren Generatio n gewonnen worden:
Zunächst die 1977 im russischen Nowosibirsk geborene Tatjana Vassiljeva, die 2001 den „First Grand Prix de la Ville de Paris“ gewann und 2005 beim Rostropowitch-Wettbewerb als internationale Neuentdeckung des Jahres gefeiert worden war.
Dann der 1994 im rumänischen Bukarest geborene Andrei Ioniţă, der 2013 den 1. Preis des "Khatschaturian International Competion" erzielte, und 2014 im ARD –Wettbewerb den 2. Preis sowie den 1. Preis für die Interpretation eines Auftragswerkes erreichte. Im Moskauer Tschaikowski-Wettbewerb 2015 gewann er den 1. Preis und erhielt 2016 den Luitpolt-Preis des Kissinger Sommer. Inzwischen ist er mit einem Cello von „Giovanni Battista Rogeri“ von 1671 weltweit tätig.
Außerdem vor allem der 1975 in Ungarn geborene László Fenyö , der seit dem Gewinn des Pablo Casals Wettbewerb 2004 bereits zur Weltelite der Cellisten zählt und mit seinem „Matteo Goffriller Cello von 1695“ zu den gefragtesten Solisten seines Faches gehört.
Die Interpretation war prachtvoll von dem erstklassischen Trio der Solisten geprägt. Technisch glänzend und in ihren rhapsodischen Solopassagen frei und ausdrucksstark erwiesen sie sich als zusammenhängendes frisch musizierendes Team.
In den knapp 36 Minuten wird das Spiel allen Hochs und Tiefs, elegischen und rhythmischen Momenten gerecht. Man weiß nie, was im nächsten Moment passiert, aber alles war im Fluss, folgte dem von Tworek mit sparsamen Bewegungen vorgegebenem Faden und verschafften ihm sowie dem Orchester zu einem schönen Erfolg.
Nach der Pause dirigierte er die Dresdner Philharmonie mit sichtlichem Vergnügen die so nicht recht ins Programm passende achte Sinfonie von Antonin Dvořák. Aber bei diesem Dirigat blieb noch Luft nach oben, obwohl die Zuhörer recht begeistert waren.
Thomas Thielemann, 2.3.2020
Bilder (c)
Maciej Tworek/Marianne Thielemann
Tatjana Vassiljewa/Sasha Gusev
Andrei Ioniţă/Nikolai Lundi
László Fenyö/Marco Borggreve
Berliner Philharmoniker mit Kirill Petrenko
21. Februar 2020 im Konzertsaal des Kulturpalastes Dresden
Strawinsky, Zimmermann und Rachmaninow
Um bei ihrem Stammpublikum auch außerhalb der vier-wöchentlichen Festspielzeit präsent zu bleiben, veranstalten die „Dresdner Musikfestsiele“ in sporadischen Abständen über das Jahr verteilt hochkarätige „Palastkonzerte“. Am 21. Februar 2020 hatte Jan Vogler die Berliner Philharmoniker eingeladen, mit ihrem Chefdirigenten Kirill Petrenko im Rahmen ihrer Deutschland-Tournee in Dresden Station zu machen. Kirill Petrenko konnten wir zuletzt im April 2012 mit der sächsischen Staatskapelle in einem Skrjabin-Rachmaninow-Konzert erleben. Von einem Gastspiel der Philharmoniker in Dresden fehlt mir jede Erinnerung.
Drei Aspekte waren mir beim Besuch des Konzerts wesentlich:
Es war mir wichtig, die Berliner Philharmoniker mit dem Dirigat Kirill Petrenkos im Konzertsaal des Dresdner Kulturpalastes mit seiner guten, aber nicht unproblematischen Klangentwicklung bei ihrem Hausdebüt zu erleben. Den Berlinern muss man durchaus bescheinigen, dass das Orchester mit dem für sie neuen Saal hervorragend klar gekommen ist. Die Instrumentalgruppen standen im richtigen Verhältnis zueinander und boten einen perfekten Mischklang. Die Holzbläser konnten ihr Können hören lassen, ohne dass sie die Streicher überbordete. Selbst die oft bemängelte Pauke war mustergültig eingeordnet.
Gern hätte ich die Musiker auch in den anderen fünf Stationen begleitet. Dieses Konzert wird in den sechs doch recht verschiedenartigen Sälen unterschiedlich zur Wirkung gekommen sein.
Geboten wurden drei Meisterwerke von Strawinsky, Zimmermann und Rachmaninow, die alle zwischen 1940 und 1955 komplettiert worden waren.
Als Igor Strawinsky (1882-1971) 1945 den Auftrag erhielt, für die „Philharmonic Symphony Society of New York“ ein sinfonisches Werk zu schaffen, komponierte er offenbar zeitnah nur den Finalsatz. Dabei band er die Harfe und das Klavier in den vollen Orchestersatz ein. Als Kopfsatz der „Sinfonie in drei Sätzen“ nutzte er einen Entwurf aus dem Jahre 1942, der aber als Klavierkonzert geplant war. Folglich muss auch der Pianist bei der Aufführung durchaus solistische Aufgaben bewältigen. Andere Quellen vermuten ein „Concerto for Orchestra“ mit einem hervorgehobenen Klavierpart als den ersten Satz.
Für den zweiten Satz verwendete Strawinsky Teile einer 1943 begonnenen Harfen- und Flöten-lastigen Komposition, die ursprünglich für den Film „The Song of Bernadette“ vorgesehen, aber nicht zu Ende geführt worden war.
Der große Außenseiter der deutschen Avantgarde-Komponisten der Nachkriegszeit Bernd Alois Zimmermann (1918-1970) arbeitete bereits seit 1942, von Tänzen, Klängen und Rhythmen der Brasilianischen Volksmusik angeregt, an der Adaption südamerikanischer Musik. Um 1950 war eine „Brasilianische Ouvertüre“ vollendet. Im Verlauf der nächsten Jahre weitete er diesen „ersten Satz“ schrittweise zu einer Ballett-Suite mit fünf Sätzen aus, deren Namen „Alagoana“ er von einem Brasilianischen Bundesstaat ableitete. Inspiriert vom Scheitern der Heiratspläne seines Bruders mit einer Brasilianerin und angeregt durch einen südamerikanischen Schöpfungsmythos, der von der Entstehung des Todes aus der Liebe zwischen Mann und Frau handelt, unterlegte er der Musik 1955 ein Libretto. Bewusst verwendete er nicht das Originalmaterial, sondern bot, was die brasilianische Musik, auch nach seiner Stimmungslage, in ihm auslöste.
Die Ursprünge der „Sinfonischen Tänze für Orchester op. 45“ von Sergej Rachmaninow (1873-1943) reichen bis in das Jahr 1915 zurück. Rachmaninow arbeitete damals an einer Ballett-Partitur, die er „die Skythen“ nennen wollte. Der als Schöpfer des klassischen Balletts geltende Tänzer und Choreografen Michail Fokine (1880-1942) sollte das Werk auf die Bühne bringen. Aber Fokine war über Paris und Berlin längst nach Amerika gegangen. Und obwohl Rachmaninow und Fokine später eine enge Freundschaft verband, hat dieser erst 1939 ein Werk seines Freundes, die „Rhapsodie über ein Thema von Paganini“, in London als Ballett inszeniert. Rachmaninow fand, nachdem er im August 1939 endgültig in die USA übersiedelt war, bei der Sichtung seiner Manuskripte im Sommer 1940 die Blätter der unvollendeten Partitur und übernahm Ansätze der 25-Jahre alten Noten in eine große, visionäre Komposition. Nach der Überlieferung soll er einen Monat lang an dem Vorhaben täglich vierzehn Stunden gearbeitet haben, bis er Ende Oktober 1940 den Schlusspunkt unter eine Partitur von „Symphonischen Tänzen“ setzten konnte.
Bei der Programmgestaltung seiner Tournee verzichtete Petrenko, möglicherweise auch bewusst, auf die Einbeziehung populärer Werke. Der Reiz des Programms besteht in der tatsächlichen Zeitspanne der Entstehung der Werkteile von 1915 bis 1955 und auch darin, dass es sich bei allen drei Werken um tänzerische Musik handelte.
Vor dem Dresdner Konzert hatte Petrenko das Programm innerhalb von neun Tagen viermal in Berlin und jeweils einmal in Hamburg, in Hannover, in Köln sowie in Frankfurt dirigiert. Doch es wirkte auch im letzten der neun Konzerte nichts routiniert oder gar abgegriffen, was letztlich ein Orchester dieser Qualität auch auszeichnet.
Die „Sinfonie in drei Sätzen“, insbesondere den Kopfsatz habe ich selten so kraftvoll gehört. Petrenko zeichnete mit den Musikern beeindruckend die Formstrukturen und ließ auch den Holzbläsern den ihnen gebührenden Raum.
Zimmermanns Capricho Brasileiros „Alagoana“ mit seinen sieben Schlagwerken gestaltete sich in der Mitte des Programms mit seinen reichen, teils mysteriösen Klangfarben für mich zum Höhepunkt des Gebotenen. Wann hört man, wie im ersten Satz, dass Flöte, Englischhorn, Saxophon mit der Celesta und dem Cembalo gemeinsam spielen? Auch das Klavier war mit einbezogen. Aber gerade dieser Konzert-Teil wurde vom Publikum lediglich mit gutem Beifall bedacht.
Bei Rachmaninows „Symphonischen Tänzen“ bezauberte im ersten Satz eine reine Holzbläser-Passage. Auch intensivierte Petrenko bei Rachmaninows letztem vollendetem Werk sein Dirigat und betonte neben Stimmung des letzten vollendeten Werkes des Komponisten die Spannung zwischen Lebenslust und Todessehnsucht. Dafür erhielten Dirigent und Orchester für den Konzertabschluss jenen Jubel, den ich dem „Alagoana“ zugedacht hätte.
Nun wünschen wir uns, Kirill Petrenko mit „seinen“ Berlinern in Bälde mit einem Bruckner- oder/und Mahler-Konzert wieder zu erleben.
Autor der Bilder: Oliver Killing
Thoams Thielemann, 22.2.2020
6. Symphonie-Konzert der Saison 2019/20
Schicksals-Symphonie?
13. Januar 2020 in der Semperoper
Beethovens vierte Symphonie war über lange Zeit seltsamer Weise vergessen Dabei gehörte sie zu Lebzeiten zu seinem erfolgreichsten symphonischen Werk. Als er die Symphonie komponierte, galt er als heiter, zu jedem Scherz aufgelegt, frohsinnig, munter, lebenslustig und nicht selten satirisch. Verursacht wurde diese Stimmung durch seine Verliebtheit in die Gräfin Josephine Brunsvik (1779-1821), mit der er von 1804 bis 1809 glühende Liebesbriefe austauschte. Einer von Beethoven angestrebte Ehe widersetzte sich die Familie der bereits aus erster Ehe verwitweten Josephine. Diese akzeptierte die Familienentscheidung, weil sie ansonsten das Sorgerecht der vier Kinder aus dieser ersten Ehe und den Hauptteil ihres Vermögens verloren hätte. Die Verbindung mit Beethoven blieb aber offenbar bestehen, denn Josephine gilt als wahrscheinliche Adressatin der „Briefe an meine unsterbliche Geliebte“. Auch bei der unehelichen Tochter Josephines, Minona von Stackelberg (1813-1897), wird Beethovens Vaterschaft vermutet.
Ludwig van Beethoven komponierte seine B-Dur-Symphonie op. 60 vermutlich ziemlich zügig von 1805 bis zum Herbst 1806, parallel der Arbeit zur fünften Symphonie. Mit dem Schwung frischer Verliebtheit entstanden, scheint die gelöst-romantische Komposition nicht so recht in das sonstige Wesen des eher faustischen Beethoven zu passen.
Christian Thielemann interpretierte die im Zusammenspiel heikle B-Dur-Symphonie wie aus einem Guss. Mit der langsamen Einführung brillierten die Musiker der Staatskapelle mit Präzision und einer Vielzahl der Klangfarben, bis sich die Szene mit dem Allegro vivace endlich auflichtete. Die beiden Mittelsätze ließ Thielemann einfach schön und energisch spielen. Der zweite Satz wurde mit äußerster Sorgfalt für Phrasierung und Klangnuancen dargeboten, während der dritte mit mustergültigen Übergängen, berückenden Schattierungen und makellosen Soli zu hören war. Der Finalsatz, von Beethoven als Huldigung Haydns angelegt, wurde als musikalischer Gegensatz einer klaren Linie der Streicher mit der Virtuosität insbesondere der Holzbläser dargeboten.
Im Gegensatz zur vierten Symphonie arbeitete Beethoven an seiner C-Moll-Symphonie fast acht Jahre, wenn man die aus dem Jahre 1800 stammenden Notizen einbezieht. Konkrete Aufzeichnungen des Komponisten zur Auseinandersetzung mit der „Idee vom Schicksal“ enthält sein Skizzenbuch vom Februar und März 1804. Es folgten vier Jahre des Ringens um die gültige Formung des entworfenen, wieder verworfenen und neu geformten Materials. Es waren vier Jahre der immer wieder unterbrochenen und wieder aufgenommenen Arbeit, die aber auch angefüllt vom schöpferischen Wirken in anderen Formen gewesen sind, so der vierten B-Dur- und der sechsten F-Dur-Symphonien.
Konsequent strebte Beethoven nach Neuem in seinem, neben der Neunten, populärstem Werk. Ob der Begriff „Schicksalssinfonie“ tatsächlich von Beethoven geprägt worden ist, wird inzwischen bezweifelt. Möglicherweise hat der etwas zwielichtige Geiger Anton Schindler (1795-1864), der ab 1822 Sekretärs-Dienste bei Beethoven übernommen hatte, seine Finger im Spiel gehabt, um eine besondere Vertrautheit zu mit herauszustellen.
Christian Thielemann dirigierte im zweiten Konzert seines Dresdner Beethovenzyklus eine moderne, bisher in dieser Form noch nie gehörte c-Moll-Sinfonie. Da waren wenige Anklänge an das „Schicksal“ zu hören, denn der Schicksalsbegriff schließt Passivität ein. Auch die Dresdner Interpretation kann die Irrungen und Wirrungen der langen Entstehungszeit der Komposition nicht ignorieren. Aber die Entwicklung der Klangräume führte letztlich zu einem hellen Finale, bei dem alles Vergangene, Düstere, Zweifelnde, Grüblerische vertrieben ist.
Mit den phantastischen Möglichkeiten der sächsischen Staatskapelle entwickelt Thielemann den ersten Satz (Allegro con brio) vom Dämonischen zum Enthusiastischen. Die klagenden Stimmen der Holzbläser erinnerten am Satzschluss, dass die Auseinandersetzung noch nicht beendet ist. Fast beschwichtigend war, auf den Marschcharakter weitgehend verzichtend, der zweite Satz zunächst ruhig und bewegt gestaltet. Danach sind neben den hervorragenden Streichern mit beeindruckenden Tempowechseln mal Blech- und mal Holzbläser eingesetzt, bevor mit dem Allegro-Satz eine düstere, scheinbare Restauration der Kräfte der Finsternis angedeutet wurde. Beeindruckend antworteten im Wechsel die Streichermit den Holzbläsern, der Pauke von Manuel Westermann sowie den Blechbläsern um Zoltán Mácsai, Helmut Fuchs und Jonathan Nuss. Ein prachtvolles Flötensolo von Andreas Kißling führte zur Gewissheit des Sieges der Kraft des Neuen und Humanen.
Wie ein elementares Ereignis lässt Christian Thielemann mit der Entwicklung einer Fülle von stürmisch vorwärtsdrängenden Motiven im Finale eine klare, fast tagespolitisch notwendige „Siegessinfonie“ auferstehen.
Mit heftigen, stehenden Ovationen danken die Zuhörer den Musikern der Staatskapelle und vor allem ihrem Chefdirigenten bis der Konzertmeister Nathan Giem seine erschöpften Kollegen vom Podium entlässt.
Unter dem Aspekt “Schicksals-Symphonie“ hatte ich mir zwischen Generalprobe und Konzert meine persönlichen „Beethoven-Referenz-Aufnahmen“ des Gewandhausorchesters Leipzig herausgesucht. Mit dem Wissen von heute beschlich mich der Verdacht beim Nachhören der ETERNA-Mono-Einspielungen von 1960, dass damals Franz Konwitschny schon seine Zweifel an der Bedeutung des Schicksals in der Beethoven-Komposition hatte.
Thomas Thielemann, 14.1.2020
Copyright Matthias Creutziger
31. Dezember 2019 Kulturpalast Dresden
Das Silvesterkonzert der Dresdner Philharmonie
Jaques Offenbach, Gioacchino Rossini und weitere
Gioacchino Rossini und Kammermusik, das klingt ähnlich widersprüchlich wie Brahms und große Oper oder wie Bruckner und Klavierminiaturen. Aber es gibt eine Rossini-Komposition im luftigen Klanggewand.
Und so hatte uns am Silvesterabend 2019 nicht nur der 1988 in Taschkent geborene Dirigent Aziz Shokhakimov in den Konzertsaal des Kulturpalastes gelockt, sondern auch auf zwei selten zu hörende Stücke von Rossini und Offenbach für Violoncello und Orchester mit der aus München stammenden Solistin Raphaela Gromes neugierig gemacht.
Jacques Offenbach (1819-1880) war als Cellist ausgebildet und spielte ab 1835 drei Jahre als Orchestermusiker der Pariser Opéra comique massenhaft Rossini-Opern. Zunehmend war er auch mit seinem Cello in den Pariser Salons aktiv und galt bald als der „Paganini des Cellos“. Aber das Komponieren hatte er eigentlich im Orchestergraben von Gioacchino Rossini erlernt, hat Rossini abgehört, was beim Publikum ankommt.
Der hartnäckigen Recherchearbeit der Raphaela Gromez verdanken wir die Ausgrabung und Sammlung von Partitur-Seiten von Offenbachs Rossini-Würdigung aus dem Jahre 1843, die von dem Offenbach-Spezialisten Jean-Christopher Keck zum kompletten „Hommage à Rossini“ -Fantasie für Violoncello und Orchester zusammengefügt werden konnte.
Nach der das Konzert schwungvoll einleitenden Ouvertüre zu Johann Strauß „Die Fledermaus“ spielte Raphaela Gromez mit der Dresdner Philharmonie Offenbachs Fantasie für Violoncello und Orchester „Hommage à Rossini“ klar fokussiert, mit wechselnd hellem und warmen Ton sowie schönen Echo-Effekten. Aziz Shokhakimov war mit dem Orchester ein wacher, gestaltungsfreudiger Begleiter, der wusste, wann Intensität angebracht war und wenn er das Orchester zurücknehmen musste. Die Komposition Offenbachs basiert vor allem auf Themen aus Rossinis Oper „Wilhelm Tell“. Die Komposition spielt witzig und originell mit Versatzstücken des Italieners, wie eben dem Kuhreigen aus Rossinis letzter Oper.
Die Hommage an Rossini, der wiederum Offenbach als ein verwandtes Genie anerkannte, war für Raphaela Gromes Anlass, dass einzige Stück, was Rossini (1792-1868) für Cello und Klavier geschrieben hatte, in einer Bearbeitung für Violoncello und Orchester ihres Duo-Partners Julian Riem in das Programm aufzunehmen.
Dieses seltene Stück „Une larme“- die Träne war Anlass, zu fragen, wer war eigentlich der Mensch Rossini? War er ein Gourmet, ein Eroberer, ein Melancholiker, ein Buffonist oder ein Privatier? Mit Anfang zwanzig feierte er in Venedig triumphale Erfolge mit dem „Barbier von Sevilla“ Auf dem Höhepunkt seines Ruhmes ereilten ihn Krankheit, Depressionen und eine unglückliche Ehe. Erst in seinen Pariser Jahren kehrten Kreativität und Inspiration zurück und er fand wieder Freude an kulinarischen und musikalischen Schöpfungen, an geistreichen Bonmots und an einem Salon.
„Une larme“ Thema und Variationen für Violoncello und Klavier stammt aus dem Jahre 1858. Rossini verfügte auch außerhalb der Bühne über eine gesunde Portion Selbstironie. Und so bezeichnete er die für seine musikalischen Soireen verfasste Kammermusik als „Alterssünden“ und nannte sie „Rizinus-Walzer“ oder „Étude asthmatique“. Und so weicht in Une larme auch die berührende Träne ebenfalls dem typischen Augenzwinkern des Komponisten.
Berückend ergänzten sich der Klang des 1855 in der Werkstatt des Pariser Geigenbauers Jean Baptiste Vuillaume (1798-1875) gebauten Cello mit dem zurückhaltend geführtem Orchester. Vuillaume ist zweifelsfrei der bedeutenste Geigenbauer der Moderne. Seine Instrumente wurden bzw. werden unter anderem von Niccolò Paganini, Joseph Joachim, Josef Suk, Fritz Kreisler, Hilary Hahn, Natascha Korsakova und Vilde Frang gespielt.
Leider war dem Publikum nicht offenbar geworden, welche Besonderheiten ihnen da geboten worden waren. Der Beifall war nur freundlich und die hervorragende Solistin ohne Zugabe entlassen worden. Selbst ihre Blumen musste sie sich erst zum Konzertschluss abholen.
Nun hatte zwar die Orchesterleitung extra den Moderator Arndt Schmöle im Programm implantiert, der aber die Bedeutung der beiden Darbietungen leider nicht im Ansatz vermitteln konnte.
Zwischen die beiden Cello-Konzerte hatten die Programmplaner Aram Chatschturjans Suite aus der Bühnenmusik zum Versdrama „Maskerade“ von Michael Jurjewitsch Lermontow (1814-1841) eingeschoben. Lermontow ist neben Puschkin der bedeutendste Vertreter der russischen romantischen Literatur und hatte, obwohl Angehöriger der zaristischen Armee, ständig Probleme mit der Obrigkeit. 1841 wieder in den Kaukasus strafversetz, fand er dort 1841 in einem Duell den Tod. Mit seinem Versdrama „Maskerade“ wollte er 1835 eine bittere Verurteilung der falschen, heuchlerischen und intriganten „besseren Gesellschaft“ schaffen, schrieb letztlich aber lediglich die Tragödie einer Frau, die nach falscher Anschuldigungen der Untreue von ihrem Mann getötet wird. Als um 1940 das Moskauer Wachtangow-Theater eine Produktion der „Maskerade „vorbereitete, wurde der armenische Komponist Aram Chatschaturjan (1903-1978) mit der Schaffung einer Bühnenmusik beauftragt. Als Auftragskünstler, Chatschturjan erhielt wie alle anerkannten Kreativen in der UdSSR ein staatlich finanziertes Gehalt, lieferte er die Bühnenmusik 1941 pünktlich vor der Premiere 1941 ab. Eventuell auch bedingt durch die Ereignisse des „Großen Vaterländischen Krieges“ gibt es kaum Reaktionen zur Aufführung und zur Bühnenmusik. Eventuell bin ich aber nicht allein, wenn nach meinem Gefühl die Komposition seinem Anspruch nicht gerecht geworden ist und Chatschaturjans Musik auch nicht so recht passte. Im Jahre 1944 extrahierte der Komponist aus der Bühnenmusik fünf Sätze zu einer Konzertsaal-tauglichen symphonischen Suite. Diese Fassung lebt vom ausgeprägtem Sinn des Armeniers für rhythmische Prägnanz und schillernden Klangfarben. Der usbekische Dirigent Aziz Shokhakimov, dessen Herkunftskultur der armenischen Mentalität vergleichsweise nahe ist, bot uns die fünf Sätze in einer außergewöhnlichen Weise. Insbesondere der Walzer, der aus der Filmmusik von „Krieg und Frieden“ bei vielen der Anwesenden im Hörgedächtnis noch verankert sein dürfte, rutschte an keiner Passage in den gewohnten Pauschalklang ab. Allergrößter Respekt verdient, wie Shokhakimov in der „Nocturne“ die Streicher der Philharmoniker satt und sinnlich-warm spielen lässt, wobei besonders das Violinsolo der Konzertmeisterin Heike Janicke gefühlstiefe vermittelte. Ihre Musizierlaune kosteten Musiker und Dirigent mit der farbigen Instrumentierung der folgenden „Mazurka“ aus. Energisch verhinderte Shokhakimov die Gefahr eines Verschleppens in der melancholisch-beseelten Romanze, bevor der abschließende „Galopp“ mit einer satirisch-grotesken Überzeichnung die Zuhörer zu einem heftigen Applaus provozierte.
Den Abschluss des Konzertprogramms bildeten die Suiten „L´Arlésienne“ von Georges Bizet (1838-1875) und Ernest Guiraud (1837-1892), wie die „Maskerade“, auch das phantastische Nebenprodukt einer verunglückten Bühnenmusik des Schriftstellers Alphonse Daudet (1840-1897). Für das mäßige Melodram „L´Arlésienne“ (Die Arlesierin) über die unglückliche Liebe des Helden Fréderi zu einem Mädchen aus der Französischen Provence Arles, die mit Fréderi s Suizid endete, komponierte Bizet insgesamt 27 meist kurze Stücke, die auf drei Melodien zurückgreifen.
Ungeachtet der schlechten Kritik der Uraufführung am 1. Oktober 1872, die auch seine Bühnenmusik einschlossen, instrumentierte und änderte er vier Stücke für großes Orchester und stellte diese bereits am 10. November 1872 als Suite Nr. 1 mit großem Erfolg seinem Publikum vor. Vier Jahre nach Bizets Tod erstellte 1879 sein Freund Ernest Guiraud aus Fragmenten der Bühnenmusik und eigener Neukompositionen die L´Arlisienne-Suite Nr. 2, aus der wir aber nur die Nr. 4 „Farandole“ hörten. Kraftvoll begann Aziz Shokhakimov sein Dirigat des ersten Satzes „Prélude“ und ließ das Allegro deciso im strikten Marsch-Rhythmus durchspielen. Im Gegensatz dazu stand zunächst das „Minuetto“, Allegro giocoso, mit seiner schwärmerischen Einleitung, bis auch dieser Satz vom Dirigenten zu sinfonischer Pracht gesteigert wurde. Mit breiten, zugleich aber auch aufgelockerten warmen Streicherklängen, unterstützt von Holz- und Blechbläsern, entwickelte Shokhakimov das Adagietto zu einem tief berührenden Hörerlebnis. Für den Schlusssatz der Suite Nr. 1 ließ er der Musizierfreude der Musiker der Philharmonie uneingeschränkt freien Lauf.
Den Abschluss des Konzertes bildete aus der „L´Arlésienne-Suite Nr. 2“ der 4. Satz „Farandole“, einem gemäßigt schnellen provenzalischem Volkstanz, einem sogenannten Kettentanz. Das effektvolle stürmische Dirigat erinnert noch einmal an das Thema des „Prélude“. Aggressiv, laut und leidenschaftlich beendet der junge Usbeke seine beeindruckende Darbietung.
Als Gastdirigent bot er noch einen Brahmsschen „ Ungarischen Tanz“. Der bis zu diesem Zeitpunkt noch angesparte Aplaus wurde ausgeschüttet, als die Philharmonie mit viel Begeisterung das Jahr mit dem Radetzki-Marsch verabschiedete.
Thomas Thielemann, 1.1.2020
Bilder (c) Raphaela Gomez: Sammy_Hart_web
Orchester: Markenfotogrfie
Der Vorabend des ZDF-Silvesterkonzerts 2019
DAS LAND DES LÄCHELNS
30. Dezember 2019
Einige Bemerkungen zu Franz Lehárs Operette-konzertant
Eine sehr junge Frau, Felicitas „Lizzy“ Léon (1887-1918), war es, die den jüngsten Militärkapellmeister der k. u. K. Armee Ferenc Lehar zum „Olympier des Banalen“ gemacht hat. Lehár kam 1899 nach Wien und spielte mit seiner Kapelle des Infanterieregiments Nr. 26 im Winter 1900/01 auf dem Platz des Wiener Eislaufvereins. Die 12-jährige Lizzy, die dort ihre Runden drehte, war von der Musik des „feschen Militärkapellmeisters“, der auch noch komponierte, richtig begeistert. So brachte sie ihren Vater, den Schriftsteller Viktor Léon (1858-1940) nach über einem Jahr intensiver Treibereien, zu einer Zusammenarbeit mit Lehár. Sie hatte aus einem Stapel von Léon unangefragter eingeschickten Sendungen Noten von Lehár herausgesucht und so beiläufig gespielt, wenn es der Vater mitbekommen konnte. So wurde er auf Lehárs Musik aufmerksam gemacht und es kam zur produktiven Zusammenarbeit der Beiden, die mit der „Lustigen Witwe“ ihren Höhepunkt fand.
Auch beim „Land des Lächelns“ soll Lizzy ihre Finger im Spiel gehabt haben: ein chinesischer Diplomat war mehrfach bei Léons zu Gast gewesen und hat Mutter und Tochter charmant den Hof gemacht, bis ihn seine politischen Verpflichtungen in die Heimat zurückbeorderten. Felicitas war beeindruckt und schrieb ein Exzerpt für eine Operette, in dem sie sich als Vorbild für die Hofratstochter Lea sah. Daraufhin bearbeitete sie den Vater, dass er 1918 das Libretto zu „Die gelbe Jacke“ auf der Basis ihrer Arbeit schrieb. Lizzy sollte sogar bei Erfolg des Werkes zehn Prozent der Tantiemen erhalten. Die Resonanz auf die Uraufführung 1923 war allerdings mäßig. Der Tenor Richard Tauber, der in seiner Anfängerzeit 1913 in Chemnitz und an der Dresdner Hofoper gewirkt hatte, regte Lehár an, den Stoff von den allseits bewährten Librettisten Fritz Löhner-Beda und Ludwig Herzer überarbeiten zu lassen. Der Prinz Sou-Chong wurde in der Neufassung zu einem Anhänger des Buddhismus und aus Lea eine Frau mit Vergangenheit: Die nunmehr als Hofratstochter Lisa benannte, nach dem Tod des Gatten aus einer viel zu früh geschlossenen Standesehe befreite junge Witwe, wollte endlich leben, etwas erleben. Denn nur so ist erklärbar, dass sich in der Spielzeit der Operette eine junge Frau derart souverän gegenüber Sou-Chong verhalten konnte. Denn 1912 wäre kein naiver Backfisch aus der gehobenen Gesellschaft in der Lage gewesen, mit „Flirten, bisschen flirten, kann man zehnmal auf jedem Ball“ in einen Kreis mit Leuten von Stand ein zu treten.
Der Operette wurde als Sahnehäubchen mit „Dein ist mein ganzes Herz“ ein waschechter Schmalz-Tauber-Schlager hinzugefügt, so dass die Uraufführung am 10. Oktober 1929 ein voller Erfolg werden musste.
Zur Handlung: Besagte Lisa, die Tochter des Grafen Lichtenfels hat sich unsterblich in den chinesischen Prinzen Sou-Chong verliebt. Als der Prinz zum Ministerpräsidenten nach China gerufen wurde, folgte ihm Lisa. Die anfängliche Verliebtheit wird bald von den die Lisa schockierenden kulturellen Gegebenheiten des Landes kompensiert. Als das neue Amt Sou-Chong verpflichtete, vier Mandschu-Prinzessinnen zu heiraten, eskaliert die Situation und Lisa will nur noch „Wieder einmal die Heimat seh´n!“ Der Graf Gustav von Pottenstein, genannt Gustel, Lisas früherer Verehrer, war ihr nach Peking nachgereist. Er entschließt sich, statt Sou-Chongs Schwester Mi zu ehelichen, Lisa zur Flucht aus dem Palast des Prinzen zu helfen. Die Flucht misslingt. Aber Sou Chong muss erkennen, dass er Lisa nicht halten kann, ein letztlich vom Buddhismus geprägtes Finale.
Die Urfassung der Operette hatte noch mit einem Happy End geendet: der Prinz verzichtete auf die „gelbe Jacke“, dem Sinnbild seines neuen Amtes, kehrte nach Wien zurück und blieb bei der Geliebten.
Ob diese Wendung eine späte Erinnerung an Puccinis Einfluss war, konnte ich nicht aufklären. Aber Lehár war mit Giacomo Puccini von 1913 bis zum Tode des Italieners eng befreundet gewesen. Sie schrieben sich häufig, trafen sich oft in Wien, musizierten gemeinsam und tauschten sich vor allem über ihre Arbeit aus. Puccini neidete Lehár seine eingängigen Melodien und die Walzerkompositionen, während Franz Lehár von Puccini davor bewahrt wurde, dramatische Stoffe zu bearbeiten und „die Grenzen der Operette einzureißen“. In Wien wurde deshalb nach Kurt Tucholski „Lehár sei dem kleinen Mann sein Puccini“ kolportiert, was keinesfalls abwertend gemeint gewesen sei.
Für das ZDF-Silvesterkonzert 2019 der Sächsischen Staatskapelle waren ausschließlich Ohrwürmer aus Lehárs „Land des Lächelns“ ausgewählt worden. Dazu waren außer den Musikern unter ihrem Chefdirigenten, dem Staatsopernchor, für die vier Hauptrollen Spitzen-Solisten des internationalen Musiktheaters aufgeboten worden.
Das Silvestervorabendkonzert wurde vom ZDF unter gleichen Bedingungen aufgezeichnet, wie für die Live-Übertragung am 31. Dezember vorgesehen. Möglicherweise wollte man eine sendereife Aufzeichnung im Sendezentrum vorrätig haben oder wollte man den Technikern eine Gelegenheit verschaffen, eventuelle Optimierungsmöglichkeiten für die Silvesterübertragung zu erkennen.
Für das Konzert wurden der schöne Saal und das Orchester mit wechselnden Bonbon-Farben angestrahlt. Es drehten sich die Kamerakräne über den Köpfen der Parkettbesucher und schränkten zeitweilig die Sicht der Rangbesucher. Auch der Handkameramann turnte mit eingeknickten Knien nebst einem Assistenten durch das Bühnengeschehen.
Gesungen wurde auf hohem Niveau, auch wenn die Textverständlichkeit im Besucherbereich Wünsche offen ließ.
Für die Partien der jungen Witwe Lisa war die kanadische Sopranistin Jane Archibald gewonnen worden. Sie bot mühelos mit Hingabe und unerschöpflicher Energie das gesamte Spektrum des Gesanges: von den virtuosen Belcanto-Koloraturen zum Dramatischen, bis zur leisen, sensiblen Intimität. Jane Archibald handelte und bewegte sich so brillant, wie sie sang. Man glaubte ihr die Chemie zwischen ihr und dem in den intimen Szenen sanft singenden gut aussehenden Pavol Breslik. Selbst beim Ohrwurm „Dein ist mein ganzes Herz“ schlug sich der aus Nové Mesto stammende Opernsänger achtbar. Die wunderbare Koloratursopranistin Erin Morley beeindruckte durch ihren Gesang als Schwester des Prinzen Sou-Chong Mi, war aber keine Soubrette. Wie auch der etwas steife Sebastian Kohlhepp trotz seiner sängerischen Qualitäten keinen Tenorbuffo bot.
Auch der hinter dem Orchester postierte, von Wolfram Tetzner vorbereitete Chor, passte eher zu einem Oratorium als in eine Operettendarbietung.
Die Staatskapelle mit dem Dirigat Christian Thielemann spielte präzise und klangschön wie gewohnt. Aber so sehr ich den Klangkörper auch wegen seiner Flexibilität und Professionalität liebe, nach meinem Empfinden lugte doch immer wieder Anton Bruckner aus der Säulengalerie und pfuschte dem Chefdirigenten ins Operetten-Handwerk.
Nun sind wir gespannt, wie sich unser subjektiver Eindruck beim Ansehen der Aufzeichnung vom Silvesterabend verändern wird. Denn statt die ZDF-Übertragung live anzusehen, werden wir das Silvesterkonzert der Dresdener Philharmonie mit dessen interessanten Programm besuchen.
Thomas Thielemann, 30.12.2019
5. Saisonkonzert der sächsischen Staatskapelle
16. Dezember 2019 in der Semperoper
Von Beethovens „beinah Nullter“ zu seiner eventuell „zehnten Symphonie“
Der Musikwissenschaftler und Theologe Fritz Stein (1879-1961) fand 1909 in der Jenaer Universitätsbibliothek die Partitur einer Symphonie, bei der auf einer der Stimmen der zweiten Violine „par Luis van Beethoven“ zu lesen war. Nun hatte der junge Beethoven geäußert, dass er sich in seiner Bonner Zeit an einer Symphonie in C-Dur nach dem Vorbild von Haydns Sinfonie Nr. 97 versucht habe.
Mit der Unterstützung von Max Reger gelang es, das Fundstück in den Konzertplänen zu platzieren. Im Jahre 1911 erschienen die Noten sogar bei Breitkopf & Härtel im Druck und Reger arrangierte die Symphonie für Klavier zu vier Händen. Da aber Beethoven selbst 1795 seine ersten drei großen Klaviertrios als sein Opus 1 deklariert hatte, blieben die Nummerierungen der Reihe der neun Sinfonien unangetastet. Auch Bestrebungen, den Fund als Symphonie Nr. 0 einzuordnen, blieben ohne Erfolg, obwohl von Ludwig Schiedermair in seinem Buch „Der junge Beethoven“ 1925 seine Beethoven-Zuordnung bestätigt schien. Trotz der aufkommenden Zweifel an der Urheberschaft Beethovens, wurde das Werk als „Beethovens Jenaer Sinfonie“ gespielt. Die Ausformung der Bläserstimmen im vierten Satz hatte maßgebliche Musikwissenschaftler auf die Beethoven-Zuschreibung gebracht. Noch 1956 veröffentlichte die Deutsche Grammophon eine Vinyl-Einspielung der „Sinfonie C-dur (Jenaer Sinfonie)“ der Sächsischen Staatskapelle unter Franz Konwitschny. Der ausgewiesene Beethovenkenner Konwitschny kann aber die „Jenaer“ nur für eine Jugendsünde Beethovens gehalten haben. Die Regionalbibliothek Neubrandenburg archivierte erstaunlicherweise noch 1957die Partitur der Zuschreibung unter der Registriernummer 2651.
Erst als 1968 im Archiv des Benediktiner-Stiftes Göttweig Teile der Partitur mit einer eigenhändigen Signatur „Symphonia Authore Witt, Capellmagister Würzburg“ des tatsächlichen Schöpfers der Komposition Friedrich Witt (1770-1836) aufgefunden wurden, konnte der Streit der Musikwissenschaftler von H.C. Robbins Landon (1926-2009) beigelegt werden und Beethoven endgültig von der Zuschreibung des recht einfachen Werkes befreit werden.
Mit dieser kleinen Reminiszenz begann am 249. Geburtstag des Titanen für mich das Beethovenjahr 2020.
Die sächsische Staatskapelle eröffnete mit ihrem 5. Symphoniekonzert unter Christian Thielemann ihre Beethoven-Ehrung 2020. Auf dem Programm standen die drei ersten Symphonien des Bonner-Wiener-Meisters.
Ludwig van Beethoven wurde in einer Zeit gewaltiger politischer und gesellschaftlicher Umbrüche, in deren Folge sich Europa massiv veränderte, hineingeboren. Eigentlich eine Situation, die sich für die gegenwärtige Menschheit durch Globalisierung und Klimaveränderungen in vergleichsweise ähnlicher Situation entwickeln werden wird. Beethovens Symphonien befassten sich mit den die Gesellschaft existenziell berührenden Problemen. Das Beethoven-Jahr 2020 wird uns massiv mit der gewaltigen Entwicklung der Neuner-Symphonien-Reihe beschäftigen. Wohl jeder Dirigent mit Namen hat in seiner Schaffenszeit eine oder mehrere Gesamtaufnahmen der Beethoven-Symphonien eingespielt. Sie halten die im Laufe der Zeit eingetretenen Veränderungen des Beethoven-Bildes authentisch fest und sind so zu kulturhistorischen Dokumenten geworden. Wer aber heute Beethoven neu entdecken möchte, hat es angesichts der inzwischen geschaffenen gewaltigen Musik nicht leicht. Deshalb war unsere Spannung vor dem ersten in der Saison von Christian Thielemann bei der Staatskapelle geleiteten Konzert besonders hoch.
Die ersten beiden Symphonien werden oft als „Nach-Haydnsche Fingerübungen“ bewertet, was offenbar mit dem „ Jenaer Missverständnis“ zusammenhängen könnte. Denn bereits der Schritt von der ersten zur zweiten Symphonie ist ebenso groß, wie der von der Zweiten zur Dritten.
Die erste Symphonie in C-Dur des 29-jährigen Ludwig van Beethoven, 1799 bis 1800 als Opus 21 entstanden, bezieht sich in Anlage und Instrumentation noch deutlich auf die Vorbilder Mozart und Haydn. Deshalb war es durchaus angängig, dass Christian Thielemann vor allem diese Symphonie in einer romantisierenden Interpretation darbot und die Haydn-Anklänge nicht leugnete. Er markierte nicht den strukturell denkenden Analytiker, sondern zeigte sich als Stimmungsmusiker und Meister raffinierter Steigerungen. Trotzdem hatte alles Gewicht und selbst in der Ersten entdeckt man Anklänge an die revolutionäre Kraft der Eroica.
Diese heldischen Aspekte mit der Hinwendung zur dritten Symphonie verstärkte der Dirigent mit seiner Orchesterführung der zweiten Symphonie in D-Dur op. 36. Für Leichtigkeit oder gar Humorblieb bei dieser Auslegung kaum Raum. Den Interpreten interessiert das Erhabene und nicht das Tänzerische. Markant und kaum zurückhaltend wurden die Akzente gesetzt. Dabei blieb der Schönklang nicht auf der Strecke, wobei Christian Thielemann nicht nur Beethovens brillante Oberfläche zum Klingen bringt, sondern auch die Tiefen auslotete. Besonders beeindruckend gelangen die langsamen Passagen, denen anschließend Stauungen und prägnante Steigerungen des Tempos folgten.
In der dritten Symphonie in Es-Dur op. 55 glaubte man in Thielemanns dynamischen und variablen Spannungsbögen Vorausweisungen auf Anton Bruckner zu hören. Diese Mischungen aus Zelebrieren und Eskalieren waren nach meiner Auffassung keine billigen Effekte, sondern eine Beethoven-Auslegung auf der Höhe unserer Zeit.
Der Dresdner Klang der Staatskapelle erwies sich wieder einmal als reich, tiefgründig und ausgewogen. Die Holzbläserverströmten einen widerhallenden Glanz und die Blechbläser musizierten rund und weich. Nichts klang gepresst, grob oder rau, unabhängig wie laut das Orchester spielte. Es gab hinreißende Soli von Flöte, Oboe und Trompete. In diesem Orchester war kein schwaches Glied auszumachen, doch die Streicher waren sicherlich seine größte Pracht. Dazu ein Dirigent, der ihrer würdig war.
Frenetischer Beifall und stehende Ovationen dankten dem Dirigenten und den Musikern.
Und da wir drei Beethovensymphonien mit Interpretationen, die auf der Höhe unserer Zeit angekommen waren, erleben durften, hier noch etwas aktuelles für den Verehrer des Titanen: finanziert von der Marketingabteilung der Telekom, haben Musikwissenschaftler mit der Leiterin des Bonner Beethovenarchivs aus den dort archivierten Skizzenbüchern Beethovens dessen Ideen und Notizen für eine geplante zehnte Symphonie extrahiert. Ein Projektteam mit einem Filmkomponisten, einem Musikwissenschaftler, einem Musiker und mehreren Informationstechnikern versucht nunmehr, mit Arbeitsprinzipien der künstlichen Intelligenz dem Genie Beethovens auf die Schliche zu kommen. Aus den Fragmenten soll eine zehnte Symphonie Beethovens rekonstruiert werden. Ein Algorithmus wird die vielen Lücken der skizzenhaft hinterlassenen vielen Fragmente ausfüllen und soll zu einer aufführungsreifen Partitur gestaltet werden. Eine Uraufführung durch das Beethovenorchester ist für den 28. April 2020 in Bonn vorgesehen.
Die Meinungsvielfalt zum Vorhaben ist eine Gewaltige!
Thomas Thielmann 17.12.2019
Bilder (c) Matthias Creutziger
Kitajenko und Krylov
Tschaikowski-Prokofjew-Chatschaturjan
29. November 2019
Zu einem interessanten Konzertprogramm mit dem Titel „Spartakus“ hatte Dmitrij Kitajenko gemeinsam mit der Dresdner Philharmonie in den Konzertsaal des Kulturpalastes eingeladen. Angekündigt waren Peter Tschaikowskis „Manfred Sinfonie“, Sergej Prokofjews „2. Violinkonzert“ mit Sergej Krylow und Szenen aus Aram Chatschturjans „Spartakus-Ballett“.
Der Ideengeber der „Manfred-Sinfonie“ Lord Byron (1788-1824) gehörte zweifelsfrei zu den schillerndsten Figuren seiner Zeit. Unter dem Eindruck einer Reihe von alpinen Wandertouren in der Schweiz und weil er selbst von einer „unerlaubten Liebe“ zu seiner fünf Jahre älteren Halbschwester Augusta gequält war, schrieb er 1817 als eine Variierung des uralten Faust-Stoffes sein dramatisches Gedicht „Manfred“. Seitdem geistert der lebenshungrige, amoralische und abenteuerliche oft einsame „Byronsche Held“ durch die europäische Musik- und Literaturgeschichte. „Der Mann des Friedens“ ist zugleich schwärmerisch, menschenverachtend, die Gefahr suchend und auch findend.
Peter Tschaikowski hat sich, wahrscheinlich bedingt durch seine unterdrückte Homosexualität, lange mit der Figur Byrons beschäftigt, bevor er 1882, angeregt vom Komponisten-Freund Milij Alexandrowitsch Balakirev, mit einer programmatischen Komposition in vier Bildern, seiner „Manfred-Sinfonie op. 58“, den Versuch unternahm, seine psychischen Probleme zu kompensieren. Die Programmatik der 1885 vollendeten Komposition hat Tschaikowski selbst postuliert.
Der russische Dirigent Dmitrij Kitajenko, geboren 1940 im damaligen Leningrad, gilt seit seiner Oehms-Classic-Einspielung mit dem Gürzenich-Orchester, mit der er alle positiven Aspekte der Komposition hervorgehoben und gleichzeitig ihre Mängel minimiert hatte, als Spezialist der „Manfred- Sinfonie“.
Im Dresdner Konzert inszenierte er die Bilder der Manfred-Sinfonie nicht aus der Distanz, sondern wühlte sich in die emotionalen Tiefen der Musik und nahm seine Zuhörer mit, das Drama des Anti-Helden gleichsam zu erleben. Der düstere Beginn des ersten Satzes lento lugubre zeichnete den durch das Berner Oberland irrenden verzweifelten Protagonisten. Sein Leben schien vernichtet und Erinnerungen an seine Schwester, deren Leben er zerstört hatte, quälten ihn. Aus einer russischen Schwere führte Kitajenko das Orchester in eine düstere Melancholie und zu idyllischen Ruhepunkten. Er gab den ausgreifenden Melodienbögen Zeit zur Entwicklung, erlaubte kleinere Nuancen, um im nächsten Moment das Tempo anzuziehen.
Mit dem zweiten Satz, einem Scherzo entwarf Tschaikowski die Vision der Erscheinung der Alpenfee unter einem Regenbogen. Die wirbelnden Figuren des Vivace conspirito erforderten vom Orchester ein sehr präzises Spielen, ohne dass es wie stupider Maßarbeit klang. So aber offenbarte es dem Auditorium den luftigen Charme der Musik.
Mit dem dritten Pastoral-Satz wollte Tschaikowski dem Helden mit einem schlichten und friedlichen Leben bei Bauern und Hirten Genesung von seinen Leiden vorgaukeln. Das wollte und konnte Kitajenko nicht zulassen, wenn er den Charakter des Werkes nicht gefährden wollte. Ohne Glanz legte er deshalb mit wunderbaren Nuancen einen Hauch von Trauer und Melancholie über die alpinen Naturszenen.
Der Finalsatz mit Manfreds Tod und Auferstehung gewann noch einmal monumentale Größe und wuchs zum heroischen Hymnus. Aber mitten im Satz ließ Kitajenko die Stimmung kippen. Selbst die Orgeltöne wirkten nur noch verhalten. Erst mit den Schlusstakten konnte man spüren, dass Manfred letztlich verziehen wird und er im Tod Ruhe finden kann.
Zu den inzwischen weltweit häufig gespielten Komponisten des 20. Jahrhunderts gehört zweifelsfrei auch Sergei Sergejewitsch Prokofjew. Der 1891 als Sohn eines Gutsverwalters in Sonzowka auf dem Gebiet der heutigen Ost-Ukraine geborene, erreichte nach seiner Petersburger Ausbildung bis 1918 als brillanter Pianist und Komponist vor allem mit seiner ersten, der klassischen Sinfonie, Erfolge.
Mit den Zielen der Oktoberrevolution konnte er nichts anfangen, hatte nicht die leiseste Ahnung von deren Zweck und Bedeutung, meinte aber, dass in Russland kein Bedarf für Musik bestehe. Um den Unwägbarkeiten in Russland aus dem Wege zu gehen, verließ er seine Heimat. Ein unstetes Wanderleben als Dirigent und Pianist führte ihn durch die USA und Europa. Vor allem in Frankreich kam er mit den wichtigsten musikalischen Richtungen in Berührung.
Nach 1927 unternahm er mehrfach Konzertreisen nach der UdSSR, die er nach 1932 intensivierte. Warum er sich 1936 mit seiner Frau, der spanischen Sängerin Carolina Codina (1897-1989; Künstlername Lina Llubera) endgültig in Moskau niederließ, gibt es eine Vielzahl von Spekulationen. War es ein zwiespältiges Gefühl der Entwurzelung von der Heimat und deren Menschen oder war es der Einfluss Sergej Eisensteinens, für dessen Filme er die Musik komponierte? Oder wollte er, wie mein Konzertführer der 1950er Jahre unterstellt, seine Kraft der Entwicklung der sozialistischen Musikkultur widmen? Er studierte die Schriften Lenins und übernahm 1933 eine Meisterklasse am Moskauer Konservatorium um Einfluss auf die künftige Komponistengeneration zu nehmen. Oder haben jene recht, die Prokofjew erhebliche finanzielle Probleme in Paris unterstellten, die die Sowjetregierung für ihn reguliert habe?
Namhafte Musikwissenschaftler bezeichnen seine Entscheidung als absolut rational. Für Prokofjew waren die folgenden Jahre eine der produktivsten Phasen seines Künstlerlebens. Sein ältester Sohn Oleg berichtete, dass der Vater über das, „was draußen geschah“, nicht sprach. Auf die Internierung seiner spanischen Frau 1948, von der er seit 1943 getrennt lebte, habe er gemäß Vorwürfen Olegs nur lau reagiert. Carolina Codina war wegen des Versuchs, Geld nach Spanien zu senden als Spionin für sechs Jahre im GULAG verbracht worden. Reibereien mit der sowjetischen Kulturbürokratie blieben nicht aus, waren aber begrenzt.
Ungeachtet dessen: Wir nutzen Prokofjews Partituren und lieben seine Musik.
Das zweite Violinkonzert Prokofjews entstand als Auftragswerk der Verehrer des Geigers Robert Soetens im Sommer 1935, also in der Zeit seines „Wanderns zwischen den Welten“. So komponierte er den ersten Satz in Paris, den Mittelsatz im russischen Woronesh und schloss die Instrumentation in Baku ab. Die Uraufführung durch den Widmungsträger Soetens fand im Dezember 1935, also während des spanischen Bürgerkriegs, im Volksfront-Madrid statt. Das 2. Violinkonzert reflektiert wie kaum ein anderes Werk eine künstlerische und persönliche Umorientierung Prokofjews. Eine an die Tradition angepasste Formgestaltung und lyrische volksnahe Melodien lösten das sarkastische seines früheren Schaffens ab.
Der Solist des Abends Sergei Krylow, geboren 1970 in Moskau, gilt als ausgesprocher Spezialist für die Kompositionen Prokofjews sowohl als Geiger als auch als Dirigent. Das melancholisch russisch anmutende Hauptthema des Allegro moderato wurde von Krylow behutsam und mit unaufgeregter Virtuosität aufgenommen. Die Musiker der Dresdner Philharmonie nahmen unter der Leitung von Dmitrij Kitajenko fast schwebend die Prokofjewsche Tonsprache auf. Krylow spielte im Weiteren den ersten Satz mit außerordentlicher Virtuosität und berauschender rhythmischen Brillanz. Im zweiten Satz Andante assai bot der Solist ein außergewöhnliches Stimmungsbild. Über einer von den Klarinetten unterstützten Streicher-Pizzicato-Basis entwickelt Krylow eine berückend kristallklare groß angelegte Serenade. Mit dem Finalsatz scheinen Solist und das Orchester den bizarr-grotesken Ton des früheren Prokofjews aufgreifen zu wollen. Aber im zunehmendem Maße übernahm wieder die anspruchsvolle Virtuosität bis das „Allegro ben marcato“ zum brüsk abreißenden Schluss geführt wurde.
Der Beifall nach dem Violinkonzert blieb freundlich. Erst nach der Zugabe, einem Capriccio von Paganini, entschloss sich das Publikum zu den verdienten Bravo-Rufen und heftigen Ovationen.
Der armenische Musiker Aram Chatschaturjan (1903-1978) komponierte in der Mitte der 1950er Jahre, beeinflusst vom französischen Impressionismus und unter Nutzung armenisch-kaukasischer Volksmusikmotive, nach einem Libretto Nikolai Wolkows seine ausdrucksstarke und mitreißende abendfüllende Ballettmusik „Spartakus“.
Aus der Frühzeit des Römischen Reiches sind neben kleineren Aufständen drei bedeutsame Sklavenkriege überliefert worden. Der für Rom gefährlichste und am längsten andauernde Aufstand war der von dem Thraker Spartakus angeführte. Mit anderen Gladiatoren, 78 v.Chr. aus der Gladiatorenschule in Capua ausgebrochen, sammelte er innerhalb von fünf Jahren bis zu 200 000 Landwirtschafts-Sklaven und verarmte landlose Freie, um sie in ihre Heimat meist Thrakien bzw. Gallien zurück zu führen. Gemeinsam mit Kelten-Stämmen fügte er Römischen Legionen 73 v. Chr. am Vesuv erste Niederlagen zu, denen weitere folgten. Der Versuch, mit seinem Heer und der Hilfe Kilikischer Seeräuber nach Griechenland überzusetzen scheiterte. Erst 71 v.Chr. gelang es dem Prätor Crassus die Anhänger Spartakus mit acht Legionen einzukesseln und aufzureiben.
In Anlehnung an Geschehnissen von vor über zweitausend Jahren hatte Nikolai Wolkow um das Ehepaar Phrygia und Spartakus sowie deren Gegenpart Crassus mit Partnerin Aegina ein Libretto mit „siebenunddreißig Szenen aus dem römischen Leben“ geschaffen.
Um seine Musik auch für den Konzertsaal zu erschließen, hatte der Komponist aus den 210 Minuten-Ballettmusik zunächst drei in sich abgeschlossene Ballett-Suiten gestaltet. Inzwischen bedienen sich die Interpreten recht beliebig aus den Suiten, um sich wirkungsvolle Darbietungen zusammen zu stellen. Natürlich auch, um die Zuhörer nicht mit „Spartakus’ Tod und dem Requiem“, deprimiert nach Hause zu schicken.
Und so hörten wir zum Abschluss des Konzertes aus der ersten Orchestersuite die Variation der Aegina mit dem Bacchanal (1. Akt; 8. Szene), aus der zweiten Suite das „große Adagio“ von Spartakus mit Phrygia (3. Akt; 3.Szene) sowie zum Abschluss den Tanz der gadinitischen Mädchen und Spartakus Sieg ( 2. Akt; 12. Szene), mit denen die Musiker der Dresdener Philharmonie unter ihrem Gastdirigenten Dmitrij Kitajenko noch einmal flott und sehr laut auftrumpfen konnten. Leider ging in dem Tönerausch auch der Zauber des wunderbaren Adagios der Szene des Spartakus mit der Phrygia verloren.
Autoren der Bilder: Nikolai Lund; Klaus Rudolph; Markenfotografie
Porträtkonzert des „Capell-Compositeurs der Staatskapelle Dresden“ Aribert Reimann
19. November 2019 Festspielhaus Dresden-Hellerau
Der Berliner Komponist Aribert Reimann (geboren 1936) gehört mit seinem breitgefächerten Schaffen zu den produktivsten Komponisten der Gegenwart. In der laufenden Saison ist er der „Capell-Compositeur der Staatskapelle Dresden“. Inzwischen traditionell, wurde ihm im Festspielhaus Hellerau ein Porträtkonzert-Abend gewidmet.
Der Konzertabend wurde von der „kapelle 21“, einer Gruppe meist jüngerer Musiker der Staatskapelle gestaltet. Das von Robert Oberaigner gemeinsam mit dem Komponisten ausgewählte Programm konzentrierte das „Nachschaffen Reimanns“ zum Schwerpunkt des Porträts.
In drei Blöcken waren Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy, Robert Schumann und Franz Schubert mit Kompositionen und Bearbeitungen unseres Zeitgenossen kombiniert.
Am Beginn jeden Blockes spielten Instrumentalisten ein „Solo“ aus der Werkstatt Reimanns, so Stephan Pätzold ein „Solo für Viola“, Norbert Anger ein „Solo für Violoncello“ und Céline Moinet ein „Solo für Oboe“ aus der Schaffenszeit zwischen 1981 bis 2001.
Mit einer Bearbeitung für Sopran und Streichquartett von acht Liedern und einem Fragment nach Gedichten von Heinrich Heine setzte sich 1996 Reimann mit dem Werk „ oder sollte es Tod bedeuten?“ von Mendelssohn Bartholdy auseinander. Die Sopranisten Carolina Ullrich vom Ensemble der Semperoper sicherte gemeinsam mit dem Streichquartett der „kapelle 21“ Robert Lis, Kay Mitscherling, Holger Grohs und Friedwart Christian Dittmann mit einer wunderbaren Darbietung die Aufmerksamkeit der Zuhörer im gut ausgebuchten Saal des Festspielhauses. Gleichsam als Gegenstück folgte das Mendelssohnsche Streichquartett e-Moll op. 44/2.
Mit einer interessanten Instrumentierung der „Fantasiestücke“ Robert Schumanns für Klarinette, Flöte, Harfe und zwei Bratschen von 2007 überraschten Robert Oberaigner, Rozália Szabó, Johanna Schellenberger, Michael Horwath und Marie-Annick Caron das Publikum. Sein besonderes Verhältnis zu Robert Schumann erläuterte Aribert Reimann mit sehr persönlichen Ausführungen und ergänzte mit Details seiner vorfahrlichen Beziehungen zu Robert Schumanns Endenicher Arzt Dr. Richarz, sowie der Erläuterung, wie er 2006 in den Besitz von Schumanns Krankenakte gekommen ist. Diesen bewegenden Ereignissen verdanken wir auch Reimanns „Adagio-zum Gedenken an Robert Schumann“ aus dem Jahre 2006, von der Streicherformation Tibor Gyenge, Lukas Stepp, Michael Horwarth und Titus Maak berührend vorgetragen.
Reimanns subtile Näherung Franz Schubert verdanken wir die „Nocturnos für Violoncello und Harfe und die „Metamorphosen über ein Menuett von Franz Schubert (D 600) für zehn Instrumente“. Unter der musikalischen Leitung von Petr Popelka spielten Bernhard Kury (Flöte), Volker Hanemann (Oboe),Christian Dollfuß (Klarinette), Thomas Eberhardt (Fagott), Zoltán Mácsai (Horn), Michael Schmid, Emanuel Held (Violinen), Marie-Annick Caron (Viola), Titus Maack (Violoncello) und Martin Knauer (Kontrabass).
War die erste Probe Reimannscher Musik, der „neun Miniaturen nach Gedichten von Paul Casal“ im vierten Symphoniekonzert der Staatskapelle noch recht differenziert aufgenommen worden, so erwiesen sich die Verehrer Reimanns und die Mitglieder der Gesellschaft der Freunde der Staatskapelle Dresden recht aufgeschlossen und begeistert. Die Musiker der „kapelle 21“ stellten mit ihren Darbietungen unter Beweis, dass sie ansonsten Mitglieder eines des weltbesten Klangkörpers sind und professionell in allen Musikformen wirken können.
Thomas Thielemann, 20.11.2019
Bilder (c) Markenfotografie
London Philharmonic Orchestra mit Vladimir Jurowski / Jan Vogler
17. November 2019 im Konzertsaal des Kulturpalastes Dresden
Britten und Mahler im zweiten Dresdner Palastkonzert der Saison
Vieles verbindet das Dresdner Musikleben mit der Dirigentendynastie Jurowski. Der 1945 als Sohn des Komponisten Wladimir Jurowski (1915-1972) geborene Mikhail Wladimirowitsch war seit 1988 Gastdirigent der Semperoper und wäre fast Bürger der Stadt geworden. So aber rief Berlin und Mikhail begrenzte seine Verbindungen zur Stadt mit zahlreichen Gastdirigaten bei der Staatskapelle, der Dresdner Philharmonie und bei den Gohrischer Schostakowitsch-Festtagen. Sein älterer Sohn Vladimir (geboren 1972) nahm 1990 ein Studium an der hiesigen Musikhochschule Carl-Maria-von-Weber unter anderem bei Colin Davis auf, folgte aber dann der Familie. Als Dreißigjähriger debütierte er 2002 mit großem Erfolg mit Pendereckis Oper „Der Teufel von London“ an der Semperoper und ist seit dem als Gastdirigent der Staatskapelle mit außergewöhnlichen Programmen ein Erfolgsgarant. Bei seinen Gastdirigaten im Semperbau war Vladimir Jurowski fast ausschließlich mit den wenig populären schwierigeren Aufgaben betraut gewesen.
Erinnert sei hier an Lera Auerbachs „Dresdner Requiem“ im Jahre 2012, an das 11. Symphoniekonzert 2015 mit Werken von Sofia Gubaidulina, Tanjew und Skrjabin, an das 6. Symphoniekonzert 2017 mit Kompositionen von Zemlinski, Schulhoff und Martinů sowie das diesjährige 10. Symphoniekonzert mit den Sommernachtsträumen Henzes und Mendelssohns mit der etwas flippigen Isabel Karajan. Letztere hatte es Jurovski doch etwas schwer gemacht, sein Konzept durchzusetzen.
Am 17. November diesen Jahres kam er mit seinem „London Philharmonic Orchestra“ in den Konzertsaal des Kulturpalastes der Stadt, um im Rahmen der Palastkonzerte mit Jan Vogler die Cello-Symphonie op. 68 von Benjamin Britten und danach Gustav Mahlers fünfte Symphonie zu spielen. Seit er 2007 das Orchester von Kurt Masur übernahm, ist er der Chefdirigent des 1932 gegründeten Klangkörpers.
Der bedeutende englische Komponist Edward Benjamin Britten (1913-1976) war 1963 von seinem Freund, dem russischen Cellisten, Dirigenten und Humanisten Mstislaw Rostropowitsch (1927-2007), gebeten worden, ihm ein Cellokonzert zu schreiben. Wegen seiner Symphonie-typischen Struktur mit vier Sätzen wird die Komposition üblicherweise als „Symphonie für Cello und Orchester op. 68“ bezeichnet. Erklärt wird diese außergewöhnliche Struktur mit den Umständen, dass sich der erklärte Pazifist und Kriegsdienstverweigerer Britten in den 1960er Jahren mit den Schrecken und Leiden des zweiten Weltkriegs auseinandergesetzt hatte, aber mit seinem bekanntesten Werk „War Requiem“ 1961 unter dem Eindruck des „Kalten Krieges“ noch nicht zum Abschluss seines Anliegens gekommen war. Mit dem Rostropowitsch zugeeigneten Cellokonzert widmete er sich nochmals den Problemen von Krieg und Frieden.
In drei Sätzen, schnell majestätisch-sehr schnell unruhig-langsam, zeichnete er mit der Cello-Komposition mittels düsterer Klangfarben eine Reise vom Dunkeln ins Licht. Wie Nebelschwaden sind die Cello-Passagen in den Klangteppich eingelagert. Mit einer dem Adagio unmittelbar angeschlossenen langen Kadenz, die wie eine Klammer von den drei trostlosen Sätzen zum hoffnungsvollen Finale überleitet, ist gleichsam organisch die komplexe symphonische Struktur entstanden. Die Komposition ist Brittens größte symphonische Arbeit und ist vor allem von seiner Freundschaft zu Rostropowitsch geprägt. Orchester und Solist agieren auf Augenhöhe. Britten verzichtete auf ein avantgardistisches Klangbild und greift vor allem auf Barockformen zurück.
Jurowski gelingt es, mit dem Orchester lebendig in die Klangwelt des Komponisten einzutauchen und eine überzeugende Deutung der Anti-Kriegs-Komposition Brittens vorzulegen. Dazu besonders aufregend der Klang von Jan Voglers „Castelbarco-Fau-Cello“ von 1707 aus der Werkstatt von Antonio Stradivari (ca 1644-1737), wenn Solist und Orchester besonders im Adagio eine trostlose Landschaft zaubern. Nach der brillanten Kadenz von Jan Vogler wird der Beginn des Finalsatzes von einem grandiosen Trompetenthema, grandios gespielt vom Solo-Trompeter der Londoner Paul Beniston dominiert. Auffällig waren der massive Einsatz des präzis gespielten Schlagzeugs und dessen ungewöhnliche Kombinationen mit dem Cello. Für mich war eine höchst aktuelle Auslegung der Gedanken Brittens geboten worden.
Im zweiten Teil des Konzertes brachten Jurowski mit den Londoner Philharmonikern die fünfte Symphonie von Gustav Mahler zu Gehör. Nun waren es gerade zwei Monate her, dass wir Mahlers Werk mit der Staatskapelle unter der Leitung von Daniele Gatti und in der doch kleineren Semperoper hören durften. Da war ein wunderbarer Vergleich zwischen den Orchestern, den unterschiedlichen Temperamenten der Dirigenten und der unterschiedlichen Klangentfaltung in beiden Sälen, möglich.
Nahezu auf Anhieb fiel der gravierend unterschiedliche Orchesterklang auf. Hört man doch oft Klagen, die Orchester würden zunehmend austauschbar klingen. Aber gegenüber dem weichen Klang der „Wunderharfe“ hörte sich das „London Philharmonic Orchestra“ fast etwas ruppig an. Besonders bemerkt man die Unterschiede bei der Qualität der Streicher und der leichten Überfrachtung der Blechbläser bei den Londonern.
Unterschiede der Mahlerdeutung waren besonders deutlich beim Adagietto zu spüren. Gatti war bei seiner Interpretation bemüht gewesen, die Hörerwartungen insbesondere des Abonnenten-Publikums von der Verwendung der Mahler-Melodie in Viscontis „Tod in Venedig“ abzulenken. So blieb in der Erinnerung an das Gatti-Konzert, dass das Adagietto zum Teil zarter, zum Teil aber deutlich prononcierter dargeboten wurde. Jurovski ließ den Ohrwurm nach einer selten langen Satzpause gefälliger ohne Ecken und Kanten durchspielen. Beim Dirigat fiel vor allem Jurowsis Sinn für Balance, rhythmische Präzision und die technische Sicherheit auf, wie er die dramatische Form der komplexen Partitur mit straffen Ansagen bewältigte. Gatti hatte dagegen die Dresdner doch etwas an der „langen Leine“ laufen lassen.
Die Diskussion bezüglich einer eventuellen Übersiedelung der Staatskapelle in den größeren Konzertsaal des Kulturpalastes ist inzwischen zugunsten der Bestandslösung ausgestanden. Die Mahlersymphonie hörte sich bei allen Unterschieden der beiden Spielansätze im Kulturpalast präsentabler an und kam im Semperbau intimer und weniger „Welttheater-mäßig“ zur Geltung. Deshalb wäre es auch interessant, das Britten-Cellokonzert einmal im engeren Rahmen der Semperoper erleben zu können.
Das Konzert war bis auf wenige Plätze ausverkauft. Aus dem inzwischen selteneren festlichen Outfit der Besucher und der intensiven Nutzung des Caterings konnte man auf das typische Musikfestspielpublikum schließen. Entsprechend intensiv setzte der Beifall unmittelbar nach den letzten Takten der Musik ein und ging fast unmittelbar in stehende Ovationen über.
Thomas Thielemann 18.11.2019
(c) Oliver Killig
4. Symphoniekonzert der Staatskapelle
Reimann-Miniaturen und Bartóks „Blaubart
11. November 2019 im Semperbau
Neun Miniaturen und sieben schwarze Türen
Immerhin bedurfte es des 4. Symphoniekonzerts, ehe der Saison-Capell-Compositeur Aribert Reimann mit seinen „Neun Stücke für Orchester“-zu Gedichten von Paul Celan ein Werk seines Schaffens vorstellte.
Der Komponist Aribert Reimann, geboren 1936, und der Lyriker Paul Celan (1920-1970) lernten sich 1957 trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft und Sozialisation 1957 in Paris kennen und schätzen. Reimann ist der jüngste Sohn einer Berliner Kirchenmusiker-Familie, während Paul, ursprünglich Antschel, in einer deutschsprachlichen jüdischen Familie in Cernowitz, damals Rumänien zugehörig, geboren wurde. Während Reimanns Weg zum erfolgreichen Komponisten geradlinig verlief, konnte Paul Celan nach Ghetto sowie Zwangsarbeit erst nach dem Zweiten Weltkrieg in Bukarest sein Romanistik-Studium abschließen und als Übersetzer bzw. Lektor arbeiten. Offenbar begann er bereits als Student Lyrik zu schreiben, denn nachdem er 1947 über Ungarn nach Wien übersiedelte, konnte er im Folgejahr einen ersten Gedichtband vorlegen. Möglicherweise unter dem Einfluss von Ingeborg Bachmann, mit der ihm ein Liebesverhältnis verband, siedelte er im gleichen Jahr nach Paris um.
Die Struktur der Lyrik von Paul Celan, seine logisch kaum fassbaren Sprachkunstwerke aus rätselhaften Chiffren und Metaphern beeindruckten Aribert Reimann derart, dass er sein Liedschaffen zu einem großen Teil mit Celan-Texten gestaltete.
Im März 1992 komponierte er neun Lieder ohne Klavier- oder Orchesterbegleitung für Mezzosopran nach Celan-Texten über das Leid, den Verlust, die Trauer und nannte den Zyklus „Eingedunkelt“. Die Wirkung der Uraufführung des Zyklus durch Brigitte Fassbaender im Juni 1993 auf die Zuhörer bestätigte das Vertrauen Reimanns in die expressive Kraft der Verse und veranlassten ihn, noch einmal die Auseinandersetzung mit den Gedichten Celans zu suchen. „Ich war von der Idee gefangen, die Welt der Gedichte in absolute Musik zu verwandeln“. Die Poesie Paul Celans tritt bei den Orchesterstücken zugunsten einer rein musikalischen Welt zurück.
Die musikalische Leitung des Konzerts hatte der 1958 geborene Kalifornier David Robertson übernommen. Robertson, bekannt als Chefdirigent und künstlerische Leiter des Sydney Symphony Orchestra , gehört bisher noch nicht zu den ständigen Gastdirigenten der Staatskapelle. In Erinnerung ist uns eine Vertretung als musikalischer Leiter des 9. Symphoniekonzert im Februar 2016 wegen seines heiteren Auftretens geblieben. Ohne Probe hatte er Werke von Beethoven und Ruzicka dirigierte.
Die neun Miniaturen nach Versen von Paul Celan im besprochenen Konzert dirigierte David Robertson artikuliert und souverän, mit viel Sinn für Farbe, aber auch mit Deutlichkeit in den düsteren Momenten. Immer vermittelt er der Musik Reimanns Halt in sprach-analoger Klang-Rhetorik.
Die Musiker, der Interpret und Aribert Reimann, der selbst anwesend war, erhielten mehr als nur freundlichen Beifall.
Die Botschaft der im zweiten Konzert-Teil gebotenen konzertanten Aufführung von Bela Bartoks Oper in einem Akt „Herzog Blaubarts Burg“ ist eigentlich fatalistisch. Ob seiner sexualneurotischen Verbrechen gehört der Ritter Blaubart zu den großen Bösewichtern der Literatur. Es gibt mit dem berüchtigtem Serienmörder Baron Gilles de Rais (1404-1440), einem Waffenbruder der Jeanne d´Arc, sogar ein historisches Vorbild. Sein Treiben hatte 1697 Charles Perrault im Märchenbuch „Contes de am Mère l´Oye“ in die Literatur eingeführt, wobei im Märchen Blaubarts letzte Frau dem Schicksal ihrer Vorgängerinnen in letzter Sekunde entging. 1812 ging die Blaubart-Sage in die Märchensammlung der Gebrüder Grimm ein. Möglicherweise in der Folge der Forschungen Sigmund Freuds über psychische Abgründe des Menschen bekam die Blaubart-Legende um 1900 eine gewisse Renaissance.
Neben Maurice Maeterlinck, Paul Dukas, Judith Kuckart, Alfred Döblin und anderen beschäftigte sich auch der Dichter und spätere Filmtheoretiker und -kritiker Herbert Bauer (1884-1949) mit der verstörenden Geschichte von männlicher Gewalt und weiblicher Neugierde. Mit Kodály, Bartók und dem Philosophen Georg Lukácz war er über das Land gezogen, um Volksmusik und im Volk kursierende Sagen zu sammeln. Dabei hatte er auf der Suche seines Ungartums den Namen Béla Balázs angenommen.
Als er seine symbolistische Fassung einer uralten ungarischen Volksballade im Salon des Ehepaars Kodály vorlas, äußerte Bartók die Idee einer psychologischen Programm-Musik und die Umwandlung des Stoffes in eine „klangfarbensymbolische Tiefendimension“. Bartók fühlte sich, so sein Biograf György Kroó, zu dieser Zeit ob seiner Nietzsche Lektüre in einen sonderbaren Schwebezustand.
Bartók komponierte 1911 eine Erstfassung, die er 1912 und 1918 revidierte. Erst dann erlaubte das gespannte Verhältnis Bartóks zur akademischen ungarischen Musikszene eine Uraufführung. Die derzeit gespielte Fassung ist 1921 entstanden.
Die Handlung der Oper „Herzog Blaubarts Burg“ umfasst lediglich, dass des Herzogs neue Frau Judith seine Burg betritt, sieben schwarze Türen vorfindet, und von da an in alle sieben Räume einzudringen versucht. Das bedeutet, durch fortwährende Grenzüberschreitungen die Vergangenheit, die Gehgenwart und Zukunft des Mannes gegen seinen Willen zu erobern. Die Öffnung von Folterkammer, Waffenkammer, Schatzkammer, Zaubergarten und Landbesitz, sprich: seine Macht, erlösen Blaubart von seinen Komplexen. Judiths Dynamik treibt nahezu erpresserisch seine Erlösung. Trotzdem lenkt der Mann: Er entscheidet, wann die Tür geöffnet wird. Mit der sechsten Tür, dem Tränen-See kippt die Erlöserrolle zum besessenen Verlangen nach der ganzen Wahrheit. Hinter der siebten Tür aber betreuen Blaubarts frühere Frauen die erste „den Morgen“, die zweite „ den Mittag“ und die dritte „den Abend“, weil auch sie zu viel wissen wollten. Für Judith bleibt damit die ewige Betreuung „der Nacht“. Für Blaubart ist wieder der Versuch, zu lieben, gescheitert.
Den Prolog zur Oper Sprach David Robertson auf Ungarisch und verweist den Zuhörer auf die Texteinblendungen. Sein Dirigat war intensiv, dynamisch und klangfarbenreich. Streckenweise ließ er das Orchester zu voller Pracht aufblühen. Dann aber blieb der Ton verhalten-intim in einem Schwebezustand und ein eisiger Hauch durchzog den Raum. Die eigentliche psychologische Konfrontation zwischen Judith und Blaubart wurde vornehmlich von einer hervorragend aufgestellten Staatskapelle mit ihren wunderbaren Solisten abgebildet. Besonders waren uns der Solo-Trommler Thomas Käppler, der Solo-Klarinettist Robert Oberaigner sowie die beiden Harfenistinnen Astrid von Brück und Johanna Schellenberger aufgefallen. Auch konnten wir als neuen Konzertmeister Nathan Giem am ersten Pult erleben.
Diesem Konzept folgten die beiden Gestalter der Gesangspartien. Die wunderbare Mezzosopranistin Elena Zhidkova brachte die fortwährend vollzogenen und zunächst auch gelungenen Grenzüberschreitungen der Judith mit prachtvollem Stimmeinsatz zu Gehör. Dabei signalisiert sie einerseits den Wunsch nach Vereinigung, bringt aber andererseits den Gegensatz des Weiblichen zum Männlichen zur Geltung. Wenig beeindrucken sie seine „Lande“, die er prahlend, mit Blechunterstützung vom Rang, präsentiert. Die Erlöserrolle entwickelt die Sopranistin zunehmend zum besessenen Verlangen nach der „ganzen Wahrheit“. Elena Zhidkovas Judith handelt aus freiem Willen und akzeptiert ihr tragisches Ende nahezu gefühllos.
Anders der stimmlich hervorragend angepasste Herzog Blaubart von Matthias Goerne. Seine Einsamkeit, repräsentiert durch die Beschreibung der dunklen, kalten und kargen Burg, verändert sich durch den Kontakt mit der Frau. Andererseits entscheidet er, ob und wann er die nächste Tür öffnet, um sich die Liebe der Judith zu erhalten. Damit ist er nicht in der Lage, die Öffnung der siebten Tür zu verweigern. Das zwingt ihn letztlich, die aktive Figur der Judith als erstarrten Gegenstand zum Baustein seiner Burg zu machen.
Fast überflüssig, den frenetischen Beifall des leider nicht voll besetzten Auditoriums zu erwähnen.
(c) Matthias Creutziger
Thomas Thielmann 12.11.2019
Das dritte Symphoniekonzert der Staatskapelle in der Saison 2019/20
Omer Meir Wellber dirigiert Bartok mit Kavakos, sowie Prokofjew und Schostakowitsch
21. Oktober 2019 in der Semperoper Dresden
In unserem Konzertführer der 1950er Jahre gesteht der Herausgeber Karl Schönewolf Bela Bartok (1881-1945) lediglich ein Violinkonzert aus den Jahren 1937-1938 zu. Er erwähnt aber, dass Bartok bereits um 1907 ein zweisätziges Werk für Violine und Orchester entworfen habe. Tatsächlich komponierte der Sechundzwanzigjährige, unsterblich verliebt in die ungarische Geigerin Stefi Geyer (1888-1956), für diese junge Frau zwei Sätze für Orchester und Violine Solo und legte ihr die sehr persönlichen Kompositionen buchstäblich zu Füssen. Ein Zerwürfnis in Glaubensfragen beendete die Beziehung, so dass ein dritter Satz nicht zu Stande kam. Stefi Geyer hat die Komposition nie gespielt, aber offenbar die Partitur unter Verschluss gehalten. Bartok rächte sich musikalisch: Im letzten Zyklus seiner 14 Bagatellen nahm er sich „ihr“ Violinkonzert vor, karikierte das Leitmotiv und versah weitere Nutzungen des Materials mit Titeln wie „Zerrbild“. Nach Stefis Tod entdeckte man das Notenmaterial in ihrem Nachlass und konnte es nach der Neu-Einteilung 1958 als 1. Violinkonzert uraufführen.
Das 2. Violinkonzert Bartoks trägt diese Bezeichnung erst seit den späten 1950er Jahren. Es galt bis dahin einfach nur als Bartoks Violinkonzert.
Der Geiger und Freund Bartoks Zoltán Székely bat diesen 1937, ihm ein „ganz klassisches Konzert“ zu schreiben. Bartok plante aber, ein größeres Variationswerk zu komponieren. Man fand einen Kompromiss, der letztlich zu einem komplett neuen Konzept führte und Beide zunächst befriedigte. Der zweite Satz (Andante tranquillo) wurde ein Variationssatz und der Final-Satz eine Variation des durch schroffe Gegensätze geprägten Kopfsatzes. Vom dritten Satz existieren trotzdem zwei Versionen, weil sich Szekely über die geringe Präsenz der Solovioline im Finale beklagte. Mithin hat Bartok für den dritten Satz eine Alternativfassung zur Verfügung gestellt.
Für das dritte Symphoniekonzert der Saison hatte Omer Meir Wellber für den erkrankten Alan Gilbert das Dirigat übernommen. Als Solist des B-Dur-Bartok-Konzertes war der seit 2004 regelmäßig in Dresden gastierende und uns von seinen Sibelius-Aktivitäten bestens bekannte Grieche Leonidas Kavakos mit seiner wunderbaren „Willemotte-Stradivari“ in den Semperbau gekommen. Geschaffen worden war das außergewöhnliche Instrument 1734, als Antonio Stradivaris Söhne die legendäre Werkstatt in Cremona bereits führten und er sich ob seiner 90 Lebensjahre Zeit zum Experimentieren nahm. Er vergrößerte die Wölbung des Instruments, um mehr Raum im Korpus für Klangproduktion, Farbe und Klangtiefe zu schaffen. Der Klang des Instruments mit seiner Intensität und der darunterliegenden Dunkelheit kombiniert das Beste der Instrumente Stradivaris mit denen der Guarinis. Namensgeber der Geige ist der Amsterdamer Violinist Charles Willemotte, auch Wilmotte (1817-1883). Leonidas Kavakos konnte 2017 nach mehreren Anläufen das außergewöhnliche Instrument käuflich erwerben. Vor ihm hatten das Instrument unter anderem der Violinist und Komponist Jean Baptiste Cartier (1765-1841) sowie die deutsche Geigerin Maria Lidka (1914-2013), letztere bis ins hohe Alter, gespielt.
Bartok hat bekanntlich den Interpreten seines Violinkonzertes durch ein engmaschiges Netz von Tempoangaben Begrenzungen auferlegt und sie damit zur Offenbarung ihrer Virtuosität gezwungen. Die Sensibilität für komplexe Klang- und Gefühlsschattierungen des Leonidas Kavakos kam damit auf das wunderbarste zur Geltung. Die schnellen und virtuosen Passagen des ersten Satzes schaffte er fast schwerelos. Auch die Parallelität des griffigen Hauptthemas mit einer Zwölftonmelodie meisterten Solist und Dirigent sensibel, klangschön und mit Spannung. Im Schlussteil des Kopfsatzes brachte Leonidas Kavakos mit einer bezaubernden Kadenz noch einmal Klang und Volumen-Potenzial der wunderbaren „Willemotte“ auf das prachtvollste zur Geltung.
Dem durch Tempo und Schroffheit geprägtem Kopfsatz folgte ein langsamer Variations-Satz. Kavakos gab dem Orchester eine ruhige wunderschöne Kantilene vor, die in der Folge vom Orchester und der Sologeige mehrfach variiert, die Hörer in die verschiedensten Klangwelten führte. Wie der Held im Märchen erhielt der Solist immer neue Aufgaben vom Orchester und muss Abenteuer überstehen, marschierte aber unentwegt zum Satzende, der Wiederholung des Themas. Das war schon meisterhaft, wie Wellber und Kavakos diesen schwierigen Satz zur Geltung und damit zu einem Höhepunkt des Abends brachten.
Mit dem Finalsatz, gespielt wurde die überarbeite „Virtuosen-Fassung“, kehrten dann Kavakos und Wellber zur Expressivität des ersten Satzes, aber auch zu dessen Themen zurück. Aber alles, was im Kopfsatz großartig und stolz klang, erhielt hier fratzenhafte, wilde und tänzerische Züge. Das Violinspiel Kavakakos blieb eng mit der Orchesterführung Wellbers verwoben, so dass eine faszinierende Wirkung wie „aus einem Guss“ entstanden war.
Mit einer Zugabe, offenbar eine Bartok-Komposition glänzten Solist und Violine mit ihren außergewöhnlichen Fähigkeiten.
Sergei Prokofjew, 1891 in der Ukraine geboren, hatte nach der Petrograder Aufführung seiner „Klassischen Symphonie“ 1918 die Instabilitäten seiner Heimat hinter sich gelassen und bis 1932 ein unstetes Wanderleben als Pianist und Dirigent in Europa sowie Amerika geführt. Im Herbst 1919 traf er in den USA ehemalige Kommilitonen des Petersburger Konservatorium, die mit einem jüdischen Ensemble tingelten. Diese gaben ihm ein Heft mit hebräischen Themen und baten um die Komposition einer Ouvertüre für ein Sextett. Beim Blättern im Heft und beim Improvisieren am Klavier fügte sich für Prokofjew die Komposition wie von selbst zusammen. Inzwischen existiert diese „Ouvertüre über hebräische Themen op. 34“ in unterschiedlichen Fassungen: für kammermusikalisches Sextett und eben auch für Orchester. Wellber hatte dankenswerterweise für das Konzert eine frühe kammermusikalische Fassung für Klavier, Klarinette und Streicher-Gruppe ausgewählt. Der Israeli Omer Meir Wellber ist mit der Bandbreite an Stilrichtungen innerhalb der Klezmer-Musik bestens vertraut und so ist es nicht verwunderlich, dass seine Prokofjew-Interpretation verwandte Züge bietet. Die Vorgabe des Komponisten „Un poco allegro“ schiebt er zur Seite, gibt das Tempo vom Klavier an und lässt die Musiker frisch und temporeich aufspielen. Das Sextett vervollständigten der 1. Konzertmeister Roland Straumer, der Konzertmeister der 2. Violinen Professor Reinhard Krauß, der Solo-Bratscher Florian Richter, der Solo-Cellist Friedrich Christian Dittmann und der Solo-Klarinettist Wolfgang Große.
Nach öffentlichen Ankündigungen war 1939 als Schostakowitschs 6. Symphonie ein gewaltiges Chor-Werk zu Ehren Lenins erwartet worden. Aber Schostakowitsch legte eine Weiterführung der Gedanken zum Werden der Persönlichkeit und des menschlichen Bewusstseins aus der fünften Symphonie von 1937 vor. Er schließt mit dem ersten Satz der sechsten an das Schluss-Satz-Largo seiner fünften Symphonie an. Grüblerisch führte er den Monolog von 1937 weiter, so als habe er im Vorgängerwerk Gedanken nicht zum Ende gebracht. In dieser Monolog-Weiterführung herrscht aber größere Ruhe, Besonnenheit und Schicksalsergebenheit. Deshalb auch die lange (inoffizielle) Satzbezeichnung „Largo-Poco più mosso e poco rubato-Moderato-Sostenuto-Largo“. Omer Meir Wellber führt in diesem Kopfsatz die Musiker der Staatskappelle ruhig und unaufgeregt, fast schulmäßig, den aufgereihten Tempovorgaben Schostakowitschs entlang und ließ dem Hörer die Gedanken des Komponisten nachzuvollziehen. Den Satz beendeten die Streicher mit einem Flirren und Flimmern, so dass sich die Aussage des ersten Satzes im Ungefähren verlor.
Dafür verwöhnt der Komponist im Allegro mit einer Fülle von Ideen, Klangfarben und Rhythmen zu einem zauberhaften Scherzo, das Wellber mit dem Orchester engagiert und mit sichtbarer Freude zu einem regelrechten Jahrmarktstreiben umsetzte. Im dritten Satz (Presto) mit seiner schlichten melodischen Klangsprache verschärfte Wellber das Tempo des Orchesters wie einen Galopp, ohne dass die Fröhlichkeit sowie Lebensfreude ins Groteske kippt und beendete mit einem glanzvollen Finale.
Mit frenetischem, zum Teil stehendem, Beifall löste das Publikum seine vom Bartok und Largo aufgebaute Spannung und dankte dem inzwischen recht beliebten Omer Meir Wellber und dem Orchester.
Für mich ergibt sich nach dieser Aufführung die Frage, ob unser derzeitiges, vor allem von Julian Barnes geprägte Schostakowitsch-Bild, nicht zu düster ist. Denn wie kann ein Mensch eine derart fröhliche Musik gestalten, wenn er sich andererseits gefährdet sah.
Thomas Thielemann, 22.10.2019
Bildautoren: Kavakos_credit-Marco-Borggreve / Wellber_ Matthias Creutziger
Die Freunde der Staatskapelle Dresden feiern deren 471. Gründungstag
22. September 2019
Im doch noch monarchistisch orientierten Dresden wird mit ordentlichem Pomp dem 300. Jahrestag der „Jahrhunderthochzeit“ des sächsischen Kronprinzen Friedrich August II., dem Sohn August des Starken, mit der österreichischen Kaisertochter Maria Josepha gedacht. Dresden avancierte im September 1719 zum Treffpunkt des europäischen Adels. Wenn auch die vom Kurfürsten mit der Familienbindung angestrebte politische Allianz nicht recht funktionierte, so blieben doch die kulturellen Wechselwirkungen zwischen dem Wiener und sächsischen Hof umso nachhaltiger.
Wie an jedem 22. September erinnerte die Gesellschaft der Freunde der sächsischen Staatskapelle mit einem Gedenkkonzert an die Gründung der Kurfürstlichen Hofkapelle, der heutigen „Sächsischen Staatskapelle Dresden“ im Jahre 1548. Traditionell werden dabei Kompositionen früherer Kapellmeister oder der Kapelle verbundener Meister gespielt.
Natürlich musste 2019 zum 471. Geburtstag ein Werk aus dem Rahmenprogramm der Hochzeitsfeierlichkeiten gespielt werden. Der von 1717 bis 1729 amtierende Hofkapellmeister Johann David Heinichen (1683-1729) hatte einen „La Gara degli dei“, einen Wettstreit der Götter, für fünf Gesangsstimmen komponiert. Das Bühnenbild für die Aufführung am 10. September 1719 war bombastisch. Eine riesige Kulisse war am Elbufer errichtet worden und die Götter-Solisten schwebten dank einer Maschine aus einer Wolke über dem Orchester ein.
Unsere Aufführung am 22. September war natürlich spartanisch, aber musikalisch kaum eingeschränkt. Die Partitur des Wettstreits der Götter war für das Geburtstagskonzert aus Kopien der auf Kupferplatten erhaltenen Komposition rekonstruiert worden. Für das Geburtstagskonzert war der Barockspezialist Ton Koopmann als Dirigent und Cembalist eingeladen worden. Ihm und den Musikern der Staatskapelle standen die amerikanische Sopranistin Robin Johannsen, die kubanische Sopranistin Yetzabel Arias Fernandez, der dänische Altus Maarten Engeltjes, der österreichischer Tenor Mauro Peter und der Schweizer Bariton Manuel Walser zur Seite.
Die Originalität und Inspiration der Musik, die vor 300 Jahren als avantgardistisch galt, verblüffte doch die Zuhörer im leider nicht ausverkauften Semperbau. Das zweifelsfrei außergewöhnliche und aus den Dresdner Barock herausragende Werk war es wert, entdeckt zu werden.
Im zweiten Teil des Konzertes wurde Joseph Haydns (1732-1809) Symphonie Nr. 98 B-Dur aus dem Jahre 1791 gespielt.
Beim anschließenden Empfang wurde der bisherige Direktor der Staatskapelle Jan Nast als einer der Gründerväter der „Gesellschaft der Freunde der sächsischen Staatskapelle Dresden“ mit den besten Wünschen nach Wien verabschiedet.
c) OliverKillig
Thomas Thielemann, 23.9.2019
Sol Gabetta und Daniele Gatti
begeisterten das Dresdner Publikum mit Saint-Saëns und Mahler
16. 09. 2019 in der Semperoper
Dem Komponisten Charles-Camille Saint-Saëns (1835-1921) sagten Zeitgenossen nach, dass er von keiner Leidenschaft geplagt gewesen sei. Nichts habe die Klarheit seines Verstandes getrübt. Er wäre von Anfällen krankhafter Müdigkeit geplagt gewesen, verfügte aber andererseits über einen wunderlichen Humor und einen kapriziösen Geschmack für Parodien, Burlesken, Possenhaftem. Zugleich trieb ihn eine ruhelose erregte Laune durch die Welt, was ihn zu vielfältigen, zum Teil exotischen Kompositionen anregte, die sein vagabundierendes Denken über Epochen und Landschaften widerspiegelten. Seine Musikzeichnet sich besonders durch handwerkliche Meisterschaft, formale Strenge und Eleganz des Klanglichen aus.
Sein Violoncello-Konzert a-Moll op. 33 von 1872 ist für jeden Solisten ein Paradestück und sehr beliebt. Statt der üblichen dreisätzigen Konzertform strukturierte Saint-Saëns seine Arbeit in einem Satz, der allerdings drei eng verbundene Ideen enthält. Im 2. Symphoniekonzert der neuen Saison spielte die Capell-Virtuosin der laufenden Saison Sol Gabetta das Konzert mit der Staatskapelle Dresden unter der Leitung von Daniele Gatti. Beide haben als Gastmusiker schon des Öfteren im Semperbau mit großem Erfolg musiziert, so dass es keine Berührungsprobleme zu überwinden gab. Auch gehört Frau Gabetta inzwischen mit ihrem virtuosen kraftvollen Spiel und ihrer enormen Bühnenpräsenz zu den eindrucksvollsten Musikerinnen unserer Zeit. Mit einem Lächeln im Gesicht meisterte sie die enorm anspruchsvollen Schwierigkeiten des Soloparts, insbesondere im letzten Abschnitt des Konzerts. Berückend bot sie auch die Kadenz im Menuett-Mittelteil. Dazu kam der warme Klang ihres Instruments, das 1730 in der Werkstatt des Cello-Spezialisten Matteo Goffriller in Venedig gebaut worden ist.
Daniele Gatti begnügte sich mit einer dienenden Rolle und ließ die Solistin überwiegend im dramatischen und musikalischen Vordergrund. Er führte die Musiker der Staatskapelle einfühlsam und flexibel, bot so die Gegenmelodien zurückhaltend.
Besondere Begeisterung entfachte die Zugabe der Solistin und des Orchesters mit Gabriel Faurés „Plays Aprés un rêve“.
Nach der Pause folgte dann Gustav Mahlers fünfte Symphonie. Mit keiner seiner Kompositionen plagte sich Mahler mit der Instrumentierung so, wie bei diesem Werk. Nach den Symphonien zwei, bis vier war das nächste Werk dieser Gattung das erste ohne Einbeziehung der menschlichen Stimme. In den Sommerferien 1901 und 1902 konzipiert, 1903 erstmals instrumentiert, fand die Uraufführung 1904 statt. Die heute dargebotene Instrumentierung ist allerdings eine Mahler-Überarbeitung aus seinem Sterbejahr 1911.
Die Verwendung des Adagietto als Filmmusik in Viscontis „“Tod in Venedig“ hat massiv zur Popularität der Komposition beigetragen, so dass sie heute eine der beliebtesten und am häufigsten aufgeführte Symphonie Mahlers ist. Das Werk ist voll von Themen, Gegenthemen, schnellen Stimmungswechseln und hat einen gewaltigen Dynamikumfang. Gatti gelingt mit den Musikern aber auch ein Spiel mit Weichheit und Transparenz. Hervorragend werden die langen Passagen von den Blechbläsern der Kapelle freigelegt. Bei der Häufigkeit der unterschiedlichen Interpretationen war es für Gatti schwierig, Besonderheiten, die auch seinem Stil entsprechen, in der Darbietung unterzubringen. Die Anklänge an Bachs Polyphonie waren beeindruckend. Der erste Satz wurde an der Grenze des von Mahler gewünschten gemessenen Schrittes gespielt, bevor sein Dirigat Fahrt aufnahm. Der Wirkung des zweiten Satzes bekam, zumindest nach meinem Empfinden, die von Gatti vorgegeben Tempo- und Intensitätswechsel recht gut.
Das Scherzo, nach des Komponisten Einteilung bereits der II. Abteilung zugehörig, bot Daniele Gatti mit den verblassenden Erinnerungen des Lebens den Abschluss einer Entwicklung. Denn fast plötzlich ist das Adagietto als das Markenzeichen jeder Interpretation und als Ruhebereich von Mahlers fünfter da. Gatti versuchte mit seinem Dirigat die Hörerwartungen gerade zu rücken, um beim Publikum die Kino-Assoziationen aus dem Kopf zu bekommen und so ein Abgleiten in die Liebeserklärung an Alma Schindler zu vermeiden. Dazu nutzte er die melodischen Wendungen an das Rückert-Lied „ Ich bin der Welt abhandengekommen“. Letztlich gestaltete Gatti, von den flexiblen Streichern des Orchesters unterstützt, ein Atemholen vor dem unmittelbar angeschlossenen Finale.
Zunächst finden Dirigent und Staatskapelle fast zögerlich den Bewegungsrhythmus mit seinen rudimentären Motiven. Dann aber ließ Gatti die Musik Mahlers für sich sprechen und führte zum jubelnden Finale.
Frenetischer Beifall des doch recht erschöpften Publikums für das Gebotene.
Thomas Thielemann 17.9.2019
(c) Fotocredit-Markenfotografie
Eröffnungskonzert der sächsischen Staatskapelle
31. August 2019 in der Semperoper
Ein Höllenritt mit Yuja Wang und dem „Ersten Gastdirigenten“ zur Saisoneröffnung.
Sergej Rachmaninows 3. Klavierkonzert d-Moll op. 30 gehört zu den Rekordhaltern berüchtigter Musikstücke. Unspielbar und Elefantenkonzert sind die häufigsten dem Werk angehängten Bezeichnungen. Mit dem Konzert wird ein Niveau der erforderlichen pianistischen Virtuosität erreicht, das in der Folge sinnvoll kaum steigerungsfähig ist. Im Klavierpart hat das Rach. 3 von den großen Klavierkonzerten die meisten Noten pro Sekunde. Unter dem Druck des technisch hochkomplizierten Werkes soll der durch eine schizoaffektive Störung vorgeschädigte australische Pianist David Helfgott 1970 sogar den Verstand verloren haben. Inzwischen spielt er zwar das Konzert wieder. Mit einem über Helfgotts Comeback gedrehtem Film:„Shine-Der Weg ins Licht“ gelangte das 3. Klavierkonzert in die Lichtspielhäuser der Welt und damit auch zu breiter Popularität.
Der sechsunddreißig jährige Pianist Rachmaninow war 1909 zu einer Tournee in die Vereinigten Staaten eingeladen worden. Da sein 2. Klavierkonzert in den USA nur verhalten aufgenommen worden war, er aber auf einen finanziellen Erfolg des Gastspiels angewiesen war, beschloss er, mit einem neuen Konzert anzureisen. Im April 1909 verließ die Familie Dresden und zog sich auf das Familiengut der Rachmaninows Iwanowka zurück. Unter extremen Zeitdruck komponierte er sein d-Moll-Konzert, weil bereits im November Tourneebeginn vertraglich vereinbart war. Am 23. September war die Komposition soweit fertig, so dass der Komponist die Überfahrt nutzen konnte, auf einem stummen Klavier den Solopart des „Konzertes für einen Elefanten“ zu üben. Am 28. November 1909 fand dann in der Carnegie Hall die Uraufführung mit dem Solisten Rachmaninow und dem New York Symphony Orchestra unter Walter Damrosch statt. Die Kritik bemängelte etwas ratlos, dass dem Konzert Rhythmus und harmonische Kontraste fehle. Erst die Aufführung des Konzertes mit dem „New York Philharmonic“ unter Gustav Mahler am 16. Januar 1910 brachte, allerdings nach intensiver Probenarbeit des Pianisten Rachmaninow, den Erfolg.
Im ersten Symphoniekonzert der Saison 2019/20 bot Yuja Wang das Konzert mit der Staatskapelle und deren ersten Gastdirigenten Myung-Whun Chung. Die Pianistin haben wir inzwischen mehrfach als technisch auf höchstem Niveau agierende Virtuosin kennen gelernt. Aber mit philosophischem Tiefgang war sie zumindest mir bisher nicht aufgefallen. Mithin war sie mit ihrer extremen Leichtigkeit des Spieles und ihrer Intensität bei der Bewältigung des oft halsbrecherischen Tempos der Partitur die ideale Interpretin des Virtuosen-Stückes. Auch wenn sich gelegentlich der Eindruck einstellte, dass es sich beim Konzert um Kampfsport handele. Mit ihrer unwahrscheinlichen Technik jagte sie durch die schnellen Passagen des Konzerts und trieb das Orchester vor sich her.
Myung-Whun Chung begleitete das ungestüme Klavierspiel mit den Musikern der Staatskapelle nuanciert, pünktlich und lebendig. Er rundete so die Interpretation in vollkommener Form ab und verschaffte uns damit einen lebendigen Saisonauftakt.
Im zweiten Konzert-Teil der Saisoneröffnung brachte Myung-Whun Chung mit der Staatskapelle die zweite Sinfonie von Johannes Brahms zu Gehör.
Während sich Johannes Brahms mit seiner ersten Symphonie von, der ersten Planung 1854 bis zur Uraufführung im November 1876, regelrecht herumgeplagt hatte, konzentriert sich, (zumindest nach unserem Wissen über die Arbeit an der zweiten Symphonie), die Entstehung auf das Jahr 1877. Weil Brahms keine Kompositionsskizzen hinterließ, ist die Entstehungsgeschichte nur von Briefen und Äußerungen des Komponisten abzuleiten. Danach entstand die Symphonie vor allem während eines Sommer-Aufenthalts im Juni 1877 in Pörtschach am Wörthersee. Im September begab sich Brahms anschließend, wie seit1865 in jedem Jahr, nach Lichtenthal bei Baden –Baden.
Dort hatte 1862 Clara Schumann ein Haus gekauft, um sich zwischen ihren anstrengenden Konzert-Tourneen, die üblicherweise vom Oktober bis zum Mai dauerten, zu erholen und sich mit ihrer Familie sowie Freunden zu treffen. Für Brahms war im Haus unter dem Dach eine Wohnung mit zwei Zimmern eingerichtet. Nach Berichten der Schumann-Töchter sei Brahms 1877 recht mürrisch gewesen, was auf seine unglückliche Situation in der Hausgemeinschaft zurückgeführt werden könnte. Er gehörte zwar wie selbstverständlich zur Familie, nahm aber keine eindeutige Stellung, weder als Ehemann noch als Sohn, ein. „Wir Kinder hatten Brahms alle sehr gern, aber wir behandelten ihn wie einen, der eben da ist“, erinnert sich die Tochter Eugenie. Clara und Johannes musizieren zusammen, gehen spazieren und essen gemeinsam, fanden aber nicht mehr zueinander, nach dem sie beide bereits 1856 beschlossen hatten, getrennte Wege zu gehen.
Am 24. September berichtet Clara Schumann, Brahms habe eine neue Symphonie fertig. Die Uraufführung des Werkes fand am 30. Dezember 1877 in Wien unter der Leitung von Hans Richter statt. Ab dem 10. Januar 1878 ging Brahms mit seiner Schöpfung von Leipzig auf eine erfolgreiche Tournee.
Die Symphonie D-Dur op. 73 wird häufig als heiter, natürlich und pastoral charakterisiert. Tiefere Analysen unterstellen aber Johannes Brahms eine ambivalente Haltung zur Naturpoesie. Er selbst berichtete von melancholischen Stimmungen, so dass der Begriff der „gebrochenen Idylle“ das Werk besser beschreibt. Auch zweifelt man inzwischen an, dass Brahms zunächst die Ecksätze und erst zum Schluss die Mittelsätze komponiert habe.
Intensiv führte Chung die Musiker im gesamten ersten Satz in einem großen Spannungsbogen durch die Partitur. Dabei entstand die Spannung vor allem durch ein ungewöhnlich strikt gleichmäßiges Tempo, ohne die kraftvolle Steigerung in der Durchführung des zweiten Themas zu vernachlässigen. Das Adagio non Troppo begann mit einer wehmütigen klangvollen Kantilene der wunderbaren Violoncelli-Gruppe der Staatskapelle. Chung formte in der Folge die brahmssche Sehnsucht nach etwas Unerreichbaren als eine Naturidylle und bringt dabei die dunklen Farben und grüblerischen Momente auf das Eindrucksvollste zur Geltung.
Mit dem dritten Satz „Allegro grazioso“ lockert Myung-Whun Chung die Bedeutungsschwere der beiden ersten Sätze behutsam auf. Mit dem Finale betonte er aber wieder das brahmssche Grübeln und die Tiefsinnigkeit. Der Schluss wurde damit nicht zum Jubel, sondern eher zu einem fiebrigen Ausklang.
Wie schon so oft, begeisterte Myung-Whun Chungs Dirigat mit seiner Detailgenauigkeit, der Präzision und seiner Energie. Er hatte aber offenbar begriffen, dass nach dem Rachmaninow-Feuerwerk die Besucher eher etwas gedämpft waren und schickte sein Publikum mit einem fulminant vorgetragenen „Ungarischen Tanz“ nach Hause.
Autor der Bilder: Matthias Creutziger
Thomas Thielemann 1.9.2019
12. Symphoniekonzert der Staatskapelle Dresden
08. 07. 2019
Martinů´s zweites Violinkonzert und „Wiener Schmäh“
Der noch-amtierende „Capell-Virtuos“ Frank Peter Zimmermann und seine Lady Inchiquin verabschiedeten sich im letzten Saisonkonzert von der Staatskapelle und deren Stammpublikum mit Bohuslav Martinů´s „Konzert für Violine und Orchester Nr. 2 H 293“. Das Orchester wurde von Manfred Honeck dirigiert.
Bohuslav Martinů, 1890 in Böhmen geboren, ging 1923 nach Paris um seinen bei Josef Suk begonnenen Kompositionsuntericht bei Albert Roussel zu komplettieren, aber auch um dem Prager „Smetana-Kult“ zu entkommen und sich anderen Einflüssen zu öffnen. Der Impressionismus, der Neoklassizismus Strawinskys sowie der Jazz, aber auch Honegger und Milhaud beeinflussten sein Schaffen. Häufig stellte er die Stilistik seiner Arbeiten um. In den 1930er Jahren widmete er sich dem Irrationalen und einer von Fantasien bestimmten Traumlogik. Zunehmend bekommen Elemente des Fantastischen Platz in seinen Arbeiten. In seinen letzten Schaffensjahren, Martinů starb nach jahrelangem USA-Aufenthalt 1959 in der Schweiz, öffnete er sich philosophischen Gedankengängen und kehrte zu den Impressionistischen Harmonien zurück. Nie verblasste aber seine Verbundenheit zur Musik seiner böhmischen Heimat.
Für seine geringe Präsenz in den Konzertsälen dürfte der eigenwillige Formenbau seiner Musik, ihre Beweglichkeit, ihr Mangel an festen Themengebilden und wohlvertrauten Anhaltspunkten verantwortlich sein. Das stellt die Interpreten vor Schwierigkeiten, die sie bei dieser anscheinend so milden Tonsprache kaum vermuten. Die Avantgardisten wenden sich ab, selbst Neo-Barock und Folklorismus werden ihm angehängt.
Frank Peter Zimmermann ist es zu verdanken, dass Martinůs Violinkonzerte in der letzten Zeit häufiger in den Konzertprogrammen auftauchen.
Natürlich gibt es auch eine Anekdote zur Entstehung des Violinkonzerts Nr. 2: der ukrainische Geigenvirtuose Mikhail Elman (1891-1967) wollte sich im Januar 1943 in der Carnegie Hall Schostakowitsch-Musik mit dem Boston Symphonie Orchestra anhören, hatte aber das Datum verwechselt und war in ein Konzert mit Martinůs erster Symphonie geraten. Mischa Elman war von der Musik so begeistert, dass er den Komponisten am folgenden Tag aufsuchte, um von Martinů ein auf ihn abgestimmtes Violinkonzert zu erbitten. Erst als Elman für Martinů ein Konzertprogramm improvisierte, um seinen charakteristischen lyrischen und durchsetzungsfähigen Stil zu demonstrieren, änderte der Komponist seine barsche Ablehnung in Schweigen. Nachdem der verunsicherte Geiger längere Zeit von Martinů nichts hörte, überraschte ihn der Komponist eines Tages mit der fertigen Partitur. Noch am 31. Dezember 1943 wurde das Werk mit dem Solisten Elman in Boston aufgeführt.
Das von mir besuchte Konzert begann mit der pointierten Andante-Einleitung durch das von Manfred Honeck geleite Orchester, der sich Zimmermann betont und ruhig mit einem Solo entgegen stellte. Den Hauptteil des ersten Satzes bildete eine lyrisch-musikalische Kommunikation bis der Solist mit einer Kadenz das Orchester moderater zum Andante des Satzbeginns zurückführte. Den Mittelsatz spielten Solist und Orchester sanft, einer schönen Kadenz und mit einem ruhigen Zusammenspiel, bevor Manfred Honeck die Darbietung in das Poco Allegro überleitete. Zimmermann spielte schnell, lebhaft und dramatisch. Er und Honeck erhöhten gegen das Satzende weiter das Tempo, um den Abschluss als furioses Finale zu erreichen. Klaus Peter Zimmermann hatte mit seiner Interpretation mit Elan die süffigen Lyrismen der Komposition ausgeschöpft und mit schlanken, klaren Ton ein fulminantes Plädoyer für diese gewaltige Musik geboten. Er hat offenbar viel Arbeit in die Verdaulichkeit des Stückes investiert. Seine Bogenarbeit ist charakteristisch durchdacht, insbesondere seine Liebe zum Detail. Andererseits schlich sich der Eindruck ein, dass Orchester und Solist kaum miteinander und eigentlich ob der Schwierigkeiten der Komposition mehr nebeneinander gespielt hätten. Das mag aber auch an der mangelnden Klarheit des Klangspektrums gelegen haben. Der Orchesterklang wirkte stellenweise matschig, expressionistisch und gelegentlich atonal.
Dementsprechend war auch der Beifall, gemessen an der Leistung der Agierenden, recht matt.
Eingerahmt war das Violinkonzert von Antonin Dvořáks „Karneval-Ouvertüre op. 92“ von 1891 und einer Zusammenstellung Wiener Musik.
Dvořák komponierte am Beginn der 1890er Jahre drei Konzertouvertüren unter dem Titel „Natur, Leben und Liebe“. Später erst wies er jedem der Teile einen Titel zu, offenbar um ihnen einen leichteren Zugang zu den Konzertsälen zu ermöglichen. Der erste Teil wurde „In der Natur“, der zweite „Karneval“ und der dritte „Othello“ benannt. Das karnevalistische Treiben steht für rauschhafte Feste und Partys, alle Lust und Schönheit des Lebens, und für den Komponisten als offenen Raum für unsere Inspiration. Mit vollem Orchestereinsatz und vielen Beckenschlägen ließ Manfred Honeck die Ouvertüre beginnen. Ausgelassen und nahezu unkontrolliert hielt das Leben Einzug. Bis dann die Streicher den Genuss des Lebens mit viel Romantik kontrastierten. Die Solo-Klarinette übernahm ein Motiv aus der „Natur“ und veranlasste ein Nachdenken. Immerhin ist irgendwann Aschemittwoch. Mit differenziert instrumentiertem Tschingderassabum klang die Ouvertüre aus und bereitete so die Stimmung für das Violinkonzert.
Wer das Haus auf die Idee brachte, die Konzertsaison mit Wienerischem von Franz von Suppé und den Strauß-Brüdern abzuschließen, ist auf jeden Fall einer Überlegung wert. Zumal die Freunde der Staatskapelle derzeit nicht gut auf die Donau-Metropole zu sprechen sind. War es der Wunsch von Franz Welser-Möst, der ursprünglich das Konzert dirigieren sollte, oder war es dem Umstand geschuldet, dass Orchester und Dirigent am Abend der Generalprobe das open air „Klassik Picknickt“ zu bestreiten hatten.
Jedenfalls entwickelte sich der zweite Teil des Konzertes nach der Pause eher zu einem Gaudi, als zu einem ernst zunehmendem Symphoniekonzert. Die Musiker hatten offensichtlich Freude und Spaß am Programm. Auch das Publikum war nach dem schwer verdaulichen ersten Konzert-Teil in der Mehrzahl von der leichten Muse angetan.
Mit dem gebürtigen Österreicher Honeck war auch ein Fachmann, der die „Wiener Musik“ mit ihrem raffinierten Schmäh mit der Muttermilch aufgesogen hat, am Pult tätig.
Die Schluss-Ovationen waren entsprechend intensiv und genügten für das gesamte Konzert.
Thomas Thielemann 9-7-2019
Bilder (c) Mattias Creutziger
Schlag auf Schlag - Drei russische Skandalstücke in einem Konzert
10. Juni 2019
Modest Mussorgski (1839-1881) gehört zu den faszinierenden musikalischen Außenseitern des 19. Jahrhunderts. Als autodidaktisches Genie hat er wie kaum ein anderer Komponist die Musik Russlands erneuert und andererseits derart viele unvollendete Werke hinterlassen.
Die symphonische Dichtung „Johannisnacht auf dem Kahlen Berge“ entstand im Juni 1867 innerhalb weniger Tage und bezieht sich auf die Sage, dass in der Nacht zum Johannistag die Hexen auf dem Kahlen Berg bei Kiew den Teufel treffen.
Zunächst wollte Mussorgski die Komposition in seiner Oper „Mlada“ als Ballett verwenden. Als die Arbeit stockte und unvollendet blieb, sollte die Skizze in die Oper „ Der Jahrmarkt von Sorotschinzy“ als eine Traumsequenz eingebaut werden. Nach seinem frühen Tod nahm sich sein Freund Rimskij-Korsakow die „Johannisnacht auf dem Kahlen Berge „ vor und glättete das Geschehen von der größtmöglichen Schroffheit und Wildheit, dämpfte die starke Chromatik und die Dissonanzen der beiden Opernentwürfe. Vor allem verfeinerte er die Instrumentierung und versah diese Fassung mit einem versöhnlichen Schluss.
Nach einem fulminanten Auftakt lässt Andrés Orozco-Estrada die Staatskapelle rhythmisch und flexibel eher tänzerisch spielen. Die Phrasierungen erscheinen musikalisch sinnvoll, so dass noch die angedachte Ballett Verwendung durchscheint.
Sergej Prokofjews Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 g-Moll op. 16 gehört zu den schwierigsten Klavierkonzerten des Repertoires. Die 1912 bis 1913 entstandene Erstfassung war dem Freund des Komponisten Maximilian Schmidthof gewidmet, der sich im April 1913 das Leben genommen hatte. Während des ersten Weltkrieges war die Partitur verloren gegangen, so dass Prokofjew eine Rekonstruktion des Werkes vornehmen musste.
Für die Interpretation im 11. Symphoniekonzert war die russische Pianistin Anna Vinnitskaya für ihr Debüt bei der Sächsischen Staatskapelle gewonnen worden. Bereits im ersten Satz zeigt sie im gedämpften Streicherbeginn ihre melodische Linie und verschärfte im Verlaufe des ersten Satzes ihre intensive Interpretation. Selbst mit ihrer Kadenz entwickelt sie Prokofjews Harmonien zu gleißenden Farben. Die langsamen Passagen werden zu regelrechten Treibern. Dass unerbittlich dahinrasende Scherzo verhindert beim Zuhörer jede Beschaulichkeit. Zwischen Traumverlorenheit und Bedrohlichkeit ist auch ihr dritter Satz Allegro moderato, von Orozco-Estrade mit dem Orchester auf das feinste verzahnt, angesiedelt. Fast spukhaft ihr mehrfaches Hakenschlagen zu Beginn des Finales, das auch kaum Gelegenheit zu lyrischen Augenblicken gewährt. Bei ihr vergisst man das Technische und ist hingerissen von der empfindsamen Gestaltung und der Kraft ihres Spiels.
Diese Diktion wäre ohne den Maestro am Pult kaum möglich geworden, der die Musiker der Staatskapelle regelrecht symbiotisch mitgezogen hat. Immer wieder finden die Solistin und das Orchester lyrische Inseln, von denen aus die gewaltige Steigerung zum erhitzten Finale entwickelt werden konnte.
Bleibt die Hoffnung, dass wir die noch junge Sibirerin noch häufig im Hause erleben dürfen.
Igor Strawinskys Ballettmusik „Le sacre du printemps“ (Das Frühlingsopfer)- Bilder aus dem heimischen Russland, 1913 vom damals 31-jährigen komponiert und aufgeführt, gilt wegen seiner die Elementarkräfte des Rhythmus entfesselnden maßlosen Musik für Viele heute als der „Urknall“ der Moderne“ in der Musik. Enthält die Musik doch gleichsam hypnotische, hysterische, brutale, panische und manische Elemente. Führte die Uraufführung am 29. Mai 1913 mit der Djagilews-Ballett-Truppe in Paris noch zu einem handfesten Skandal, so hatte das Werk, wie kaum ein anderes der musikalischen Moderne, so schnell ein breiteres Publikum erreicht und sich weltweit im Konzertleben durchgesetzt. Passiert es doch selten, dass der ästhetische Rang und die historische Bedeutung eines Kunstwerkes zeitlich in Übereinstimmung sind. Andrés Orozco-Estrada, mit den Musikern der Staatskapelle aus den Vorjahren bestens bekannt, trieb das Orchester mit viel Körpereinsatz und sichtlicher Musizierfreude in etwa vierzig Minuten durch die Partitur. Es war nicht zu übersehen, dass diese Komposition zu den Lieblingswerken des Kolumbianers gehört. Die Schwierigkeiten, aus der musikalischen Struktur des Stückes das Intelligente, Logische sowie Intensive zu erkennen und mit dem Orchester umzusetzen, war ihm auf das Eindrucksvollste gelungen. Den Konflikt, dass hier ein Ballett als ein reines Orchesterstück geboten wurde, löste der Dirigent mit dem Orchester, so dass eine regelrechte Orchesterchoreographie die Tanzpartien ersetzte. Die hohe Qualität der Staatskapelle war für Orozco-Estrada ein sicherer Garant für ein wunderbares Konzert.
Beglückend für den aufgeschlossenen Teil der Konzertbesucher, diese drei Meilensteine der russischen Musik so komprimiert an einem Abend erleben zu dürfen.
Thomas Thielemann, 11.6.2019
Bilder (c) Matthias_Creutziger
Konzertsaal im Dresdner Kulturpalast
Valery Gergiev brachte Skrjabin und Tschaikowski zu den Dresdner Musikfestspiele
In der klassisch orientierten Musikwelt gilt der russische Komponist Alexander Skrjabin (1871-1915) für viele als ein Verrückter, als ein Egomane mit allerlei mystischen Vorstellungen. Wer sich aber näher mit ihm beschäftigt, erkennt ihn als genialen stilprägenden Komponisten des beginnenden 20. Jahrhunderts. Leider bereits im Alter von 43 Jahren verstorben, hat er sein Schaffen nicht in Ansätzen vollenden können. Dazu kommt, dass Skrjabin ob seiner Freundschaft mit Georgi Plechanow (1856-1918) in Ost und West immer mit einem gewissen Misstrauen gesehen wurde, obwohl er sich in die Auseinandersetzungen der zwischen-revolutionären Bewegung des zaristischen Russlands nicht eingebracht hatte. Seine Philosophie bleibt ungreifbar. Okkultismus, Theosophie, indische Philosophie, Nietzsche, Fichte, Schopenhauer, Symbolismus und Marxismus baut er zu einem eigenen Denkgebäude, ohne sich einer Tradition verpflichtet zu fühlen. Mit seinen Kompositionen wollte er seine ästhetischen und weltanschaulichen Vorstellungen gestalten. Dabei genügten ihm die herkömmlichen Möglichkeiten nicht. Neben Orchester, Chor und Soloinstrumenten bezog er Farben und Bewegungen in seine Kompositionen ein. Zunehmend schafft er sich eine eigene Tonsprache, deren Vollendung sein früher Tod verhinderte.
Zu den Dresdner Musikfestspielen kam Valery Gergiev mit dem Orchester des Mariinski-Theaters und brachte neben Tschaikowskis vierter Sinfonie die einsätzigen „La Poème“ op. 54 und op.60 von Alexander Skrjabin mit. Das „Poème de l´extase“ op. 54 hatte Skrjabin 1905 in Genf begonnen, als ihn die Nachrichten von den revolutionären Ereignissen in Russland erreichten. Ektase bedeutete dabei für Skrjabin Handlungsbereitschaft und gleichermaßen Schaffensrausch. Er schließt das Werk als sinfonische Dichtung und nicht als 4.Sinfonie an seine Dreier-Serie an. Stattdessen wählt er die Form des einsätzigen Poems. Die Orchestersprache ist erweitert und eine differenziertere Klangfärbung soll „die göttliche Kraft des freien Willens in seiner Selbstverwirklichung durch die aktive Tat“, und deren Entwicklung zu diesem Ziel, zum Ausdruck bringen.
Diesem Grundkonzept ordnete auch Valery Gergiev sein Dirigat unter, indem er zunächst ziemlich verhalten seine gewaltige Orchesterbesetzung beginnen ließ. Mit für Gergiev ungewöhnlichem Körpereinsatz trieb er in der Folge seine Musiker in Skrjabins Mythologie und zu dessen Ekstase Begriff. Skrjabin hatte 1908 die Komposition noch mit einem Gedicht regelrecht erläutert: „Der Geist, /vom Lebensdurst beflügelt, /schwingt sich auf zum/kühnen Flug“. Er hatte aber untersagt, dass die 369 Verse in die Partitur aufgenommen werden, weil sich die Dirigenten „auf die reine Musik beziehen sollten“.
Das „Proéthée.Le poème du feu“ op. 60 hatte Skrjabin für ein überbordeten Orchesterapparat, ein Soloklavier, einen vierstimmig gemischten Chor und ein „Farbenklavier“ komponiert. Mit dieser multimedialen Konstruktion aus Musik und Lichtinstallation wollte er ein Gesamtkunstwerk für Auge und Ohr, ein Ansprechen mehrere Sinne erreichen. Er dachte sogar über die Einbeziehung von Gerüchen nach.
Skrjabin hatte die „synästhetische Fähigkeit“, dass er beim Hören von Musik Farben sah. Derartige Erfahrungen wollte er mit dem Farbenklavier seinem Publikum gleichfalls vermitteln. Oberhalb der üblichen Instrumentalstimmen enthält die Partitur des „Prometheus-Poems“ eine als „Tasteria per luce“ bezeichnete Doppel-Stimme in traditioneller Notenschrift, wobei jedem Ton der Oktave eine Farbe zugeordnet ist. Die Zweistimmigkeit ermöglicht, dass Farben gemischt werden können.
Im Konzert mit dem Orchester des Mariinski-Theaters hatte der Lichtdesigner Sebastian Marschner vorbereitet, dass Orchester und wechselnd die Saal-Rückwand mit sattem Licht unterschiedlicher Farben angestrahlt wurde. Die Pianistin Danae Dörken (geboren 1991) hatte übernommen, die Farbenauswahl den Klängen zuzuordnen und den Rhythmus des Wechsels, der eigentlich der Musik zuzuordnenden Farbkombination, zu bestimmen. Eigentlich war schon im Vorfeld klar, dass die von Skrjabin angestrebte Wirkung beim erstmaligen Erleben nur begrenzt erreicht werden könnte. Es lenkte zunächst die Lichtwirkung den ungeübten Besucher von der „Harmonik der wechselnden Klangzentren“ und dem wundervollen Klavierspiel des Solisten Ilya Rashkovskij ab. Dabei sind die sechstönigen „Klangzentren“ von 1908 eine Vorstufe der erst ein Jahrzehnt später entwickelten Zwölfton-Musik.
Eine Wirkung des sogenannten „Mystischen Akkords“ dürfte dem übergroßen Teil der Hörer ohnehin verloren gewesen sein. Eventuell müssen wir am 19. September nach Magdeburg fahren, wo die neue Generalmusikdirektorin Anna Skryleva das Werk als Einstand ihrem neuen Publikum bieten möchte, um den Eindruck der Dresdner Aufführung zu festigen.
Im zweiten Konzert-Teil bot Valery Gergiev mit den Mariinsky-Musikern eine vollendet ausgereifte vierte Sinfonie von Peter Tschaikowski und enttäuschte ob seiner bekannten sparsamen Dirigierweise nicht.
Nach der Zugabe erlebten die Musiker, auch wenn etwas zögerlich, stehende Ovationen für dieses außergewöhnliche Konzerterlebnis.
Autor der Bilder: Oliver_Killing
Thomas Thielemann 7.6.2019
Orpheus Chamber Orchestra
featuring: Jan Lisiecki
28. 05. 2019
Mit der Einladung des „Orpheus Chambers Orchestra“ zu den Musikfestspielen 2019 hatte die Intendanz ein weiteres Experiment in das Festspielprogramm 2019 eingebaut.
Das vor 46 Jahren in der Riverside Church am Rande New Yorks gegründete Orchester ist basisdemokratisch strukturiert und möchte gleichgesinnten Musikern die Intimität und Wärme eines Kammermusik-Ensembles mit dem Klangreichtum eines Sinfonieorchesters verbinden. Das Orchester musiziert nicht nur ohne Dirigenten sondern hat auch keine feste Leitungsstruktur. Die Musiker wechseln sich in den Führungsrollen bei der Programmplanung, der Organisation der Proben und Konzerte ab. Dazu haben die Musiker die als „Orpheus Process“ benannte spezielle teambasierte Struktur mit dem darauf abgestimmten Abstimmungsverfahren entwickelt. Für jedes Musikstück des Repertoires werden Konzertmeister und die Stimmführer gesondert festgelegt. Diese Gruppe erarbeitet das Konzept der Interpretation und leitet die Proben. Bei den abschließenden Proben bewerten dann die übrigen Ensemblemitglieder Balance, Klangverschmelzung und Dynamik des Arbeitsergebnisses. Nehmen gewissermaßen die Arbeit der Interpretengruppe ab, obwohl sie letztlich an der Umsetzung des Arbeitsergebnisses auf dem Konzertpodium mitzuwirken haben.
Der Erfolg ihrer Einspielungen und die über Jahrzehnte anhaltente intensive weltweite Konzerttätigkeit räumen dem Konzept eine, wenn auch begrenzte, Daseinsberechtigung ein. Denn die Mitgliedschaft im Ensemble erfordert einen nicht häufig existierenden Typ Mensch und Musiker: er muss einerseits in der Lage sein, seine Egoismen zurücknehmen zu können und andererseits seine Fähigkeiten und Möglichkeiten engagiert in die Arbeit des Orchesters einbringen wollen. Letztlich ein Menschentyp, dessen Seltenheit bereits gesellschaftliche Versuche zum Scheitern gebracht hat.
Das Programm des Konzertes sah, nach einer Einstimmung zunächst das Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 g-Moll von Felix Mendelssohn Bartholdy mit dem jungen Kanadier Jan Lisiecki als Solisten vor. Nun hat uns in Dresden Rudolf Buchbinder bereits mehrfach vorgelebt, wie ein Pianist vom Klavier gleichsam in Personalunion auch die Musiker der Staatskapelle zu Höchstleistungen führen kann, indem er der Darbietung den Stempel seiner ausgereiften Persönlichkeit aufdrückte.
Anders der junge Kanadier. Er setzte sich ans Klavier und kontrollierte lediglich, ob die Orchestermusiker ihm ihre Aufmerksamkeit schenkten und begann seinen Solopart zu spielen. Dass sich das folgende kammerartige und nicht unkomplizierte Zusammenspiel entwickelte sich gleichsam wie von selbst.
Die miteinander verzahnten Motive kamen reibungslos. Der Fanfarenstoß der Hörner und Trompeten mit der kleinen kleinen überleitenden Erwiderung des Solisten führte ohne Unterbrechung vom ersten zum zweiten lyrischen Satz. Selbst der Fanfarenstoß, der den Beginn des dritten Satzes markiert und die großangelegte Improvisation für Klavier und Orchester gelang. Gegen Ende wurde das thematische Material aus dem ersten Satz zu r geschlossenen Einheit verdichtet. Das war aber auch wenig verwunderlich. Haben doch erst vor wenigen Monaten Jan Lisiecki und das Orpheus Chamber Orchestra bei der „Deutschen Grammophon“ eine Einspielung der Mendelssohn-Klavierkonzerte NR.1 und Nr.2 der Sonderklasse reich an Farben und Schatten sowie mit einer wunderbaren Virtuosität abgeliefert.
Zumindest für mich war dieser Konzertteil ohne Fehl und Tadel.
Im zweiten Konzertteil stand dann Mendelssohn Bartholdys Sinfonie Nr. 4 A-Dur op. 90 „Italienische“ auf dem Programm. Erwartungsgemäß hatte sich die Verteilung der Musiker auf dem Podium völlig verändert. Streicher, die vorn gesessen hatten, waren nach hinten gewandert.
Hatte im Klavierkonzert der Pianist eine wahrscheinlich unbewusst- verbindendete Funktion übernommen, so fehlte, zumindest mir, eine die Instrumentengruppen-vereinigte Kraft. Dabei störten selbst die vergleichsweise häufigen Fehltöne insbesondere bei den Holzbläsern weniger, als dass ich fortwirkend den Eindruck hatte, dass Instrumentengruppen regelrecht mit ihren Einsätzen aufeinander warteten. Das waren minimale Bruchteile von Tönen, aber vom empfindlichen Gehör leider wahrnehmbar. Dabei hatte das Orchester dank der günstigen akustischen Verhältnisse im Kulturpalast die Voraussetzungen, dass sie sich auch gegenseitig hören können. Aber selbst das ist nicht in jedem Konzertraum eine Selbstverständlichkeit.
Für die Interpretation fehlte mir letztlich die integrierende Kraft eines Taktschlägers, eines Dirigenten.
Die Ansprachen des Bratschisten Christof Huebner nach der Sinfonie und zwei Zugaben hatten aber das Publikum derartig aufgeheizt, dass es zum Konzertschluss sogar stehende Ovationen für die sympathischen Musiker gab. Die Bestrebungen, das Konzept der Orchesterorganisation auch auf die Arbeitswelt auszudehnen, dürften allerdings begrenzt bleiben.
Noch eine Bemerkung zur Konzerteinleitung. Das Orchester hatte eine Tondichtung „Records from a Vanishing City“ der New Yorker Komponistin und Musikpädagogin Jessie Montgomery mitgebracht. Die Komponistin , in den 1980er Jahren in der Lower East Side von Manhattan als Tochter eines Künstlerpaares geboren, war dort in der bunten Gesellschaft, wo Kreativität, Bildung und unendliche Diskussion über das Leben miteinander verschmelzen, aufgewachsen. Diese Erfahrungen waren in ihre Komposition eingeflossen. Das über dreizehn Minuten dauernde Stück war melodisch anzuhören und wird vom Champer-Orchester auch geliebt. Vieles was Jessie dort aufgenommen hat, ist verdichtet: Latin Jazz, Alternative-Rock, westliche Klassik, Poesie und karibische Tanzmusik. Ob die Substanz der Komposition eine Zukunft hat, ist beim einmaligen Hören schwer zu beurteilen.
Bildautor: Oliver_Killing
Thomas Thielemann, 30.5.2019
Joshua Bell erhält den „Glashütter Original Musik-Festspielpreis 2019“
und spielt ein wunderbares Dvořák-Violinkonzert
27. 05. 2019
Im Frühsommer des Jahres 1879 schickte ein kleiner tschechischer Bratschist des Interimsorchesters des künftigen Prager Nationaltheaters dem weltberühmten Geiger Joseph Joachim den Entwurf eines a-Moll-Violinkonzertes zur Begutachtung. Der Bratscher namens Antonin Dvořák, 1841 in Nelahozeves geboren, war mit einer kompositorischen Luxusbegabung geschlagen und hatte bereits über fünfzig Kompositionen ohne rechte Erfolge vorgelegt. Viel zu viel Orchester, zu fett instrumentiert und zu wenig geigerische Bravour urteilte Joachim und schlug zahllose Änderungen vor. Substanz hatte er in der Arbeit offenbar erkannt.
Der junge Dvořák arbeite die Vorschläge zwar ein, aber statt zu einer Aufführung kam es zu einem konfliktgeladenem Meinungsaustausch zwischen den beiden Künstlern: Dvořák wollte die intensive berauschende Auseinandersetzung zwischen Solovioline und Orchester, „einen Funkenflug von Kommunikationen, einem Meer von Stimmungen und Farben“. Nach Joachims Wunsch sollte „das Orchester aber auf seinem Teppich bleiben“ und dem Solisten Gelegenheiten für stratosphärische Brillanz mit einsamen wirkungssicherschmachtenden Kantilenen geben.
Die unterschiedlichen Auffassungen sind nie ausgefochten worden und Joachim hat das op. 51 Dvořáks nie gespielt. Die ästhetische Differenz der beiden Alphatiere behindert bis heute den Ruhm des a-Moll-Violinkonzerts. Das Werk gilt als rassisch, aber gespielt werden vor allem lieber Beethoven, Tschaikowski, Brahms oder Sibelius.
Nun war dem 1967 geborenem US-amerikanischen Ausnahme-Violinisten Joshua Bell der diesjährige „Glashütter Original Musik Festfestspiel Preis“ zuerkannt worden. Bell zählt zu den großen Interpreten unserer Zeit, der aber seine Musik als Mittel transkultureller Verständigung nutzt. Bekanntheit erlangte er durch Einspielungen von Originalmusik für den Oskar-prämierten Soundtrack des Films „Die rote Violine“(1968) und der Musik für den Film „Der Duft von Lavendel“(2004) sowie als Protagonist eines Experiments zum Musikverständnis seiner amerikanischen Zeitgenossen. In Straßenkleidung und mit Base Cape spielte er mit seiner Stradivari in einer U-Bahnstation 43 Minuten lang Stücke von Bach und Schubert. Die Video-Aufzeichnung des Experiments ergab, dass von 1.097 Passanten nur sieben ihm zugehört hatten und er lediglich 32,17 $ Spendengelder im Geigenkasten fand. Nur einer der Passanten hatte den weltberühmten Musiker erkannt, obwohl sein Debüt in der New Yorker Carnegie Hall eine selten große öffentliche Aufmerksamkeit erregt hatte.
Der Sponsor des Preises hatte Joshua Bell ob seiner Verdienste im Bereich der Musikvermittlung in Schulprojekten und der Nachwuchsförderung in die Dresdner Frauenkirche eingeladen, um dort neben der Preis-Übernahme mit der“Camerata Salzburg“ unter den schwierigen Akustikverhältnissen das Dvořák a-Moll-Violinkonzert op. 52 zu spielen.
Die Camerata Salzburg gilt mit den 37 Stamm-Musikern als renommiertes und umtriebiges Kammerorchester und wurde von Andrew Manze geleitet. Der Brite Manze ist als anregender und inspirierender Dirigent und Spezialist für historische Aufführungspraxis geschätzt.
Das Dvořák-Konzert wird zwar inzwischen auch im Konzertbetrieb gespielt. Unsere besonderen Erwartungen galten aber, wie Solist und Dirigent mit der Klangentfaltung im Kuppelbau der Frauenkirche umgehen werden. Als Chefdirigent der NDR-Radiophilharmonie wird Manze sich mit dem HCC beschäftigt haben und recht genau wissen, wie man mit einem Kuppelsaal umgehen kann und muss. Auch schien er für die Dresdner Verhältnisse bestens vorbereitet. Folglich war der Orchesterpart des Violinkonzertes regelrecht in die Frauenkirche passgenau eingefügt. Die Blechbläser waren gekonnt minimiert, so dass man sie zwar wahrnahm, aber nie eine Überbordung befürchten musste. Eventuell hätte sich Dvořák das Orchester etwas forcierter gewünscht. Wir haben aber im Kirchenbau noch nie so befriedigt gehört.
Beim gemeinsamen Spiel verschenkte keiner der Partner etwas. Es ging nie um eine Demonstration von Überlegenheiten sondern eher um eine herzliche Verbundenheit: Solist und Orchester wollten sich von ihren besten Seiten zeigen und jeder kämpfte mit seinen Mitteln für „Dvořák“. Aus dem Duell Dvořáks und Joachims war im Konzert eine fürsorglich- furiose Umklammerung von Solist und Orchester entstanden. Den Kopfsatz spielte Bell hell, elegant mit prägnanten Konturen. Auch im Adagio wurde er nie romantisierend. Das Wechselspiel mit den feinen Bläsern war berückend.
Faszinierend berührte der Klang seines “Stradivarius“ von 1713 aus der Werkstatt Antonio Stradivaris. Wie manche Stradivari, hat die Geige ihre eigene Geschichte. Das Instrument war 1936 dem polnischen Virtuosen Bronislaw Huberman aus der Umkleidekabine der Carnegie Hall gestohlen worden und blieb über fünfzig Jahre spurlos verschwunden. Ein unbekannter Gelegenheits-Geiger hatte das Instrument mit einer Schuhpolitur maskiert und in New Yorker Kaffee-Häusern gespielt. Auf seinem Sterbebett gestand er seiner Ehefrau den Diebstahl und das Instrument konnte im Jahre 1986 wieder als „Stradivari“ identifiziert werden. Bell setzte alle Hebel in Bewegung, die Violine zu erwerben und trägt das mit vier Millionen Dollar versicherte Instrument ständig bei sich.
Als Konzertauftakt war Jean Sibelius „Rakastava-Suite“ op. 14 für Streichorchester, Pauken und Triangel erklungen.
Zum Abschluss der Veranstaltung bemühten sich die Salzburger, ob man nicht auch Beethovens zweite Sinfonie D-Dur im Kirchenbau ordentlich zu Gehör bringen könnte. Eine derartig wuchtige Musik ist in diesem Kuppelbau schwer zu vermitteln. Aber auch da hatte Andrew Manze das wahrscheinlich Mögliche gestaltet.
Thomas Thielemann, 28.5.2019
Bilder (c) Oliver_killig
Gustav Mahler in der Dresdner Frauenkirche
21. Mai 2019
Sir Antonio Pappano hatte mit seinem „Orchestra Dell ´Accademia Nazionale di Santa Cecilia“ die Aufgabe übernommen, die Frauenkirche mit ihrer problematischen Klangentfaltung in das Konzertgeschehen der Musikfestspiele 2019 einzubeziehen. Trotz intensiver Kleinarbeit von Tontechnikern gelingt es nur in kleinen Schritten das Hörbild auf möglichst vielen Plätzen befriedigend zu verbessern.
Andererseits hat die Frauenkirche ob ihres Wiederaufbaus nach der Zerstörung am 13. Februar 1945 einen so hohen Symbolwert, als dass die Dresdner Musikfestspiele auf Veranstaltungen in diesem Raum verzichten könnten.
Antonio Pappano, 1959 als Sohn italienischer Eltern in Großbritannien geboren, gilt dort als Spezialist für die italienische Oper ansonsten ob seiner Arbeit mit dem „Orchestra dell´Academia Nazionale di Santa Cecilia“ vor allem als hervorragender Konzertleiter. Sein Debüt bei der Staatskapelle Dresden war 2018 erstaunlich spät. Sein Konzertdirigat hatte dann aber bereits zu einem sensationellen Konzerterfolg geführt.
Das „Orchestra dell´Academia Nazionale di Santa Cecilia“ hatte bereits im Jahre 2006 an den Musikfestspielen der Stadt teilgenommen
Der Abend am 21. Mai dürfte für den Dirigenten und das Orchester die erste öffentliche Begegnung mit dem Raum der Kirche gewesen sein. Pappano ist bei den Orchestern als berüchtigter Probe-Perfektionist bekannt, so dass zu hoffen war, dass er das akustisch Machbare für „Gustav Mahlers 6. Sinfonie in der Frauenkirche“ vorbereitet haben wird.
Die Sinfonie wird häufig unter dem Beinamen „die Tragische“ geführt, obwohl Mahlers Lebensumstände während der Entstehungszeit 1903/04 familiär und künstlerisch recht günstig waren. Als Direktor der Wiener Hofoper war er etabliert und als einer der weltweit besten Operndirigenten künstlerisch anerkannt. Auch die junge Ehe mit Alma Schindler dürfte noch glücklich gewesen sein. Natürlich scheint die Schwere der Themen bedrohlich. Auch die mehrfachen Wechsel der Tonarten zwischen Dur und Moll und der Hammerschlag im Schlusssatz die lassen Verunsicherungen beim Komponisten vermuten.
Doch bereits beim Betreten des Kirchenraums war die konventionelle Verteilungen der Instrumentengruppen erkennbar:
Im Altarraum die Schlagwerke, davor das komprimierte Blech und im Grenzbereich zum Kuppelrund die Holzbläser. Die Streicher waren direkt unter der offenen Kuppel verteilt.
Mit dem Einsetzen der düstern marschartigen Leitmotive des Allergico , ma non troppo wurden die Hörer unter der Kuppel mit dem Klangbrei der Kuppelreflexionen gleichsam zugeschüttet.
Ich hatte mir einen Platz im Seitenschiff unter einer Empore ziemlich exakt gegenüber dem Altarraum gesichert, da ich Pappano im Blick, gleichzeitig aber die Kuppelreflexionen gemildert haben wollte. Aber das half wenig, denn der Ton-Brei drang unbarmherzig bis an die Rückwand des Seitenschiffs.
Pappano offerierte mit seinem italienische Temperament und energischem Dirigat das Fortissimo der Paukenwirbel und des tiefen Blechs, bis plötzlich Beruhigung eintrat und das Kriegerisch-Düstere ablöste.
Feine Soli der Holzbläser schickten mir ihren Direkt-Schall-Klangteppich und vermittelten einen Eindruck vom Potential des Orchesters. Selbst das Kuhglocken-Streicherkonglomerat ließ für kurze Zeit die Vision einer ruhigen Almlandschaft zu.
Die endlose Diskussion zur Positionierung der Mittelsätze hatte Pappano zugunsten der Reihenfolge erst das Scherzo und dann das Andante moderato folgend entschieden.
Rechte Entspannung konnte bei mir selbst bei der berühmten Präzision nicht aufkommen, weil man ständig neue Wucht aus der Kuppel fürchten musste.
Den Dirigenten schien die Verwirrung auf wundersamer Weise nicht zu beeindrucken. Selbst wenn mal Musikergruppen begannen zu schlurren, weil sie offenbar ihre Kollegen nicht ordentlich hören, holte er sie mit kaum merklichen Handbewegungen ein. Ansonsten machte er seine Arbeit.
In Erinnerung bleiben die Qualitäten der Musiker in den fein gesponnenen leisen und langsamen Stellen im dritten Satz, wenn im Seitenschiff das Kuppelecho nicht ankam.
Auch der Finalsatz konnte am zwielichtigen Gesamtbild nichts ändern.
Insgesamt für mich ein akustische Desaster eines wunderbaren Orchesters mit einem Dirigenten, den wir bereits als hervorragend kennen gelernt hatten.
Thomas Thielemann 22.Mai 2019
Bilder (c) Oliver Killig / Musacchio& Ianniello
Konzert des WDR-Sinfonieorchesters
am 18. Mai 2019
Drei Komponisten-drei Kontinente
Das Orchester des Westdeutschen Rundfunks war mit seinem neuen Chefdirigenten Cristian Măcelaru in diesem Jahr zum ersten Mal Gast der Dresdner Musikfestspiele.
Cristian Măcelaru , 1980 im rumänischen Timișoara geboren, ist erst seit vergleichsweise kurzer Zeit auf den etablierten Konzertpodien präsent. Wir lernten ihn 2017 bei seiner Zusammenarbeit mit der Staatskapelle Weimar und Andrei Ionita als nahezu Unbekannten kennen.
Bei den Dresdner Musikfestspielen stellte er sich zunächst mit einer europäische Erstaufführung und einer Neuschöpfung vor.
Die amerikanische Komponistin Gabriella Smith (*1991) hatte ihm ihre Partitur „Field Guide“ für eine europäische Erstaufführung in die Tasche gesteckt. Als Einstimmung für eine originelle Neukomposition war dieser letztlich realistische „Gang über ein von Insekten und Vögeln bewohntes Feld“ auch gut ausgewählt.
Als Intendant der „Dresdner Musikfestspiele“ und solistisch Tätiger hatte Jan Vogler drei kreative in unserer Zeit und in der Gesellschaft verortete Tonschöpfer unterschiedlicher Kontinente gebeten, ihm ein unsere Welt möglichst umspannendes Werk für sein Cello mit Orchester zu gestalten. Der chinesische Komponist Zhou Long (*1953 in Peking), der Deutsche Allrounder Sven Helbig (*1968 in Eisenhüttenstadt) und der US-amerikanische Arrangeur und Komponist Nico Myhly (*1981) wagten die Schritte auf den Weg, eigenständige Kultur mit dem weltumspannenden Kontext zu verbinden. Dabei war von vornherein vereinbart worden, dass weitgehend unabhängig gearbeitet wird. Die vier Protagonisten erläuterten, dass jedem Teil ein Zeitrahmen etwa zehn Minuten zukommen solle. Des Weiteren wurde die thematische Richtung der Beiträge vereinbart. Dabei sollten Humor und Leichtigkeit im Vordergrund stehen. Nach Aussage der vier hat es in der Folgezeit nur geringe Kommunikationen gegeben.
Der im Programm ausgedruckte Titel „Drei Kontinente“ sei ein Arbeitstitel und werde konkretisiert, falls sich das „Produkt“ etabliere.
Im Konzert wurde, abweichend von der Programmheft Ankündigung, als Auftakt der von Zhou Long geschaffene Satz gespielt, der sich an einem alten chinesischen Gedicht über acht leicht angetrunkene Poeten orientiert hat. Schlaginstrumente charakterisieren die zunehmende Trunkenheit. Das Solocello übernimmt die Funktion und den Geist der alten siebensaitigen Zitter „Gugin“. Bläser und dunkle Streicher betonen den melancholischen Grundton.
Betont langsam folgte dann der europäische als Aria benannte Beitrag von Sven Helbig. Sehr melodisch und die Themen kaum abschließend, lässt der Komponist selbst das Cello im Ungefähren stehen.
Erst das abschließende Scherzo von Nico Muhly lässt dann Tonsequenzen auf und ab schwellen, etwas amerikanisch hetzend, mehrfach wiederholend. Mit Querverweisungen auf amerikanische Kulturen nahm dann Muhly das Orchester zurück und gibt Jan Vogler Freiraum, in einer Art Kadenz sein Können zu zeigen, um dann zu einem furiosen Abschluss des Gesamtproduktes zu kommen.
Das Publikum spendete überwiegend freundlichen Beifall. Die euphorischen Kundgebungen blieben begrenzt. Insgesamt mithin ein interessantes und nicht misslungenes Experiment, zu dessen Wirkung das Orchester und Cristian Măcelaru mit geduldiger und kreativer Probenarbeit vermutlich beigetragen hat.
Dass Măcelaru mit der noch jungen Partnerschaft zum WDR-Orchester gleich mit Beethovens massiver Es-Dur-Sinfonie außer Haus ging, hatte ich zunächst als problematisch angesehen. Aber der Erfolg des zweiten Konzertteils hat das Wagnis bestätigt. Wir konnten einen qualifizierten Klangkörper hören, der sich offenbar bereits in der ersten gemeinsamen Saison mit dem noch hoffentlich langjährigen Chefdirigenten bestens versteht und uns damit eine wunderbare „Sinfonia eroica“ verschaffte. Der Dirigent war allerdings mit seinen Kräften am Ende, so dass er die vom Gastorchester zu erbringende Zugabe wegließ und auch den ihm zugedachten Beifall abbrach.
Die Qualifizierung der Musiker ist für ein so am Rande des Musikbetriebs agierendes Orchester außergewöhnlich hoch und das Klangbild geschlossen, wenn vielleicht auch noch nicht ausgereift. Letzteres kann an der Vielfalt der bespielten Säle liegen. Die Musiker folgen exakt den gut akzentuierten Ansagen des Chefs. Derzeit noch zu bereitwillig, denn wenn Măcelaru Lautstärke anzeigt, wird auch ordentlich draufgehauen. Hier fehlen noch Differenzierungen und Zwischentöne. Aber so etwas kann man sich in Dresden durchaus abschauen. Wir schauen zumindest interessiert, wie sich das WDR-Rundfunkorchester unter dem bisher unterschätzten Rumänen entwickeln werde.
Bilder (c) Oliver Killing
Thomas Thielemann 20.5.2019
City of Birmingham Symphony Orchestra
17. Mai 2019
Verstolperter Anfang, aber mit Frauenpower
Einen besonderen Reiz bekommen die Dresdner Musikfestspiele, dass man zeitlich komprimiert die verschieden artigsten Orchester im erst zwei Jahre alten Konzertsaal des Dresdner Kulturpalasts hören kann. Viele dieser Klangkörper hatten noch im früheren Saal gespielt oder sogar abgelehnt unter dessen Bedingungen zu musizieren.
Das City of Birmingham Symphonieorchester war allerdings bereits mehrfach nach dem Umbau zu Gast gewesen und kannte sich mit den Besonderheiten des Konzertsaals bereits aus. Und so galt das besondere Interesse, wie die aus Lettland stammende Chef-Dirigentin Mirga Gražinyté-Tyla die Nachfolge von Sir Simon Rattle und Andris Nelsons meistert.
Das Konzert wurde mit György Ligetis faszinierentem Concert Romȃnesc begonnen. Eigentlich als Einstimmung auf das geplante 5. Prokofjew –Klavierkonzert gedacht, erreichte es doch als eigenständige Darbietung seine Wirkung. Ligeti (1923-2006) hatte das Werk nach schwierigen Kriegserlebnissen 1951 in Budapest komponiert. Unter den Eindrücken der politischen Entwicklungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte er in der Mitte der neunziger Jahre seine frühe Arbeit überarbeitet und „ als eine autobiographische Momentaufnahme“ bezeichnet. Die beiden ersten Sätze, eine Ballade-Andantino und ein schneller Tanz aus der Urfassung gehen übergangslos zum komplexen langsamen 3. Satz über. Das Finale, gleichsam sofort angeschlossen, findet dann in einer noch moderneren Klangsprache statt.
Die 1986 geborene Dirigentin Mirga Gražinté-Tyla, seit 2016 mit dem Chefposten beim City of Birmingham Symphony Orchestra betraut, hat vom ersten Takt das Heft in der Hand. Mit geraden klaren Schlägen der Arme zeigt sie die Taktwechsel fast Metronom-artig an.
Das wirkt zwar sehr diszipliniert. Aber dass sie ihr stürmisches Temperament nur schwer zügelt, bemerkt man, wenn sie einen Einsatz mit einem angedeuteten Luftsprung begleitet.
Ihr selbstgewählter Namenszusatz „Gražinyté-Tyla“ ist ihr auch immer Mahnung, denn Tyla bedeutet im Lettischen „Stille“ oder „schweigen“. Aber dankenswerterweise gelingt die Dämpfung nicht immer und so wirkte ihr Dirigat immer lebendig.
Eigentlich sollte nun Sergej Prokofjews „Konzert für Klavier und Orchester Nr. 5 G-Dur mit der Solistin Yuja Wang folgen. Nach der gesundheitlich bedingten Absage von Yuja Wang hatten die Konzertorganisatoren mit Patricia Kopatschinskaja eine der fantasievollsten Geigerinnen unseres Konzertbetriebs als Solistin gewonnen, statt dessen Tschaikowskis D-Dur-Violinkonzert mit dem City of Birmingham Orchestra zu spielen.
Als aber dann noch Frau Kopatschinskaja nicht zur Verfügung stand, half der Festspielleitung nur noch, einen Konzertflügel aufs Podium zu schieben und Gražinnyte-Tyla zu bitten, mit einer emotionalen Ansprache dem Auditotium den jungen Amerikaner Kit Armstrong und ausgerechnet mit Robert Schumanns Klavierkonzert a-Moll schmackhaft zu machen.
Dieses 1845 nur wenige Schritte vom Kulturpalast von Clara Schumann uraufgeführte Meisterwerk gehört in Dresden zu den populärsten Kompositionen und ist in den verschiedensten Interpretationen mit den unterschiedlichste Qualitäten zu Gehör gebracht worden. Aber was der „Einspringer“ uns da geboten hatte, da passte eigentlich Garnichts. Die Dirigentin ließ den Orchesterpart sauber nebenher spielen und machte dem Mann am Klavier keine zusätzlichen Schwierigkeiten.
Ob Armstrong dann ob seines Mutes von den Zuhörern gefeiert wurde? Zumindest bedankte auch er sich mit einer auf unseren Plätzen nicht verständlichen Ansprache .
Natürlich war es nun schwierig, nach der Pause mit Johannes Brahms zweiter Sinfonie dem Konzert ein Mindestniveau zu geben. Die Dirigentin leitete auch bei Brahms ihr Orchester klar, transparent und bis zu einem gewissen Grad auch flexibel. Auch wenn nicht jedes Detail ihrer Ansagen bei ihren Musikern ankam, so war doch eine frische Aufführung der „zweiten Brahms“ in einem mittleren Tempo zu Stande gekommen.
Beeindruckt hatte letztlich György Ligetis „Concert Romȃnesc“.
Thomas Thielemann 18.5.2019
Foto (c) Benjamin Ealovega
Konzert im Dresdner Kulturpalast
12.5. 2019
Der nach einer Umgestaltung im April 2017 wiedereröffnete Konzertsaal im Dresdner Kulturpalast ist eine neue Attraktion in der Elbestadt – die Konzerte erfreuen sich großer Resonanz beim Publikum und sind zumeist ausverkauft. So auch der Abend am 12. 5. 2019, dessen Schwerpunkt die französische Musik bildete. Ein französischer Dirigent, Bertrand deBilly, und ein französischer Pianist, Lucas Debargue, waren Garanten für die authentische Interpretation der Werke von Henri Dutilleux und Camille Saint-Saens.
Mystère de l’instant für Streichorchester, Cimbalom und Schlagzeug komponierte Dutilleux zwischen 1986 und 89 mit über 70 Jahren. Zehn kurze, jeweils betitelte Sätze gehen pausenlos ineinander über und bieten starke Kontraste. Sphärische Klänge und geheimnisvolles Raunen bestimmen das erste Stück („Appels“), das bald zu machtvollem Rauschen anschwillt. Das Cimbalom, eine Art ungarisches „Hackbrett“, tritt in einen Dialog mit den Streichern, was an Bartóks Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta von 1937 denken lässt. In der Folge hört man nervöse Klangflächen, Echo-Wirkungen, flirrende Töne und aggressive Lärmballungen. Der vorletzte Abschnitt, „ Métamorphoses (sur le nom de Sacher)“, ist eine Hommage an den Schweizer Dirigenten, der die Komposition 1989 in Zürich auch zur Uraufführung brachte. Das Finale
(„Embrasement“) bündelt alle Instrumente zu einem gewaltigen Ausbruch.
Das Werk wurde bislang in einem Konzert der Dresdner Philharmonie noch nicht geboten und das Orchester bewies mit seinem differenzierten Spiel, das es neben der Sächsischen Staatskapelle zu den herausragenden Klangkörpern der Stadt zu zählen ist.
Auch der zweite Beitrag des Programms bestätigte dieses hohe Niveau und markierte für mich den Höhepunkt des Konzertes. Das Konzert für Klavier und Orchester Nr. 5 F-Dur, op. 102 von Saint-Saens wurde 1896 in Paris mit dem Komponisten am Flügel uraufgeführt. Er hatte es während einer Reise nach Luxor komponiert, weshalb es den Beinamen „Ägyptisches Konzert“ trägt. Wegen der immens hohen Anforderungen an den Solisten erklingt es leider nur sehr selten. Schon im 1. Satz, Allegro animato, werden ihm virtuose Läufe abverlangt. Hörner bringen eine träumerische Sommernachtstraum-Stimmung ein, im Kontrast dazu gibt es auch energische Passagen. Orientalisch-arabisch anmutendes Kolorit bestimmt den Mittelsatz, Andante – Allegretto tranquillo. Das Klavier intoniert ein nubisches Liebeslied, das danach die Streicher aufnehmen. Ohne Pause schließt sich der Finalsatz, Molto allegro, an, der für den Solisten rhythmisch hämmernde Passagen von enormem Krafteinsatz bereithält. Die schwelgerisch-rauschhafte Atmosphäre eines Bacchanal wird heraufbeschworen – für den Pianisten eine tour de force von allerhöchstem Anspruch an Rasanz und Bravour. Der 1990 geborene Lucas Debargue bewältigte diese Anforderungen souverän und bewies mit den beiden Zugaben von Eric Satie auch sein Gespür für duftig zarte Gespinste.
Nach der Pause gab es ein Wiederhören mit der Sinfonie Nr. 103 Es-Dur von Joseph Haydn, die zuletzt 1982 von der Dresdner Philharmonie interpretiert worden war. Uraufgeführt 1795 in London (weshalb sie zu den Londoner Sinfonien gezählt wird), bietet sie mit einem Paukenwirbel (was ihr den Beinamen „Mit dem Paukenwirbel“ verlieh) den denkbar überraschenden Einstieg. Ungewöhnlich sind auch die ernsten, gewichtigen Töne in der Adagio-Einleitung. Danach folgt ein energisches Allegro con spirito von tänzerisch heiterem Duktus. Aber immer wieder tauchen auch verschattete, beunruhigende Stimmungen auf. Bedächtig und mit hintergründigem Ernst beginnt der 2. Satz, Andante più tosto Allegretto, bringt dann folkloristische Themen, welche die Solovioline anstimmt. Energischer Schwung ist im Menuet zu vernehmen und das pulsierende Finale. Allegro con spirito sorgt für einen strahlenden Ausklang. Bertrand de Billy und das Orchester erwiesen sich als bestens vertraute Partner im Musizieren und wurden am Ende vom Publikum anhaltend akklamiert.
Bernd Hoppe 14.5.2019
Bilder (c) Pressestelle
10. Symphoniekonzert der Staatskapelle Dresden
Vladimir Jurowski mit zweimal „Ein Sommernachtstraum“
10. Mai 2019
Mit Fragezeichen?
Seit der damals dreißigjährige Vladimir Jurowski mit Pendereckis Oper „Der Teufel von London“ in Dresden debütierte, ist er regelmäßig Gastdirigent der Staatskapelle. Dabei ist er ein Garant für außergewöhnliche Programme und Werkfolgen.
1990 von Moskau nach Deutschland gekommen, war er zunächst Student der Dresdner Musikhochschule und konnte auch bei Colin Davis hospitieren.
Dabei war bereits vorher der Name Jurowski für das hiesige Konzertleben ein fester Begriff, denn der Vater Michael Jurowski (geboren am Weihnachtsabend 1945) war seit 1988 häufiger Gastdirigent der Staatskapelle , der Philharmonie und der Gohrischer Schostakowitsch-Tage.
Bereits mit der Eröffnung des Konzerts mit Carl Maria von Webers Ouvertüre zu „Oberon“ werden die Tugenden des Orchesters seiner Fähigkeit zu feinsten dynamischen Abstufungen sofort deutlich. Mit sattem Streicherklang, neben dem mit großer Wärme intonierten bekannten Hornmotiv, entwickelt Jurowski die Komposition vom ruhigen Einleitungsteil bis zur intensiven Steigerung des klangmalerischen Teils und stimmt so sein Publikum auf die etwas härtere Folgekost ein.
Heinz Werner Henze (1927 in Gütersloh geboren und 2012 in Dresden verstorben) gehört zu den bedeutenden Komponisten des 20. Jahrhunderts und ist dem heimischen Publikum, 2012 Capell-Compositeur der Staatskapelle, mit der Agitprop-Oper-Inszenierung „Wir erreichen den Fluss“ noch in Erinnerung.
Als explizit politischer Künstler hatte er die anscheinend abstrakten Aspekte seiner Kompositionen nie als Selbstzweck betrachtet. In der Kontrastbildung sah er die Möglichkeit Stellung zu beziehen und sich gegen das Elitäre im klassischen Kulturbetrieb zu wenden.
Seine Symphonien hatte er gelegentlich als Studien für seine Opernkompositionen bezeichnet. Die Sinfonia N. 8, in den Jahren 1992/1993 auf Ischia entstanden, war ein Auftragswerk des Boston Symphony Orchestra. Die Symphonie ist heiterer und beschwingter als viele Werke Henzes, fügt sich zur südländischen Wahlheimat des Komponisten, war sie doch von drei Episoden aus Shakespeares „Sommernachtstraum“ inspiriert.
Isabel Karajan rezitierte jeweils vor der Wiedergabe der Henzeschen Auslegung der Episoden die Verse von Schlegels wortgewaltiger Shakespeare-Übersetzung aus der linken Proszeniumsloge. In Jurowskis folgenden Interpretation war zu spüren, dass er sich intensiv mit der dreisätzigen Partitur auseinander gesetzt hatte. Dabei schien es ihm wichtig, die Spannung und Motivation über die knappe halbe Stunde der Aufführungszeit zu halten. Jurowski dirigierte mit präzisen sparsam dosierten Gesten. Nur kleine Bewegungen der Arme sowie Hände, die sich über die Fingerspitzen den Musikern mitzuteilen schienen und so ihre Wirkung zu erreichten. Mit dieser Intensität und der nach meinem Empfinden makellosen Darbietung hätten wir vor Jahren „Henze“ gern gehört.
Die Rezitation hatte die Sätze „Allegro“, „Alle anzeigen mit comodo tenerezza e ballabilità“ und „Adagio“ deutlich voneinander abgegrenzt und dem aufgeschlossenen Hörer ein prachtvolles Erlebnis gesichert.
Nach der Konzertpause folgte dann als Kontrast die vollständige Bühnenmusik zu „Ein Sommernachtstraum“ von Felix Mendelssohn Bartholdy mit einer teilszenischen Aufführung. Der uns von der Zusammenarbeit mit Isabel Karajan bereits bekannte Eventspezialist Klaus Ortner hatte eine launische Szene eingerichtet und aus Wien den Lichtdesigner Sandro G. Frei mitgebracht, um den Solistinnen, dem Chor sowie dem Orchester Voraussetzungen für eine feierliche Würdigung der kompositorischen Glanzleistung Mendelssohns zu verschaffen.
Dieser komponierte, nachdem er, als der 17-Jährige Felix sich mit der Schlegel-Tieckschen-Übersetzung des Shakespeare’schen „Ein Sommernachtstraum“ beschäftigt hatte, 1826 seine einsätzige Ouvertüre op. 21 zur Schauspielmusik. Mit dieser Arbeit hatte er bereits alle vier der mit einander verwobenen Handlungsstränge der romantischen Komödie eingeschlossen. 1842, Mendelssohn war bereits Musikdirektor des Leipziger Gewandhausorchesters, entstanden auf Wunsch des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. Kompositionen, die als eine Zwischenakt-Musik gedacht waren. Offenbar dauerten die aufwendigen Bühnenumbauten der Tieckschen Inszenierung dem Monarchen zulange. Dank der Eingängigkeit insbesondere der Chor- und Solostellen gelang Mendelssohn eine Einbeziehung seiner Komposition in das eigentliche Bühnengeschehen, so dass eine vollständige Bühnenmusik mit Frauenchor; Soli und Orchester op. 61 entstanden war. Glaubt man Ines Pasz, ist diese Symbiose auch nicht ohne Reibung zwischen Felix Mendelssohn und dem Theaterauguren Ludwick Tieck von statten gegangen.
Das Orchester mit Vladimir Jurowski konnte auch die Ouvertüre und das Scherzo mit der uns gewohnten Qualität anklingen lassen, als aus der Streichergruppe eine aufmüpfige Musikerin, „bewaffnet“ mit einer Geige auftauchte und das Heft in die Hand nahm. Sprachlich und körperlich unentwegt aktiv, aber mit wenig Einfühlungsvermögen in das Musikalische versuchte sie in die Traumwelt Shakespeares hineinzuspringen und sich die Figuren zu eigen zu machen. Unentwegt brachte sie neue Requisiten ins Spiel. Selbst ein Palettenwagen, der als Bühne, Künstlergarderobe, Brautbett und Werkzeuglager für die Handwerker herhalten konnte, wurde auf die Bühne gezogen. Diese etwas flippige Darstellung lenkte natürlich die Aufmerksamkeit des Auditoriums auf Isabel Karajan, so dass die Präsenz der übrigen Beteiligten zurück trat. Auch musste man gut vorbereitet sein, wollte man Ansagen der Sprecherin (eigentlich Schauspielerin) folgen.
Gelegentlich nahm sich Frau Karajan zurück und erlaubte Jurowski mit dem Orchester, dem Chor und den beiden Solistinnen Tuuli Takala (Sopran) und Stepanka Pucalkova (Mezzosopran) Passagen dieser genialen Komposition unbeeinflusst darzubringen. Aber irgendwie verschaffte das dem Dargebotenen einen etwas zerfaserten Eindruck. Selbst das Genießen der Soli-und der Chorstellen sowie der wundervollen Orchestrierung Mendelssohns erforderte zumindest meine Konzentrationsfähigkeit bis ihre die Grenzen. Auch Vladimir Jurowski hatte offenbar erhebliche Mühe, seinen Orchesterleitungsstil ähnlich präzise umzusetzen, wie es ihm im ersten Konzertteil gelungen war.
Das überwiegend Dresdner Abonnemente-Publikum spendete freundlichen Beifall, wobei aber auch für die hiesigen Verhältnisse ungewöhnlich intensive Buhrufe und Pfiffe zu hören waren. Gefeiert wurden allerdings neben Valdimir Jurowski die beiden Ensemblemitglieder des Hauses Tuuli Takala und Stepanka Pucalkova.
Wie ist nun das Fazit des zweiten Teils des Konzertes?
Hat das Event-Theater nach der Opernbühne auch das Konzertpodium erreicht oder wollten die Macher der zweifelsfrei imponierenden Isabel Karajan die Gelegenheit zu einer außergewöhnlichen Leistung verschaffen?
Fast hätte ich mir gewünscht, Felix Mendelssohn Bartholdys 13 Teile der „vollständigen Bühnenmusik mit Soli und Frauenchor“ als Zugabe nachgereicht zu erhalten.
Bilder (c) Matthias Creutziger
Thomas Thielemann 11.5..2019
Das Palmsonntagskonzert der Staatskapelle Dresden mit Omer Meir Wellber
Konzertbesuch am 15. 4. 2019
Im Frühjahr 1827 erging von der Intendanz der königlichen Hoftheater an den Hofkapellmeister Francesco Morlacchi der Befehl, künftig an Palmarum ein Konzert zu veranstalten, dessen Erlös den Witwen, Waisen sowie in Not geratenen ehemaligen Musikern zu Gute kommen sollte. Ob das soziale Engagement im Vordergrund stand oder ob sich die katholisch geprägte Hofkultur von dem protestantisch orientierten bürgerlichen Kulturleben abheben sollte, bleibt offen. Zumindest haben sich die „Palmsonntagskonzerte der Staatskapelle“ bis dato tradionell im Konzertkalender etabliert.
Nun ist Palmarum der letzte Sontag vor dem Osterfest und damit mitten in den seit 2013 von der Sächsischen Staatskapelle ausgerüsteten „Salzburger Oster-Festspielen“. Damit befindet sich der größte Teil des Orchesters zum Termin in der Festspielstadt, so dass sich die von Herbert Blomstedt favorisierten Aufführungen von Beethovens „Neunter“ oder der Matthäus-Passion bzw. des Brahms „Requiem“ verbieten und man vorwiegend auf die zur Bespielung der Opernaufführungen verbliebenen Musiker und möglichst vielen Gästen sowie auf ein geeignetes Repertoire angewiesen ist.
Mit der musikalischen Leitung des als 9. Symphoniekonzert der Staatskapelle ausgeschriebenen Konzerts war der 1. Gastdirigent der Semperoper Omer Meir Wellber betraut worden.
Der 1981 in Israel geborene Shootingstar ist in Dresden ausgezeichnet vernetzt und hat auch hier eine feste Wohnung.
Zu seiner Unterstützung hatte er den britischen Star-Cellisten Steven Isserlis und vor allem den Dresdner Kammerchor eingeladen. Dieser Chor , 1985 von seinem Leiter Hans-Christoph Rademann als gemischtes Ensemble aus Musikstudenten, ausgebildeten Sängern und qualifizierten Laiensängern ist der Musikhochschule „Carl Maria von Weber“ partnerschaftlich verbunden und ermöglicht Gesangs- und Dirigierstudenten bereits während der Ausbildung chorpraktische Erfahrungen zu sammeln.
Mit dem „Amen für gemischten Chor a capella op. 35“ des polnischen Komponisten Henryk Góretzki stellte der Kammerchor am Beginn des Konzertes bereits sein hohes Leistungsniveau unter Beweis. Da der Text des Werkes ein einziges Wort ist, bleibt als abstrakte Struktur der Darbietung eine Reihe von Atemzügen, nachhaltig, langsam strömend, wie eine Meditation vorgegeben. Nach einem Aufbau zu einem Höhepunkt wechselt die Musik zu Parallelbewegungen, wobei die unteren Stimmen die obere eine Oktave auseinander verdoppeln. Es folgt eine triumphale Passage bis die Klangfülle in modale Harmonie übergehend das 8-Minutenwerk abschließt. Góretzki schrieb das Werk zwischen 1972 und 1975 als eines von drei Stücken seiner Hommage an die Tradition des polnischen Kirchenliedes geschrieben.
Für Darbietung Joseph Haydns „Violoncello Konzert D-Dur hatte der britische Cellist mit russischen Wurzeln Steven Isserlis das ihm zur Verfügung gestellte Stradivari-Cello von 1726 „Marquis de Corberon“ mit seinem berückend warmen und besonders sattem Bass mitgebracht. Komponiert hat Haydn das Cellokonzert Nr. 2 im Jahre 1783. Haydn war 1781 mit Wolfgang Amadeus Mozart zusammen getroffen. Trotz der 24 Jahre Altersunterschied musizierten sie gemeinsam, tauschten Auffassungen aus und befreundeten sich. Man vermutet, dass der Ältere die weiche, geschmeidige Melodik, das singende Allegro vom Jüngeren übernommen hat.
Steven Isserlis erweist sich immer wieder als hervorragender Musiker. Er ist Solist, Kammermusiker, Lehrer, Autor und Radiomoderator. Während seines Spiels kommuniziert er mit seinen Mitspielern: lächelt den Dirigenten an und scheint sich mit dem Konzertmeister zu verständigen. Dann schaut er wieder auf einen nur ihm bekannten fernen Punkt. Selbst bei den komplizierten Passagen schaut er nicht auf seine Finger. Seine Virtuosität ist unvergleichlich. Als Zugabe spielte er ein etwas schräges pizzicato-Stück: „Chonguri“ von Sulkan Tsintsadze. Mit der Kraft seiner Technik und der Beherrschung seines Instruments führte uns Isserlis dabei vom Erhabensten zum Profansten, vom poetischsten zum wildesten Ausdruck.
Strahlend und imposant, dabei auf fast kammermusikalische Weise interpretierte Omer Meir Wellber im zweiten Konzert-Teil mit dem souveränen Kammerchor und Musikern der Staatskapelle Haydns „Missa in Angustiis“- die Messe in Zeiten der Bedrängnis, die oft auch als „Nelson-Messe“ bezeichnet ist. Ihm zur Seite steht ein international erfahrenes Sängerquartett.
Eine Deutung der Nelsons-Zuordnung kolportiert, dass Haydn während der Komposition des Benedictus im August 1798 die Nachricht des Sieges der Flotte Nelsons über Napoleon in der Seeschlacht vor Abukir erhielt und umgehend kompositorisch seine düstere Kriegsstimmung in Trompetenfanfaren und in den jubilierenden Abschluss der Messe umsetzte. Andere behaupten, der Kriegs- und Frauenheld sei 1800 beim Fürsten Esterházy zu Besuch gewesen und man habe ihm zu Ehren eine Aufführung eben dieser Messe gegeben.
Bedeutungsvoller für den Charakter der Komposition war aber, dass der Fürst die Holzbläser seines Orchesters entlassen hatte und Haydn für eine umgehend anstehende Aufführung drei zusätzliche Trompeten in die Besetzung aufnehmen musste. Erst später wurden die Holzbläser und die Hörner der Komposition zugefügt, so dass die erlebte etwas ungewöhnliche Orchester-Besetzung entstanden ist.
Als Gesamteindruck überzeugte Wellbers Interpretation mit ihrer Lebendigkeit. Er dirigierte mit weit ausholenden Armbewegungen extrem akzentuiert, spielte aber auch einige Passagen auf dem Cembalo selbst. Dem hervorragend vorbereiteten Chor gelang eine plastisch wirkende Gestaltung einer Landschaft in der sich lyrische Passagen mit solchen von expressiver Prägung wie Berge und Täler verbanden.
Die außergewöhnlich ausladenden Solopartien wurden engagiert dargeboten. Die Stimme der schwedischen Sopranistin Camilla Tilling klang klar, frisch und jugendlich. Ihre Interpretation war die einer reifen Künstlerin. Die ebenfalls aus Schweden stammende Katija Dragojevic bot uns die wunderbare Wärme ihres anschmiegsamen, wasserklaren wie berührenden Mezzosopran.
Bei dieser weiblichen Stimmpracht hatte es der noch junge portugiesische Tenor Luis Gomez schwer, ein männliches Pendant aufzubieten. Dem aus der Schweiz stammenden Bassbariton Milan Siljanov gelang das schon eher, zumal er von dem Ensemble Lamaraviglia reiche Erfahrungen mit der Interpretation von Kammermusik der Renaissance und des Barocks mitbrachte.
Mit den Musikern der Staatskapelle und dem Organisten Johannes Wulff-Woesten hielt Omer Meir Wellber die Mitwikenden sorgsam austariert zusammen und erreichte so eine strahlende und imposante Aufführung.
Dazu zwei Anmerkungen: -Aus Proben wird eigentlich nicht berichtet. Aber man hatte ob des Salzburger Orchestereinsatzes dem noch jungen Dirigenten nicht einmal einen Assistenten im Stammhaus belassen, so dass er während seiner Generalprobe mehrfach den Dirigentenplatz verlassen musste, um im Zuhörerbereich die Klangverteilung und Ausgewogenheit von Chor und Orchester zu überprüfen. Sein lockeres Erklimmen des Konzertpodiums erregte dabei ordentliche Bewunderung.
Das wunderbare, von Steven Isserlis vorgestellte Cello Nr.40655 wurde 1726 in der Werkstatt Antonio Stradivari in Cremona gefertigt und gehörte bis 1789 dem jeweiligen „Marquis de Corberon“. Die Familie teilte aber nicht das Glück des Cellos und starb 1789 in den Wirren der Französischen Revolution. Das Instrument gelang in die Hände des Pariser Cellisten Loeb und später nach England zu Elizabeth Chapman und Audrey Melville. Letztere übergab das Instrument 1960 der „Royal Academy of Music London“. Es wurde seit dem bis 2002 von der legendären kanadischen Cellistin Zara Nelsova (1918-2002) gespielt, so dass es oft mit dem Zusatz „Nelsova“ bezeichnet ist. Der britische Instrumentenbauer Roger Hansell hat vom Cello einen Nachbau mit einem so guten Ergebnis versucht, dass der russische Musiker Mstislaw Rostropowitsch (1927-2007) begeistert verlangte: „Ich will dieses Cello“.
Thomas Thielemann 16.4.2019
Bilder (c) Kammerchor / OMW-Webside / killing presskit