DER OPERNFREUND - 51.Jahrgang
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www.opera-lyon.com/

 

 

Alexander von Zemlinsky

DER KREIDEKREIS

am  20.1.2018

TRAILER

 

Mit der Märchenoper „La Cenerentola“ von Gioacchino Rossini, die den Aufstieg Angelinas vom Aschenputtel zur Prinzessin schildert, ließ die Opéra de Lyon das Jahr 2017 ausklingen. Und die erste Opernproduktion des Jahres 2018, die französische Erstaufführung von Zemlinskys „Der Kreidekreis“, hat sogar den Aufstieg von einer Prostituierten zur Kaiserin zum Inhalt. Dies ist gewiss kein Zufall, sondern passt genau in die Operndramaturgie des Intendanten Serge Dorny. Der Kampf Gut gegen Böse, Arm gegen Reich, der Kampf der Ohnmächtigen gegen die Mächtigen dieser Welt: Themen, die uns bis heute beschäftigen.

1925 wurde in Meißen das Drama „Der Kreidekreis“ von Alfred Henschke (1890-1928), besser bekannt unter seinem Pseudonym Klabund, uraufgeführt. Der Autor hatte sich dabei an der chinesischen Dichtung orientiert. Die Berliner Aufführung im selben Jahr (mit Elisabeth Bergner in der Hauptrolle) machte das Stück zum großen Erfolg, so dass Adaptionen folgten: Alexander von Zemlinsky komponierte auf der Grundlage des Dramas die Oper „Der Kreidekreis“ und Bertolt Brecht verfasste das Theaterstück „Der kaukasische Kreidekreis“ (1948).

Das Märchen vom Aufstieg des hübschen Mädchens Tschang-Haitang basiert auf einem chinesischen Singspiel aus dem 14. Jahrhundert. Der Vater des Mädchens ist nicht mehr in der Lage seine Steuern zahlen zu können und hängt sich auf. Tschang-Haitang wird von ihrer Mutter als Prostituierte an den Besitzer eines Teehauses verkauft. Prinz Pao verliebt sich dort in sie, Tschang-Haitang wird jedoch vom reichen Steuerpächter Ma (der ihren Vater in den Selbstmord getrieben hat) gekauft. Fortan lebt sie als Zweitfrau im Hause Mas. Yü-Pei, die unfruchtbare Erstfrau, fürchtet enterbt zu werden, nachdem Tschang-Haitang einen Sohn zur Welt gebracht hat, und vergiftet ihren Ehemann. Sie schiebt die Schuld auf Tschang-Haitang und behauptet, sie selbst wäre die leibliche Mutter des Kindes. Yü-Pei besticht ihre Hebamme, fremde Zeugen, den Anwalt und den Richter, um als rechtmäßige Erbin und Mutter des Knaben anerkannt zu werden. Tschang-Haitang wird zum Tod verurteilt. Aber noch vor Vollstreckung des Urteils stirbt der Kaiser von China.

Zum neuen Kaiser wird Prinz Pao gewählt. Er lässt alle Todesurteile aufheben und will diese selbst überprüfen. Der Fall wird dem Kaiser vorgetragen. Kaiser Pao lässt einen Kreidekreis auf den Boden zeichnen, das Kind in den Kreis stellen und befiehlt den beiden Frauen, jede müsse versuchen das Kind aus dem Kreis zu ziehen; der echten Mutter müsste das gelingen. Die beiden Frauen ziehen jeweils an einem Arm, doch schon bald lässt Tschang-Haitang ihr Kind los. Das Experiment wird wiederholt. Aber auch beim zweiten Mal lässt Tschang-Haitang den Arm ihres Sohnes los. Damit ist für den Kaiser der Beweis erbracht, dass Tschang-Haitang die echte Mutter ist. Denn eine wahre Mutter würde ihr Kind lieber einer fremden Frau überlassen als ihm im Kampf einen Arm auszureißen. Der Kaiser gesteht dann Tschang-Haitang, dass er in der ersten Nacht, die sie im Hause Mas verbracht hat, heimlich in ihr Zimmer geschlichen ist und sie im Schlaf missbraucht hat. Tschang-Haitangs Sohn ist somit das Kind des Kaisers und sie selbst steigt nun auf zur Kaiserin.

Nach dem Tod seiner Frau Ida 1929 ehelichte Zemlinsky 1930 seine Geliebte Louise Sachsel. Als Hochzeitsgeschenk komponierte Zemlinsky 1930-31 eine neue Oper: „Der Kreidekreis“. Zemlinsky lebte zu diesem Zeitpunkt in Berlin, wo er ab 1927 an der Kroll-Oper tätig war. Infolge der Weltwirtschaftskrise musste die Kroll-Oper jedoch 1931 ihre Pforten schließen. Zemlinsky, der 1931 die Berliner Erstaufführung von Kurt Weills „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ dirigierte, versuchte in seiner siebenten und zugleich letzten vollendeten Oper („König Kandaules“ hinterließ Zemlinsky ja unvollendet) die Musiksprache Weills in seinen eigenen Kompositionsstil einfließen zu lassen.

Zemlinskys Oper enthält eine faszinierende Mischung aus Dramatik und Lyrik. Der Komponist verschachtelt Spätromantik mit trivialer Musik und Cabaret-Szenen à la Weill, mischt Mahler und Strauss mit fernöstlichen Klängen, weiß die Balance aber durch hochsensible Durchdifferenzierung der eingesetzten vokalen und orchestralen Mittel zu erreichen. So pendelt die Partitur situationsgemäß von kammermusikalisch feinen Lyrismen zu hochdramatischen Ausbrüchen und von musikalisch subtil gestützten Sprechpartien zu orgiastischen Aufschwüngen. Zemlinsky hat das Libretto selbst eingerichtet. Er hat die Dichtung Klabunds unberührt gelassen und nur an unwesentlichen Stellen gekürzt. Die formale Anlage des Werkes ist sehr eigenartig. Es gibt gesungene Teile (sogar arienartige Passagen), gesprochene Passagen und dazwischen viele Melodramen. Die meisten Stücke der Oper stehen in d-moll, das sich zum Schluss in D-Dur verklärt (was den Übergang von Dunkelheit zu Licht symbolisieren soll), und in es-moll.

Ursprünglich sollte die Oper im Frühjahr 1933 in Frankfurt, Berlin, Köln und Nürnberg gleichzeitig stattfinden (so begehrt waren damals Opernuraufführungen!). Die Machtergreifung der Nationalsozialisten machte jedoch diesen Plan zunichte. So fand die Uraufführung am 14. Oktober 1933 in Zürich in Anwesenheit des Komponisten statt. Seltsamerweise konnte in einer Phase der Konsolidierung des Nazi-Regimes „Der Kreidekreis“ des Juden Zemlinsky dennoch im Jänner 1934 in mehreren deutschen Städten (Stettin, Coburg, Berlin und Nürnberg) aufgeführt werden. In Berlin kam die Oper sogar 21 Mal zur Aufführung, ein Erfolg, den Zemlinsky seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr erlebt hatte. Die Österreichische Erstaufführung folgte bereits im Februar 1934 in Graz. Aber der Erfolg sollte nicht lange anhalten. Zemlinskys Musik wurde bald als „entartet“ bezeichnet und verschwand von den Spielplänen des Deutschen Reiches.

Eine ausgezeichnete Besetzung führte die Aufführung in Lyon zu einem großen Publikumserfolg. Der als indisponiert entschuldigte Lauri Vasar war der aufbegehrende, revolutionäre Bruder Tschang-Ling. Martin Winkler, eben noch im Theater an der Wien als Alberich in der Ring-Trilogie im Einsatz, war mit seinem markanten Sprechgesang ideal als brutaler Ma, der durch die Liebe Tschang-Haitangs zum inneren Seelenfrieden findet. Nicola Beller-Carbone war mit etwas scharfer Sopranstimme prädestiniert als böse, streitsüchtige, intrigante Hauptfrau Yü-Pei. Ilse Eerens, die 2014 in der Uraufführung von HK Grubers „Geschichten aus dem Wienerwald“ die Marianne kreiert hat, war überragend als Tschang-Haitang. Der Wandel vom unschuldigen Mädchen zur Hure, zur demütigen Ehefrau und liebenden Mutter, zur leidenden und sich nach etwas Liebe sehnenden Frau gelingt ihr großartig. Dazu besticht sie mit ihrer schönen, klaren Sopranstimme und innigem Ausdruck, einfach großartig. Stephan Rügamer war der spielerisch-elegante, gefühlsreiche Prinz, der sich dann als Kaiser ins Abgeklärt-Heroische wandelt. Stefan Kurt war köstlich als korrupter Richter, der die Seiten über Beamtenbestechung aus dem Strafgesetzbuch reißt, damit er keinen Meineid gegen das Gesetz schwören muss. Zachary Altman als Tschao war leider nicht ideal besetzt, da war sein amerikanischer Akzent in der Aussprache doch zu störend. Köstlich hingegen Paul Kaufmann als Eunuch und Besitzer des Teehauses Tong. Doris Lamprecht als verarmte Frau Tschang, die nach dem Tod ihres Mannes aus der Not heraus ihre Tochter verkauft, und Hedwig Fassbender als Hebamme, die sich bestechen lässt und vor Gericht falsch aussagt, hatten starke Auftritte. Josefine Göhmann als Mädchen, Luke Sinclair und Alexandre Pradier als Kulis sowie Matthew Buswell (aller vier aus dem Opernstudio der Opéra de Lyon) als Soldat ergänzten das insgesamt ausgezeichnete Ensemble. Lothar Koenigs sorgte am Pult des Orchesters der Opéra de Lyon für viel Schönklang. Der Dirigent gibt den Sängern viel Raum zur Entfaltung, deckt die Sänger jedoch nie zu und sorgt vor allem für exzellente Sprachverständlichkeit, was bei diesem Werk unumgänglich ist.

Regisseur Richard Brunel hat die Handlung in die Gegenwart verlegt. Die Saxophonklänge zu Beginn verbreiten eine jazzige Stimmung in einem Bordell, das, als Karaoke-Bar getarnt, so oder so ähnlich wohl überall auf der Welt zu finden sein wird. Gleiches gilt übrigens auch für die Designer-Villa des Steuerpächters Ma, die könnte in China, Russland oder Amerika stehen. (Das Bühnenbild stammt von Anouk Dell’Aiera, die Kostüme von Benjamin Moreau.) Der helle, kühle Hinrichtungstrakt weist vor allem auf Amerika hin. Menschliche Katastrophen ereignen sich hier wie dort. Es ist letztlich auch völlig egal, wo es sich abspielt. Es geht immer um das arme Individuum, das sich gegen menschliche Niedertracht durchsetzen muss und nur in den seltensten Fällen auch siegt. Aber dazu haben wir (oder besser gesagt: brauchen wir) Märchen wie dieses. Sehr im Kontrast zu diesen eher kühlen Bühnenbildern steht dann die Waldlandschaft, wenn Tschang-Haitang im Schneesturm nach Peking getrieben wird, und ihr kleiner Sohn daneben auf einem Schimmel reitend sie begleitet. In diesem Bühnenbild könnten sich getrost auch Lenski und Onegin duellieren.

Heutige Regisseure glauben nicht mehr an Märchen oder an ein Happy-End. und schon gar nicht an den Triumph des Guten. Bei Herheim ist Angelina am Ende wieder die Putzfrau der Oper, die alles nur geträumt hat. Und bei Brunel sehen wir, wie Tschang-Haitang nach dem Verabreichen einer Giftspritze mit ein paar Zuckungen ihr Leben aushaucht. Das Happy-End mit Pao war nur eine Traumphantasie. Wieder einmal hat die menschliche Niedertracht gesiegt (obwohl uns Zemlinskys jubelnde Musik etwas ganz anderes erzählt).

Am Ende gab es lange anhaltenden Jubel für alle Mitwirkenden, vor allem aber für die berührende und auch stimmlich überwältigende Ilse Eerens. Es ist völlig unverständlich, warum die Opernwerke Zemlinskys bis heute keine fixen Plätze im Repertoire der Opernhäuser im deutschsprachigen Raum gefunden haben. In Wien war der „Kreidekreis“ überhaupt noch nie zu sehen. Dabei war Zemlinsky Musikdirektor an der Wiener Volksoper und in der Direktion von Gustav Mahler auch Dirigent an der Hofoper. Wie wäre es, wenn sich die Volksoper zur Wiener Erstaufführung entschließen würde? Noch dazu, wo es doch mit der Sprechpartie des Richters Tschu-Tschu eine ideale Rolle für den amtierenden Direktor Robert Meyer gibt. 84 Jahre nach der Österreichischen Erstaufführung wäre es endlich an der Zeit

Bilder (c) Jean-Louis Fernandez

Walter Nowotny 26.1.2018

Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online (Wien)

 

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Benjamin Britten

WAR-REQUIEM

TRAILER

Vorstellung am 13.10.2017

 

Der Intendant der Opéra de Lyon, Serge Dorny, konnte wohl selbst nicht ahnen, als er das Programm für die nun anlaufende neue Saison unter dem Motto „Kriege und Könige“ plante, dass die Welt nun dank einiger größenwahnsinniger Regierungschefs am Rande eines Atomkrieges stehen würde. An den Beginn der Spielzeit hat Dorny nämlich nicht eine herkömmliche Oper, sondern den Versuch einer szenischen Aufführung von Brittens War Requiem gestellt, einem Werk der Trauer und des Trostes, einem Werk über den Krieg und für den Frieden.

Benjamin Britten (1913-1976) war zeit seines Lebens ein Pazifist gewesen. Diese pazifistische Grundhaltung und seine Verzweiflung angesichts von Chamberlains Vermittlungsversuchen Hitler gegenüber trieben Britten dazu seinen Freunden W. H. Auden und Christopher Isherwood 1939 in die USA zu folgen. Sein Lebensgefährte, der Tenor Peter Pears, begleitete ihn auf dieser Reise. Im Frühjahr 1942 kehrte Britten nach England zurück und in zweiter Instanz wurde ihm die Kriegsdienstverweigerung schließlich sogar zugestanden. Thema seiner ersten Oper „Peter Grimes“, uraufgeführt 1945 in London, ist die Konfrontation der Unschuld mit der Bösartigkeit und der Verdorbenheit, die verletzte Unschuld, ein Thema, das Brittens gesamtes Lebenswerk durchzieht. Im War Requiem behandelt Britten das Thema nicht als Parabel oder in symbolischer Form, sondern ganz direkt und unmittelbar. Zwei frühere Projekte Brittens, die letztlich aus verschiedensten Gründen nicht ausgearbeitet werden konnten, hätten Vorstudien zum War Requiem sein können – ein Oratorium mit dem Titel „Mea culpa“ nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki 1945, und ein Werk im Gedenken an die Ermordung Gandhis im Jahr 1948. Somit war der Auftrag, für die Eröffnung der wiederaufgebauten Kathedrale von Coventry etwas zu komponieren, genau das, worauf Britten gewartet hatte.

Das War Requiem wurde am 30. Mai 1962 in der neugebauten Kathedrale von Coventry uraufgeführt, deren Vorgängerbau im Rahmen der deutschen Bombardierung der Stadt Coventry im Zweiten Weltkrieg in der Nacht vom 14. auf den 15. November 1940 weitgehend zerstört wurde. Die Besetzung des Werks sieht Sopran-, Tenor- und Bariton-Solisten, einen Knabenchor, einen gemischten Chor, Kammerorchester und Sinfonieorchester vor. Für die Uraufführung waren die russische Sopranistin Galina Wischnewskaja, der englische Tenor Peter Pears und der deutsche Bariton Dietrich Fischer-Dieskau als Solisten vorgesehen. Mit der Wahl dieser Solisten beabsichtigte Britten auch die Versöhnung zwischen den vorher im Krieg verfeindeten Völkern anzudeuten. Galina Wischnewskaja bekam von der sowjetischen Kulturministerin jedoch keine Ausreiseerlaubnis, so dass sie kurzfristig durch die Engländerin Heather Harper ersetzt werden musste. („Die Kombination von Kathedrale und Versöhnung mit Westdeutschland war den Sowjets wohl zu viel.“ schrieb Britten an E. M. Forster.) Bei der ersten Schallplatteneinspielung, die im Januar 1963 unter der Leitung des Komponisten entstand, durfte Galina Wischnewskaja dann allerdings mitwirken.

Das oratoriumsartig angelegte War Requiem verbindet den lateinischen Text der „Missa pro defunctis“ mit neun englischsprachigen Gedichten von Wilfred Owen (1893-1918), die dieser in den Jahren 1917 und 1918 während eines Lazarettaufenthalts und in den Schützengräben geschrieben hatte. Die Liturgie-Texte werden dabei vom Solo-Sopran, den Chören und dem Sinfonieorchester aufgeführt. Die englischen Gedichttexte werden von den beiden männlichen Solisten gesungen, begleitet von einem zwölfköpfigen Kammerorchester. Trotz der groß angelegten Besetzung und der Aufführungsdauer von ca. 90 Minuten ist das War Requiem kein bombastisches Stück, sondern in weiten Teilen ein Werk der stillen Trauer und des Andenkens der Kriegstoten. Benjamin Britten hat seiner Partitur, die er vier Freunden gewidmet hat, die im Zweiten Weltkrieg gefallen sind bzw. nach dem Krieg Selbstmord begingen, Worte von Wilfred Owen vorangesetzt:

Wilfred Owen, geboren 1893 in der Grafschaft Shropshire, entdeckte schon als Kind sein dichterisches Talent. Nach Abschluss mehrerer Studien war er bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges als Privatlehrer für Englisch an der Berlitz School in Bordeaux tätig. 1915 meldete er sich freiwillig zur Armee. Nach traumatischen Erlebnissen (u.a. lag er 1917 nach einer Schlacht drei Tage lang in einem Bombentrichter verschüttet) wurde er zur Behandlung des diagnostizierten Kriegstraumas in ein Lazarett nach Edinburgh geschickt. Ein Arzt ermunterte ihn seine Erlebnisse und besonders die daraus resultierenden Albträume dichterisch zu verarbeiten. Owen gilt als der herausragendste „War Poet“. Er schilderte schonungslos realistisch die Schrecken von Graben- und Gaskrieg. Im Juli 1918 kehrte er zum Kriegseinsatz nach Frankreich zurück. Er fiel – nur eine Woche vor Kriegsende – in der Zweiten Schlacht an der Sambre.

Bei dieser Produktion in Lyon handelt es sich nicht um den ersten Versuch einer szenischen Aufführung dieses Werks. 2013 hat Calixto Bieito eine szenische Aufführung am Theater Basel herausgebracht, die dann auch an der Oper von Oslo zu sehen war. Und bereist 2011 konnte man eine szenische Aufführung in Gelsenkirchen sehen.

In Lyon hat nun der 84-jährige Japaner Yoshi Oida, ein Schauspieler der Truppe von Peter Brook, der sich in den letzten Jahren auch als Regisseur einen Namen gemacht und der den Zweiten Weltkrieg ja noch als Kind miterlebt hat, das Werk in Szene gesetzt (Bühnenbild: Tom Schenk, Kostüme: Thibault Vancraenenbroeck).

Das große Orchester spielt im Orchestergraben, das Kammerorchester ist auf der linken Bühnenseite postiert, rechts sitzt eine Schulklasse der Gegenwart (der Knabenchor), die wohl gerade den Ersten Weltkrieg im Unterricht durchnimmt, denn auf die Schultafel sind die Jahreszahlen 1914 und 1918 gekritzelt. Hinter dem in der Mitte befindlichen Holzpodest, das dann größtenteils als Spielfläche genutzt wird, ist der große Chor postiert. Gelegentlich wird auf einen Gazevorhang Filmmaterial von Kämpfen des Ersten Weltkrieges projiziert.

Zu Beginn sind in weiße Tücher eingewickelte Leichen gefallener Soldaten aufgebahrt, der Chor (in einfachen Kleidern der Entstehungszeit des Werkes) steht mit Regenschirmen dahinter und betrauert die Toten. Die Sopransolistin ist, jeweils der Situation angepasst, die trauernde Ehefrau/Mutter/Tochter/Freundin, sie legt Blumen auf einen Sarg oder wäscht ein weißes Hemd blutig. Besonders berührend war die Szene, als sie Puppen, die wie verkohlte Kinderleichen aussahen, in die Fahnen der kriegsführenden Staaten eingewickelt hat. Die beiden männlichen Gesangssolisten spielen Soldaten zweier verfeindeter Nationen, die aber gelegentlich sogar gemeinsam Spaß haben können, sich eine Zigarette und eine Flasche Schnaps teilen. (Das erinnert ein wenig an den historisch verbürgten Weihnachtsfrieden von 1914, als sich in Frankreich auf engstem Raum in den Schützengräben französische, schottische und deutsche Kampfverbände gegenüber lagen.

Der in der deutschen Armee dienende Opernsänger Walter Kirchhoff hat am Heiligen Abend laut Weihnachtslieder gesungen, worauf es zu Beifallskundgebungen sämtlicher Kampfverbände kam. Die drei Kommandanten beschlossen für eine kurze Zeit die Kampfhandlungen einzustellen, um das Weihnachtsfest gemeinsam zu feiern. Es kam zu Verbrüderungsszenen zwischen den verfeindeten Soldaten, die am nächsten Tag dann wieder aufeinander feuerten.) Mit dem Gedicht „So Abram rose …“, das für mich das erschütterndste Poem von Wilfred Owen ist, haben die beiden männlichen Gesangssolisten die biblische Geschichte von Abraham und Isaac (mit letalem Ausgang) in Form eines Puppenspiels dargestellt. Yoshi Oida fand sehr berührende Bilder für seine Interpretation. Wenn Kinder um einen Sarg stehen und für den verstorbenen Vater beten berührt das mitunter mehr als wenn man literweise Blut fließen lässt.

Serge Dorny wollte auch für seine Aufführung die von Britten gewählte internationale Besetzung. So engagierte er eine russische Sopranistin, einen Tenor einer alliierten Nation (USA) und einen deutschen Bariton. Leider ging diese Rechnung nicht ganz auf, denn Jochen Schmeckenbecher sagte ab und der in Deutschland lebende estnische Bariton Lauri Vasar, der zuletzt bei den Salzburger Festspielen als Graf von Gloster in Aribert Reimanns „Lear“ sehr positiv aufgefallen war, sprang für ihn ein und beeindruckte mit seiner virilen Stimme. Ekaterina Scherbachenko sang sehr gefühlvoll, ein starkes Vibrato beeinträchtigte aber leider bei manchen forcierten Passagen den durchaus positiven Gesamteindruck. Die beste Gesangsleistung erbrachte jedoch Paul Groves, der einen lockeren GI darstellte und auch stimmlich beeindruckte; ein einziger hoher Ton, der zu Beginn nicht ganz gelingen wollte, schmälert nicht seine ausgezeichnete Leistung. Daniele Rustioni tritt mit dieser Premiere (als Nachfolger von Kazushi Ono) sein Amt als neuer musikalischer Chef der Oper von Lyon an. Der 34-jährige Italiener bewies damit, dass er nicht nur im italienischen Fach (zuletzt dirigierte er beim Rossini Opera Festival in Pesaro „La pietra del paragone“) zu Hause ist, sondern auch einem solchen komplexen Werk jederzeit gewachsen ist. Ausgezeichnete Leistungen erbrachten Chor und Orchester der Oper von Lyon und der hauseigene Kinderchor (Maîtrise de l’Opéra de Lyon).

In ihrer letzten gemeinsamen Szene treffen sich die beiden verfeindeten Soldaten im Jenseits. Dort sind sie in Frieden vereint, auch wenn sie sich auf Erden gegenseitig getötet haben. Am Schluss tritt der Chor mit Bildtafeln von getöteten Soldaten auf. Unter ihnen die Sopranistin. Und wenn ich nicht irre (aus der Entfernung konnte ich es nicht genau erkennen), dann hat sie ein Bild von Wilfred Owen hochgehalten, dessen sinnloser Tod ein dichterisches Talent frühzeitig verstummen ließ. Nach einem kurzen Moment der Stille, feierte das Publikum alle Mitwirkenden. Es wäre eigentlich viel schöner gewesen, hätte das Publikum still den Saal verlassen, aber das wäre natürlich den Mitwirkenden gegenüber nicht gerecht gewesen. Das War Requiem berührt mich jedes Mal aufs Neue, aber an diesem Abend mehr als sonst. Und wenn auch nur einer der vielen jungen Besucher durch diese Aufführung zu einem Pazifisten geworden ist, dann hat Britten auch 41 Jahre nach seinem Tod noch einmal gesiegt.

Seit 2005 fahre ich regelmäßig zu Aufführungen nach Lyon und zähle das dortige Opernhaus bereits seit Jahren zu den besten Opernhäusern Europas. Nun wird auch langsam die internationale Opernwelt auf dieses Haus aufmerksam. Im Mai wurde die Oper von Lyon von den „International Opera Awards“ zum besten Opernhaus des Jahres 2017 gekürt und erst kürzlich hat auch die deutsche Fachzeitschrift „Opernwelt“ die Oper von Lyon zum Opernhaus des Jahres ernannt. Serge Dorny, der seit 2003 die Geschicke dieses Hauses lenkt, kann sich zu Recht über diese Auszeichnungen freuen. Und diese gelungene Eröffnungspremiere wird hoffentlich nur der Beginn einer weiteren erfolgreichen Spielzeit sein.

Copyright (C) stofleth

Walter Nowotny 26.10.2017

Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online

 

 

Festival Mémoires

vom 16.-18.3.2017

L’INCORONAZIONE DI POPPEA

Théâtre National Populaire, Villeurbanne

Seit zehn Jahren bietet die Oper von Lyon alljährlich im Frühling ein kleines Festival an, das entweder einem Komponisten (Janácek und seine Frauenfiguren, Offenbach, Kurt Weill von Berlin bis New York, Puccini und seine Zeitgenossen, Tschaikowsky und Puschkin, Mozart und Da Ponte, Benjamin Britten in drei Phasen seines Schaffens), einem Genre (Operneinakter), einem Land und seiner Kultur (Japan) oder einem bestimmten Thema (Recht und Ungerechtigkeit, Verlorene Helden, Geheimnisvolle Gärten, Menschlichkeit) gewidmet ist. Als der Intendant der Oper von Lyon, Serge Dorny, vor einem Jahr das Programm des diesjährigen Festivals präsentiert hat, mag so mancher Kulturjournalist wohl nur müde gelächelt haben. Unter dem Titel „Mémoires“ wollte er drei Opernproduktionen, die seiner Meinung nach Operngeschichte geschrieben haben, von bereits verstorbenen Regisseuren neu einstudieren lassen und einem Publikum von heute neu zur Diskussion stellen. Drei legendäre Musiktheateraufführungen, deren Schöpfer in die Fußstapfen von Brecht und Felsenstein traten und doch neue Wege begingen. Wie wird das Publikum von heute durch den Spiegel der Zeit diese Meilensteine der Operngeschichte betrachten? Ein interessanter Ansatz, der zumindest beim Publikum vollen Anklang gefunden hat.

Mit ungewöhnlichen Problemen war man bei der Neueinstudierung der Produktion von Klaus Michael Grüber, die dieser 1999 für das Festival von Aix-en-Provence geschaffen hat, konfrontiert. Vom Bühnenbild ist nahezu nichts erhalten geblieben, der Bühnenbildner Gilles Aillaud starb im Jahr 2005. Es war schwierig die Originalunterlagen aufzufinden, die man benötigte, um den Farben und Formen des Originals möglichst nahe zu kommen. Aillauds Assistent Bernard Michel hat das Kunststück zustande gebracht, das Bühnenbild wieder in seiner vollen Schönheit zu rekonstruieren und Grübers langjährige Assistentin Ellen Hammer hat dessen Regie neu einstudiert. Diese Inszenierung zählt sicher nicht zu den bahnbrechenden Operninszenierungen, besticht jedoch durch ihre zeitlose und schlichte Schönheit. Eine mit Fresken bemalte Häuserfront, ein Zypressenwald, ein Garten mit Zitronenbäumen, mit nur wenigen Versatzstücken werden wir in das alte Rom entführt, und die schönen Bilder prägen sich dem Zuschauer ein. Dazu kommen noch die traumhaften Kostüme von Rudy Sabounghi und die stimmungsvolle Lichtregie von Dominique Borrini.

Jean-Paul Fouchécourt, der in der Originalproduktion noch die Arnalta gesungen hat, ist nunmehr Leiter des Studios der Opéra de Lyon und ihm oblag es, die Mitglieder des Opernstudios auf ihre große Aufgabe vorzubereiten. Diese Aufführung wurde ja ausschließlich von Sängern aus dem Opernstudio bestritten, und das Endergebnis war vielleicht besser als so manche Aufführung an einem renommierten Opernhaus. Aus der Vielzahl der begabten jungen Sänger möchte ich nur ein paar hervorheben, die besonders starken Eindruck hinterlassen haben. Allen voran Aline Kostrewa, die mit ihrem betörend schön timbrierten Mezzosopran einen wirklich herzzerreißenden Ottone gestaltet hat. Dieser Sängerin kann man getrost eine große Karriere voraussagen. Aber auch der junge Bassist Pawel Kolodziej konnte mit noch nicht allzu großer, aber gut fundierter Stimme und beeindruckenden Tiefen als Seneca gefallen, ebenso wie die finnische Mezzosopranistin Elli Vallinoja als Ottavia, die ihren Abschied von Rom tief empfunden gestaltete, und die deutsch-chilenische Sopranistin Josefine Göhmann in der Titelpartie. André Gass hatte als Arnalta natürlich die Lacher auf seiner Seite. Die einzige Enttäuschung bot die aus Litauen stammende Mezzosopranistin Laura Zigmantaite. Stimmlich war sie zwar tadellos, aber es gelang ihr nicht ihre Rolle mit Leben zu erfüllen. Man glaubte ihr einfach den liebestollen Nero nicht. Wahnsinnig ist er ja in der Oper von Monteverdi noch nicht, aber dennoch deutet am Ende, während des finalen Liebesduetts Nero-Poppea, die glühend rot ausgeleuchtete Häuserwand auf den künftigen Brand Roms hin.

Sébastien d‘Hérin leitete ein Originalklangensemble in kleiner Formation (12 Musiker), das sich Les Nouveaux Caractères nennt. Auch wenn an diesem Abend der warme Wind, der einem im Théâtre de l’Archevêché in Aix-en-Provence ins Gesicht bläst, gefehlt hat, so war es doch ein rundum beglückender Abend. Und das Publikum konnte sich noch einmal an einer der schönsten Opernproduktionen des 2008 verstorbenen Klaus Michael Grüber erfreuen.

 

ELEKTRA

Opéra de Lyon, 17.3.2017

Als die wiederaufgebaute Semperoper in Dresden 1985 wiedereröffnet wurde, hat man den Orchestergraben in der ursprünglichen Originalgröße eingebaut. (Die nachträgliche Vergrößerung des Orchestergrabens erfolgte erst 1996.) Die Konsequenz war, dass der Orchestergraben für Aufführungen von Opern mit großer Orchesterbesetzung nicht geeignet war. Als man dort 1986, an der Stätte ihrer Uraufführung, die „Elektra“ von Richard Strauss in einer Neuinszenierung herausbrachte, machte Ruth Berghaus die Not zur Tugend. Sie setzte die Musiker der Staatskapelle kurzerhand auf die Bühne und integrierte so das Orchester als horizontales Element in das Bühnengeschehen. Hans-Dieter Schaal stellte ihr dafür einen Sprungturm auf die Bühne, auf dem sich die Handlung dann größtenteils in der Vertikale abspielt, was den Sängern nicht nur eine stimmliche sondern zusätzlich noch eine sportliche Kondition abverlangt. In diesem einfachen Bühnenbild hat die 1996 verstorbene Ruth Berghaus mit einer spannenden Personenregie eine mustergültige Interpretation der Atriden-Tragödie geschaffen und damit Operngeschichte geschrieben.

Hartmut Haenchen, der 1986 die Premiere dieser Produktion an der Semperoper kurz vor seiner Übersiedlung in den Westen noch geleitet hatte, konnte nun für diese Neueinstudierung in Lyon gewonnen werden. Und so wogt und wuchtet der Orchesterklang gewaltig von der Bühne in den Zuschauerraum. Er lässt die Partitur in allen Facetten lebendig werden und gibt dem Sog, den diese Musik ausübt, freien Lauf. Mit dieser Aufführung hat sich Elena Pankratova nun endgültig in die erste Reihe der hochdramatischen Soprane hinaufgearbeitet. Als beinahe konkurrenzlose Färberin ist sie ja schon seit Jahren auf allen Bühnen der Welt zu sehen. Gleich nach ihrem Debüt an der Wiener Staatsoper als Turandot beeindruckte sie nun mit einer stimmlich phänomenalen Leistung in der Titelpartie. Während sich viele hochdramatische Soprane mit den eher lyrischen Passagen abplagen, ist Pankratovas kraftvoller Sopran imstande herrlich lyrische Bögen zu spannen und zarteste, leiseste Töne zu produzieren. Und auch die dramatischen Töne kommen immer ohne Druck, ihre Stimme wird niemals schrill oder scharf. Die Spitzentöne strahlen und sie schafft es auch mühelos das volle Orchester zu übertönen. Aber ebenso eindrucksvoll waren Katrin Kapplusch als lebenshungrige Chrysothemis mit mädchenhaft zarten Tönen, und Lioba Braun als traumgeplagte Klytämnestra. Christof Fischesser hinterließ als Orest leider keinen großen Eindruck und als Aegisth stand Thomas Piffka auf der Bühne, der nicht mehr viel Stimmvolumen besitzt.

Wenn auch die Neueinstudierung durch Katharina Lang durchaus als gelungen zu bezeichnen ist, so hat das Publikum in Lyon diese Produktion wahrscheinlich doch ganz anders aufgenommen als die Zuschauer in Dresden im Jahr 1986. Wenn fast alle Protagonisten von Elektra bis hin zu den Mägden ständig von diesem Turm (der wahrscheinlich die Deutschen im Osten eher an einen Grenzturm erinnert haben mag) aus ihren Blick in die Weite streifen ließen, dann haben sie gewiss nicht nur nach Orest Ausschau gehalten sondern nach Freiheit. In dieser Inszenierung war ja Elektra wirklich mit einem Seil an den Turm gefesselt. Die Welt der Klytämnestra und des Aegisth war gezeichnet als eine überholte, dem Untergang geweihte Herrschaftsklasse (und das drei Jahre vor dem Fall der Berliner Mauer!). Und Klytämnestras Bewacherinnen wirken mit ihren Peitschen wie Gefängnisaufseherinnen. Wir können uns wahrscheinlich gar nicht vorstellen, was bei so manchem Besucher damals diese Inszenierung ausgelöst haben mag. Und es ist schon interessant, dass der Zensur in der DDR diese Details wohl gar nicht aufgefallen sind. Auch wenn das alles natürlich das französische Publikum im Jahr 2017 nicht tangiert, so geriet diese Aufführung doch zum Höhepunkt des diesjährigen Festivals.

 

TRISTAN UND ISOLDE 

Opéra de Lyon, 18.3.2017

Höhepunkt des Festivals sollte wohl die Neueinstudierung der legendären Inszenierung von Wagners „Tristan und Isolde“ bei den Bayreuther Festspielen des Jahres 1993 von Heiner Müller werden. Dass das leider nicht geklappt hat, lag jedoch nicht an der sorgfältigen Einstudierung durch den seinerzeitigen Assistenten und nunmehrigen Leiter des Schauspiels am Linzer Landestheater Stephan Suschke. Es lag vielmehr an der musikalischen Seite. Zumindest die Premiere stand unter keinem guten Stern. Die Sängerin der Isolde erkrankte, am Tag vor der Premiere flog man eine Ersatzsängerin ein. Am Tag der Premiere erklärte sich Ann Petersen jedoch bereit, trotz ihrer Indisposition zu singen. Ob sie sich und dem Publikum damit einen Gefallen getan hat? Aber natürlich entzieht sie sich damit jeder Kritik ebenso wie der ebenso angeschlagene und entschuldigte Bariton Alejandro Marco-Buhrmester als Kurwenal. Ein Problem stellte aber auch Daniel Kirch dar, der vielleicht ein guter Melot gewesen wäre (sicher ein besserer als es Thomas Piffka war), aber mit dem Tristan schwer überfordert war. Er hielt zwar durch bis zum Schluss, aber die vielen gequetschten Töne (oder besser gesagt Phrasen) waren alles andere als eine Ohrenweide. Christof Fischesser war zufriedenstellend, die Klage des Königs Marke hat man jedoch schon viel eindrucksvoller gehört. Die beste Gesangsleistung des Abends erbrachte hingegen Eve-Maud Hubeaux, die mit ihrem satten, schön timbrierten Mezzosopran eine herrliche Brangäne sang. Das Orchester der Opéra de Lyon, das am Vorabend so eine fulminante Leistung erbracht hatte, war an diesem Abend scheinbar viel unkonzentrierter. Hartmut Haenchen, der auch an diesem Abend am Pult stand, schaffte es nicht annähernd so viel Spannung aufzubauen wie zuvor bei der „Elektra“. Somit verpuffte dieser Abend leider musikalisch völlig.

Für Heiner Müllers einzige Operninszenierung hat Erich Wonder drei wundervolle Räume entworfen, für Lyon nachgebaut wurden sie nun von Kaspar Glarner: Im ersten Akt einen schrägen Holzbau im orangenen Licht, in dem sich Isolde und Brangäne in einem kleinen Quadrat an der Rampe bewegen und Tristan und Kurwenal in einem kleinen Quadrat an der Rückwand. Zwei Welten, die sich gleichen und doch unendlich voneinander entfernt sind. Irgendwo verläuft eine Grenze, aber die ist unsichtbar. Kein Schiff, kein Segel, kein Naturalismus, sondern Geometrie pur. Im zweiten Akt einen blau ausgeleuchteten Raum, in dem Unmengen von Brustpanzern in Reih und Glied aufgestellt sind. In dieser militaristischen Männerwelt kann sich Isolde kaum bewegen. Isolde empfängt Tristan vorne an der Rampe und beide sinken Schulter an Schulter zu Boden. Die Dunkelheit verschlingt das Paar, nur die Rüstungen schimmern im matten Licht. Die Zeit scheint stillzustehen – die Intimität des Todes hat begonnen. Im letzten Akt stirbt Tristan in einer grauen, steinernen Wüste. Isolde bedeckt den toten Geliebten mit ihrem Mantel und singt am Schluss ihren Liebestod stehend – der Welt bereits entrückt. Die futuristischen Kostüme stammen vom japanischen Modedesigner Yohji Yamamoto. Die Originalbeleuchtung von Manfred Voss wurde nun von Ulrich Niepel nachempfunden. Stephan Suschke hat die Inszenierung mit ihrer stilisierten Statik sorgfältig einstudiert. Wenige Blicke oder Gesten genügen als Ergänzung zur Musik, die ohnehin alles erzählt. Selten hat eine Inszenierung der Musik so vertraut wie diese hier. Wie sich die Zeiten ändern: diese Produktion, im Entstehungsjahr noch gnadenlos ausgebuht, geriet binnen kürzester Zeit zur Kultaufführung. Auch nach 24 Jahren wird der Besucher dieser Inszenierung von der starken Ausstrahlungskraft dieser Bilder überwältigt. Gerade durch die strenge Stilisierung wird das Hauptaugenmerk auf die Musik gelenkt und nur durch sparsame Bewegungen oder Berührungen unterstützt. Heiner Müller hat damals in Bayreuth wirklich eine Modellinszenierung geschaffen, die auch ein Vierteljahrhundert später noch bestehen kann. Da diese Neueinstudierung als Koproduktion mit dem Neuen Musiktheater in Linz erarbeitet wurde, kann man diese Inszenierung ab September 2018 in Linz noch einmal sehen. Wagner-Fans sollten sich das auf keinen Fall entgehen lassen. Hoffentlich wird dann dort die musikalische Qualität etwas höher sein als an diesem Abend.

Serge Dorny, der gegenüber seinen Intendantenkollegen seine Nase immer um mindestens zwei Längen voraus hat, hat mit diesem überaus erfolgreichen Festival möglicherweise auch eine Vorreiterrolle übernommen, um einen Retro-Boom auszulösen. Angesichts der vielen katastrophalen Neuinszenierungen, die uns in so vielen Opernhäusern vorgesetzt werden, dürstet das Publikum nach Wiederbegegnungen mit guten Produktionen der Vergangenheit. Wie Dorny mit diesem Festival bewiesen hat, hat das überhaupt nichts mit Opernmuseum zu tun. Gute Inszenierungen bestehen auch noch nach Jahrzehnten. Demnächst wird bei den Salzburger Osterfestspielen die „Walküre“ von Vera Nemirova neu inszeniert, allerdings im berühmten Bühnenbild, das Günther Schneider-Siemssen für Herbert von Karajan einst geschaffen hat. Auch dieses Projekt kann man durchaus unter diesen Retro-Boom einordnen. Mögen sich auch andere Intendanten diesem Boom anschließen. Der Wiener Operndirektor könnte z.B. im Zuge dieses Booms – ohne sein Gesicht zu verlieren – endlich die verunglückte „Figaro“-Inszenierung seines Freundes Martinoty entsorgen und dem Wiener Publikum die wundervolle Ponnelle-Produktion zurückgeben, die bei Gastspielreisen nach wie vor für Furore sorgt. Vielleicht geschehen ja noch Wunder.

Bilder (c) Jean-Louis Fernandez / stofleth

Walter Nowotny 30.3.2017

Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner Merker-online (Wien)

 

P.S. Österreich

Der Kartenverkauf für die Vorstellungen von „Tristan und Isolde“ im Neuen Musiktheater in Linz hat bereits begonnen. Die Premiere am 15.9.2018 ist bereits ausverkauft. Weitere Informationen finden Sie hier https://www.landestheater-linz.at/musiktheater

 

 

JEANNE D’ARC AU BÛCHER

von Arthur Honegger 

am 29.1.2017

TRAILER

 

Arthur Honeggers „Jeanne d’arc au bûcher“ (Johanna auf dem Scheiterhaufen) ist ja an und für sich schon ein äußerst ungewöhnliches, merkwürdiges und eigen-artiges Werk. 1935 als Auftragskomposition für die russisch-jüdische Ausdruckstänzerin Ida Rubinstein auf ein Libretto des französischen Oberkatholiken Paul Claudel geschrieben, oszilliert es zwischen Oratorium. Schauspiel, Solo-Performance und Oper. Mit Texten in Französisch und Latein, mit Groteskheiten wie einem aus Schweinen, Schafen und Eseln bestehenden Gerichtshof. Und einer Partitur, die zwar einerseits äußerst kühne Modernität aufweist, aber auch sowohl Barock- als auch Jazzmusik parodiert. Ein Unikat sozusagen.

Dem italienischen, aus der bildenden Kunst bzw. der Hardcore-Avantgardetheatergruppe „Societas Raffaello Sanzio kommenden, Regisseur, Bühnen – und Kostümbildner sowie Lichtdesigner Romeo Castelluccio ist es mit seiner Lyoner Produktion gelungen, diese „Johanna“ n o c h merkwürdiger, noch ungewöhnlicher, noch eigenartiger und noch einzigartiger zu machen.

Der Vorhang hebt sich und gibt den Blick frei auf eine in einem hässlichen, hohen und verfallenden Fabrikgebäude angesiedelte Schulklasse. Unter der unerbittlichen Aufsicht einer strengen Lehrerin schreiben die in Uniformen gesteckten Schülerinnen gerade eine Klassenarbeit, Schummelversuche inklusive. Dann ertönt die Pausenglocke, und die junge Brut stürmt erleichtert von dannen.

Nach einiger Zeit(es ist bislang noch kein einziger Ton Musik erklungen) betritt ein gebückter Schulwart im grauen Arbeitsmantel den Raum, säubert den Boden, die Sessel, die Bänke. Nach getaner Arbeit (k)nickt er ein wenig ein. Wieder erwacht, beginnt er mit zunehmendem Furor die gesamte Klasseneinrichtung nach außen in den Gang zu verfrachten und daselbst chaotisch übereinander zustapeln. Mittlerweile sind (wahrscheinlich) fünfzehn gezählte, aber(da das Spiel immer noch stumm ist) gefühlte 30 Minuten vergangen. Daher regt im Saal (völlig verständlicherweise, der Vorgang ist sehr quälend) nun langsam Unmut. Es wird geklatscht als Aufforderung, endlich w i r k l i c h anzufangen, und die ersten Zwischenrufe brechen sich Bahn: „Bestellt doch eine Spedition !“, „Sollen wir helfen kommen ?“ usw. usf. Kurz bevor sich der geballte Volkszorn in eine neue französische Revolution, in einen neuen Sturm auf die (Bühnen-) Bastille entlädt, setzt endlich das Orchester ein.

Jetzt entdecken wir allmählich, dass sich hinter der Maske des Schulwarts eine junge Frau verbirgt. Sie entfernt auch noch die Tafel, gräbt den Bühnenboden auf, entkleidet sich, entblößt sich, steht nackt vor uns. Am Gang taucht ihr Vertrauter, der Mönch Dominique auf, von außen hören wir die Stimmen aller anderen (unsichtbaren) Personen. Die Zuschauer sind in der Zwischenzeit im Verlauf der Handlung immer ruhiger und aufmerksamer und mucksmäuschenstiller geworden, bis sie am Ende, wenn die nackte junge Jeanne von ihrem älteren, ebenfalls nacktem alter ego sanft in die von ihr selbst mit bloßen Händen geschaufelte Grube gerollt wird, in nahezu ehrfurchtstarrer Andacht verharren. Eine Andacht, die nach Fallen des Vorhangs in einem nicht enden wollenden, von rhythmischem Klatschen verstärkten Applaus für alle Beteiligten (Denis Podalydès als Frère Dominique, Valentine Lemercier als Marguerite, Marie Karall als Catherine, den Chor und den Dirigenten Kazushi Ono etc.) förmlich explodiert.

Mit einem ohrenbetäubenden Extrajubel für die Hauptdarstellerin Audrey Bonnet, die mit ihrem konzentrierten, beseelten und sich selbst gegenüber absolut schonungslosen Spiel die intensiven, eindringlichen, manchmal sogar zärtlichen Bilder(wie sie z.B. als Jeanne ihr totes weißes Pferd streichelt oder unter der Last ihres eigenen glänzenden Schwertes zusammenbricht) von Romeo Castellucci eigentlich erst um Leben erweckt.

Ein rarer Fall einer geglückten Publikumsbekehrung bei laufender Vorstellung, ein rarer Fall einer gelungenen „performativen Überschreibung “ einer bekannten Handlung.

Bilder (c) Opera de Lyon / Stofleth

Robert Quitta, Lyon 31.1.2017

Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online (Wien)

 

 

 

Jacques Fromental Halevy - La Juive

Michel Tabachnik / Regis Debray - Benjamin Derniere nuit

Aufführungen am 19.3.2016 / 20.3.2016 / 23.3.2016                                        (Premiere Benjamin 15.3.2016 / La Juive 16.3.2016)

Das Festival in Lyon präsentiert zwei Schläge in die Magengrube

2016 präsentiert die Opera de Lyon das Festival pour l'humanite, dessen Wichtigkeit durch die Tragik der zeitgleich eingetretenen Vorfälle in Brüssel nur betont werden kann.

Zwei große Werke bilden den Rahmen dieses Festivals, zum einen die Grande-Opera "La Juive" von Fromental Halevy, zum anderen die Uraufführung von "Benjamin derniere nuit" mit Musik von Michel Tabachnik und einem Libretto von Regis Debray. Um das Fazit kurz vorzuziehen: Beide Stücke sind weitestgehend geglückt und lohnen den Besuch.

"Benjamin derniere nuit"

TRAILER

behandelt die letzte Nacht Walter Benjamins, einem deutschen Philosophen, der sich 1940 in Portbou auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus das Leben nahm. Als Rückblick begegnen ihm die wichtigsten historischen Personen seines Lebens. Zum Beispiel Hannah Arendt, Bertolt Brecht und André Gide, um nur einige davon zu nennen.Walter Benjamins Figur wird in zwei Personen geteilt, zum einen den "Sänger" Walter Benjamin (Jean-Noel Briend), zum anderen den "Comédien" (Sava Lolov).

Im Mittelpunkt der Inszenierung steht das Bett Benjamins. Darum ist sein Leben wie ein Warenlager aufdrapiert. Die gesamte Bühne ist vollgestellt mit Regalen aus denen seine Erinnerungen herausgezogen werden (Bühne: Michael Levine). Will Duke illustriert die Handlung zum besseren Verständnis mit Videos, die live projiziert werden. Die Kostüme von Christina Cunningham sind historisch gehalten und setzen als Kontrast dazu teilweise auch futuristische Aspekte. Insgesamt wird hier unter der Regie von John Fulljames ein Stück Theater geschaffen, das in seiner Geschlossenheit überzeugt und unter die Haut geht. Video, Kostüm, Sänger und Musik greifen hier ineinander und befruchten sich gegenseitig.

Dass der Abend (1h20) nur teilweise funktioniert liegt aber leider an der Komposition, die bis auf wenige Momente nicht aus der "Mottenkiste" der modernen Komposition herauskommt. So sind Cluster, Klanginstallationen und teilweise arg strapazierende Gesangsparts doch schon lange alter Kaffee und wissen leider weder besonders zu inspirieren. Noch erzeugen sie etwas anderes als Missbehagen. Ganz so schrecklich ist es dann trotzdem nicht. Einige Momente, besonders die jüdisch angehauchten mit dem Chor funktionieren als Einheit im Stück gut. Allerdings hätte man mehr erwarten können, sind doch gerade die Ansätze der Komposition interessant. Diese Ansätze werden bedauernswerterweise nicht zu Ende geführt - und so entsteht eine Eindimensionalität, die leider in der modernen Musik immer öfter zu finden ist.

Die musikalische Ausführung unter der Leitung von Bernhard Kontarsky bietet aber bewundernswertes. Die Sänger gehen beinahe alle an ihre vokalen Grenzen, trotzdem ist das Ensemble dieses Stückes geschlossen und auf höchstem Niveau.

Jean-Noel Briend ist quasi permanent auf der Bühne. Er hat nicht das angenehmste Timbre, aber seine Stimme schafft es über das teils sehr laute Orchester und ist sowohl in der Höhe als auch in der Tiefe sicher geführt. Zusammen mit seinem intensiven Spiel schafft er es, die Figur "greifbar" zu machen und war sich so auch den Akklamationen des Publikums sicher. Sein Gegenpart Sava Lolov bietet darstellerisch das gleiche Niveau und die beiden inspirieren sich gerade in den gemeinsamen Momenten gegenseitig zu großen szenischen Leistungen.

Michaela Kusteková als Koloratursopran wird permanent in die Höhe geschraubt, inklusive Balletteinlage und Olympia-Darstellung. Diese "Höhenflüge" von "Asja Lacis" meistert sie sicher, sauber und scheinbar unermüdlich.

Michaela Selinger gibt als "Hannah Arendt" das Gegenstück dazu und führt ihren warmen Mezzo-Sopran klangvoll und rund durch die kurzen Szenen ihrer Partie.

Charles Rice (Als einziger Sänger in beiden Produktionen zu sehen) singt mit einem verheißungsvoll-klangschönem Bariton "Arthur Koestler".

Die beiden Tenöre Jeff Martin und Gilles Ragon sind ebenfalls lobend zu erwähnen. Martin, der wegen der Lautstärke seiner Szene verstärkt werden muss schafft es im Sitzen als "Bertholt Brecht" die Trockenheit zu vermitteln, die die Partie verlangt. Ragon, der dem passionierten Opernliebhaber noch von vielen Minkowski und Christie-Aufnahmen bekannt ist (und dem deutschen Opernpublikum als Eléazar in Dresden), zeigt als "André Gide" dass die Stimme noch völlig intakt ist und mit großem Willen zur Interpretation selbst in kurzen Szenen großes leisten kann. Eine kurze, aber eindringliche Szene!

Beeindruckend sowohl physisch als auch stimmlich ist der Bass Scott Wilde als "Gerhom Sholem". Lyon scheint mit seinen Bässen im Moment Glück zu haben, da für beide Opern vorzügliche tiefe Stimmen zur Verfügung standen.

Jede einzelne der kleinen Rollen hier hervorzuheben würde zu weit gehen - aber alles in allem sei gesagt, dass auch diese hervorragend einstudiert und dargestellt waren. Ein Bravo für alle Akteure auf der Bühne.

 

"La Juive"

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steht im Kontrast dazu. Die in den letzten Jahren wieder in Mode gekommene Oper (Mannheim, Nizza, Nürnberg, Dresden) steht auch hier musikalisch als Vorzeigestück seiner Gattung. Die Geschichte um den Goldschmied, der die Tochter seines mittlerweile zum Kardinal aufgestiegenen Rivalen aufzog, um diese dann mit sich gemeinsam in den Tod zu schicken ist intensiv und so nervenaufreibend wie es eigentlich nur ein Krimi sein kann.

Lyon hat mit Olivier Py eigentlich eine sichere Regie-Bank engagiert. Und dennoch will das ganze nicht aufgehen. Fünf Akte lang wird ein einziges Bühnenbild bespielt (Pierre-André Weitz, gleichfalls Kostüm). Trotz verschiebbarer Elemente ermüdet dies schnell. Und auch die Kostüme, welche fünf Akte nicht gewechselt werden erzeugen eine schnelle Monotonie. Angesiedelt wird das Stück in einem Wald, welcher gleichzeitig eine Bibliothek ist. Die Kostüme sind zeitlos-modern gehalten. Scheinbar scheint Py nicht viel eingefallen zu sein, denn die inszenierten Szenen sind allesamt nicht neu. So gibt es vom Chor getragene Plakate (Ausländer raus!), riesige Davidsterne und Bücherverbrennung. Alles gültige Interpretationen dieses Stückes - dennoch keine so radikal wie es das Stück gebraucht hätte. Es ist nur angedeutete Gewalt, wo doch das Stück vom Ertränken im See bis zur Hinrichtung im siedenden Wasser von weit grausameren Methoden spricht. Den Schritt aus einer ästhetisierenden hin zu einer unter die Haut gehenden Inszenierung schafft Py leider nicht.

Die musikalische Seite ist aufregender, aber leider auch durchwachsen.Besonders hervorzuheben sind als erstes zwei Leistungen: Zum einen der hervorragend von Philip White einstudierte Chor, welcher auch in "Benjamin" Großartiges leistet. Lange habe ich keinen so textverständlichen, dynamisch differenzierten und darstellerisch so harmonischen Chor mehr gesehen und gehört. Großes Bravo.

Zum anderen die fabelhafte musikalische Leitung von Daniele Rustioni. Dieser bürstet "La Juive" an einigen Ecken gegen den Strich. In den Rezitativen wird gesprochen (im positiven Sinne!) und nuanciert arbeitet er mit einem präzise geprobten Orchesterklang. Nie ist ein Sänger zugedeckt und dennoch schafft er es an den dafür vorgesehenen Passagen die nötige Wucht aufzudecken.

Die Sänger sind leider nicht durch die Bank weg so bravourös besetzt wie in "Benjamin". Gerade bei der Hauptpartie des Goldschmiedes Eléazar hat die Oper Lyon danebengegriffen. Nikolai Schukoff bietet hier mehr oder weniger Inakzeptables und das leider in jeglicher Hinsicht. Darstellerisch überzogen zeichnet er die Karikatur eines Juden - welche Eléazar doch genau nicht sein sollte. So erinnert sein Schauspiel an genau jene von den Nationalsozialisten gezeichneten Judenbilder, die man hier doch eigentlich versucht anzuprangern. Zusätzlich dazu ist der Gesang gequält. Die großen Stellen sind für ihn gekürzt (wo doch gerade die Damen überraschenderweise fast ungekürzt ihre Partien singen dürfen). Von den Eléazar-Tableaus ist bis auf die Arie nicht mehr viel übrig. Die Cabaletta ist gestrichen. Die hohen C's der Partie werden allesamt ausgelassen und umgangen. Prinzipiell gilt leider auch zu sagen, dass kein einziger freier Spitzenton zu hören war - und in vielen Passagen die Stimme sogar gänzlich wegbrach. So erreichte er in der zweiten besuchten Vorstellung nur mit extremer Mühe das Ende der Arie. Sehr schade.

Die Titelrolle Rachel ist mit Rachel Harnisch auch nur teilweise idealbesetzt. Mit schöner lyrischer Stimme führt sie sicher und anrührend die großen Legatobögen ihrer Partie. Die Höhen gelingen allesamt anständig. Leider fehlt es ihr an entscheidenden Stellen an Attacke und oft wird die Höhe so angesungen, dass der Ton schon zu Ende ist bevor er überhaupt aufblühen konnte. Auch die Tiefe ist nicht ausreichend vorhanden. Aber dennoch funktioniert Harnisch als Interpretin. Eine sehr weiche Rachel, die gerade in den lyrischen Momenten zu überzeugen weiß und mit ihrer Darstellung alles in allem ein rundes Bild der Figur abgibt.

Besonders hervorzuheben sind zwei Sänger: Roberto Scandiuzzi als Cardinal Brogni, der die Rolle schon über zehn Jahre im Repertoire hat und Enea Scala als Leopold.

Scandiuzzi, welcher schon in Florenz zu begeistern wusste zeigt auch hier, dass die Stimme nichts an Schönheit eingebußt hat. Wundervoll rund und im absoluten Pianissimo zaubert er in beiden Vorstellungen eine mustergültige Arie im ersten Akt und bis auf sehr wenige angestrengte Töne in der Verfluchung im dritten Akt weiß er restlos zu begeistern. Selten habe ich von einem Brogni so saubere Koloraturen in den Duetten im vierten Akt gehört wie in Lyon.

Die Partie des Leopold gilt allgemein als unsingbar, brutal hoch und undankbar. Enea Scala hat die ideale Stimme dafür. Ein Rossini-Tenor, dessen Stimme gerade breiter wird, der sowohl die Höhe als auch die Dramatik der Partie hochanständig meistert. Die Stimme ist nicht besonders schön, aber mit absoluter technischer Sicherheit überzeugt er auf ganzer Linie. Jede hohe Note sitzt. In beiden Vorstellungen verrutscht nicht ein Ton. Hut ab.

Das gleiche gilt für die Eudoxie von Sabina Puértolas. Die Spanierin hat zwar "Caballe-ähnlich" eine gewisse Schärfe in der Mittellage, ist aber zu perfekt platzierten Spitzentönen und wunderschönen Piani fähig. Wieso Py sich entschloss die Sängerin drei Akte lang in einem Hauch von nichts über die Bühne hüpfen zu lassen bleibt mir schleierhaft. Wäre die Stimme etwas runder wäre auch diese Leistung perfekt zu nennen.

Überraschend dazu die kleinere Rolle des "Ruggiero", gesungen von Vincent Le Texier. Dieser ist zwar nicht mehr der jüngste, aber ist definitiv das größte Organ an diesem Abend auf der Bühne und schleudert so ein paar Töne in den Raum, die in ihrer Brutalität das Wesen seiner Figur ideal unterstreichen.

Charles Rice singt auch wie in "Benjamin" sehr anständig mit sehr schöner Stimme die kurzen Phrasen von "Albert".

Die kleinen Rollen sind sehr schön und textverständlich aus dem Chor besetzt.

Die eigentlich über fünf Stunden dauernde Oper wird hier in Lyon auf etwas unter vier Stunden (inklusive Pause) zusammengekürzt. Dennoch ergibt sich hier eine Schwere - und zwar nicht unbedingt eine gute. Man hat sich zu schnell satt gesehen. Glücklicherweise gibt es aber die geniale Musik von Halevy - und die entschädigt für die Wüste der Regie.

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Insgesamt zwei sehr interessante Produktionen eines sehr zu begrüßenden Festivals. Lyon zeigt hier zwar keine Sternstunden, aber durchaus anständige Opernproduktionen in mehr oder weniger toller Besetzung. Gerade "La Juive" wieder öfter im Repertoire zu begegnen ist und bleibt eine Freude.

Thomas Pfeiffer, 25.3.2016                                                                                       

Fotos (c) Stofleth

 

LADY MACBETH VON MZENSK

Opéra de Lyon am 23.1.2016

Dmitri Tcherniakov zählt heute gewiss zu den interessantesten Opernregisseuren der Gegenwart. Kaum einem anderen Regisseur gelingt es so überzeugend Opernhandlungen aus vergangenen Jahrhunderten in die Gegenwart zu transportieren. Ich denke da nur an die großartige Produktion der „Zarenbraut“ von Rimsky-Korssakow oder an die nicht weniger erfolgreiche Inszenierung von Prokofjews „Der Spieler“, die beide im Berliner Schillertheater und an der Mailänder Scala zu sehen waren, oder an seine großartige „Eugen Onegin“-Inszenierung vom Bolschoi-Theater, die man auch in Paris und Madrid bewundern konnte. Dass ihm natürlich auch nicht alles gelingt, beweist leider seine völlig misslungene Inszenierung von Poulencs „Dialogues des Carmélites“ an der Bayerischen Staatsoper München, die nicht nur den Erben des Komponisten missfällt. Die nun in Lyon gezeigte Inszenierung von Schostakowitschs Meisterwerk „Lady Macbeth von Mzensk“ (in der Originalversion von 1934) ist eine Koproduktion mit der English National Opera London. In London wurde diese Inszenierung vor einem Jahr gezeigt, dabei handelt es sich um eine gründliche Neufassung einer ursprünglich für die Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf-Duisburg erarbeitete Produktion aus dem Jahr 2008.

Tcherniakov entwirft für seine Inszenierungen auch immer das Bühnenbild selbst. Hier haben wir nun für die ersten drei Akte ein Einheitsbühnenbild. Ein riesiges Fabrikgebäude, im dem ständig heftiges Treiben herrscht, Gabelstapler herumfahren und wo der Arbeiterbereich vom Büro nur durch Glaswände abgetrennt ist. Die Wohnung des Fabrikbesitzers Boris Ismailow befindet sich rechts im Off-Bereich. Und in der Mitte ist der mit traumhaft schönen Wandteppichen ausgestatteten Wohnraum des Sohnes des Fabrikbesitzers, Sinowi Ismailow, und dessen Frau. Die zur Untätigkeit verdammte und daher gelangweilte Katerina wird dort wie eine mit folkloristischer Tracht ausgestattete Puppe in einem Museum gehalten und zur Schau gestellt. Ihr Schwiegervater ist ein Ekelpaket, wie man es sich nicht schlimmer vorstellen kann. Einerseits überwacht er Katerinas Tugend, andererseits ist er selbst geil auf sie und würde nur zu gerne anstelle seines impotenten Sohnes den Platz in ihrem Bett einnehmen.

Den ganzen Tag begrapscht Boris Ismailow seine Sekretärinnen im Büro; kein Wunder also, dass seine Arbeiter, die das den ganzen Tag mitansehen, es ihrem Boss gleich tun wollen und die Angestellte Axinja rudelweise vergewaltigen. Es ist eigentlich erschreckend zu sehen, dass sich das heute genauso abspielen kann wie im 19. Jahrhundert. Tcherniakov stellt Menschen von heute auf die Bühne und entwickelt diese Geschichte in der Gegenwart völlig überzeugend. Was bei Tcherniakov besonders beeindruckt, ist die Fähigkeit Musik in Bilder zu übertragen. Die stärksten Momente erreicht die Inszenierung während der Orchesterzwischenspiele, die der Regisseur großartig in Szene setzt. Ich möchte hier nur zwei Beispiele anführen: die Gruppenvergewaltigung der Axinja und die erste Begegnung mit dem Arbeiter Sergei hat Katerina so aufgewühlt, dass sie sich in dem nachfolgenden Orchesterzwischenspiel selbst befriedigt, und nachdem Katerina ihren Schwiegervater vergiftet und den misshandelten Sergei aus dem Keller befreit hat, zieht sie ihn nackt aus, wäscht ihm das Blut vom Rücken und salbt ihm seine Wunden ein.

Das Ganze hatte etwas Rituelles, ja fast schon Religiöses an sich. Und alles harmonisiert mit der entsprechenden Musik ganz wunderbar. Es ist andererseits jedoch erstaunlich, dass dem Regisseur dafür realistische Szenen gründlich misslingen. Auch hier möchte ich einige Beispiele nennen: die wohl berühmteste Sexszene der Opernliteratur hat er einfach nicht inszeniert. Alles spielt sich hinter der angelehnten Tür ab und nur eine hin und her schwingende nackte Glühbirne soll den Geschlechtsakt andeuten, den Schostakowitsch so wunderbar in Musik gesetzt hat. Dadurch wurde die Aufführung auch um einen Höhepunkt beraubt. Denn wenn am Ende des Liebesaktes die Posaunen lautstark eine abfallende Tonfolge spielen und anschließend nur noch stöhnende Töne produzieren, begreifen sogar unmusikalische Besucher, was damit gemeint ist. In Aufführungen, wo diese Sexszene wirklich gut inszeniert ist, sorgt diese „musikalische Erschlaffung“ immer wieder für Heiterkeit. (Ich denke da nur an die sensationelle Inszenierung von Christine Mielitz an der Wiener Volksoper oder an die aufregende Produktion von Martin Kusej an der Niederländischen Oper Amsterdam.) Hier zeigte das Publikum nun keinerlei Reaktion auf diesen köstlichen musikalischen Einfall. Schade!

Ebenfalls völlig verschenkt war die Szene, in der der Schäbige Sinowis Leiche im Keller entdeckt oder auch die Szene mit den Polizisten. Der letzte Akt spielt bei Tcherniakov in einer winzigen und dreckigen Gefängniszelle, in der Katerina ihre Strafe verbüßt. Später wird in dieser Zelle noch Sonjetka einquartiert. Der Gesang des alten Gefangenen und des Chores erklingt aus dem Dunkel rund um diese Gefängniszelle. Wenn Katerina ihren Kopf in das mit Wasser gefüllte Waschbecken taucht, sieht das sehr nach einem Selbstmordversuch aus. Die Liebe Sergeis, der im gleichen Gefängnis einsitzt und durch Bestechung in Katerinas Zelle auf Besuch kommt, ist erkaltet. Als er die aufreizende neue Zellengefährtin von Katerina entdeckt, wendet er sich ihr zu. Für ein paar warme Strümpfe, die er Katerina abluchsen kann, gewährt Sonjetka ihm ein Schäferstündchen, das sich in unmittelbarer Gegenwart von Katerina in der Zelle abspielt. Kein Wunder also, dass es Katerina jetzt reicht und sie ihre Nebenbuhlerin erschlägt. Die hereinstürmenden Wachen treten Katerina zu Tode und machen sich anschließend über ihre wenigen Habseligkeiten her. Ein hartes und brutales Ende.

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Vladimir Ognovenko, Ausrine Stundyte

Diese Aufführung besticht aber nicht nur durch diese spannende und aufwühlende Inszenierung, sondern auch durch eine musikalisch hervorragende Einstudierung. Höchstes Lob gebührt dem Chefdirigenten Kazushi Ono, der gemeinsam mit dem Orchester der Opéra de Lyon vor allem in den bombastischen Zwischenspielen eine orchestrale Klangpracht entwickelte. Wie gut er mit dem Orchester gearbeitet haben muss konnte man auch daran erkennen, wie großartig all die Orchestersoli geklungen haben, denn trotz großer Orchesterbesetzung gibt es nur wenige Tutti-Einsätze; es dominiert ein solistisches akkompagnierendes Musizieren. Auch der Chor der Opéra de Lyon bestach durch Homogenität und Klangfülle (Einstudierung: Philip White) und auch hier traten einige Mitglieder solistisch (in kleineren Partien) hervor. Die aus Vilnius stammende SopranistinAusrine Stundyte (sie hat an der Wiener Volksoper bereits als Leonore im „Fidelio“ gastiert) war eine phänomenale Katerina.

Man glaubte ihr einfach alles, die gelangweilte und vernachlässigte Ehefrau, die durch den leidenschaftlichen Sex mit Sergei erst so richtig zum Leben erwacht, und zuerst durch ihre Liebe und später aus Eifersucht zur Mörderin wird. Sie besitzt zwar eine etwas harte Stimme mit Vibrato, aber sobald in ihr die Liebe erwacht, lodern die Leidenschaften auch vokal auf. Für diese eindrucksvolle Leistung wurde sie am Ende vom Publikum zu Recht mit einem Jubelorkan überschüttet. Vom Mariinsky Theater in St. Petersburg wurden gleich zwei Bässe für diese Produktion engagiert. Gennady Bezzubenkov war die köstliche Karikatur eines Popen und im letzten Akt sang er noch zusätzlich den alten Gefangenen mit seiner sonoren Stimme. Einfach überwältigend als Machtmensch und als widerlicher Lustmolch war Vladimir Ognovenko in der Rolle des Schwiegervaters Boris. Mit seinem schwarzen Bass gelang es ihm mühelos die tiefsten Tiefen noch klangvoll und voluminös erklingen zu lassen. Die beiden Tenöre kamen aus England und hatten ihre Rollen schon vor einem Jahr an der ENO in London interpretiert. Peter Hoare war mit seinem hellen Charaktertenor ein völlig überzeugender Schwächling von einem schlappen Ehemann, während der vor Muskelkraft strotzende John Daszak mit seinem kräftigen Heldentenor eine Idealbesetzung des testosterongesteuerten Sergei war. Aus Österreich kam die Sonjetka: mit ihrem warm leuchtenden Mezzosopran und ihrer Top-Figur verdrehte Michaela Selinger als halbnacktes, kaugummikauendes Punkgirl Sergei den Kopf. Die übrigen Sänger in den vielen kleineren Partien mögen sich mit einem Pauschallob zufriedengeben, sie alle trugen mit ihrem stimmlichen und körperlichen Einsatz zum großen Erfolg dieser Aufführung bei.

Eine musikalisch sensationelle, szenisch ungemein spannende und aufregende Aufführung. Denn trotz der von mir oben vorgebrachten Einwendungen ist Tcherniakov wieder eine atmosphärisch dichte und aufwühlende Inszenierung gelungen. Wenn auch manche Details mit dem Text nicht immer im Einklang stehen, so zählt doch letztlich das Gesamtpaket. Und das ist wieder sehr beeindruckend. Andere Opernhäuser versprechen immer nur spannendes Musiktheater. In Lyon wird es geboten.

Walter Nowotny 28.1.16

Besonderer Dank an unserem Kooperationspartner MERKER-Online (Wien)

 

Bilder (c) Pierre Maurin

 

 

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