CAEN
C: Philippe Delval theatre.caen.fr
Sebastian Duron
CORONIS
6.11.2019
Lustige und farbenfrohe Wiederentdeckung der barocken Zarzuela: eine Erstaufführung seit 1705, die nun bis Mai 2020 durch die französische „Provinz“ tourt
Frankreichs Opernlandschaft besteht nicht nur aus Paris und den beiden National-Opern in Lyon und Straßburg, die im Ausland am meisten wahrgenommen werden. Es gibt noch drei andere „opéras nationaux“ in Bordeaux, Nancy und Montpellier, die großen Opern in Marseille und Toulouse und 80 mittlere bis kleine Häuser, über die im Ausland selten bis nie berichtet wird, obwohl einige von Ihnen ein ganz eigenes, besonderes künstlerisches Profil aufgebaut haben. So die Oper in Caen in der Normandie (zwischen Paris und dem Mont Saint-Michel), die in den Jahren 1980/90 der Vorläufer in Frankreich war für die Renaissance der französischen Barockmusik. Hier gründete William Christie sein Ensemble „Les Arts Florissants“ und wurde 1987 zum ersten Mal seit Ludwig dem XIV. „Atys“ von Lully gespielt, eine wunderbare Produktion, die dann nach Paris, Bordeaux und New York weiterreiste, immer wieder aufgenommen wurde und bahnbrechend neue Türen für die französische Barock-Opern geöffnet hat. Beinahe alle Dirigenten der vielen heutigen französischen Barock-Ensembles (Marc Minkowski, Christophe Rousset etc), die nun in der ganzen Welt bekannt sind, saßen damals als Musiker bei „Atys“ im Orchestergraben in Caen.
Caen hat seitdem die Vorreiter-Stellung behalten „auf der Suche nach seltenen Werken und originellen Opernformen“, so wie es der überaus neugierige und versierte Intendant Patrick Foll (seit 2001 im Amt) im Vorwort seiner diesjährigen Spielzeitbroschüre schreibt. Einerseits gibt es immer weitere Barock-Entdeckungen, so wie das „Ballet Royal de la Nuit“, in dem der damals fünfjährige Ludwig der XIV. 1643 zum ersten Mal als „Sonne“ auf der Bühne erschien – eine bildschöne Produktion von Dirigent Sébastien Daucé (mit seinem „Ensemble Correspondances“ Nachfolger von William Christie in Caen), die inzwischen auch schon bis nach New York und Seoul gereist ist und immer wieder aufgenommen wird : nächstes Jahr (wieder) in Versailles, Paris, Rouen, Nancy, Luxemburg und Krakau. Andererseits gibt es auch Musik aus Skandinavien, dem Baltikum und Grönland in der nun schon 28. Edition des Festivals „Les Boréades“ – denn die Normannen („Nord-Mannen“) waren ja ursprünglich Wikinger. Und das meist Besondere ist, dass diese Raritäten überhaupt nicht elitär, sondern sehr publikumsfreundlich gebracht werden. „Zirkus“ spielt darin eine große Rolle, mit u.a. dem Cirque Plume, die Pferde von Zingaro (unlängst mit Marc Minkowski in der Felsenreitschule in Salzburg) oder dem Barock-Ensemble von Vincent Dumestre „Le Poème Harmonique“ aus Rouen, das hier einen „Carneval Baroque“ spielte. Die Preise sind erstaunlich niedrig, denn das Publikum kommt mit den Abo’s „Insolite“ (für Raritäten), „Baroque“ (für Barock-Musik) und/oder „Tribu“ (Großfamilie) – was dazu führt, dass alle Plätze für alle Vorstellungen für eine solche absolute Rarität wie „Coronis“ schon sechs Wochen im Voraus total ausverkauft waren (in z.B. Paris und Wien undenkbar).
Nun fängt also ein neues Kapitel in Caen an mit der barocken Zarzuela, der wir zum ersten Mal auf einer Opernbühne begegnen (wir kannten nur die „Operetten“ des 19. Jahrhunderts, die heute immer noch im schönen Teatro de la Zarzuela in Madrid gespielt werden). Die Zarzuela war ursprünglich eine höfische Opernform als das Genre noch in seinen Anfängen stand, die in einem Jagdschloss von Madrid, das Palacio de la Zarzuela, ein „Dornenpalast“ im Wald (von „zarzas“/„Dorne“), in dem Pedro Calderon mythische Stoffe für den Hof adaptierte. Das muss besonders prächtig gewesen sein, denn der berühmte Kastrat Farinelli, der an allen großen Höfen aufgetreten war, meinte 1738, dass Wien, Paris und Berlin nicht mit der Pracht der Kostüme und Bühnenbilder am Hofe in Madrid konkurrieren konnten. Dann wurde „Coronis“ (wahrscheinlich 1705) von Sebastien Duron (1660-1716) schon nicht mehr gespielt, denn der Hofkomponist von Karl dem II., dem letzten Habsburger auf dem spanischen Thron, wurde im Rahmen des Spanischen Erbfolgekrieges (1701-16) mit der Königin Witwe Maria-Anna von der Pfalz-Neuburg nach Bayonne verbannt und war bei den Spanischen und französischen Bourbonen ab dann persona non grata. Die Partitur wurde erst um 1930 in der spanischen Nationalbibliothek wiedergefunden, doch einem anderen Komponisten zugeschrieben und nach einem Generationendauernden Streit zwischen verschiedenen Spanischen Musikwissenschaftlern erst 2009 partiell und 2017 vollständig editiert. Das kann man alles Nachlesen in dem nun erscheinenden Buch von Pierre-René Serna „La Zarzuela baroque“, das am Tag der Premiere in Caen einem erstaunlich wissbegierigen Publikum vorgestellt wurde. Dort wird zum Beispiel auch erklärt, warum in „Coronis“ auch die Götter Neptun und Apollo mit Frauen besetzt werden – weil damals am Spanischen Hofe keine Männer singen durften!
„Coronis“ ist/war eine schöne Nymphe aus den „Metamorphosen“ von Ovid, die von mehreren Göttern heftig begehrt wird, was zu mehreren Kriegen führt, in denen der nicht überlieferte Librettist mit Humor auf den damals tobenden Spanischen Erbfolgekrieg verwies. Der Regisseur Omar Porras verlegte nun die Geschichte der armen Nymphe, die durch sieben Männer bestürmt wird, in ein farbenfrohes Zirkusambiente, in der jede Figur immer wieder neue Karten ausspielen konnte. Und dies mit einer hochgekonnten Personenführung und Charakterisierung. Es wurden eben mit sechs zusätzlichen Akrobaten und Zirkuskünstlern fünf Wochen (!) auf der Bühne geprobt. Das Resultat war ein fröhlicher Abend, mit immer neuen Einfällen mit den allereinfachsten bewährten barocken Theatermitteln: wenn Neptun Thrakien unter Wasser setzte, wurde die Bühne blau, fingen die Sänger an zu „schwimmen“ und spielten die Akrobaten die Wellen, Apollo erschien hier ein Deus ex machina aus einem alten Koffer und entzündete mehrmals Feuerwerk (wunderbar gekonnt!), und die aufgebrachte thrakische Menade (hier eher ein „Volksweib“) Menandre, geriet vor Empörung immer wieder ins Stottern, was nicht nur urkomisch war, sondern auch musikalisch klug eingesetzt wurde, um zum Beispiel einem da capo eine neue Färbung zu geben. Nur Komplimente für die farbenfrohe Ausstattung von Amélie Kiritzé-Topor (Bühne), Mathias Roche (Licht), Bruno Fatalot (Kostüme, Perücken und „Schuhe“) und Véronique Soulier Nguyen (Maske).
Das wäre alles nicht so wunderbar gewesen ohne Vincent Dumestre und sein Ensemble Le Poème Harmonique. Das Ensemble spielt schon seit 20 Jahren in Frankreich und wir haben es hier schon öfters im Operngraben erlebt, aber halt nur in besonderen Produktionen jenseits des gängigen Opernrepertoires. Deswegen kennt man Vincent Dumestre im Ausland nur auf den „spezialisierten Konzertpodien“: in Wien mit Raritäten von Purcell und Jeremiah Clarke (Konzerthaus, Jänner 2019), in der Elbharmonie und Kölner Philharmonie mit „Meditationen“ Charpentier, auf den Musikfestspielen in Potsdam etc. Aber für eine Erstaufführung einer Spanischen Zarzuela aus 1705 braucht man wirklich einen Spezialisten, denn sonst könnte diese für unsere Ohren ungewohnte Musik etwas langweilig werden. Denn es gibt keine brillanten Ohrwurm-Opernarien (die gab es erst später), sondern ein Mischmasch aus Fisch und Meeresfrüchten (auch eine Etymologie von „Zarzuela“), der erst dann wirklich mundet, wenn man ihm hier und dort einen Schuss „Zitrone“ oder „Essig“ gibt wie feines Trommeln, Kastagnetten, verschiedene Lauten und Gitarren - eben all diese musikalischen Feinheiten, die in einer damaligen Partitur nicht vorgegeben wurden und die der Interpret selbst erfindet. Darin ist Dumestre ein Meister!
Das Sänger- und Schauspieler-Ensemble war so homogen, dass man eigentlich niemanden besonders hervorheben kann und will. Ana Quintans war als Coronis spielfreudig und manchmal richtig sexy, doch hatte an diesem Premierenabend in dieser fordernden Rolle ein paar kleine Register-Probleme. Die viel erfahrenere Isabelle Druet konnte als Triton dagegen alle Register ihrer wunderschönen Stimme mühelos ausspielen. Emiliano Gonzalez Toro begeisterte als einziger Mann auf der Bühne (Protée und Tenor in den vielen Ensembles) durch seine Vielseitigkeit. Oft hielt man ihn eben für eine Frau, während die Mezzos Marielou Jacquard und Caroline Meng mühelos als Götter Apollo und Neptun überzeugten. Besonderen Applaus bekamen die Alti Victoire Bunel als Sirene und vor allem Anthéa Pichanik als stotternde Menandre, auch weil sie mühelos dazu noch gesprochene Dialoge improvisierten, mit denen der Regisseur ihre nie endende Wut auf die Götter da oben breiter verständlich machte. Doch am Ende gab es mit einer Doppelhochzeit ein Happy End für alle auf der Bühne und auch für dieses besondere Werk, das nun von Februar bis Mai durch die kleineren Opernhäuser Frankreich ziehen wird: Rouen, Limoges, Amiens und Lille. Danach kommt „Coronis“ an die Opéra Comique in Paris, wo die meisten Rezensenten sie erst entdecken werden und wahrscheinlich - wie so oft - vergessen werden zu erwähnen, wo (auch) diese Wiederentdeckung angefangen hat: nicht in Paris, sondern in Caen.
(c) Philippe Delval
Waldemar Kamer 10.11.2019
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