DER OPERNFREUND - 51.Jahrgang
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OPERA DE PARIS - Palais Garnier

www.operadeparis.fr/

 

 

György Kurtag
„Fin de partie“

Opéra National de Paris 30. 4. 2022


Neue Oper! Nach Mailand und Amsterdam nun an der Pariser Oper in einer vorbildlichen musikalischen Umsetzung und Inszenierung. Demnächst in Dortmund…

 

„Fin de partie“, kurz vor „Schach-Matt“: der an den Rollstuhl gefesselte Hamm (Frode Olsen) und seine in einer Abfalltonne vegetierenden Eltern Nagg (Leonardo Cortellazzi) und Nell (Hilary Summers) können sich nicht mehr bewegen.

Seit 20 Jahren ruft man überall, dass das Genre Oper nur überleben kann, wenn man auch neue Opern nach neuen Stoffen schreibt. Doch wenn sich die großen Häuser an solche Uraufführungen wagen, werden diese so gut wie nie am eigenen Haus nachgespielt oder durch andere Opernhäuser übernommen. So erinnere ich keine einzige in den letzten Jahren an der Wiener Staatsoper uraufgeführte Oper, die an die Opéra de Paris kam - und umgekehrt. Von den Dutzenden Uraufführungen, die ich in den letzten 30 Jahren rezensiert habe, scheinen nur die neuen Opern von Kaija Saariaho und Peter Eötvös in die europäischen Spielpläne eingegangen zu sein - vor allem seine „Tri Sestry“ (Drei Schwestern), die seit der Uraufführung 1998 in Lyon mindestens 20-mal in 10 Ländern gespielt wurden, in den unterschiedlichsten Sprachen und Besetzungen. So freut es mich sehr, dass die allererste Oper von György Kurtag (1926 in Ungarn), seit ihrer Uraufführung im November 2018 in Mailand, im März 2019 in Amsterdam nachgespielt wurde und nun in der gleichen Inszenierung auch in Paris Premiere hatte. Das ist an sich schon ein beachtlicher Erfolg.

In der (verschachtelten) Hütte kann sich nur der Diener Clov humpeln und tut dies grandios (links Leigh Melrose)


Da bei der Uraufführung 2018 in Mailand schon viel über diese neue Oper geschrieben wurde, brauche ich nicht mehr auf seine lange Entstehungsgeschichte einzugehen. Es ist der Hartnäckigkeit Alexander Pereiras zu verdanken, dass György Kurtag überhaupt seine wahrscheinlich einzige Oper komponiert hat. Denn Kurtag hat vor 40 Jahren einen angenommenen Kompositionsauftrag der Oper in Amsterdam zurückgegeben mit der Begründung, dass er mit diesem Genre einfach nichts anfangen konnte. 2010 fing er dann doch mit der Komposition von „Fin de partie“ an, die sieben lange Jahre brauchte bis sie nicht in Zürich und nicht in Salzburg (wo sie offiziell angekündigt war), sondern an der Scala uraufgeführt wurde. Eine große Leistung für einen dann schon 92-jährigen Komponisten! Denn die Vorlage scheint wenig operntauglich: keine Handlung, keine Gefühlsausbrüche und kein dramatischer Konflikt zwischen Pflicht und Neigung. Alles steht still, wie so oft bei Samuel Beckett. „Fin de partie“ (1957, später übersetzt als „Endgame“ und „Endspiel“) ist erst einmal eine Situation beim Schachspielen, in der die Entscheidung schon gefallen ist, einer der Spieler sich aber immer noch bewegen kann bevor er ganz „Schach-Matt“ steht. Genauso wenig Hoffnung und Handlungsmöglichkeit wie bei „Warten auf Godot“ (1953). Kurtag hat ungefähr die Hälfte des ursprünglichen Theatertextes übernommen (56% lese ich im Internet, da solche Informationen nun vollkommen in den intellektuell immer ärmlicheren Programmheften der Pariser Opern fehlen) und zu 14 „Szenen und Monologen“ seiner „Opéra en un acte“ übernommen. Dabei hat er die „Nebenrollen“ aufgewertet: neben dem blinden, an den Rollstuhl gefesselten Hamm und seinem von ihm tyrannisierten Dieners Clov, werden Hamms in einer Abfalltonne vegetierenden Eltern Nagg und Nell nun aufgewertet. Vor allem die Mutter Nell, die den Abend mit einem „Prolog“ einläuten kann: eine „Arie“ auf ein Gedicht von Beckett („Roundelay“, 1974, auf Englisch). Leider die einzige Arie des Abends, der sonst nur aus „Sprechgesang“ besteht, auch wenn dieser liebevollst Wort für Wort durch das Orchester begleitet wird, feinfühlig und oft sehr besonders orchestriert (gleich mehr dazu).

 

Nur leichte Perspektiv-Wechsel der Hütte sorgen für eine szenische Abwechslung in der subtilen Beleuchtung von Urs Schönebaum


Die musikalische und theatralische Umsetzung ist auf höchstem Niveau, absolut vorbildlich und man fragt sich, warum man dies nicht öfters hört und vor allem sieht. Denn es ist ein Paradox der modernen Opernwelt, dass die gleichen Regisseure die großen bekannten Werke des Repertoires mit ihren eigenen Fantasien überfrachten – wie Calixto Bieito gerade an der Staatsoper mit „Tristan und Isolde“ – und wenn es um neue Opern geht, diese mit einer vorbildlichen Werktreue inszenieren. (Bieitos Inszenierung von Aribert Reimanns „Lear“ war 2016 an der Opéra de Paris so erfolgreich, dass sie - eine absolute Seltenheit für neue Opern -2019 noch mal wiederaufgenommen wurde.) Für Pierre Audi gilt dieses Paradox nur bedingt: sein „Rigoletto“, mit dem im März an der Wiener Staatsoper debütierte, wird wahrscheinlich genauso wenig in die Geschichte eingehen wie seine „Tosca“, die zur Zeit in Paris gespielt wird (beide mit Routine über den gleichen abstrahierenden Kamm gezogen), aber bei zeitgenössischen Werken zeigt er sich oft als ein absolut hervorragender Regisseur, der genau in die Partitur und den Text horchen kann. Denn einen solchen braucht man in einem Stück, wo drei Leute, die sich nicht bewegen können, in einer Hütte eingeschlossen sind und der vierte, Clov, nur humpeln kann. Christoph Hetzer (Bühne und Kostüme) entwarf deswegen eine Hütte, die wir stets aus einer leicht anderen Perspektive sahen – was für lästige (etwas zu lange) Umbauten sorgte, aber in der subtilen Beleuchtung von Urs Schönebaum zumindest für eine, sei es minimale, szenische Abwechslung sorgte.

Doch wie gestaltet man in diesem Rahmen eine Personenführung? Umso mehr, da Beckett in seinen fast paranoiden Szenenanweisungen (30% des ursprünglichen Theaterstückes!) jede kleinste Bewegung genau festgelegt hat. Mit Hilfe des Regisseurs schaffen die vier exzellenten Sänger-Darsteller (alle seit der Uraufführung in Mailand dabei) es trotzdem in einem solchen „Korsett“ eine Handlung und Spannung aufzubauen. Dies quasi nur mit Blicken mit einer solchen Präzision, wie man sie eigentlich nur vom Theater und Film kennt und in der Oper selten begegnet. Im Gegensatz zu vielen Theaterregisseuren, die in meinen Augen nur die Hälfte des Stückes inszenieren, hat Pierre Audi (französischsprachig im Libanon aufgewachsen) sehr genau in den Text hineingehört. Denn da geht es noch um etwas ganz Anderes, was man leider aus der deutschen Übersetzung nicht mehr heraushören kann. „Fin de partie“ ist nicht nur eine Situation beim Schachspielen, sondern verhinderte Sexualität. Das Ende einer „partie fine“ (Orgie) und die Bezeichnung einer (homo)sexuellen Handlung, die nicht zur Fortpflanzung dient. Alle vier Figuren sagen dies recht deutlich auf Französisch: sie können nicht mehr, sie würden so gerne, sie wurden kastriert. Und mit Pierre Audis Hilfe zeigen sie dies auf der Bühne, ohne dass es peinlich wird. Ein besonderes Darsteller-Lob für Leigh Melrose als Clov: selten habe ich einen Schauspieler auf einer Bühne so punktgenau (je nach seiner Emotion, die er nicht aussprechen darf) …humpeln gesehen!

 

Am Ende „Schach-Matt“: Hamm (Frode Olsen) bleibt allein übrig


Der größte Stern des Abends war für mich der Dirigent Markus Stenz (der auch schon die Mailänder Uraufführung geleitet hat). Denn schon ein einfacher Blick in den Orchestergraben des Palais Garnier zeigte, dass dies ein besonderer und auch herausfordernder Abend werden würde. Bei 72 Musikern saßen die Celli und Kontrabasse links hinter den Geigen, weil ihr üblicher Platz rechts von 16 Musikern eingenommen wurde mit Instrumenten, denen man nicht so oft in einem Orchestergraben begegnet: 8 „Trommler“ mit den unterschiedlichsten Pauken, Becken und Zimbeln, ein Konzertflügel und neben der Harfe ein Cymbalom (Hackbrettklavier) und eine Celesta (die eher wie ein Harmonium klang). Dazu bei den Bläsern auch noch zwei Bajans (kleine Akkordeons). Doch wenn ich die Instrumente nicht gesehen hätte (ich saß in der ersten Reihe), hätte ich sie oft kaum heraushören können, da Kurtag sie nie in ihrem üblichen Modus einsetzte: kein ungarischer Zigeunerklang für das Hackbrettklavier, kein Kirchenklang für das Harmonium und kein Jahrmarktsgefühl mit den Akkordeons. Immer setzten wieder andere Instrumente ein für oft ganz ähnliche Klangtupfer, die oft bei jedem gesungenen Wort von einer Instrumentengruppe zur einer wieder anderen wechselten. Markus Stenz führte das Orchestre de l’Opéra de Paris und die vier Solisten mit einer souveränen Schlagtechnik durch die vertrackte Partitur, als sei es die natürlichste Sache der Welt. Mit seinen Ellbogen hielt er das Tempo (Sprechgesang kann lähmend langweilig werden, wenn man dabei zu lange Pausen macht oder verlangsamt) und mit seinen zehn Fingern gab er die unzähligen Einsätze. Das war schon beinahe „gestische Musik“! Die vier Solisten waren exzellent. Keine Spur von Premierenstress oder Nervosität wegen ihren Debuts an der Opéra de Paris - auch wenn man mit solch spärlichen Melodien viel über ihr Können aber wenig über ihre Stimmen sagen kann. Frode Olsen sang trotz angesagter Indisposition die gewaltige Partie des Hamm, Leonardo Cortellazzi konnte als sein Vater Nagg ein bisschen Belcanto-Aura ausstrahlen, während Hilary Summers als Mutter Nell im Prolog „on all that strand“ lyrisch singen durfte. Am meisten beeindruckte mich der beinahe Caliban-artige Clov von dem oben genannten Leigh Melrose, der auch eine (zu) kurze „Arie“ hatte.

Schade, dass es keine Pause gab für diese verinnerlichte Musik und Handlung, die dem Zuhörer viel Konzentration abverlangten. Da wurden gute 2 Stunden doch für Manche zu lang. Diese Pause würde ich den nächsten Opernhäusern raten, die nun auch diese besondere neue Oper bringen wollen. Die deutsche Erstaufführung ist seit 2021 in Dortmund geplant, wonach hoffentlich noch viele andere Opernhäuser folgen werden.

 

Waldemar Kamer, 3.5.22

Bis 19. Mai an der Opéra National de Paris: www.operadeparis.fr

Alle Fotos: © Sebastien Mathé / Opéra National de Paris  





 

 

 

DON PASQUALE

Aufführung am 16.06.2018

Eine austauschbare Inszenierung

 Gibt es so etwas wie einen Zeitgeist? – Anscheinend ja, denn manchmal kommen Intendanten und Regisseure an vollkommen verschiedenen Orten auf genau die gleichen Gedanken. „Don Pasquale“, 1843 am Théâtre-Italien in Paris uraufgeführt und seitdem als „Dramma Buffo“ im Repertoire der Opéra Comique, wird nun zum ersten Mal an der „großen Oper“ gespielt - einen Monat nach der Scala, wo das Werk seit einem Vierteljahrhundert vom Spielplan verschwunden war. Und wenn man die Rezension von Eva Pleus im Merker (5/2018) liest, bekommt man den Eindruck, dass es sich zweimal um die gleiche Inszenierung handelt. Denn in Paris und in Mailand interpretierten zwei unterschiedliche Regisseure „Don Pasquale“ auf genau die gleiche Art und setzen ihr Konzept mit genau den gleichen Mitteln um: eine aufwändige Drehbühne mit sehr viel Video, eine ganzabendliche Modeschau für Norina und eine Neuinterpretation der Titelrolle, die von einem alten Hagestolz, der plötzlich Frühlingsgefühle entwickelt, mutiert zu einem geknechteten Mann, der viel zu lang gebückt unter dem kastrierenden Pantoffel seiner Mutter ging (in Paris seine alte herrische Haushälterin).

Nadine Sierra als sexy Norina in einer abendfüllenden Mode- und Videoshow

Genau wie Eva Pleus kritisch über die Regie von Davide Livermore an der Scala berichtet, kann ich jetzt Damiano Michieletto an der Opéra de Paris kaum Komplimente machen. Das viele Auf- und Abbauen der aufwändigen Videoinstallationen und die Auf- und Abgänge der Kamerateams während der großen Arien störte nur die Handlung und die vollkommen offene Bühne (die Rückwand wurde als Projektionsfläche benutzt) war akustisch extrem Sänger-unfreundlich. Hat der Bühnenbildner Paolo Fantin noch nie in einer Oper gearbeitet? Der Kostümbildner Agostino Cavalca – der jetzt an der Pariser Oper debütierte – sicherlich, denn wir haben schon viele schöne Kostüme von ihm gesehen. Aber noch nie so viele hässliche wie jetzt - was offensichtlich zum Regiekonzept gehörte. Mit als einziger Ausnahme die bildschöne Norina, der wirklich jedes Kostüm wirklich fantastisch stand. (Aber wie kann eine mittellose Witwe sich solch aufwendige Designerkleidung leisten? Und warum will eine solch vermögende und umworbene Frau dann so ein altes Schreckgespenst heiraten?) 

Zum Glück war die Titelrolle mit einem erfahrenen Sänger besetzt, der aus jedem Regiekonzept noch etwas machen kann. Michele Pertusi hat diese Rolle schon an der Staatsoper gesungen (und wird sie dort auch wieder singen) und gehört zweifelsohne zu den aktuellen „Rollenträgern“ (wie man in Paris sagt). Er sang nicht nur makellos, sondern konnte auch den manchmal schwierigen Rezitativen Form und Inhalt geben und ein wirkliches Rollenprofil aufbauen. Nadine Sierra war an seiner Seite als Norina vor allem sehr „sexy“: den ganzen Abend hindurch zeigte sie ihre schönen Beine und während sie in ihrer ersten Arie dreimal ihr Kostüm wechselte, durften wir auch noch ihren ganzen Körper aus allen nur erdenklichen Blickwinkeln bestaunen. Sie zeigte sich extrem spielfreudig, frech und keck und hatte eine wunderschöne Stimme (eine ihrer Paraderollen ist die Gilda). Neben solch einem „Traumpaar“ ist es schwierig als konkurrierender Ernesto aufzutreten. Lawrence Brownlee hatte es verständlicherweise nicht leicht, auch weil er in dieser Rolle vollkommen fehl am Platze schien. Er wirkte wie ein pummeliger Vorstadtgauner mit sehr schlechten Manieren (sollte er einen ordinären Drogenhändler darstellen?). Und wenn er sich zusätzlich im Programmheft als „einer der größten aktuellen Belcanto-Tenöre“ vorstellen lässt, hatte er schon in Voraus unsere Sympathie verspielt (da gibt es bei ihm – zumindest in dieser Rolle – noch reichlich viel „Luft nach oben“). Auch Frédéric Guieu war als Notar falsch besetzt. Wir freuen uns immer, wenn Mitglieder des Hauschors eine kleine Rolle bekommen, aber in diesem Fall war der Sänger sichtlich überfordert und bekam seine wenigen Sätze einfach nicht hin. Zum Glück wurde Dottor Malatesta durch Florian Sempey gesungen, ein junger, spielfreudiger Bariton aus dem Opernstudio der Opéra de Paris, über den wir in den letzten Jahren schon oft im Merker geschwärmt haben. Doch jetzt fehlte uns schon in der zehnten Reihe sein sonst so warmes Timbre. Und das lag nicht an ihm (er klang keineswegs indisponiert), sondern am Bühnenbild und auch am Dirigenten, der seine einzige Arie schnell und lieblos dirigierte.

Evelino Pido braucht man nicht mehr vorzustellen: ein anerkannter Belcanto-Spezialist, dem wir viele schöne Abende verdanken. Er dirigierte die Ouvertüre mit Intelligenz, Interpretation und großem Können. Mit vielen kleinen rubati und Temposchwankungen sorgte er dafür, dass sie nie langweilig wurde. Doch gleich im ersten Akt sattelte er auf eine Art Einheits-Tempo um und nahm Malatestas „Bella siccome un angelo“ ungewöhnlich schnell. Er übersprang dabei sogar die in der Partitur angegebenen Orgelpunkte und Pausen. Außer Michele Pertusi hielt er den ganzen Abend Sänger, Chor und Orchester an einer sehr kurzen Leine, was ab einem gewissen Punkt klangfarbenarm, seelenlos und unmusikalisch wirkte. Schade, denn so wurde diese Produktion szenisch und musikalisch völlig austauschbar. Sie wird nächste Spielzeit weiterreisen nach London und Palermo. Vielleicht werden ihr dort andere Künstler Leben einhauchen können. Wir sind gespannt!

Waldemar Kamer

 

Bis zum 12. Juli im Palais Garnier, www.operadeparis.fr 

Copyright der Bilder: Vincent Pontet

 

 

TROMPE LA MORT

von Luca Francesconi

am 5. April 2017

Gelungene Uraufführung einer neuen Literatur-Oper über Balzac – immer noch aktuell…

Napoleon hatte sehr genaue Vorstellungen davon, was man an der Pariser Oper zu spielen hatte und was nicht, was eine gute Oper erzählt und wie sie sich anhört. Er befahl, dass es mindestens acht neue Opern pro Spielzeit geben müsse und schaffte es so, die besten Opern-Komponisten seiner Zeit (Spontini, Cherubini, Paer, Mayr etc.) an die Pariser Oper zu binden. Dort konnten sie nicht schreiben was sie wollten, denn Napoleon las im Vorfeld jedes Libretto. Und er scheute sich nicht, auch in winzige musikalische Details einzugreifen – weshalb Cherubini böse das Handtuch warf. Napoleon wollte „erbauende Sujets“, „moralische Musik“ und hatte ein Faible für römische Feldherren, keusche Vestalinnen (die weltweit erfolgreichste Oper seiner Zeit) und seinen Lieblingsschriftsteller Ossian. (Privat liebte er auch die Opera buffa, vor allem die von Paisiello, und den Theaterautor Corneille – doch das ist wieder eine andere Geschichte). So wurde „Literatur“ das Hauptthema der Uraufführungen an der Kaiserlichen Oper in Paris und andere Sujets wurden strikt verboten: z.B. „gute, liebe Könige“ (die hatte man doch gerade geköpft) und die Bibel, denn die gehörte – so Napoleon – nur in die Kirche und nicht auf die Bühne.

Auch wenn das niemand schreibt – wer interessiert sich noch für die Pariser Oper um 1804 bis 1814 ? – ich bin persönlich davon überzeugt, dass die Napoleonische Tradition bis heute an der Opéra de Paris fortwirkt. Man braucht sich nur die Liste der Uraufführungen der letzten zwanzig Jahre anzusehen: alles nur Literaturopern (mit einer einzigen Ausnahme: „Adriana Mater“ von Kaija Saariaho). Seit der „Salambô“ von Philippe Fénélon (1998), nach dem Roman von Gustave Flaubert, hat sich der Blick geweitet auf die Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts: „Perelà, uomo di fumo“ von Pascal Dusapin (2003), nach einem Roman von Aldo Palazzeschi, und „Melancholia“ des Österreichers Georg Friedrich Haas (2008), nach einem Roman von John Fosse. Sonst sind es Opern über Schriftsteller: „K…“ (nach Kafka) von Philippe Manoury (2001), „L’Espace dernier“ (über Rimbaud) von Matthias Pintscher (2004) und „Akhmatova“ von Bruno Mantovani (2011).

Bei seinem Amtsantritt kündigte der Intendant Stéphane Lissner an, dass er eine ganze Reihe von Uraufführungen in Auftrag geben würde, über… „große Werke der französischen Literatur“. Das erste ist diese neue Oper über Balzac. Luca Francesconi (geboren 1956), von dem wir zuletzt eine Oper in Brüssel gehört haben („Ballata“, 2001), hat sich anscheinend das Sujet ausgewählt. Er nahm als Leitfaden eine Figur, Vautrin, die in mehreren Romanen von Honoré (de) Balzac vorkommt, so wie in den „Illusions perdues“ und den „Splendeurs et misères des courtisanes“ (jeweils drei Romane), wobei er immer wieder den Namen wechselt. Das durch den Komponisten selbst geschriebene Libretto mit vier verschiedenen Handlungsebenen ist äußerst kompliziert, wenn man es nacherzählen will. Aber wir fanden es hoch interessant und sehr gelungen. Und auch ohne erst ins Programmheft zu schauen, haben wir der Handlung mühelos folgen können (zugegeben: wir haben mehr als fünfzig Romane der „Comédie humaine“ gelesen und kannten also alle Figuren). Die gesamte Produktion ist von einem sehr hohen Niveau, ohne Übertreibung „zehn Mal besser“ als die mittelmäßige „Carmen“, die vor wenigen Wochen in Premiere ging. Hier spielen die besseren Musiker des Orchester der Pariser Oper und singt der bessere Chor der Oper (Leitung Alessandro di Stefano).

Das lag vor allem an Susanna Mälkki, viele Jahre die Leiterin des Ensemble Intercontemporain in Paris, die 2011 an der Scala auch die Uraufführung von „Quartett“ (nach Heiner Müller) von Francesconi dirigiert hat. Es war ein Vergnügen Frau Mälkki beim Dirigieren zuzuschauen. Wir trauten unseren Ohren kaum: da wurde wirklich lupenrein gespielt und gesungen – so wie wir es schon lange nicht mehr an der Pariser Oper gehört haben. Diese musikalische Qualität machte jede noch so kleine Phrase – manchmal konnte der Komponist sich etwas verzetteln – immer interessant, immer lebendig, immer auf die Geschichte bezogen. Die Besetzung war hochkarätig und die Inszenierung auch (hier ist einmal nirgends gespart worden). Guy Cassiers ist ursprünglich ein flämischer Theaterregisseur aus Antwerpen, wo wir sehr interessante Aufführungen von ihm gesehen haben. Meistens waren es selbst geschriebene Stücke, so wie ein zwanzig Stunden dauernder „Proust“ nach dem Jahrhundertroman „A la recherche du temps perdu“ (mehr als 6.000 Seiten). In der Oper hat Cassiers, abgesehen von einem kleinen „Xerse“ von Cavalli 2015 in Lille, nur eine Arbeit gemacht: den umstrittenen „Ring“ mit Barenboim an der Scala (2010-13) – vielleicht nicht das einfachste Werk um als Opernregisseur zu debütieren… Doch in „Trompe la mort“ ist er perfekt: er besitzt die nötigen literarischen Kenntnisse, um der nicht einfachen Vorgehensweise des Komponisten folgen zu können und diese dann szenisch umzusetzen. Er wird darin kongenial unterstützt durch das Bühnenbild von Tim Van Steenbergen und dessen wunderschöne und fantastisch gut genähten Kostüme (ein extra Lob für die Werkstätten des Palais Garnier unter der Leitung von Christine Neumeister).

In der – übrigens zu 100% ausverkauften – sechsten Vorstellung wirkte es so, als ob Francesconi jedem Sänger die Rolle in die Kehle geschrieben hätte: niemand zeigte die geringste Mühe – eine große Ensembleleistung. Laurent Naouri – den man wohl nicht mehr vorzustellen braucht – sang die Hauptrolle: den Ganoven Vautrin, eigentlich Jacques Collin, der sich als spanischer Priester Carlos Herrera verkleidet hat und den man im Gefängnis „Trompe la mort“ genannt hat – weil er immer wieder dem Tod entweicht.

Cyrille Dubois war der junge Poet Lucien de Rubempré, die schöne Marionette, mit der Vautrin die reichen Damen des Pariser Faubourg Saint-Germain zu Fall bringen will. Zurecht verlieben sich alle in ihn, denn der Dubois sang wunderschön (viel besser als in den letzten Rezensionen, die wir über ihn geschrieben haben). Seine große Liebe ist die Kurtisane Esther, genannt „la Torpille“, in die sich alle reichen Männer verlieben. Julie Fuchs – die man in Wien auch nicht mehr vorzustellen braucht – sang berührend schön. Auch die höchsten Töne wurden in einem mühelosen legato in die Melodie eingebunden.

Kein Wunder, dass Marc Labonnette als Baron de Nucingen ihr wörtlich zu Füssen lag und bereit war, um Ildiko Komlosi als Zuhälterin Asie Millionen zu zahlen, um mit Esther einmal im Theater erscheinen zu dürfen. Zum grenzenlosen Neid der Comtesse de Sérizy, Béatrice Uria-Monzon, und von Clothilde de Grandlieu (Chiara Skerath), die die schöne Esther nicht ausstehen können und sie zu Fall bringen mit Hilfe von den Spionen Laurent Alvaro (Contenson), François Piolino (Peyrade) und Rodolphe Briand (Corentin). Am Ende der Geschichte kommt Vautrin ins Gefängnis und tut, was in Frankreich heute noch üblich ist: er unterhandelt mit dem Staatsanwalt (Christian Helmer als famoser Marquis de Granville). Als Gegenleistung für sein Geständnis und das Verbrennen von kompromittierenden Papieren wird Vautrin zum Polizeichef von Paris ernannt. Bei dieser Ernennung ging ein Raunen durch den Saal. Denn man kann Vautrins Schlussmonolog „Les voilà donc, ces gens qui décident de nos destinées et celles des peuples“ mühelos in das Paris von Heute übersetzen, nämlich in die Schlammschlacht vor den nächsten Wahlen in wenigen Wochen.

Man verlässt das Palais Garnier mit dem Gefühl, dass sich seit zweihundert Jahren hier eigentlich nichts verändert hat. So aktuell kann Balzac sein, und so aktuell auch Oper. Wir sind gespannt auf die nächste Uraufführung an der Pariser Oper…in zwei Jahren!

Waldemar Kamer – Paris / 9.4.2017

Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner MerkerOnline

Alle Fotos (c) Curt van der Elst/Opéra de Paris

 

  

HERZOG BLAUBARTS BURG

LA VOIX HUMAINE

Barbara Hannigan als "Elle" in La Voix humaine (mit Claude Bardoil)

Barbara Hannigan als „Elle“ in La Voix humaine (mit Claude Bardoil)

 
2. Dezember 2015 im Palais Garnier

Ein origineller Doppelabend Bartok & Poulenc mit einer phänomenalen „Voix humaine“

 Ein Hausgesetz der Pariser Oper besagt, dass ein „Opernabend“ mindestens zwei Stunden dauern muss (einschließlich Pause). Da haben Einakter wie „Herzogs Blaubarts Burg“ einen schweren Stand. Denn „Cavalleria rusticana“ und „Pagliacci“ gibt man meist zusammen; bei Puccini kombiniert man traditionell die bekanntesten Einakter zu einem „Trittico“ oder spielt „Gianni Schicchi“ mit einem anderen kurzen Werk (in Paris zum Beispiel „L’Heure Espagnole“ von Ravel). Doch bei „Blaubart“, der einzigen Oper von Bela Bartok (1918), hat man es schwer. Gerard Mortier kombinierte 2007 in Paris „Blaubart“ mit dem „Tagebuch eines Verschollenen“ von Janacek, einer noch seltener gespielten Oper. Denn die kleine „Kammer-Oper“ von Janacek nach „23 Gedichten eines Unbekannten“, wurde 1921 für Sänger und Klavier komponiert. Mortier bat Gustav Kuhn aus Erl, das Werk „im Sinne Bartoks“ neu zu orchestrieren – was Kuhn auch gut gelang. Acht Jahre später kommt „Blaubart“ nun wieder auf den Spielplan, nur dieses Mal zusammen mit der „Voix humaine“ von Francis Poulenc. Die originelle Idee stammt vom Regisseur Krystof Warlikowski. Das Konzept geht auf.

John Relea in Barbe-Bleue

John Relea in Barbe-Bleue

Der Theaterregisseur Warlikowski und seine Ausstatterin Malgorzata Szcesniak sind in Frankreich für ihre Vorliebe für düstere Ambiente mit Badezimmern und Toiletten bekannt, die in wirklich jeder ihrer Inszenierungen zu sehen sind. In diesem Fall ist es jedoch passend, denn in des Grafen oder Herzogs Blaubarts Schloss oder Burg (das abstrakt-träumerische Libretto bleibt in solchen Fragen recht vage) ist es dunkel, kalt und düster. Blaubarts neue Frau Judith will Licht in diese alten Gemäuer bringen und öffnet sieben Türen, hinter denen sie die Vergangenheit ihres Mannes sucht. Sie findet eine Folterkammer, eine Waffenkammer, eine Schatzkammer, eine Wiese, wo Blumen auf Blut blühen und einen See aus weißen Tränen. In der siebten Kammer findet sie drei Frauen, mit denen Blaubart den Morgen, den Mittag und den Abend seines Lebens zugebracht hat. Hier wird sie eingeschlossen, um „die Nacht“ mit ihm zu verbringen. Warlikowski inszeniert dies alles mit den Stilmitteln, die wir vor ihm kennen. Auf einer Leinwand sehen wir Auszüge aus dem Film „La Belle et la Bête“ von Jean Cocteau (1946), frei nach den Märchen von Perrault, die auch Bartok inspiriert haben. Dann Bilder eines kleinen Jungen (die Unschuld), der (die) mit Blut befleckt wird – bis der Junge real auf der Bühne erscheint und mit einem weißen Kaninchen spielt. Graf Blaubart erscheint mit Smoking und Cape als Graf Dracula, der auch einige Zauberkünste beherrscht (er hat das Kaninchen am Anfang der Vorstellung aus seinem Hut gezaubert). Er wird von dem amerikanischen Bass John Relyea , der etwas an Samuel Ramey erinnert, eindrucksvoll gespielt und gesungen. Neben ihm verbleicht die Russin Ekaterina Gubanova, was aber nicht unbedingt an ihren Gesangskünsten liegt, sondern eher an dem vagen Rollenprofil der Judith. Gubanova bekam in dieser komplexen Partitur auch wenig Unterstützung aus dem Graben, wo das Orchester der Pariser Oper den genauen Anweisungen von Esa-Pekka Salonen nur bedingt folgen konnte/wollte. Stimmte die Chemie nicht mit dem Dirigenten oder dem Werk? In der darauf folgenden „Voix humaine“ spielten sie viel besser, sodass Bartok unerwarteter Weise einmal im Schatten von Poulenc stand.

 „La Voix humaine“ ist ein in Frankreich bekanntes und relativ häufig gespieltes Werk. Ursprünglich 1930 ein Theaterstück von Jean Cocteau für die Comédie Française, wurde es 1959 von Poulenc für die Opéra Comique vertont. Das Thema kreist um das „adultère bourgeois“, den Ehebruch in bürgerlichen Verhältnissen, womit man ungefähr alle Stücke von Feydeau und Guitry zusammenfassen könnte. Cocteau modernisierte das alte Sujet, indem er das Telefon als „Mordwaffe“ einsetzte: ein Mann ruft an, um sich (am Tag vor seiner Hochzeit?) definitiv von seiner langjährigen Lebensgefährtin zu trennen und bittet sie, seine Liebesbriefe dem Chauffeur zu übergeben, der sie am nächsten Tag abholen wird. Poulencs Verleger dachte bei diesem Einakter für eine Sängerin (und ein Telefon) an Maria Callas, doch Poulenc wollte nur für Denise Duval komponieren, seine „Lieblingssängerin“, die beinahe alle Hauptrollen seiner Opern uraufgeführt hat. So wie die heute noch lebende Korrepetitorin Jeannie Reiss es oft und gerne erzählt, beeinflusste Frau Duval maßgeblich einige Rollen, die Poulenc für sie komponiert hat. In diesem Fall hat sie bei den Proben vor versammelter Mannschaft gesagt: „Hör mal, Poupoule („lieber Gockel“), wer singt das, Du oder ich? Könntest Du das bitte so umschreiben, dass ICH das auch singen kann?“. In der Folge von Duval wird „La Voix humaine“ meist von etwas älteren Sängerinnen aufgeführt, wie zum Beispiel Gwyneth Jones oder Magda Olivero, oft zusammen mit mondänen Stücken wie „La dame de Monte-Carlo“ (auch von Cocteau/Poulenc). Stets wird eine elegante Dame von ihrem Liebhaber verlassen, der vermutlich eine Jüngere gefunden hat. So haben wir es mindestens ein Dutzend Mal gesehen.

Barbara Hannigan

Barbara Hannigan als „Elle“

Doch in diesem Fall hat sich Warlikowski auf das ursprüngliche Stück von Cocteau zurückbezogen, das – wenn man es genau liest – viel dramatischer ist als die Oper des vornehmen und fröhlichen Poulenc. Und allein schon dadurch, dass Warlikowski die Hauptrolle mit einer bildschönen, jungen Frau besetzt, bekommt die Geschichte eine vollkommen andere Dimension. Es ist nicht mehr eine ältere „Marschallin“, die ihren Liebhaber großzügig an eine Jüngere abgibt, sondern eine Liebende, die grausam von der „Liebe ihres Lebens“ verlassen wird. So weit wir wissen, hat bis jetzt nur Roberto Rosselini in seinem viel zu wenig bekannten Film „Amore“ mit Anna Magnani (1948) die dramatische Dimension der „Voix humaine“ inszeniert. Und so wurde es im Pariser Palais Garnier plötzlich totenstill als eine junge Frau mit einem Revolver auf der Bühne erschien. Sie weinte und die Schminke lief über ihr Gesicht. Sie ließ sich zuckend auf die Erde fallen und fing an, mit einem Unbekannten zu „telefonieren“. Barbara Hannigan war so eindrucksvoll, dass das Publikum ihr wirklich atemlos zuhörte, und dass man alles Andere vergaß. Es wurde plötzlich total unwichtig, ob sie nun ein Telefon in der Hand hielt oder nicht. Auf den Probenfotos kann man verfolgen, dass „Elle“ – die Frau der Voix Humaine – ursprünglich das gleiche Kostüm trug wie Blaubarts Judith, und dass sie mit einem Telefon herumlief. Doch irgendwann hatte Barbara Hannigan weder das weiße Kostüm nötig (es wurde durch einen Hosenanzug ersetzt, in dem sie sich besser bewegen konnte), noch das Telefon (auf das ganz verzichtet wurde). Und was sonst noch auf der Bühne geschah, interessierte niemanden mehr: ein blutverschmierter Tänzer kam (der Choreograph Claude Bardouil), doch er wurde genauso überflüssig wie der Schäferhund, der auch mal über die Bühne lief. Barbara Hannigan ist wirklich eine Ausnahmekünstlerin. Wegen ihres absoluten Gehörs wird sie in der modernen Musikszene hoch geschätzt und hat schon mehr als 80 Uraufführungen gesungen (zum Beispiel 2012 in “Written on Skin“ von George Benjamin, siehe Merker 7/2013 und 12/2013). Sie wurde mehrere Male zum „Künstler des Jahres“ gewählt (sie ist auch Dirigentin) und kann sich ihre Rollen aussuchen. So waren wir etwas erstaunt, diese Ausnahme-Sängerin, der wir eher bei Boulez, Dutilleux und Ligeti begegnen, nun bei Poulenc anzutreffen. Das hat wahrscheinlich mit dem von ihr hochgeschätzten Regisseur zu tun, für den sie vor Kurzem schon Lulu und Donna Anna in Brüssel gesungen hat. Und beide stellten nun ein Rollenprofil auf die Bühne, das wir für die „Voix humaine“ noch nie gesehen und gehört hatten. Nach den letzten Worten „Vas-y. Coupe! Coupe vite! Je t’aime, je t’aime, je t’aime“ folgten einige Sekunden betroffenes Schweigens – und dann erst ein Riesenapplaus. Diese Aufführung wird in die Rezeptionsgeschichte der „Voix humaine“ eingehen und hoffentlich dafür sorgen, dass sie von nun an öfters außerhalb Frankreichs gespielt wird. Wir sind schon gespannt, mit welcher anderen Oper sie dann kombiniert wird…

Waldemar Kamer 3.12.2015 

Fotos (C) Bernd Uhlig-Opera de Paris

Besonderer Dank an MERKER-Online-Paris

 

 

LE CID

von Massenet

18.5.2015

Zum ersten Mal seit 1919 – warum so selten gespielt?

Es gibt gewisse Opern, um die Intendanten gerne einen großen Bogen schlagen. Dazu gehört „Le Cid“ von Massenet. Das breitere Opernpublikum kennt seit Maria Callas die inzwischen sehr beliebte Arie „Pleurez mes yeux“ und immer mehr Tenöre singen in ihren Konzerten „O souverain, ô juge , ô père“, doch anscheinend hat nur noch Placido Domingo die Oper ganz gesungen (und mit Grace Bumbry 1976 zum ersten und einzigen Mal auf Platte aufgenommen). Außer einem Konzert 1981 mit Domingo ist „Le Cid“ seit 1919 nicht mehr in Paris gespielt worden und auf die oft gestellte Frage, warum es beinahe ein Jahrhundert gedauert hat, antwortete die Pariser Oper: „wir fanden einfach nicht die geeigneten Sänger“. Es ist Roberto Alagna zu verdanken, dass „Le Cid“ nun wieder aufgeführt wird. Er hat die schwere Rolle 2011 in Marseille ausprobiert, in einer Inszenierung, die nun wieder aufgenommen wird. Nun aber mit dem großen Dirigenten Michel Plasson und einer völlig neuen Besetzung aller anderen Rollen. Alles wurde getan, damit Alagnas erstaunlich spätes Debüt im Palais Garnier so gut wie möglich verlaufen konnte.

Denn „Le Cid“ (1885) ist bei aller Schönheit in vieler Hinsicht ein schwieriges Werk. Es liegt zeitlich ganz nah an „Manon“ (1884) und „Werther“ (1892), den beiden bekanntesten und erfolgreichsten Opern von Massenet, doch ist von einer ganz anderen Art. Wir haben heute fast vergessen, dass Jules Massenet über 25 Opern (!) komponiert hat, in denen er alle „genres“ mehr oder weniger erfolgreich ausprobierte. Neben den Werken für sein Stammhaus, die Opera Comique, träumte Massenet von „großen Opern“ für die „grande boutique“, wo sein „Roi de Lahore“ 1877 einen Triumph feierte und seine „Herodiade“ 1881 abgelehnt wurde. Die Ablehnung hatte anscheinend mehr mit dem Thema als mit der Musik der Oper zu tun, und so wählte Massenet für sein nächstes Projekt ein Sujet, das um 1880 ganz Paris begeisterte: Spanien. Das Land hinter den Pyrenäen mit Blick auf Afrika wurde damals mit dem „wilden Orient“ identifiziert und die Pariser Orientalisten reisten nach Granada, um dort in der Alhambra ihren Fantasien freien Lauf zu lassen mit sinnlichen Haremsdamen und blutüberströmten Henkern, Löwen und Leoparden - die irgendwann alle durch keusche katholische Ritter zivilisiert wurden. Dieses Spanien-Fieber erfasste auch die Komponisten, denn es gab damals mindestens vier Cid-Projekte, die ungefähr zur gleichen Zeit bei der Pariser Oper eingereicht wurden. Bizet schrieb einen (unvollendeten) „Don Rodrigue“, der bis heute anscheinend noch nirgendwo gespielt wurde, und Debussy eine Oper, „Rodrigue et Chimène“, die erst 1993 in Lyon aufgeführt wurde (und danach anscheinend nie mehr). Während der Komposition von Massenets „Cid“ wurden auch die „Symphonie Espagnole“ von Eduard Lalo und Chabriers „Espana“ uraufgeführt – ein höchst interessanter Kontext, der leider in dem Programmheft der Oper nicht einmal erwähnt wird. (Das könnte doch ein inspirierendes Thema für ein Musikfestival sein!) Da Massenet so akribisch auf seinen Manuskripten notierte, wann und wo er was geschrieben hat, wie das Wetter war, wie einsam und traurig er sich fühlte (weil seine Frau auf Kur war, weil er 43 wurde etc), wissen wir ganz genau, woher die „spanischen Motive“ im „Cid“ kommen: aus einer Hafenkneipe in Marseille, gleich neben dem Hotel Beauveau, und von einer billigen „Posada“ in Barcelona, in der die ganze Nacht getanzt wurde. Massenet spielte der damaligen Prima Ballerina der Pariser Oper, Mlle Rosita Mauri, die Themen vor, und so entstanden die sieben Ballette des zweiten Aktes: „1. Castillane, 2. Andalouse, 3. Aragonaise, 4. Aubade, 5. Catalane, 6. Madrilène, 7. Navarraise“. Die Ballette waren für das damalige Opernpublikum der prägendste Augenblick des Abends und wurden deswegen besonders sorgfältig komponiert und orchestriert. Doch leider werden sie heute beinahe überall gestrichen - eigentlich ein Skandal in Häusern in denen diese Werke uraufgeführt wurden und wo es eigene Ballett-Kompanien gibt. So wurden die Ballette auch in dieser Produktion in Marseille gestrichen. Doch der Dirigent setzte anscheinend durch, dass einige Striche geöffnet wurden und dirigierte die Ballette nun vor geschlossenem Vorhang.

 

Doch bis es zu den schönen Balletten kam, musste man sich wohl erst zwei Akte große historische Troubadour-Oper anhören, mit Chören, Märschen und Szenen, wo Ritter in glänzenden Rüstungen vor Königen knien und sich vor dem versammelten Hofstaat zehn Minuten in Ekstase allein mit ihrem Schwert unterhalten. Schon die stattliche Ouvertüre – sehr untypisch für Massenet – annonciert einige Durststrecken in den ersten beiden Akten. Doch in den letzten „ tableaux “ wird aus dem fanatischen Soldaten Rodrigue, der bereit ist für sein Vaterland zu sterben und der wegen der Familienehre den Vater seiner Verlobten im Duell erstochen hat, ein Zweifler. Aus „ le cid “ (in Arabisch „der Sieger“) wird ein Melancholiker – und Massenet benutzte viele Themen aus seinem „Werther“, den er schon 1877 komponiert hatte, und der erst 1892 in Wien uraufgeführt werden würde. Auch Chimène hat sich am Anfang des dritten Aktes gewandelt, und ihre berühmte Arie „ Pleurez ! pleurez mes yeux “ erinnert nicht nur thematisch an Charlottes Tränenarie im „Werther“. Das sind die stärksten Momente des Werks. Hier entfaltet sich das Genie von Massenet, den sein erster Biograph, Luis Schneider, schon 1908 „ le musicien de la femme et de l’amour “ nannte. Für Frauen und Liebe „in allen Formen“ („mystisch oder sinnlich, idealistisch oder romantisch“) hatte Massenet, so wie er es selbst bekannte, „ein besonderes Gespür“. Für Männer, Krieger und Soldaten deutlich weniger und was er dem Titelhelden alles in die Kehle schrieb, kann den größten Tenor überfordern. Roberto Alagna sagte dazu in einem Interview: „Massenet scheint es einem beinahe extra schwer machen zu wollen: der Tenor kommt auf die Bühne, sagt drei Worte und legt dann los mit „ O noble lame “, eine Arie die sehr hoch liegt, als ob sie für Otello [von Verdi] geschrieben wurde. Dazu gleich schon auf der vierten Note ein hohes B, das man vor vollen Orchester und 120 Choristen [in Paris nur 60] singen soll – ohne vorheriges Einsingen!“. Und während Chimène sich (wie Isolde) auch mal ausruhen darf, steht Rodrigue fast den ganzen Abend auf der Bühne (wie Tristan). Kein Wunder, dass seit Enrico Caruso und Georges Thill kaum ein Tenor sich an diese Rolle gewagt hat. Placido Domingo war wunderbar, aber er hat wohl – es sei ihm verziehen – viele Arien runtertransponiert, während Alagna sie nun alle ohne Striche gesungen hat, im Originalton und jedes Mal mit dem richtigen Stil. Sogar in der heldischen Arie „ O noble âme étincellante “ – über zehn Minuten lang! - floh Roberto Alagna nicht in veristischer Kraftmeierei, sondern entwickelte Nuancierungen und Differenzierungen, mit auch mal einem piano und einer mezza voce . Natürlich ist seine Stimme in nun schon dreißig Jahren Karriere dramatischer, um nicht zu sagen „metallischer“ geworden. Doch dieses helle Metall in der Höhe entspricht genau dem Typus des „französischen Heldentenors“. Und sieben „Bilder“ später sang Alagna mehr als eine Oktave tiefer ein sehr berührendes „

Ah tout est fini... Ô souverain, ô juge, ô père“. Das war der absolute Höhepunkt des Abends: wirklich große Gesangskunst! Wir kennen zurzeit keinen anderen Tenor, der ihm das nachmacht.

 

Sonia Ganassi hatte es als Chimène vergleichsweise leichter, weil Massenet sich in beinahe jede seiner Titelheldinnen verliebte und wunderbare Melodien für seine Traumfrauen komponierte. Doch die Rolle der Chimène besteht nicht nur aus der großen Arie „Pleurez mes yeux“ und sie hat, wie Rodrigue, einen viel zu großen Ambitus: für einen Sopran liegt sie zu tief, für einen Mezzo zu hoch. Auch Maria Callas hat nur Arien von Chimène gesungen, nie die ganze Rolle. Für diese Produktion hatte man Anna Caterina Antonacci verpflichten können, theoretisch eine Idealbesetzung. Doch ein Jahr vor Probenanfang gab die Sängerin die Rolle zurück mit der Begründung sie sei „zu schwer“. So übernahm Sonia Ganassi, und sie tat das so gut wie möglich. Doch nach der Première gab auch sie (in professionellen Kreisen) bekannt, dass sie Chimène nicht mehr singen will. Wir können nur große Bewunderung aussprechen, denn man hat ihr diese Mühe auf der Bühne nicht angesehen und - abgesehen von einigen schrillen Spitzentönen – auch nur begrenzt angehört. Annick Massis glänzte als Infantin in ihrer Arie „Plus de tourments et plus de peine“ (die man 2011 in Marseille gestrichen hatte). Bei dieser Gelegenheit sieht man wieder, wie wichtig der Dirigent für eine gute Sängerleistung ist. Denn im Dezember haben wir sehr kritisch über Annick Massis berichtet. In Rossinis „Moïse et Pharaon“ (in Marseille, Merker XII/2014) stolperte sie über jeden Stein - und jetzt strahlte sie in der Höhe wie vor zwanzig Jahren. Dank sei dem guten Dirigat brachten auch die anderen Sänger Höchstleistungen: Paul Gay als Don Diègue, Nicolas Cavallier als König und Laurent Alvaro als Comte de Gormas - alles Bässe, was auch erklärt warum Rodrigue in fast jedem Ensemble mitsingen musste.

Michel Plasson dirigierte souverän den Chor und das Orchester der Oper. Im letzten Merker schrieben wir, dass Plasson wahrscheinlich für diese Musik „der größte lebende Dirigent ist“. Das hat sich bestätigt, auch wenn sein Dirigat uns nicht wirklich umgehauen hat (gerade in der Ouvertüre und den ersten beiden „heldischen“ Akten). Doch was kann man bei so einer „grand-opéra“ auch an Nuancen anbringen? Die letzten beiden Akte waren wirklich wunderbar. Ähnliches kann man über die Inszenierung von Charles Roubaud sagen. Sie zeigte ein solides Handwerk, dem wir leider immer seltener begegnen. Roubaud verlegte die Handlung in das Spanien von Franco, ohne dass er die Geschichte mit unnötiger Politik überfrachtete. (Was hätte man in deutschen Landen heute nicht alles inszeniert bei einem „Krieg zwischen Christen und Arabern“!?). Er wusste souverän mit den vielen Ensembles und Chorszenen umzugehen und war vor allem sehr „sängerfreundlich“. Das stilvolle Bühnenbild von Emmanuelle Favre, ganz exzellent beleuchtet von Vinicio Cheli, war aus Holz und projizierte die Stimmen nach vorne, über das große Orchester. Die Sänger fühlten sich sichtlich wohl in den historischen Kostümen von Katia Duflot, die manchen kleinen Bauch oder großen Busen gut kaschierten. Alles in allem ein gelungener Abend und ein Triumph für den inzwischen geschassten Intendanten Nicolas Joël, der es wagte das Werk nach einem Jahrhundert wieder auf den Spielplan zu setzen. Denn entgegen aller Prognosen war „Le Cid“ die einzige Produktion der Pariser Oper, die schon Monate im Voraus restlos ausverkauft war. So wie es Rodrigue auf der Bühne sagt: „wer wagt, gewinnt“!

Bilder (c) OdP

Waldemar Kamer, Paris / 19.5.2015

Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online

 

PS

Man kann sich die Arien des Cid – durch Alagna 2011 in Marseille gesungen – dank sei einer Fernsehübertragung auch auf dem Internet ansehen & anhören.

 

 

 

 

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