DER OPERNFREUND - 51.Jahrgang
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LANDESTHEATER DETMOLD

 

 

 

Madama Butterfly

Premiere: 02.09.2022
besuchte Vorstellung: 23.09.2022

 

Lieber Opernfreund-Freund,

die erste Musiktheaterproduktion der Spielzeit 2022/23 wartet am Landestheater Detmold gleich mit mehreren Debus auf: der neue Generalmusikdirektor, der Schwede Per-Otto Johansson gibt seinen Einstand und der renommierte Opernsänger Zoran Todorovich führt erstmals Regie. Dafür haben sich die beiden Puccinis Madama Butterfly ausgesucht und – so viel darf ich schon jetzt verraten – beide Debuts sind durchaus gelungen.

 

 

Zoran Todorovich, der aus Belgrad stammt, startete selbst am Landestheater Detmold seine international erfolgreiche Karriere, die ihn u.a. nach San Francisco, London, Madrid und Tokio führte. Die tiefe Verbundenheit zu diesem Haus äußert sich nun auch darin, dass er dort sein Regiedebut gibt. Als ausgewiesener Spezialist fürs italienische Fach verwundert es kaum, dass seine Wahl dafür auf Puccini gefallen ist. In seiner Inszenierung stellt er die Titelfigur ganz ins Zentrum des Geschehens, das zeigt sich schon in den Kostümen, die er selbst entworfen hat. Butterfly ist die einzige traditionell japanisch gekleidete Figur, trägt einen üppigst verzierten Kimono, während bei ihrer Verwandtschaft auch in der Kleidung schon starke Einflüsse der westlichen Welt erkennbar sind. Überhaupt scheint Cio-Cio San als einzige an den Traum vom Glück mit dem amerikanischen Offizier zu glauben, schon das drehbare Ständerwerk, das Jule Dohrn-van Rossum auf die Bühne des Landestheaters gestellt hat und das mittels halbdurchsichtiger Vorhänge zum Haus wird, scheint nicht auf Dauer angelegt, wirkt provisorisch. Als Butterfly die Wahrheit erkennt, bleibt ihr – trotz des Strebens nach allem Amerikanischen ganz der Tradition verbunden – nur der Ausweg in den Selbstmord.

 

 

Todorovich zeigt die Geschichte ohne allzu großes Brimborium, auch wenn im ersten Akt auf der Bühne noch viel los ist. Nach der Pause gelingt ihm eine ruhige, stimmungsvolle Erzählung des Dramas, trotz der Ruhe kommt jedoch keine Langeweile auf. Den handlungsarmen Übergang vom zweiten zum dritten Akt, sicher die dramaturgisch Schwachstelle des Stücks, füllt er originell mit einem getanzten Traum, das drehbare Haus sorgt für wechselnde Perspektiven und Bewegung . Das in der zweiten Abendhälfte sanfter werdende Licht von Carsten-Alexander Lenauer schafft Stimmungen und steuert zusammen mit der Musik auf das dramatische Ende zu. Stimmungsmalerich vollkommen präsentiert sich auch der von Francesco Damiani betreute Chor. Im Graben setzt Per-Otto Johansson durchaus pathetische Gegenpole, schlägt aber auch zarteste Töne an, präsentiert den Puccini schwelgerisch, ohne in zu verwässern, und macht Lust auf mehr.

 

 

Als Idealbesetzung kann Adréana Kraschewski bezeichnet werden. Lieblich und zart zu Beginn, streitbar in den Diskussionen mit Sharpless (eindrucksvoll: Carl Rumstadt), verzweifelt und gebrochen am Schluss – genau so stellt man sich die blutjunge Japanerin vor. All diese Facetten gestaltet die aus Ulm stammende Sängerin überzeugend und voller Hingabe.  Stephen Chambers gestaltet den Unsympathen Pinkerton mit sicherer Höhe und viel Ausdruck, die Suzuki von Dorothee Bienert überzeugt durch satte Mezzofarben. Aufhorchen lässt der Goro von Yoseph Park; die an sich schmierige Figur habe ich noch nie so farbenreich, volle Spielfreude und leidenschaftlich interpretiert gesehen wie von diesem jungen Sänger.

 

 

Das Publikum ist am Ende des Abends gleichermaßen ergriffen und begeistert, applaudiert dem kompletten Ensemble ausdauernd. Dass Zora Todorovich nach erfolgreichem Einstand als Regisseur den Sängerberuf nun an den Nagel hängt, steht glückicherweise nicht zu befürchten – im Moment probt er den Herodes für die Salome-Premiere Mitte Oktober in Paris. Ich hoffe aber, dass ich nicht zum letzten Mal eine Regiearbeit von ihm gesehen habe.

 

Ihr Jochen Rüth

26.09.2022

 

Die Fotos stammen von Matthias Jung und zeigen teilweise die Alternativbesetzung.

 

 

Jesus Christ Superstar

Ein Versuch

Eine der Reaktionen nach der Uraufführung 1971 waren Proteste von religiösen Fanatikern. Wahrscheinlich erwarteten sie Figuren mit andächtig gefalteten Händen und Heiligenscheinen über den Köpfen. Stattdessen sahen sie junge Menschen, die streiten, lieben, diskutieren, trinken, also Menschen wie du und ich, fernab von dehumanisierter Verklärung für Zwecke der mystischen Religionsausübung. Frauen sind Frauen und keineswegs heilige geschlechtslose Wesen. Sie können leidenschaftlich, emotional sein, empfinden Freude, Angst, Verlangen, Begehren, lieben ihre Männer wie Männer ihre Frauen lieben, die in sozialen Verhältnissen leben, frei von anerzogenen, indoktrinierten Verhaltens- und Denkmustern. Die Proteste richteten sich paradoxerweise gegen die verkündete Botschaft: Gott wurde Mensch, Mann wie Frau.

 

 

Apostel im Stein gemeißelt sind es eher nicht, sie sind das Ergebnis der Legendenbildung. Verklärung fällt zu Lasten der ohnehin kaum rekonstruierbaren Geschichte.

Die Rolle des Judas passte auch nicht in das gewohnte, erwartete Bild. Sein Verrat, seine Schuld am Tod von Jesus ist im Musical - wie auch in spärlichen Überlieferungen - nicht eindeutig. Er ist ein Mensch voller Zweifel, er verrät aus politischen Überlegungen, wenn der Jünger Petrus aus Feigheit leugnet, aus persönlicher Berechnung. Wer ist hier der Verräter? Im Gegensatz zum visionären Jesus ist Judas ein Realpolitiker, der versucht abzuwägen, welche Position sein eigenes und das Überleben seines Volkes sichert. Heute wieder ein aktuelles Thema: Das Dilemma der europäischen Ukrainer- und Russlandpolitik. Über dem Theatergiebel weht die ukrainische blau-gelbe Flagge. Im Theater gibt es die Premiere von Jesus Christ Superstar.

 

 

Die Inszenierung ist zerstückelt in wenig zusammenhängende Aktionen, die einzelnen Fragmente sind zwar Teile derselben Geschichte, sie sind aber nicht homogen: mal kommt ein Auftritt mit einem Song wie auf leerer Konzertbühne, mal Gruppen mit wenig originaler Choreographie, die Bewegung erstarrt mal zu einem Gruppenbild wie die am Kreuz versammelte Menschenmenge. Der Regisseur Götz Hellriegel (Inszenierung und Choreografie) bedient sich in einigen wenigen Szenen der Ikonographie von barocken Darstellungen der Kreuzigung; mit einem Triptychon mit dem zentralen Kreuzigungsbild beginnt die Vorstellung. Unter dem Triptychon irren jugendliche Museumsbesucher wahllos herum, es sollen Museumsbesucher sein.

Dass die Inszenierung aus zerstückelten Szenen gebaut wird, verdeutlichen noch mal unnötige, inkonsequente Pausen: Eine Choreographie, ein Song, ein Chor und dazwischen eine Leere, kein Bühnengeschehen, keine Musik. Ein handwerklicher Fehler. Vermutlich wurden diese Pausen für zu erwarteten Applaus berechnet. Der aber kommt nicht.

Erst zum Schluß ist er da, minutenlange stehende Ovationen, weil alle, Jesus, Judas, Maria, Hohepriester, Jünger und Volk wieder lebend und lächelnd am Bühnenrand stehen? So wird der Schlussapplaus ungewollt zur dramaturgischen Höhe der Inszenierung.

 

 

Zugegeben, das Original von Andrew Lloyd Webber und Tim Rice besteht aus quasi einzelnen Szenen, Songs, Choreographien, die einer Idee klar folgen: aus dem Leid kommt der Sieg. Aus dem Erniedrigten wird ein Star. Ein Superstar. Durch eine konsequente Inszenierung wird ein hoher Level der ununterbrochenen Spannung gehalten. In Detmold verflüchtigt sie sich indessen in dem nicht klar zueinander angepassten Mosaik von der Atmosphäre eines Konzertauftritts, Schultheaters, Friedrichstadtpalast, Picknick an Fridays for Future. Bei einigen Chorstücken befürchtete ich, dass gleich angezündete Feuerzeuge über den Köpfen geschwenkt würden. Es gibt von allem etwas, gute Auftritte und Ansätze von interessanten Einfällen, doch ohne dramaturgische Einheit, ohne klar geführte Erzählung und ohne das nötige Tempo.

Vielleicht war die Regieabsicht, damit das junge Publikum anzusprechen. Was noch vor 50 Jahren begeisterte - und schockierte -, zieht aber heute nicht mehr. Auch der Griff mit der Ballettgruppe zieht nicht. Mal sind die Tänzer Museumsbesuche, mal feiernde raufende Jugendliche auf einer Treppe im Freien – die ganze Bühne ist eine riesige Treppe (Bühnenbild: Jule Dohrn-van Rossum). Wieder mal und völlig unglaubwürdig sind sie Soldaten der Hohepriester mit Plastikpistolen, dann wieder nageln sie Jesus übertrieben naturalistisch mit übergroßen Hämmern ans Kreuz. Gewiss, das Theater arbeitet mit Illusionen, diese aber muss man glaubhaft erzeugen.

 

 

Maria Magdalena (Mercedesz Csampai), eine der tragenden Personen der Handlung, wird zu einer Nebenfigur geführt. Ja, Judas (Hannes Staffler) ist schuld, sein Verrat ist die Herabsetzung einer Frau: Jesus habe etwas Besseres verdient. Er, der sanfte Tobias Bieri, lässt dies geschehen, und sie nimmt das hin, hält sich in ihren Partien vorsichtig zurück. Wo ist die Frau, voller Leidenschaft, Liebe, Verzweiflung, Angst?

Kurzum: Ein Versuch, dem Glanz des welterfolgreichen Musicals nachzukommen, bleibt nur ein Versuch.

Jan Ochalski, 28.4.22

Bilder (c) Theater Detmold

 

 

The Turn of the Screw

Die Schraube der Erschütterung

Zweite Premierenbesprechung

 

Es gibt wenige Taten, die von Anfang an zweifelsfrei gut oder schlecht sind, die meisten moralischen Entscheidungen seien zweifelhaft – sagen die Jesuiten.

Ist das nicht so, dass man für eine ungewöhnliche, nicht verstandene Erfahrung der Umwelt und der eigenen Sinne nicht selten nach einer Rechtfertigung in der Phantasie sucht? Man braucht Legenden, die viel erklären, man klagt das Schicksal an, man ruft Geister, um ihnen die Schuld für Antworten zuzuweisen. In Benjamin Brittens Kammeroper „The Turn of the Screw“ sind es Fragen der  heimlich erwachenden, verbotenen kindlichen Erotik, der überwältigenden Überraschung von der Erfahrung eigener Sexualität.

Sind die Geister in dem Drama nur Geister, oder sind sie wahre, wahrnehmbare Lebewesen? Bedient sich Henry James lediglich einer Metapher, um nicht direkt von etwas erzählen zu wollen, was ohnehin nicht erzählt werden durfte? In der Zeit, in der er die Novelle „The Turn of the Screw“ schrieb, war es ein Tabu, öffentlich Meinungen über verschiedene Facetten der Sexualität zu äußern, besonders der in ungewohnten, von der im Verständnis der Allgemeinheit abweichenden Nuancen ausgelebten. Auch ähnlich in den frühen 1950er Jahren, als Britten die Oper schrieb. Das Kind singt: Malo… Malo… Laut Programmheft: „ein sonderbares Lied...“ Männlich… Männlich…

Hm, die Zeit der Unschuld ist vorbei, singt Miss Jessel, aber sie ist nur ein Geist, was sie sagt, zählt nicht für uns Lebende, auch wenn sie so viel Leid im Leben erfahren hat. Schwanger und verlassen ging sie fort und starb. Starb und kehrte zurück, um zu warnen? Oder zu verführen?

 

In seinem Konzept der Inszenierung erzählt der Regisseur Georg Heckel die Geschichte der von ihrer erwachenden Sexualität selbst überraschten, überwältigten, oder wer es mag, von Geistern verführten zwei Kinder. Stück für Stück wie Kalenderblätter, die man umlegt. Zwischen die einzelnen Szenen legt er Pausen ein, diese werden gefüllt durch die Musik vor einem geschlossenen Vorhang  in nichtssagenden verwässerten Pastellfarben - nichts soll von der Spannung ablenken, die auf der offenen Bühne gerade aufgebaut worden war. Die Musik spielt allein die Handlung weiter, das Publikum hat Zeit zum Nachdenken.

 

Die Sexualität der Kinder ist nur angedeutet, die Wahrnehmung des eigenen körperlichen „Ich“ findet eher im Unterbewusstsein statt. Nur die beiden Geister verstecken sich nicht hinter ihren Absichten und Handeln. Wir wissen nicht, was sie vorhaben, ob es Kindesmissbrauch ist, Provokation, oder eher Liebe und Fürsorge? Oder reine Lust?

Die Kinder scheinen die Geister nicht direkt wahrzunehmen, oder sie bilden sich ihre Anwesenheit ein, wenn diese einem konkreten Zweck, der Rechtfertigung eigenen Benehmens dienen kann. Werden die Kinder von den Geistern manipuliert? Oder umgekehrt, wird die Rolle, der Einfluss der Geister von den Kindern manipuliert? In gemeinsamen Szenen gibt es kaum Blickkontakt und kaum körperliche Nähe, das verstärkt das Gefühl, ja die Gewissheit, dass sich das doch nicht wirklich in dem Haus Bly, sondern in den Seelen der Kinder abspielt.

 

Korruption der Unschuld, hat jemand über „The Turn of the Screw“ geschrieben. Auch die Frage wurde gestellt, ob es um Missbrauch oder um Provokation geht. Das Libretto gibt keine klare Antwort, aber es bewirkt, was im guten Theater Gold wert ist: Eine dramatische, mit widersprüchlichen Emotionen, Wut, Entsetzen, Mitleid, Liebe, Erotik, Hilflosigkeit, Hass und mit viel Interpretationsmöglichkeit, Anreiz und Herausforderungen, voll beladene Erzählung.

 

Und gerade das ist die Detmolder Aufführung. - Nichts für schwache Nerven – sagt meine Freundin.

 

Die Musik? Benjamin Brittens Genie zeichnet sich auch darin ab, dass seine Musik außerhalb einer anerzogenen Schönheit von Harmonie in festgefahrenen ästhetischen Erwartungen von Wort und Musik weit überlegen ist. Sie ist eine Weiterführung, ein Spiel gegen den verhärteten und um den erweiternden ästhetischen Sinn, reich an raffinierten Klangverflechtungen, Nuancen, die mit harmonischen Zusammenhängen erst verwirren und dann faszinieren. Das Unbekannte hat von Natur aus das Potential zum Überraschen, vorhergeahnte, bereits in der Phantasie erwartete Tonfolgen beruhigen zwar, am Ende erweisen sie sich aber nicht selten als trivial. 

Brittens Dramatik der Komposition steigert diese psychologisch verwirrte Handlung und die Bedeutung der einzelnen gesungenen Sätze – nein, es ist keine Musikbegleitung, es ist die Handlung des Dramas ausgedrückt in der Sprache der Klangwelt, der Musik, die den jeweiligen Seelenzustand widergibt. (Musikalische Leitung György Mészáros)

 

Die Bühne. Drei große, tiefe bewegliche Rahmen werden von Szene zu Szene in unterschiedlichen Konstellationen zueinander aufgestellt, diffus beleuchtet und mit sparsam projizierten grellen Scheinwerfern zerschnitten (Licht Carsten-Alexander Lenauer). Im Spiel von Nebel-Schatten-Licht umgeben sie fügsam die Dramatik so suggestiv, dass die Aufmerksamkeit sich meistens nur auf die Darsteller auf der Bühne richtet, und man weiß, dass sie im Zimmer, im Bett, im Schulunterricht, im Turm, in der Kapelle sind. Diese bühnenbildnerische Zurückhaltung verlagert die Aufgabe und die Freiheit der Deutung und Urteilung auf den Zuschauer, er muss sich ein Bild kraft der eigenen Vorstellung bauen. Das Bühnenbild (Timo Dentler & Okarina Peter) lenkt nicht ab, überlässt den absoluten Vorrang dem Wort und Ton. Und der Reflexion: Das Drama und das Thema sind zeitlos, aktuell.

 

Eine der Szenen, die unter die Haut geht: Die beiden Geister, Miss Jessel & Quint, und die Kinder, im Schlaf? Halbschlaf? Die Geister verführen sie zu ihren Welten, manipulieren mit ihrer erwachenden Sexualität und ihrem Leid der Unsicherheit - es ist ein Kampf, ausgetragen mit der Kraft der Musik und des Wortes, fast ohne Gestik. Das Drama spielt weiter in der bewussten, unterbewussten Welt der Kinder: Was bin ich, was will ich, was wollen sie von mir. Was muss ich? Ist das gut? Oder teuflisch? Hart.

 

Und jetzt das Wichtigste: Alle, also die Sänger, die Musiker des symphonischen Orchesters des Landestheater, die Regie, Bühne und Licht, werden in die Aufführung eingebunden als autonome Teile, die sich perfekt in ein komplexes Werk zusammenfügen. Die Musik und das Wort sind feste, geniale Vorgaben. Die Ausführenden standen vor der Aufgabe, mit ihrem Können diese Vorgaben ebenbürtig in Szene zu setzen, und sie sind dieser Aufgabe mit einem sensiblen Gespür für die Bedeutung und die Botschaft des Werkes gefolgt, sie sind ein Teil der Szenen und ein Teil der Musik - eine Symbiose, ohne die die schwerwiegenden Inhalte nicht klar durchgekommen wären. Diese Aufführung bleibt lange in Erinnerung. Auch unter dem anfangs zitierten Satz: Es gibt wenige Taten, die von Anfang an zweifelsfrei gut oder schlecht sind.

 

Die enthusiastische und dann doch verzweifelte Gouvernante (Emily Dorn), Miss Jessel (Lotte Kortenhaus), geisterhaft dort, wo der Geist gefragt wird und Schauer über den Rücken fahren lässt, Quint (Stephen Chambers), eh, ein netter Geist, eigentlich ein fürsorglicher Kumpel vom Sportplatz. Die Haushälterin Mrs. Grose (Monika Walerowicz), ja, sie hat mit ihrer Rolle versucht, das zusammen zu halten, was nicht zusammenzuhalten war. Und die Kinder? Der kleine Miles (Johann Kaßmann) ist wirklich ein kleines Kind, er braucht es nicht vorzuspielen. Seine ältere Schwester Flora (Stephanie Hershaw)? Es scheint, dass sie von den Ereignissen im Haus Bly mehr weiß, als die Gouvernante, die Haushälterin und selbst die Geisterfrau.

 

Jan Ochalski, 6.4.22

Bilder siehe unten !

 

 

PS: Der Text ist sehr dicht, das Englisch des Gesangs schwer zu verstehen, die Leuchttafel mit der deutschen Übersetzung voll von Sätzen, die manchmal sehr rasch aufeinander folgen. Gespalten muss man die Aufmerksamkeit teilen zwischen oben und unten und oft schnell entscheiden, was nun: Der Text? Die Bühne? Die Musik verlangt ja auch eine konzentrierte Aufmerksamkeit. Bei einem Werk mit einer Fülle von intellektuellen, provozierenden Text- und Musikherausforderungen müsste man vorher nicht nur die Inhaltsangabe, sondern das ganze Libretto lesen. Also nichts für Besucher, die eine leicht erkennbare Kost erwarten

 

 

 

 

 


Benjamin Brittens

The Turn of the Screw macht Gänsehaut

Premiere: 25.03.2022
besuchte Vorstellung: 30.03.2022

Gänsehaut

Lieber Opernfreund-Freund,

gruselig geht es derzeit am Landestheater Detmold zu. Benjamin Brittens knapp zweistündige Kammeroper The Turn of the Screw aus dem Jahr 1954 gerät in der Lesart von Georg Heckel zum packenden Psychothriller. Dabei wird ganz und gar nicht schaurig gesungen und musiziert.

 

 

Wenn Kammeropern auf großer Bühne inszeniert werden, laufen sie Gefahr, den intimen Rahmen, den der Komponist durch diese Form beabsichtigt, zu verlieren und beinahe verloren in großen Häusern zu wirken. Georg Heckel, Intendant des Landestheaters Detmold, gelingt das Kunststück, die Bühne raumgreifend zu bespielen und doch den kammerspielartigen Charakter des Werkes zu erhalten, indem er sich von Timo Dentler und Okarina Peter große goldene Rahmen auf die Bühne stellen lässt, die den Raum begrenzen und zu Zimmern werden, zur Kammer der namenlos gebliebenen Gouvernante beispielsweise, die die beiden Kinder Miles und Flora auf dem Landsitz im englischen Bly betreuen soll. In anderen Szenen lässt er vor der Gaze spielen, schafft so eine künstliche Enge. Die wirkliche Beklemmung allerdings erzeugt da wie dort das raffinierte Licht von Carsten-Alexander Lenauer, das der Geschichte etwas geheimnisvoll-mystisches verleiht. Der Prolog, der in die Handlung einführt, wird aus dem Graben gesungen, die erste Szene von der Proszeniumsloge herab gespielt; so bleibt die Bühne dem Spiel zwischen Schein und Sein vorbehalten. Denn auch Heckel löst nicht auf, ob die Geistererscheinung der ehemaligen Bediensteten Miss Jessel und Peter Quint nicht doch der Phantasie entspringen, ob sie Erfindungen der Kinder oder Hirngespinste der Gouvernante sind. Was weiß die Haushälterin Mrs. Grose über den verschwundenen Brief, in dem die Gouvernante den Vormund der Kinder um Hilfe bittet? Und warum besteht der eigentlich darauf, unter keinen Umständen behelligt zu werden? Heckel lässt diese Fragen offen, bewahrt so das Undurchsichtige des Werkes, macht es zum Schauermärchen mit dramatischem Ausgang.

 

 

Die Kostüme von Timo Dentler und Okarina Peter verorten das Geschehen in der Zeit der Entstehung der literarischen Vorlage zu Brittens Oper – Henry James‘ Novelle stammt aus dem Jahr 1897. Die kleine Besetzung, dreizehn Musiker spielen auf siebzehn verschiedenen Instrumenten, hört man am Mittwochabend nicht. György Mészáros, kommissarischer GMD am Landestheater Detmold, webt einen dichten Klangteppich, wechselt versiert zwischen den oft tanzartigen Zwischenspielen, die oft etwas Folkloristisches haben, und höchstexpressionistischen Szenen. Dabei sind die Stimmen der Protagonisten in den Ensembles perfekt und absolut gleichberechtigt zusammengeführt, dürfen dafür in den Soli glänzen.

 

 

Mrs. Grose ist von den Maskenbildnern wie eine ältere Version der Gouvernante gezeichnet, gleichsam perfekt ergänzen sich die ausdrucksstarken Stimmen von Emily Dorn und Monika Walerowicz. Dorns Gouvernante ist dabei eine streitbare junge Frau, die zusehends hilflos scheint. Das Timbre der Kanadierin wechselt dabei eindrucksvoll von expressiv-energisch zu zart. Ähnlich farbenreich zeigt sich der imposante Mezzo von Monika Walerowicz, die wie Dorn auch darstellerisch die Facetten ihrer Figur vorzüglich ausfüllt. Der feine, gefühlvolle Tenor von Stephen Chambers erscheint als Quint fast transparent. Das durchdringende Spiel des britischen Ensemblemitglieds in den Geistererscheinungen liefert die Gänsehaut dazu frei Haus. Die bescheren mir auch die besonders mysteriös erscheinenden Auftritte von Ekaterina Kudryavtseva als Miss Jessel.

 

 

Die junge Stephanie Hershaw ist Mitglied des Opernstudios und meistert die Flora mit Bravour, während die Soli von Johann Kaßmann als Miles einem den einen oder anderen Schauer über den Rücken jagen, so durchdringend, so verzweifelt, so zerbrechlich und doch energisch klingt sein zarter Knabensopran. Regie, Orchester und Solisten tragen so zu einem eindrucksvollen Opernabend bei, den das Publikum nach dem tragischen Ende mit langanhaltendem Applaus goutiert.

Ihr
Jochen Rüth

01.04.2022

 

Die Fotos stammen von A.T. Schaefer.

 

 

Die traurige Witwe, die lustige Witwe

Lehár-Premiere mit Überraschung

Besuchte Premiere am 5.12.2021

 

Der Vorhang bleibt geschlossen, fünf, zehn Minuten vergehen, und dann geht er endlich hoch. Dahinter auf dem Hochzeitsnachts- und Sterbebett ihres, hm, kurzlebigen Ehemanns sitzt die frischgewordene Witwe den Tränen nahe. Hinter ihr das ganze Ensemble. An die Rampe tritt der Theaterintendant Georg Heckel und verkündet: Eine Person im Hause wurde positiv auf Covid19 getestet, unter diesem Umstand kann die Premiere nicht stattfinden. Entschuldigung. Dann brach ein kräftiger Schlussapplaus aus, bevor noch etwas angefangen hat. Das war am Freitag den 3. Dezember. Zwei Tage später, am Sonntag den 5. Dezember: Der Vorhang geht hoch, auf dem, Sie wissen schon, Bett, sitzt Emily Dorn, traurig und nachdenklich, noch voller Gedanken über Verlust und Gewinn, und – vielleicht – froh bereits, weil sie bald lustig sein wird, was sie auch zu singen hat. Ein Teil des Publikums mit den Sonntagskarten weiß gar nicht, dass es in der Premiere sitzt, erst nach dem Vorstellungsschluss, nach dem kurzen Statement des Intendanten geht ein Raunen durchs Publikum: Es war die Premiere!...

 

 

Und gleich stellt sich die Frage: Wie liebestötend muss der erste Musikentwurf von Richard Heuberger gewesen sein, den die Librettisten Léon und Stein zuerst als Komponisten der lustigen Witwe gedacht haben? Sie fanden Heubergers Entwurf nicht erotisch genug. Erst Lehárs Musik muss wohl ihre Erwartungen der Librettisten erfüllt haben. Meine nicht. Hye Ryung Lee führte das Orchester perfekt vorsichtig. Die Dynamik, Artikulation, Nuance der Rhythmik, die mehr aus der Partitur als aus dem Konglomerat der Emotionen von „pontevedrinischem“ Temperament, Wiener Blut und Pariser (Nacht)Leben, und zwar im steten Wechsel auszulesen wären, kamen nicht deutlich durch. Zu brav die Interpretation, zu bedacht die korrekte Notenwiedergabe. Was blieb, war ein Hauch von Plüscherotik des Wiener Cafés. Das Detmolder Orchester hat nicht einmal gezeigt, dass es auch Leidenschaften spielen kann. Das Publikum muss wohl ähnlich empfunden haben, im Saal herrschte eine sonntägliche Ruhe vor Kaffee-Kuchen Stunde, bis der Weibermarsch, das „Ja, das Studium der Weiber ist schwer“, kam. Da erwachte der Saal. Erst einzeln und vorsichtig, dann aber, als die Männer die Hosen runter ließen, brach ein stürmisches rhythmisches Geklatsche aus. Ich befürchte, dass dies nicht diese Art von Erotik war, die Lehár, Léon und Stein im Sinn hatten.

 

 

Diese hat der Regisseur Otto Pichler retten wollen. Es scheint, dass er die schwache Erotik der Musikinterpretation mit szenischen Einfällen ausgleichen wollte. Eine anspruchsvolle Aufgabe. Die Groteske, Erotikdarstellungen und den Humor von 1900 ins 2021 so umzusetzen, dass es auch heute als Groteske, Erotik & Witz wahrgenommen wird, ist nicht leicht. Schließlich wird auch hier eine reale, immer wiederkehrende Geschichte erzählt: Er liebt sie, sie heiratet einen anderen, doch sie liebt noch einen anderen, der noch eine andere liebt, die ihn mit einem anderen betrügt, der einen anderen bedroht, weil er mit seiner Frau, die ihn mit dem anderen… usw, usw. Das ist die Realität von vor 120 Jahren genauso wie heute, jedes Amtsgericht kann das bestätigen (he he, Datenschutz). Es geht eigentlich nur darum, in welcher Form dies öffentlich wird, in einer Pressenotiz, oder in einer Operette zum Beispiel. Und hier soll es unterhaltsam, titelmäßig lustig sein. Und erotisch. Aber wie?

 

Otto Pichlers Nähe zu Barrie Kosky weckte in mir erst den Verdacht, die Premierenabsage sei ein Kunstgriff, dann aber die Erwartung einer Inszenierung, die das alte Original – ohne es zu zerstören – verzerrt, eine groteske, ironische Sicht der Bühne zeigt, oder wenigstens suggeriert. Und die von Urhebern gewollte Erotik auch erotisch darstellt. 120 Jahre danach hat das Theater schier unbegrenzte Mittel und Akzeptanz, alles in die Theatersprache umzusetzen. Ein unter der Gangway onanierender Danilo wirkt aber hier wie ein Hilferuf nach einem besonderen szenischen Einfallsreichtum. Schwach. Und inkonsequent. Danilo geht schließlich – und daraus macht er keinen Hehl – zu Maxim, wo er dort ja auch intim, aber in einer guten Damengesellschaft ist.

 

 

Emily Dorn (als Hanna Glawari) und Todd Boyce (als Graf Danilo) singen und spielen ihre Rolle mit einer nonchalanten Sicherheit, manchmal mit einer so natürlichen Selbstverständlichkeit, dass der Eindruck entsteht, man sei als Zuschauer auch mitten im Geschehen an der anderen Seite der Rampe, im Maxim oder anderswo, wo die Menschen drumherum sich unterhalten, tanzen, streiten, trinken und flirten, gehen und kommen, wie in einem anderen beliebigen Lokal. Und dabei gibt es nichts Operettenhaftes – ausgenommen den weißen Schal um den Hals des Grafen. Das andere Paar, Penelope Kendros (Valencienne) und Stephen Chambers (Camille de Rosillon) gestalten ihre Rolle mit einer vorsichtigen Selbstironie. In einer brenzligen Lage bleiben sie immer noch sympathisch albern – da scheint die Operette spürbar durch, ähnlich wie im Spiel von Andreas Jören (Baron Mirko Zeta) und Florian Zanger (Vicomte Cascada).

 

Kurzum: Das gesamte Ensemble mit seiner Professionalität und gründlichen Vorbereitung sorgt für eine gute Operettenproduktion – vergessen Sie die Einwände. Eins dürfen Sie aber auf keinen Fall vergessen, wenn Sie eine der Vorstellungen besuchen wollen: den Impfpass und eine Nasen-Mund-Schutz Maske.

 

Jan Ochalski, 11.12.2021

Fotos A.T. Schaefer / Landestheater Detmold

 

 

Liebe in den Zeiten der Pandemie

Le Nozze di Figaro

Premiere am 10. September 2021

 

Regisseur Jan Eßinger hat das Leben und Wandeln der Figuren auf die Theaterebene gestellt, wo es auch hingehört: Ein Märchen vom sorglosen Leben, gefüllt mit Denken und Handeln, wer mit wem sich paart, mit wem betrügt, sich versöhnt, und dies im steten Wechsel, auch wenn meistens in nur wenig realisierbaren Absichten: Die einen wollen zueinander, den anderen wird es verwehrt, und noch andere werden in ihrem Vorhaben gestört. Das Bühnenbild (Marc Weeger) spiegelt in strengen geometrischen Formen den steten Wechsel der Beziehungen ohne Aussicht auf wirklich glückliche Fügung, darauf zerstückelt projiziert er zarte Rokoko-Landschaft. Einzelne Elemente wie Bausteine schweben über der Bühne und finden nicht zueinander. Nein, es wird nicht passen.

 

 

Die Sängerinnen und Sänger verkörpern weniger lebende Menschen, als vielmehr große Figuren in einem edlen Marionettenspiel, die ausgestattet sind mit menschlichen Emotionen und geführt von der Hand eines gerissenen Strippenziehers dem gesteuerten Schicksal folgen. Der Graf will Sex mit Untertanen, die Gräfin trauert um die verlorene Liebe, Susanna will den Figaro, aber die Amoren des Grafen sind auch verlockend, der klamaukeske Basilio (Nando Zickgraf) verliert seine frühere – eingebildete – Würde des Musikgelehrten, Cherubino tobt mit pubertären erotischen Hoffnungen herum und spielt mit seiner Stimme (Dorothee Bienert) auf die – irgendwann und womöglich – künftige Mannesstärke. In einer dramatischen Parallelebene führt ein Cherubin d’amore (Felix Hennig) das Spiel weiter. Mit kleinen Puppen, die den echten Darstellern, den großen Figuren en miniature nachgebildet sind, mischt er sich in die Handlung ein, streift mit seinen Engelsflügeln die großen Figuren, setzt die kleinen zusammen, reißt sie auseinander, setzt sie anders zusammen, legt sie in die Hände der großen Figuren und spielt, wie diese, mit der Liebe, der Treue und Untreue. Und da es sich um ein Spiel, ein Zuckerdrama handelt, sehen die Darsteller, also die großen Figuren auch entsprechend aus. Gekleidet in farbenfrohe Kostüme (Carl-Christian Andresen) aus teuren, edel wirkenden Stoffen, zu sparsamen aber fantasiereichen Formen drapiert, wechseln sie gegenseitig die Standorte oder bewegen sich manchmal im Kreis, als seien sie tatsächlich kostbare Marionetten auf der Drehbühne eines Jahrmarkt-Puppenspiels. Es ist nur eine sparsame, diskrete choreographische Andeutung, diese aber haftet in der Erinnerung und lässt nicht vergessen, dass es sich hier um eine Phantasiewelt handelt.

 

Wegen der Corona-Pandemie fand die Premiere in einem ungewohnten Rahmen statt: Im Zuschauerraum blieben viele Plätze frei, der Abstand zwischen Zuschauern war entsprechend groß, es war wie eine lockere kleine Gesellschaft unter sich, ein Glas Wein in der Hand, das man in den Zuschauerraum mitnehmen und weiter langsam genießen darf… Noch vorm Beginn der Vorstellung herrschte eine ungezwungene Stimmung einer exklusiven privaten Veranstaltung für Auserwählte.

Zu sehr elitär dies? Dass die Oper mit der Zeit immer elitärer wurde, braucht man nicht zu verheimlichen. Sie ist eine sublimierte, kostbare Art der Kunst, die nicht allen zugänglich ist, schon allein wegen der Barrieren der ästhetischen Sensibilität. Und wenn man einen solch exklusiven Schatz hat, muss man ihn besonders schützen und pflegen.

 

Ein Haus, ein Raum voller Menschen klingt anders als eines zu einem Drittel leer. Durch die Pandemie wurde auch der Orchestergraben erweitert, die Musiker saßen verteilt in einem nun viel tieferen Raum unter der Bühne, der Klang gewann dadurch eine räumliche Fülle, war viel voluminöser als ich es aus den vergangenen Besuchen in Erinnerung habe. – Oder ist es eine Einbildung, die aus der langen Enthaltsamkeit resultiert? Das Orchester (musikalische Leitung György Mészáros) klang im Ganzen klar und verständlich, begleitete die Phrasenlinien der Sänger ohne die für kleine Häuser gefährlich gedämmte Klangenge oder störende Aufdringlichkeit. Was jetzt zu hören war, war eine willkommene akustische Symbiose zwischen Stimmen, Instrumenten und Raumakustik.

 

Im ganzen Ensemble hört man die gute Vorarbeit, es klingt homogen, die Lautstärke wird mit Bedacht dosiert als konsequenter Ausdruck von Emotionen der Mitteilung - niemand versucht zu beweisen, dass sie/er besser ist, weil sie/er besser ist. Durch die körperliche Distanz auf der Bühne - Folge der Hygiene-Maßnahmen –, gewinnt die Handlung an Klarheit, die Figuren an solitärer Integrität, und der erzwungene Abstand verstärkt den Eindruck der emotionalen Nähe. Wenn Susanna und Figaro Hand in Hand als Paar die Vorderbühne langsam verlassen, schweben ihre ausgestreckten Hände frei, sie berühren sich nicht und doch spürt man, wie die Luft zwischen ihnen knistert. Es ist nur ein kleines Detail der Inszenierung, eins von vielen. Das bewirkt, dass die räumliche Distanz auf der Bühne die Illusion der Nähe voller Leidenschaft erzeugen kann. Theater pur.

 

 

Gräfin Almaviva (diese Rolle singt und spielt Emily Dorn) ist eine etwas naive, verträumte Dame, immer noch verhaftet in der Erinnerung an das romantische Liebeswerben des jungen Grafen. Sie wird in dem Marionettenspiel zu einer tragenden Figur, und auch wenn sie nicht dauernd in die laufende Handlung unmittelbar involviert ist, zeigt sie mit ihrer konsequent eingesetzten Stimme differenzierte Emotionen, mit ihrem nachdenklichen vorsichtigen Schauspiel eine unaufdringliche Anwesenheit.

 

Susanna (Mirella Hagen), eine zierliche Figur, zeigt Kraft, wo sie sie braucht, aus einem unschuldig harmlosen Kammermädchen wird sie zur Intrigantin, und diesen Wandel zeigt sie plausibel mit ihrer Stimme und Schauspiel. Figaro (Jakob Kunath) dagegen bleibt etwas undefiniert, bei Non più andrai…, wo er endlich seinen Frust abreagieren kann, wird er zwar handgreiflich, aber in seiner Stimme spürt man eine Unsicherheit, als überlegte er, wie weit ein Diener zu einem Rebellen werden darf.

 

Einige wenige Buh-Rufe für Benjamin Lewis (in der Rolle des Grafen Almaviva) beim Schlussapplaus klangen befremdet. Es mag sein, dass ein paar Operngäste in der Figur des Grafen lieber den zarten sanften Almaviva aus der Rossini-Oper immer noch sehen wollten, vielleicht hatten sie auch andere Gründe. Menschen ändern sich, Graf Almaviva ist jetzt ein widerlicher Machtmensch mit ausgeprägtem Sexualtrieb, und Benjamin Lewis spielt konsequent einen solchen, der bis zum Schluß widerlich bleibt, selbst in dem Friede-Freude-Eierkuchen-Finale nimmt ihm keiner seine Reue und Bekenntnis zu seiner Frau ab, auch sie, die Gräfin Almaviva, abserviert sein plötzliches Wandeln mit nur einem verächtlichen Achselzucken.

 

So wird in Detmold die Liebe und Untreue in den Zeiten der Pandemie gespielt. Und das ist gut so, für die Liebe und für das Theater.

 

Jan Ochalski, 18.9.2021

Bilder (c) A.T. Schäfer

 

 

 

 

 

Giselher Klebe

Der jüngste Tag

Premiere: 7. Februar 2020

Besuchte Vorstellung: 28. Februar 2020

 

Ihre Uraufführung erlebten die Opern Giselher Klebes meist an den großen deutschen Häusern: „Alkmene“ kam 1962 an der Deutschen Oper Berlin heraus, „Figaro lässt sich scheiden“ und „Jakobowsky und der Oberst“ 1963 und 1965 an der Hamburgischen Staatsoper. Heute ist Klebe aus dem Repertoire verschwunden, lediglich in Detmold, wo Klebe einen Großteil seines Lebens verbrachte, wird er noch aufgeführt: Zuletzt spielte man hier 2006 „Die tödlichen Wünsche“ und 2008 „Chestlakows Wiederkehr“. Aus Anlass des 10. Todestag des Komponisten bringt das Landestheater nun „Der jüngste Tag“ auf die Bühne.

 

 

Vorlage der Oper ist das gleichnamige Schauspiel Ödon von Horvarths: Der Stationsvorsteher Thomas Hudetz, um dessen Ehe es schlecht bestellt ist, vergisst ein Signal zu setzen, weil Wirtstochter Anna mit ihm flirtet und einen Kuss gibt. Bei Bahnunglück gibt es 18 Tote, doch Hudetz behauptet das Signal richtig gestellt zu haben und Anna unterstützt ihn mit ihrer Aussage. Die Tatsache, dass Klebes Opern heute in Vergessenheit geraten sind, hat nichts damit zu tun, dass er „Literaturopern“ schrieb, die auf großen Stoffen der Weltliteratur beruhen. Auch Verdis „Otello“, Puccinis „La Boheme“ und „Salome von Strauss fußen auf literarisch erfolgreichen Werken. Vielmehr ist es die schwache kompositorische Substanz von Klebes Musik, mit der sich der Komponist selbst im Weg steht.

 

 

Zwar schafft die Musik Atmosphäre und Stimmung, sängerische und orchestrale Höhepunkte sucht man in diesem Stück vergebens. Der Text ist so komponiert, dass man jedes Wort versteht. Trotz des engagierten Dirigats von GMD Lutz Rademacher hat aber durchgehend das Gefühl, keine Oper, sondern ein Schauspiel mit Gesang und Orchesterbegleitung zu erleben. So wird man von Klebes Musik auch nie emotional mitgerissen und eine Klangmagie, die man selbst in zeitgenössischen Werken von Karlheinz Stockhausen, Hans Werner Henze oder Aribert Reimann erlebt, fehlt hier vollständig. Das Landestheater Detmold bietet aber für dieses schwache Stück ein starkes Plädoyer und bringt eine mustergültige Aufführung auf die Bühne. Da muss man zuerst das großartige Detmolder Ensemble nennen: Benjamin Lewis singt den Thomas Hudetz mit großem und charakterstarken Bariton, so dass man ihn sich auch gut als Wagners Wotan vorstellen kann. Seine Ehefrau gestaltet Emily Dorn mit selbstbewusst auftrumpfenden Sopran. Mit lyrischer Leichtigkeit stattet Sopranistin Sheida Damghani die Wirtstochter Anna aus. Aufhorchen lassen auch Seunghweon Lee, der mit nachtschwarzen Riesenbass ihren Vater singt, und der leuchtende Tenor von Stephen Chambers, der Anna Verlobten Ferdinand verkörpert.

 

 

Zudem bringt Regisseur Jan Eßinger, der sein Handwerk als Regieassistent an der Komischen Oper Berlin und dem Züricher Opernhaus erlernt hat, eine sparsam konzentrierte Inszenierung auf die von Sonja Fürstl entworfene Bühne. Ein gigantische, drehbare Stahlkonstruktion bietet mit ihren vielen Spielflächen das treffende Bühnenbild für diese Oper. Auch gelingt es der Regie in diesem Raum die wechselnden Schauplätze darzustellen. Die Beleuchtung von Henning Streck setzt zudem genaue atmosphärische Akzente.Regisseur Jan Eßinger verzichtet auf alle Requisiten und schafft es, trotz einer stilisierten Spielweise, glaubhafte Charakter auf die Bühne zu bringen. Die Detmolder Aufführung ist somit stärker als das Stück von sich aus ist.

 

Rudolf Hermes, 3. März 2020

Bilder (c) Landestheater



DER WILDSCHÜTZ

Premiere: 06.12.2019

Lortzings WILDSCHÜTZ ist eine Komödie, ist eine Komödie, ist eine Komödie, ist eine Komödie, ist eine Komödie, ist eine Komödie, ist eine Komödie, ist eine Komödie.....

Lieber Opernfreund-Freund,

nach dem kurzweiligen und witzig-spritzigen Publikumsrenner Martha in der vergangenen Saison zeigt das Landestheater Detmold auch in dieser Spielzeit wieder eine komische deutschsprachige Oper aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Doch was Kay Link mit Flotows Werk so hinreißend gelang, lässt sich mit Lortzings Wildschütz nicht wiederholen. Und das liegt vor allem an der verkopften Lesart von Martina Eitner-Acheampong – aber nicht nur…

Der alte Dorflehrer Baculus hat des nachts einen Rehbock gewildert, Graf von Eberbach will ihn deshalb entlassen. Da soll Gretchen die viel jüngere Gattin von Baculus beim als Weiberheld verschrienen Grafen ein gutes Wort einlegen. Auf dem Weg zum Schloss begegnen sie der Baronin Freimann, der Schwester des Grafen. Die will sich vom Baron Kronthal, den sie heiraten soll und der sich beim Grafen Eberbach aufhält, erst einmal inkognito ein Bild verschaffen und hat sich deshalb als Student verkleidet. Nun verkleidet sich der Student als Gretchen und macht sich unerkannt auf den Weg zum eigenen Bruder. Dessen Frau wiederum hat keine Ahnung, dass Hausgast Baron Kronthal ihr Bruder ist… Sie merken schon, lieber Opernfreund-Freund, die Handlung des Wildschütz ist an sich schon vertrackt genug; doch statt diese für den Zuschauer zu entwirren, ersinnt Martina Eitner-Acheampong eine Art Höllenmaschine, die an eine Konstruktion Leonardo da Vincics erinnert, aber zusätzlich mit leuchtenden LED-Streifen ausgestattet ist. Dieses Ding – die zunehmend enervierenden Geräusche, die es von sich gibt, wann immer es zu Einsatz kommt, sollen irgendetwas Futuristisches vermitteln – spuckt bei Bedarf alles aus, was die Protagonisten so brauchen: Pumps oder ein Kleidchen zum Beispiel oder auch eine Art Glückspillen für das Volk und die Adelsfamilie selbst, an denen allenthalben wie an Leckmuscheln herumgelutscht wird. Die Maschine ist außer ein paar, bedeutungsschwanger mit Philosophenportraits verzierten Würfeln und ohne weitere Funktion am Bühnenrand herumliegenden Schriftzügen wie „Geld“ oder „Rausch“ die einzige Kulisse auf der Bühne von Katrin Wittig. Die Kostüme von Valerie Hirschmann sind knallbunt und originell, wenn auch nicht immer durch die Bank gelungen. So verdammt die unhandliche, überlange Schleppe am Gewand der Gräfin die Protagonistin zu ewigem Herumgestolper und -gestakse und auch das Strapsoutfit, das Graf von Eberbach zur Billardszene trägt, ist völlig sinnentleert.

Was das alles mit dem Wildschütz zu tun hat? Nicht einmal das ansonsten in Detmold so informative Programmheft kann darüber Aufschluss geben, sondern erschöpft sich in oft überinterpretierenden, kopflastigen Texten, bei denen der Eindruck entsteht, als hätte das Produktionsteam der Komödie partout etwas tiefschürfend Sinnstiftendes abgewinnen wollen. Manchmal jedoch ist es in Ordnung, wenn eine Komödie einfach eine Komödie sein darf – denn dann kann sie auch wirklich funktionieren. In der ersten Hälfte des gestrigen Abends allerdings will der Funke so gar nicht überspringen auf das zahlreich erschienene Publikum. Zwar entwickelt sich das in der zugegebenermaßen stärkeren zweiten Hälfte, jedoch habe ich gestern jeglichen Premierengeist vermisst, jene spürbare Anspannung im Ensemble, das Werk endlich zu präsentieren, die bei Premieren oft über den Graben bis in den letzten Winkel des Zuschauerraums Wirkung zeigt. Die ausufernden Textpassagen – bei einem so international aufgestellten Ensemble wie in Detmold durchaus auch mit schlechter Verständlichkeit – tun ein Übriges, um dem Abend so manche Länge zu bereiten. Aber es wird ja glücklicherweise nicht schlecht gesungen und musiziert.

Opernstudio-Mitglied Eungdae Han darf als Retter des Abends gelten, sprang er doch in letzter Sekunde für den erkrankten Haustenor als Baron Kronthal ein. Sein lyrischer Tenor verfügt über eine ansprechende Höhe und feine Farbe, jedoch ist die Partie stellenweise noch eine halbe Nummer zu groß für den jungen Südkoreaner. Annina Olivia Battaglia ist eine Opernstudio-Kollegin von ihm und gibt das Gretchen bühnenpräsent und farbenreich, während Emily Dorn als Baronin Freimann glänzt. Die junge Kanadierin verfügt über eine satte Mittellage und eine Höhe, die nicht immer frei von Schärfe ist, doch gelingen ihr auch immer wieder betörende Piani. Benjamin Lewis ist als Graf von Eberbach ein nonchalanter Draufgänger mit voluminösem Bariton und nuanciertem Ausdruck; Brigitte Bauma wirkt als seine Gattin wie ein Magnet für die Augen der Zuschauer, wann immer sie die Bühne betritt, so imposant ist ihr Auftreten. Seungwoen Lee darf als Baculus einmal mehr sein komödiantisches Talent unter Beweis stellen. Der tollpatschige Dorflehrer ist bei ihm und seinem für die Rolle fast eine Spur zu jung klingenden Bass in den besten Händen.

Der von Francesco Damiani betreute Chor singt und spielt versiert und sauber aufeinander abgestimmt. Vom Orchester hätte ich mir für diesen Lortzing allerdings ein wenig mehr Esprit erhofft, die reichen Melodien hätten dann noch mehr begeistert. Dass es in der ersten Hälfte des Abends in der Koordination zwischen Bühne und Graben mehr als einmal gehörig knirscht, ist vielleicht eher einer Premierennervosität als unbedingt György Mészáros zuzuschreiben, der insgesamt ein äußert solides Dirigat präsentiert, es allerdings da und dort an musikalischem Witz mangeln lässt. In Lortzings Wildschütz wird am Ende alles gut, hat doch jeder Figur im Inneren die Stimme der Natur längst gehört, der Bruder die Schwester und die Geliebte den Partner erkannt – und der erschossene Bock war nur ein Esel. Und so war auch am Ende des gestrigen Abends alles gut: Eine solide Ensembleleistung unter überambitionierter Regie – doch eine Komödie ist eine Komödie ist eine Komödie…

Ihr
Jochen Rüth

07.12.2019

Die Bilder stammen von A.T. Schaefer (©Landestheater Detmold)

 

Träume einer Putzfrau

AIDA

Premiere: 13.09.2019

 

Lieber-Opernfreund-Freund,

gestern eröffnete das Landestheater Detmold die dortige Jubiläumsspielzeit anlässlich des 100järigen Bestehens des Landestheaters mit einer Neuninszenierung von Verdis Aida: Inszenatorisch ein Mischmasch aus bereits allzu oft Gesehenem, lässt die musikalische Seite des Abends dank der Bombenbesetzung und des gekonnten Dirigats von GMD Lutz Rademacher kaum Wünsche offen.

Von einer Aida muss man keine pyramidenbestückten Kulissen erwarten. Der innere Zwiespalt der Protagonisten – Aida ist wie ihr Geliebter Radames hin und her gerissen zwischen vaterländischer Pflicht und Liebe, Amneris getrieben von Rachedurst und enttäuschten Gefühlen, obwohl sie Radames doch selbst liebt – lässt sich ganz wunderbar auch ohne Sphinx, Kamele und Mumien erzählen. Doch das scheinen der aus Andorra stammende Regisseur Joan Anton Rechi und sein Team gar nicht zu wollen und präsentieren stattdessen ein buntes Recycling-Potpourri der Aida-Rezeptionen der vergangenen 30 Jahre. Vordergründig will man sich der traditionellen Lesart verweigern, wagt aber die letzte Konsequenz nicht und greift auf ägyptische Accessoires zurück, allerdings ohne dem ganzen auch nur einen neuen Aspekt hinzuzufügen.

Da trifft man auf die Kulisse aus der so bekannten wie bewährten Koproduktion der Rheinoper mit der Berliner Staatsoper aus dem Jahr 1995, in der die Handlung in ein ägyptisches Museum verlegt ist, Aida als Putzfrau kommt einem aus Produktionen in Frankfurt oder Nürnberg irgendwie bekannt vor und auch die Tatsache, dass ebendiese die ganze Geschichte um die äthiopische Prinzessin – wohl gebrainwasht von der omnipräsenten ägyptischen Kulisse ihres Jobs – nur träumt, ist ebenfalls alles andere als neu. Die Museumswärter werfen sich in Detmold bei passender Gelegenheit paillettenbesetzte Goldroben von der Qualität eines Kölner Karnevalsausstatters über, um zu verdeutlichen, dass es sich gerade um eine Traumsequenz handelt (Kostüme: Mercé Paloma), beim Chor reichen dafür ein paar goldgefärbte Zorromasken, während die Putzfrau ihren blauen Kittel durch einen goldenen austauscht, wenn sie zur Aida wird. Das ist genauso zu wenig, um die Geschichte packend zu erzählen, wie die an Laubsägearbeiten erinnernden absenkbaren Blickschutzelemente mit Skarabäen oder Palmwedeln, die uns Gabriel Insignares im letzten Akt anstatt der ansonsten allgegenwärtigen ägyptischen Büsten präsentiert. Rechis an Chaos reichende Personenführung in den Massenszenen tut ein Übriges, um dem Nilepos optisch jede Spannung zu nehmen – wie schade, haben mich vergangene Produktionen des Andorraners wie die Atombomben-Butterfly in Düsseldorf oder Adriana Lecouvreur in Freiburg doch nachhaltig beeindruckt. Also müssen es die Musiker richten.

Auch hier ist nicht alles Gold, was ein entsprechendes Kostüm trägt, doch übertreffen Sänger und Musiker die Qualität der Szenerie bei weitem. Allen voran ist da die glutvolle Amneris von Khatuna Mikaberidze zu nennen, die die Pharaonentochter mit facettenreich-sattem Mezzo zum Leben erweckt, hervorragend spielt und nicht erst im letzten Akt mit ihrer intensiven Darstellung Gänsehaut erzeugt. Der Titelfigur haucht die US-Amerikanerin Elena O’Connor mit fast mezzohaft gefärbter Tiefe und zarter Höhe Leben ein, überzeugt durch stimmlichen Ausdruck und Farbenreichtum ebenso wie durch packendes Spiel, während der höhensichere Tenor von Ji-Woon Kim noch ein wenig muss, damit sein Stimmmaterial die nötige Wucht entwickelt, um den Kriegshelden kämpferischer zu gestalten. Und dennoch gefällt der Südkoreaner durch nuancierte Rollengestaltung und Mut zum Piano. Andreas Jören steht vor einem ähnlichen Problem: Für den Amonasro verfügt er über einen beinahe zu kultiviert wirkenden Bariton, glänzt eher durch Klangschönheit als durch vokale Wucht, wie man sie bei einem draufgängerischen Potentaten erwarten würde. Ensemblemitglied Seungweon Lee hatte mich schon als Lord Tristan in Martha und als Graf von Walter in Luisa Miller beeindruckt und stellt erneut seine Wandlungsfähigkeit unter Beweis, ist gestern ein machthungriger Ramfis mit kernigem Bassbariton und einer Durchschlagskraft, wie sie dieser Rolle gut zu Gesicht steht; und auch Irakli Atanelishvili ist mit seinem profunden Bass ein überzeugender König. Rebecca Oh ist Mitglied im Opernstudio und eine ganz wunderbare Priesterin mit zart-seidige Sopran voller Klarheit.

Verdis Aida ist eine echte Choroper, kaum eine Szene kommt ohne die Damen und Herren, die von Francesco Damiani hervorragend angeleitet wurden, aus. Klanggewaltig und präzise bewältigen sie die umfangreiche Partie und übertönen da und dort sogar ihre Orchesterkollegen, die GMD Lutz Rademacher versiert durch den Abend führt, von denen ich mir da und dort allerdings ein wenig mehr klanglichen Bombast gewünscht hätte. Rademacher präsentiert stattdessen einen nuancierten Verdi mit feinen Zwischentönen, ringt der oft gehörten Partitur immer wieder neue Aspekte ab und macht so den Abend zu einem akustischen Vergnügen, der der Eröffnung der Jubiläumsspielzeit mehr als gerecht wird. Das findet auch das Publikum im voll besetzten Haus, spendet allen Beteiligten begeistert und langanhaltend Applaus. Dass auch das Produktionsteam so unkritisch beklatscht wird, kann ich hingegen nicht ganz nachvollziehen – aber vielleicht ist einem angesichts eines 100jährigen Jubiläums auch einfach nach jubeln zumute.

 

Ihr Jochen Rüth 14.09.2019

Die Fotos stammen von A. T. Schäfer

 

 

 

Luisa Miller

Premiere: 05.04.2019

Schwarz-Weiß-Malerei

Lieber Opernfreund-Freund,

Verdis vergleichsweise selten gespielte Luisa Miller hatte gestern am Landestheater Detmold Premiere. Künstlerisch beachtlich und szenisch solide riss die Darbietung das Publikum am Ende zu wahren Begeisterungsstürmen hin.

Als sich der Vorhang nach der bespielten Ouvertüre hebt, glaubt man noch für einen Moment, man habe die falsche Vorstellung erwischt, zeigt man in Detmold derzeit doch das auf den gleichnamigen Comics und Filmen basierende Grusical The Addam’s Family. Ganz in schwarz-weiß sind die Kostüme von Lukas Noll gehalten, kalkweiß sind auch die Gesichter mit schwarzumränderten Augen, ebenso schwarz sind die Lippen der Protagonisten (beeindruckende Maske: Kerstin Steinke), die teilweise scheinbar aus Särgen steigen und somit erinnert das Setting auf den ersten Blick an die Geschichten rund um Morticia Addams und ihre Lieben. Doch Regisseur Christian von Götz zitiert vielmehr die Stummfilmwelt der 1920er Jahre, den morbiden Charme, das plakative Spiel der Akteure und setzt die Handlung, die immer wieder durch Zuziehen eines Brechtvorhangs mit aufgedrucktem Schiller-Zitat unterbrochen wird, vor an Linolschnitte erinnernden Prospekten in Szene, mit denen Lukas Noll eine ungeheure Tiefe erzeugt. Düster geht es da nicht nur farblich zu auf der Bühne, auch der Tod, auf den von Beginn an alles zuzulaufen scheint, ist allgegenwärtig, denn von Götz hat eine allegorische Figur in Form der sich ausdrucksvoll verbiegenden Tänzerin Caroline Lusken hinzugefügt, die gegen Ende des Abends allen Sterbenden das Gesicht leider allzu plakativ mit roter Farbe beschmiert, ansonsten aber durch sinnfällige Akzente setzt. Christian von Götz gelingt durch durchdachte Personenregie ein weitestgehend spannender Abend, doch leider gelingt es ihm nicht, den zu Längen neigenden Schluss zu beleben, weil er just dann die Szene in Statik ertränkt. Alles in allem ist aber die Lesart des aus Lübeck stammenden Regisseurs, der ansonsten als Spezialist für Musical und Operette gilt, so schlüssig wie unterhaltsam, zeichnet er doch beispielsweise den Fiesling Wurm nicht als reinen intriganten, sondern als Menschen, für den man sogar Mitgefühl entwickeln kann.

Luisa Miller, 1849 und damit zwei Jahre vor Verdis Rigoletto entstanden, ist wohl noch der Periode zuzurechnen, die Verdi selbst als seine Galeerenjahre bezeichnete. Sie ist die dritte Oper des Komponisten, die auf einem Werk von Friedrich Schiller fußt (18 Jahre später sollte noch Don Carlos folgen); sie findet in dessen Drama Kabale und Liebe, das eigentlich Louise Millerin heißen sollte, ihre Vorlage, der Geschichte um unstandesgemäße Liebe, Ehre, Eifersucht, Intrige und Tod. Die Bauerstochter Luisa hat sich in den Sohn des Grafen von Walter, Rodolfo, verliebt, ohne von dessen Identität zu ahnen. Von Walter, der erst nach der Ermordung seines Vetters zum Erben der Grafschaft wurde, will aber für seinen Sohn gesellschaftlichen Aufstieg durch eine Vermählung mit Federica von Ostheim erreichen. Er lässt Luisas Vater gefangen nehmen und benutzt ihn als Druckmittel, Luisa schreibt daraufhin auf Drängen des Sekretärs Wurm einen Brief, in dem sie offenbart, Rodolfo nicht zu lieben, sondern allein Wurm. Rodolfo wird der Brief zugespielt und er geht zu Luisa, gibt unbemerkt Gift in einen Becher und trinkt mit ihr gemeinsam. Die hinzukommenden Väter können nur noch den Tod ihrer Kinder beweinen.

In der Titelrolle glänzt am gestrigen Abend Megan Marie Hart, die wie beinahe alle Mitwirkenden zum Ensemble des Landestheaters gehört. Ihr imposanter Stimmumfang beeindruckt mich ebenso, wie ihre feine Höhe, ihre beinahe gutturale Tiefe und ihr expressiver Gesang samt eindrucksvoller Darstellung. Man nimmt der Amerikanerin die Zerrissenheit ihrer Figur vollkommen ab – da vergebe ich ihr gerne den Hang zum Tremolo im oberen Register. Ji-Woon Kim als Rodolfo lässt bezüglich klarer Stimmführung nichts vermissen, sein strahlender Tenor verfügt über außergewöhnlichen Glanz und bombensichere Höhe; doch singt der aus Südkorea stammende Künstler am gestrigen Abend in vor der Pause teilweise recht wenig seelenvoll, im Finalakt hingegen trumpft er auf ganzer Linie auf. Benjamin Lewis hatte mich schon in Martha begeistert und zeigt gestern, dass er auch große Oper kann. Sein imposanter Bariton verfügt über das nötige Gewicht und einen großen Farbenreichtum, um die Figur des Miller zu verkörpern, der zwischen Bangen um seine Ehre und der Liebe zu seiner Tochter hin und hergerissener Vater ist. Seungweon Lees profunder Bass verleiht dem Grafen von Walter eine standesgemäße Aura. Der Wurm von Gastsänger Alexander Vassiliev ist für mich die Überraschung des Abends. Ein wahrer Vollblutkünstler steht da auf den Brettern des Landestheaters, kostet die Facetten seiner Figur, die von Goetz ihm dankenswerterweise zugesteht, voll aus, füllt sie mit seinem wandlungsfähigen Bassbariton und höchster Gestaltungsgabe aus, so dass das Zusehen und -hören eine wahre Freude ist. Ganz entzückt bin ich auch von der Stimmschönheit von Annina Olivia Battaglia, die als Mitglied im Opernstudio Luisas Freundin Laura singen darf. Das macht Lust auf mehr.

Francesco Damiani hat den Chor betreut und ihn hörbar intensiv auf seine umfangreiche Aufgabe am gestrigen Abend vorbereitet – da stimmt jeder Einsatz. Gleiches gilt für das Symphonische Orchester des Landestheaters Detmold, das mit hörbarer Spielfreude unter der Leitung von Lutz Rademacher einen farbenreichen Verdi präsentiert. Zwar hätte ich mir beispielsweise in der Briefszene eine Spur mehr Verdische Wucht gewünscht – aber das ist Jammern auf höchstem Niveau und vielleicht ist das Spiel mit teilweise angezogener Handbremse auch einer gewissen Premierennervosität geschuldet.

Ich bin also zufrieden, genau wie das frenetisch applaudierende Premierenpublikum, und kann Sie, lieber Opernfreund-Freund bedenkenlos ans Landestheater schicken, um sich diesen recht raren Verdi anzuschauen.

 

Ihr Jochen Rüth 6.04.2019

Die Fotos stammen von A.T. Schäfer.

 

 

Zum Zweiten

MARTHA

28.12.2018

Opernspaß mit glücklichen Mägden und grünen Weiden

Friedrich von Flotows romantisch-komische Oper „MARTHA oder der Der Markt von Richmond“ hat nun wirklich alle notwendigen Klischees die es braucht, um eine richtig kitschig-schöne Inszenierung dieses Stoffes auf die Bühne zu bringen. Schmachtende Musik, liebreizende Ladys, artige Zofen und Mägde, tollpatschige Liebhaber, snobistische Adelige und dazu ein richtig britisch-distinguiertes Ambiente. Klingt irgendwie langweilig, oder? Ja, wäre es auch. Aber dann haben Sie diese Oper noch nicht in Detmold gesehen. Denn was Kay Link in seiner Inszenierung daraus macht, ist alles anderes als lieb, brav, langweilig oder gar snobistisch. Er versetzt das Stück in die neuzeitliche Reality-TV-Zeit mit all ihren besonderen Kuppelshows und lässt einfach den Bauern seine Magd suchen. Dem Publikum gefällts!

Die Geschichte um die reiche, aber sich langweilende britische Lady Harriet Durham und ihre Vertraute Nancy, die sich zum Spaß auf dem Markt von Richmond als Mägde verdingen wollen, ist als Oper „Martha“ zu einem Hit geworden. Natürlich wollen diese beiden feinen Damen alles andere als für irgendwelche Landwirte arbeiten. Aber wie es das Schicksal so will, begegnen sie zwei meistbietenden „Bauern“ – von denen sich am Ende einer als echter Graf und damit adäquater Partner für die Lady Harriet entpuppt – und vier Herzen fliegen sich im Überschwang der vielen Gefühle zu. Und wie es so bei romantisch-komischen Liebesgeschichten ist, gibt es vor dem kollektiven Happy-End noch die eine oder andere Irrung und Wirrung, Enttäuschung und vermeintliche Trennung. Aber es gibt ein glückliches Finale und jede Lady bekommt ihren passenden Partner. Zu alledem hat Flotow eine Musik geschrieben, die leicht und beschwingt, aber auch sentimental und schwärmerisch daherkommt. Viele Melodien, die zu wahren Gassenhauern wurden – wie die von der „entschwundenen Martha! Martha!“ und der „Letzten Rose“.

Regisseur Kay Link macht aus der Oper kurzerhand eine Reality-Show mit Livecams, zahlungskräftigen Bauern die Mägde suchen, nimmt noch einen Sexy-Jungbauern dazu, dem die anwesende Damenwelt nur so von allein hinterherläuft und lässt die Geschichte um die frustrierte und gelangweilte Lady Harriet einfach laufen. Und das so spaßig und kurzweilig, dass man zum Ende hin versucht ist zu denken, das könnte doch ruhig noch ein weiteren Akt so weitergehen. Alles wird streckenweise 1:1 auf einem Bildschirm übertragen, welches das amüsierte Publikum im Saal mitverfolgen kann. Seien es die frohen Mägde, die beschwingt und beseelt eine blühende Weide hinauflaufen in froher Erwartung ihres neuen Bauern, oder die Gesichter der Bauern in Großaufnahme, wenn sie ihre Magd erworben haben. Und zwischendrin immer das agile Kamerateam mit seiner „Bauer sucht Magd„-Frontfrau (herrlich Rita Gmeiner in dieser Rolle!), die so echt und natürlich wirkt, wie es diese Formate eben sind. Und sie filmen alles: die Ankunft der Mägde und der Bauern, die Vertragsabschlüsse der beteiligten Suchenden und auch so manchen Lapsus, den die unechten Mägde Harriet und Nancy – die sich nun Martha und Julia nennen lassen – bei der Verrichtung ihrer Hof-und Hausarbeit verrichten. Eben echtes und wahres Reality-Format wie es uns tagtäglich auf den TV-Kanälen geboten wird.

Und natürlich sind auch alle recht bäuerlich und adrett gekleidet und erst im Finale, wenn die Auflösung der Geschichte naht, sieht man auch Damen der feinen englischen Gesellschaft in ihren typischen Kostümen und Garderoben. Und wenn sich am Ende alle liebenden Paare gefunden haben und sich alle freuen, schaut das TV-Team aus einer Ecke der Bühne dem fröhlichen Treiben zu: geknebelt und zusammengebunden. Jetzt will und braucht sie niemand mehr.

Für die Ausstattung der Bühne und der Maske waren Nora Johanna Gromer und Kerstin Steinke zuständig und haben das typische Fake-Flair, das diesen TV-Formaten nun mal anhaftet, sehr anschaulich auf die Bühne gebracht.

Ein wirklicher Spaß, den das Landestheater Detmold seinen Besuchern bietet. Und man muss Kay Link danken, dass er diesen Stoff auf solch humorvoll Weise umsetzt und nicht der Versuchung anheim fällt, so manch anderes in diese doch eigentlich banale Geschichte meint hinein interpretieren zu müssen.  

Das Detmolder Ensemble zeigte sich sehr spielfreudig und machte den Spaß auf der Bühne nachvollziehbar mit. Dazu wurde auch noch sehr überzeugend gesungen.

Als Lady Harriet zeigte Emily Dorn, dass ihr die heiteren Sopranpartien mindestens ebenso liegen wie die dramatischen und sie darf mit ihrer gesanglichen Leistung und dem Abend sehr zufrieden sein. Sie verlieh der Hauptpartie viel komödiantisches Format.

Dara Savinova sang und spielte die Vertraute Nancy mit großer Spielfreude und beeindruckender Stimme. So muss eine „Nancy“ in Martha im Idealfall klingen! Frau Savinova hält da jeden Vergleich stand. Für mich die überzeugendste gesangliche Leistung des Abends. Bravo!

Den zunächst verlassenen Liebhaber und späteren Grafen Lyonel gab Stephen Chambers großes Profil. Stimmlich, dabei ungemein textverständlich, als auch schauspielerisch liess er kaum Wünsche an diese Tenorpartie offen und fühlte sich offensichtlich in und mit dieser Partie sehr wohl.

Seungweon Lee und Benjamin Lewis waren die Darsteller des Lord Tristan und des Bauern Plumkett. Zwei humoristisch geprägte Rollen, die von beiden Solisten des Landestheater Detmold hervorragend dargeboten wurden. In der kleinen Partie des Richters zu Richmond fügte sich Torsten Lück nahtlos in das insgesamt überzeugende Ensemble ein.

Chor und Extrachor (Leitung Francesco Damiani) und die Statisterie des Landestheater Detmold waren in dieser lebhaften und fröhlichen Inszenierung bestens eingebunden und erhielten dafür vom Publikum, wie auch die Solisten des Abends, großen Applaus.

György Mészáros, der musikalische Leiter des Abends, liess das Symphonische Orchester des Landestheater Detmold leicht und nuancenreich Flotows eingängige und beschwingte Musik spielen und trug nicht zuletzt auch dadurch zum Erfolg des Abends maßgeblich bei. Verdient viel Applaus auch für den Dirigenten und sein Orchester vom begeisterten Detmolder Publikum.

Fazit: Termin aussuchen – Eintrittskarte kaufen – und sich unterhalten lassen. Wunderbare schöne Oper !

 

Detlef Obens  29.12.2018

 


Martha oder Der Markt von Richmond

Premiere: 07.12.2018

Bauer sucht Frau in Detmold

Lieber Opernfreund-Freund,

Friedrich von Flotows viel zu selten gespielte Martha ist seit gestern am Landestheater Detmold zu erleben. Dank der intelligenten und stimmigen Modernisierung durch Kay Link, die ganz mit dem Witz der Partitur einher geht, gerät der Abend zum unterhaltsamen Vergnügen.

Eine gelangweilte Lady und ihre Freundin verdingen sich zum Spaß als Mägde, obwohl ihnen die einfachsten Tätigkeiten fremd sind. Die Pächter, die sie auswählen, verlieben sich in sie und nachdem die Scharade auffliegt, scheint das Glück zuerst verloren. Als sich aber herausstellt, dass Lyonel in Wahrheit selbst adelig ist, steht einer glücklichen Zukunft mit der Lady nichts mehr im Wege. Mit reichlich Humor und Esprit verlegt Regisseur Kay Link diese Story ins Hier und Jetzt und lässt die beiden Damen bei einer Art „Bauer sucht Frau“ an zwei Landwirte geraten. Mit Augenzwinkern entlarvt er damit den TV-Heiratsmarkt, denn wer die Show beim Sender mit den drei bunten Buchstaben schon einmal gesehen hat, wird irgendwie den Eindruck nicht los, dass da eher billige Arbeitskräfte gesucht werden, die die seit Jahren nicht mehr geputzte Bude einmal richtig durchwischen, als unbedingt die große Liebe. Deshalb lässt sich der Markt für landwirtschaftliche Arbeitskräfte aus dem England zu Beginn des 18. Jahrhunderts problemlos dreihundert Jahre in unsere Zeit holen. Link erliegt dabei nicht der Versuchung, einen Schenkelklopfer nach dem anderen zu präsentieren, sondern arbeitet mit feiner, oft subtiler Komik und schafft zusammen mit der Ausstatterin Nora Johanna Gromer und der Maskenbildnerin Kerstin Steinke eine originelle TV-Kulisse auf den Brettern des Landestheaters samt trachtenartiger Kleidung inklusive des einen oder anderen modischen Fehlgriffs, wie man ihn aus der TV-Show kennt. Die Produktion spiegelt so die Leichtigkeit und den Witz von Friedrich von Flotows origineller Partitur, die vor eingängigen Melodien – auch jenseits des Volksliedes The Last Rose of Summer – nur so sprüht.

Das Ensemble ist mit seiner hinreißenden Begabung für Komik und seinen klangschönen Stimmen aber auch wie gemacht für diese romantische Komposition. Emily Dorn ist eine begeisternde Lady Harriet, ihr farbenreicher Koloratursopran glänzt mit Beweglichkeit und feiner Höhe – auch wenn ich da ein wenig die Leichtigkeit vermisse. Dara Savinovas Mezzo verfügt über viel Wärme und eine geradezu sinnliche Tiefe – so wird sie zur idealen Nancy. Stephen Chambers gefällt als Lyonel mit klarer, tragfähiger und scheinbar müheloser Höhe und zartem Schmelz, während Benjamin Lewis als Plumkett die Stärken seines facettenreichen Baritons ebenso ausspielen kann, wie sein darstellerisches Talent. Als Komödiant geradezu eine Wucht ist Seungweon Lee als hoffnungslos verliebter Lord Tristan. Herrlich, wie der Bass mit den Möglichkeiten seiner Rolle spielt – und dabei präzisen und einprägsamen Gesang nicht vergisst. Dagegen bleibt Torsten Lücks Richter auch stimmlich eher eine Randerscheinung. Ganz vorzüglich gefällt mir wieder Rita Gmeiner, die als Inka Bause-Double kokett und affektiert die Moderatorin gibt.

György Mészáros entfacht im Graben ein Feuerwerk der guten Laune, schwelgt im romantischen Melodienreichtum, präsentiert aber da und dort bei allem Witz auch ein wenig sentimentalen Tiefgang. So lotet er zusammen mit den Musikerinnen und Musikern des Symphonischen Orchesters des Landestheaters Detmold die Möglichkeiten der Partitur voll aus und präsentiert zusammen mit den Damen und Herren des Chores, der von Francesco Damiani vortrefflich betreut wird, musikalischen Hochgenuss aus einem Guss.

Das komplette Ensemble hat spürbar Freude an seiner Aufgabe, gefällt sich in seiner Rolle und so springt der Funke mühelos über aufs Publikum, das begeistert ist am Ende des Abends und allen Beteiligten lange anhaltend applaudiert – auch dem Produktionsteam um Kay Link, dem mit seiner „Bauer sucht Frau“-Persiflage Unterhaltung im besten Sinne gelungen ist.

 

Ihr Jochen Rüth 8.12.18

Fotos © Landestheater / A.T. Schäfer

 

P.S. Nachtrag

Humorvolle Erinnerung der Redaktion an Loriot

 

 

 

 

In beklemmend-eindrucksvollen Bildern

Für Jan Eßinger, den Regisseur der Detmolder „FAUST“-Inszenierung, ist Méphisto das Böse im Menschen, das zweite Gesicht oder auch einfach der Erfüllungsgehilfe bei der Umsetzung von tief verwurzelten, insgeheimen Lastern und Begierden. Fernab von Normen und Konventionen. Als wenn der Mensch, in diesem Fall der alte, mit seiner Gebrechlichkeit hadernde und seine einstige Manneskraft wieder herbei sehnende Doktor Faust, in einen Zauberspiegel schaut. Und was er dort erblickt, ist die Erfüllung seiner Wünsche. Und um das zu erreichen, ist kein Preis zu hoch. Eßinger gelingt eine packende, eine sich zum Finale hin immer mehr an Dramatik steigernde, Inszenierung dieser französischen Oper mit teilweise beklemmenden Bildern und visuellen Deutungen.

Im Vorfeld der Premiere beschreibt Jan Eßinger seine Sicht auf Méphistophélès (im weiteren Méphisto) u.a. wie folgt: „Méphisto ist für uns nicht das „reine Böse“, kein abstraktes Prinzip. … Er ist auch nicht der allgegenwärtige Spielleiter, der die Geschicke der Menschen lenkt und gegen den niemand etwas tun kann. Das hieße ja, dass alle Figuren an sich „schuldlos“ wären – denn man könnte entschuldigend sagen: Méphisto hat uns ja gelenkt… Méphisto ist seine andere Seite, eben die dunkle Seite. Aus dieser Spiegelsituation der Figuren heraus hat sich dann auch die entsprechende Raumlösung für das Bühnenbild ergeben. Wir schauen in unserer Inszenierung gemeinsam auf die Welt hinter dem Spiegel.“

Eine ausgesprochen nachhaltig eindrucksvolle Regie! Aufgrund dieser Auslegung sind die Personen in der Oper FAUST zwar autonom in ihrer Handlungsweise, aber auch nur so lang und so weitgehend, wie es das Böse in ihnen zulässt. Kommen ihnen Zweifel, keimt das sogenannte „Gute“ in ihnen auf, so ist es dann doch wieder Méphisto, das „Böse“, der die Strippen zieht und sie wieder auf Kurs, seinen Kurs, bringt. Aber auch, wenn das „Böse“ den Menschen lockt und manchmal auch einfangen und prägen kann, so ist es doch immer dann machtlos, wenn der Mensch erkennt, dass sein Handeln anderen moralisch-ethischen Grundsätzen und Prinzipien unterliegt als allein nur der Erfüllung und Befriedigung der eigenen Wünsche, Ziele und Begierden. Als einen steten inneren Kampf des Menschen, ausgefochten oftmals mit sich allein und doch in seiner Wirkung weit über das Individuum hinausgehend, mag das Kreisen zwischen „Gut und Böse“ vielleicht auch betrachtet werden. Nie leicht, oft mühevoll und schmerzhaft, ist es doch stets die eigene, selbst verantwortbare, Entscheidung. – Ergo, DEN einen Teufel gibt es nicht.

Auch bei Regisseur Jan Eßinger ist der Teufel, der Mephisto, der allgegenwärtige Dreh-und Angelpunkt der Inszenierung, wie dies bei vielen FAUST-Aufführungen der Fall ist. Immer ist er zu entdecken, mal im Vordergrund und dann wieder im scheinbaren Hintergrund, aber stets doch derjenige der alles regelt und souffliert.

Besonders beeindruckend gelingt dies Eßinger im 4. Akt der Oper, wenn Marguerite sich, als gesellschaftlich geächtete Mutter eines unehelichen Kindes, in die Kirche zum Gebet begibt. Da werden Reminiszenzen an den Hollywood-Klassiker „Der Exorzist“ erzeugt, wenn er Marguerite (höchst expressiv dargestellt von Emily Dorn) beim Klang der „himmlischen Chöre“ wie in einem Krampfanfall dazu leiden lässt. Ich gebe zu, dass diese Szene schon jetzt zum eindrucksvollsten gehört, was ich in den letzten Jahren auf deutschen Opernbühnen gesehen habe. Aber auch andere Regieeinfälle, wie etwa im 5. Akt, bleiben haften: Das goldene Gewand, welches Marguerite in der vor ihrer Tür stehenden Schmuckschatulle entdeckt und sich dann schüchtern überstreift, wird von Méphisto in geradezu ordinärer Manier getragen und genutzt, während Marguerite vor ihm im Staub liegt. Stark, was Eßinger da in Detmold abliefert!

Zusammen mit Bühnenbildnerin Sonja Füsti und in Kostümen von Nora Johanna Gromer gelang Regisseur Eßinger eine höchst beklemmende Bühnenatmosphäre in eindrucksvollen Bildern, Aufbauten und Bewegungen.

Musikalisch überzeugend: Und in alledem wussten Detmolds Gesangssolisten zu punkten und das Premierenpublikum zu begeistern. Der Opernchor und Extrachor des Landestheater Detmold, in dieser Inszenierung viel und sinnvoll-originell eingesetzt, war von seinem Leiter Francesco Damiani hervorragend auf seine Aufgaben vorbereitet worden und erhielt zu Recht sehr viel Applaus.

Die lebenslustige Nachbarin Marthe Schwerdtlein wurde von Brigitte Bauma überzeugend dargestellt. Dies gelang auch Andreas Jören in der Partie des Wagner. Benjamin Lewis sang und spielte den Bruder Maguerites, Valentin. Er legte viel Gefühl in seine bekannte Arie „Avant de quitter ces lieux“ und konnte auch in seiner Sterbeszene, in der er seine Schwester verflucht, noch einmal überzeugen. Dem Siébel, den heimlich in Marguerite verliebten „Beinahe-Nebenbuhler“ des Faust, gab Lotte Kortenhaus viel stimmliches Profil und Ausdruckskraft.

Die Hauptpartien waren ebenfalls hervorragend besetzt. Emily Dorn, die sichtlich in ihrer Rolle aufzugehen schien, ersang sich am gestrigen Premierenabend einen beachtlichen Erfolg. Das Publikum belohnte ihre Leistung, womit auch hier besonders die darstellerische Interpretation dieser Partie erwähnt werden muss, mit langanhaltendem Applaus und Bravorufen. Die glänzend gesungene Juwelenarie „Ah! Je ris de me voir„, als auch und besonders, ihre Darstellung im vierten Akt, sollen hier explizit genannt werden.

Den Faust sang und spielte mit viel Elan und Einsatz der junge Tenor Ji-Woon Kim und begeisterte ebenfalls die Premierengäste mit seiner höhensicheren und dabei kraftvollen Stimme. Beeindruckend das Duett zwischen ihm und Marguerite und seine Leistung im Finale der Oper. Ein tolles Debüt. Seungweon Lee war ein überzeugender Méphisto, der diese Partie verinnerlicht zu haben scheint. Der südkoreanische Bass war besonders großartig in Gesang und Darstellung, wenn er das Böse, das Dämonische, seiner Rolle auf der Bühne ausleben konnte. Hier sei auch besonders seine beklemmend gespielte Leistung im 4. Akt erwähnt. Natürlich auch für ihn großen Applaus.

Ebenfalls Jubel und langes rhythmisches Klatschen für das Symphonische Orchester des Landestheater Detmold und seinen GMD Lutz Rademacher, dem musikalischen Leiter des Abends, der diese Oper mit viel Gefühl, Dramatik und wohlgesetzten musikalischen Höhepunkten dirigierte.

Foto @ Landestheater Detmold

Detlef Obens 8.9.2018

 

 

Cosi fan tutte

besuchte Premiere am 1.06.2018

Parallelgeschichten

Wie kann man glaubhaft diese Geschichte verkaufen? - Zwei befreundete Männer tauschen ihre Freundinnen, um zu prüfen, ob diese ihnen treubleiben. Und die Freundinnen, die Schwestern sind, merken den Tausch gar nicht?

Anders: Gibt es so viel blinde Dummheit, die einen so billigen Trick nicht sofort erkennen lässt? Ja. Die gibt es. Ich habe genug fragwürdige Cosi-Inszenierungen gesehen, wo dem Publikum (und den Protagonisten) der glaubwürdige Identitätswechsel durch einen falschen Bart, Schnäuzer, Hut, Hose u.Ä. bewiesen werden sollte.

Gut, es soll nur eine schauspielerische Täuschung sein. Schlimm, wenn sie sich ernst bemüht, Realität zu sein, in der die betrogene Braut auf keinen Fall den Betrüger wiedererkennen könnte. Die Kleiderordnung zu Mozarts Zeiten machte es Männern einfacher, mit ihren Perücken, Schminke, Puder, Masken sich unerkannt für jemand anderes auszugeben. Damals ja. Aber heute? Die Grenze zur Lächerlichkeit liegt nahe.

Holger Potocki ersetzte den problematischen Identitätswechsel mit einem Zeitwechsel, ein guter Einfall und gut ausgeführt. Fiordiligi und Dorabella leben in verschiedenen Epochen. Auch wenn sie gleichzeitig auf der Bühne stehen, kommunizieren sie nicht direkt, sehen sich nicht. Fiordiligi ist eine Dame aus der Biedermeierzeit, Dorabella eine etwas chaotische junge Frau in prekären Verhältnissen heute.

Anfangs irritiert das. Die Bühne (Bühnenbild Azizah Hocke) steht - ohne eine sichtbar gezogene Linie - für zwei verschiedene, sich ideell nicht berührende Welten und zwei parallel verlaufende Erzählungen. Rechts ein primitiver Haushalt einer sagen wir sozialschwachen Frau, links ein bescheidenes Biedermeierkabinett. So unterschiedlich auch das Spiel: dezent und zurückhaltend vornehm links gegen die nicht gerade zimperlichen Wutausbrüche rechts - was zu demselben Ziel führt: Sehnsucht nach erotischer Geborgenheit.

Parallel verlaufen beide Liebesgeschichten, der Liebhaber zieht in den Krieg, an seiner statt kommt ein Fremder. Und der ist wirklich fremd, jeweils teleportiert aus einer Zeitentfernung von 200 Jahren. Na ja, licentia poetica erlaubt auch dies dem Regisseur.

Manchmal verwischt sich die Zeitentrennung - das ergibt sich zwangsweise aus der Handlung -, aber so geschickt, dass die Illusion der Parallelwelten aus den ersten Szenen bis zum Schluss fortdauert.

Despina - mit Leichtigkeit und einer gut dosierten Komik gesungen und gespielt von Katharina Ajyba - pendelt unbehelligt zwischen dem 21. Und 19. Jahrhundert. Mal ist sie eine kumpelhafte Freundin und Trösterin, mal ein braves Dienstmädchen.

Don Alfonso - selbstsicher nonchalanter Andreas Jören - schwebt auf Distanz zwischen beiden Zeiten / Welten, ohne sie wirklich zu berühren, er ist in dieser Rolle ein unaufdringlicher Beobachter ohne Eigenschaften. Obwohl - nach Da Ponte - ein alter Philosoph, ist er in Wirklichkeit ein fieser Intrigant, ein Küchenphilosoph, dem mal ein primitives Verwechslungsspiel einfällt, das in Hausfriedensbruch, Nötigung, arglistige Täuschung, versuchte Vergewaltigung, Heiratsschwindel und weitere Straftaten mündet. Das wirft immer wieder die Frage auf nach der seltsamen, von Da Ponte krass karikierten männlichen Logik: Wie zwingen Betrüger den Betrogenen Schuldbekenntnis auf. Denn der Schlussstrich: Glücklich der Mensch, der jedes Ding von der guten Seite nimmt…, ist nichts anderes, als nur der bemühte Versuch, alles wieder ins Lot zu bringen.

 

In seiner Inszenierung deutet Potocki nur an, dass hier die Betrüger letztlich die Betrogenen sind, aber er tut das konsequent genug, dass man von Anfang an den Eindruck nicht los wird, dass die beiden Frauen - und Despina - die Lage besser beherrschen, im 19. wie im 21. Jahrhundert. Das verleiht der Geschichte einen zusätzlichen Schub an Sympathie.

 

Und die Musik. Sie - unter der Leitung von György Mészáros - begleitet die dramatische Erzählungslinie mit gut überlegt variierten Tempi und passt sich aufmerksam der jeweiligen Spannung an. Dies bringt dem ganzen Abend eine Frische und den leichten Charme einer ausgewogenen Tragi-Komödie.

Die Hauptprotagonisten Megan Marie Hart (Fiordiligi), Lotte Kortenhaus (Dorabella), Insu Hwang (Guglielmo) und Stephen Chambers (Ferrando) überraschen von Anfang an mit einer Präzision im Ensemble, die Quartetten / Quintetten klingen sauber, klar, mit einer deutlichen Artikulation. Frisch und - manchmal nur leicht übertrieben - enthusiastisch.

Kurzum: Es ist eine wirklich gelungene, elegante Symbiose zwischen Regie und bestechender Interpretation. Fahrt nach Detmold, es lohnt sich.

 

Jan Ochalski 11.6.2018

Fotos: Landestheater Detmold/Birgit Hupfeld

 

 


Thomas Adès

POWDER HER FACE

Premiere: 09.02.2018
besuchte Vorstellung: 22.03.2018

Sex sells in Detmold

Lieber Opernfreund-Freund,

Margaret Whigham war eine schöne Frau. Aus reichem Hause stammend und geschieden, hatte sie 1951 den Herzog von Argyll kennenglernt und ihn geheiratet und war für ihre Partys ebenso berühmt, wie für ihre Spitzzüngigkeit berüchtigt. Endgültig in die Klatschgazetten schaffte sie es in den frühen 1960ern, als ihr die Boulevardpresse den Spitznamen „Dirty Duchess“ verlieh und ihr Mann – selbst kein Kind von Traurigkeit – in einem aufsehenerregenden Scheidungsprozess versuchte, Margarets permanente Untreue und Verderbtheit mittels Polaroid-Fotos zu belegen, die sie beim Oralverkehr mit einem anderen Mann zeigen. Das Gericht schrieb ihr daraufhin die alleinige Schuld am Scheitern der Ehe zu, bezeichnete sie als „sexuell hochstimulierte Frau, die […] widerwärtige sexuelle Aktivitäten begonnen hatte, […] die nördlich von Marrakesch nur selten zu finden sind“, erkannte ihr den Adelstitel ab und beraubte sie so ihrer gesellschaftlichen Stellung. Sie zog in den 70ern in ein Londoner Luxushotel, nachdem sie ihr Haus finanziell nicht mehr halten konnte, und war 1990 gezwungen, auch dort auszuziehen, weil sie ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen konnte. Verarmt und einsam starb sie 1993 in einem Altenheim.

Ja, lieber Opernfreund-Freund, Sie sind noch richtig hier und nicht auf den Seiten der „Gala“ gelandet, denn das Leben der Herzogin war zwei Jahre nach ihrem Tod für die Opernbühne adaptiert worden. „Powder her Face“ heißt die Kammeroper, die der damals erst 24jährige Thomas Adès komponierte und die – für ein modernes Musiktheaterwerk bemerkenswert genug – seither immer wieder auf den Opernbühnen zu erleben ist. Nach dem Theater Aachen in der vergangenen Spielzeit zeigt nun das Landestheater Detmold die Geschichte dieser tragischen Figur, die die Beziehung von Margaret Whigham mit dem Herzog von Beginn bis zum Ende in Form einer Rückblende erzählt. Der englische Komponist hat dafür Musik ersonnen, die durch Anlehnungen an Swingmotive aus den 1930ern, Filmmusik und Tango zwar nicht eingängig, aber doch wenig fremd erscheint. Immer wieder gibt es, wie im Leben der Herzogin, Brüche, vertraut Klingendes wechselt sich mit verstörend Fremdem ab und so gelingt es dem Komponisten, Whigham als nach Anerkennung heischende Frau zu zeichnen, die in einer oberflächlichen Welt nach Nähe sucht und am Ende erkennen muss, dass sie Zeitlebens für Nettigkeit und Zuneigung immer hat bezahlen müssen. Heutzutage würde man sie vielleicht als It-Girl bezeichnen, über deren moralische Flexibilität man allenfalls mit den Schultern zuckt. Zu ihrer Zeit allerdings war ihr Verhalten ein handfester Skandal, den Adès zusammen mit seinem Librettisten Philip Hensher voller Dramatik schildert und darüber hinaus noch die Doppelmoral der 50er und 60er, vornehmlich in Adelskreisen, entlarvt.

Der Einheitsbühnenraum, den Tanja Hofmann für die szenische Umsetzung durch Christian Poewe gebaut hat, ist dafür bestens geeignet. Ein Halbrund, in dessen Mitte ein Podest steht, das Bett, Gerichtssaal und Bühne der Selbstdarstellung zugleich ist, wird durch eine weiße Wand begrenzt, die sich immer wieder in Spiegel verwandelt und deshalb das Drama schonungslos von allen Seiten zeigt. Wie eine Art Wandschrank hält die Wand in Kammern Erinnerungen und Schätze der Herzogin unter Verschluss und gibt sie nur dann und wann frei. Die teils abstrusen Kostüme spiegeln die Absurdität der Situationen, Poewes Personenführung ist spannungsreich und energiegeladen, er zeigt die Herzogin gekonnt als Objekt der öffentlichen Begierde und auch für die erste komponierte Fellatio der Musikgeschichte findet der aus Schleswig-Holstein stammende Regisseur eine interessante und doch beinahe naturalistische Darstellungsform.

Doch das Drama um die Herzogin könnte sich kaum so spannend entspinnen, gäbe es da nicht Eva Bernard. Die Sängerin schlüpft in den gut zwei Stunden nicht nur in die Rolle, sie IST die Figur und zeigt sie mit all ihren Facetten, zeigt Lust, Verzweiflung, Arroganz und Selbstbetrug ungeschminkt und intensiv, stimmlich wie darstellerisch. Dass die gebürtige Münchenerin derzeit mit einer starken Erkältung zu kämpfen hat und am Vortag kaum einen Ton sprechen konnte, war ihrer Darstellung kaum anzumerken. Stimmgewaltig und nuanciert präsentiert sie ihren charaktervollen Sopran, zieht alle Register und zieht uns so in ihren Bann, wie es die Herzogin von Argyll selbst vor mehr als 60 Jahren getan hätte. Ihr zur Seite steht Bart Driessen, der die Figuren des Herzogs, des Richters und des Hotelmanagers darstellt und sich dabei auf die Durchschlagkraft seines reifen Basses verlassen kann. Und auch die zahlreichen fast surreal wirkenden Wechsel zwischen sonorer Tiefe und schneidender Kopfstimme meistert der Niederländer mit Bravour. Daniel Arnaldos leiht dem Elektriker und dem Kellner seinen farbenreichen Tenor und glänzt mit skurrilem Spiel, das nur durch die wunderbare Jeanne Seguin übertroffen wird. Dass die junge Französin Mitglied des Opernstudios und damit vergleichsweise Elevin auf der Bühne ist, mag man kaum glauben, so geht sie in ihren Rollen als quirliges Dienstmädchen, Freundin und Reporterin auf. Ihr beweglicher Sopran meistert die wahnwitzigen Koloraturen scheinbar mühelos. Dem Komponisten folgend schreckt sie dabei auch vor stimmlicher Hässlichkeit und Schrillheit nicht zurück und setzt so einen wirkungsvollen Gegenpol zur tiefgründigeren Figur der Herzogin.

Die übliche Orchesterbesetzung ist beispielsweise um Akkordeon und außergewöhnliche Perkussionsinstrumente ergänzt, so werden Klänge abseits des Gewohnten erzeugt. GMD Lutz Rademacher führt die Musikerinnen und Musiker des Symphonischen Orchesters des Landestheaters Detmold versiert durch die höllisch schwere Partitur und auch dem Sängerpersonal ist er bei dieser außergewöhnlichen Kammeroper eine wertvolle Stütze. Das Publikum im erfreulicherweise für ein so unbekanntes Werk recht gut besuchten Theater ist am Ende wie berauscht, gefesselt von der musikalischen Intensität und begeistert von der Leistung der darstellenden Sängerinnen und Sänger, allen voran dem Erlebnis Eva Bernard. Wenn auch Sie sich einmal abseits gewohnter Pfade bewegen wollen, ist ein Besuch in Detmold eine mehr als geeignete Option – es lohnt sich!

Ihr Jochen R üth

23.03.2018

Die Fotos stammen von Birgit Hupfeld und zeigen in der Rolle des Hotelmanager Michael Zehe, die Alternativbesetzung.

 

 

 

Premiere: 29. April 2017 in Gütersloh

Besuchte Vorstellung: 11. Mai 2017

Trailer

Für ein kleines gemütliches Haus wie das Landestheater Detmold ist Hans Werner Henzes „Elegie für junge Liebende“ genau das richtige Stück, wurde es doch für das Schwetzinger Schlosstheater komponiert. Ein weiterer Grund, warum diese Oper nach Detmold gehört: In Gütersloh, das gut 45km entfernt liegt, wurde Henze geboren. So hatte diese Produktion ihre Premiere in der Henze-Stadt, bevor sie an das Detmolder Stammhaus übernommen wurde.

Der Detmolder Intendant Kay Metzger, der das Stück bereits 1998 in Coburg inszenierte, bringt die Geschichte geradlinig und verständlich erzählt auf die Bühne. Die Charaktere und ihre Konstellationen werden klar gezeichnet: Der Dichter Gregor Mittenhofer besucht mit seiner jungen Geliebten Elisabeth und seinem Gefolge wieder einmal den Berggasthof „Schwarzer Adler“ wo er sich von den Visionen der verwitweten Wirtin inspirieren lässt.

Als die seit 40 Jahren im Eis begrabene Leiche des verschwunden Bräutigams entdeckt wird, enden die Visionen. Der Dichter lässt sich nun von der Beziehung Elisabeths zum Sohn seines Leibarztes inspirieren, treibt das Paar aber schließlich in den Bergtod und widmet ihm die titelgebende Elegie.

Das Bühnenbild von Michael Heinrich ist sehr sängerfreundlich, denn die nach hinten zusammenlaufenden Seitenwände reflektieren die Stimmen gut in den Zuschauerraum. Etwas mehr Bühnenmagie hätte man sich von der Lichtgestaltung Elana Siberskis gewünscht.

Sehr schön gelingt die musikalische Seite. Detmolds GMD Lutz Rademacher lässt das Symphonische Orchester in flüssigen Tempi aufspielen, und kitzelt auch den musikalischen Witz der Partitur heraus. Zudem ist das Verhältnis zwischen Sängern und Orchester sehr gut ausbalanciert, sodass sowohl der Komponist Henze als auch sein Librettisten-Team Wystan Hugh Auden und Chester Kallman zu ihrem Recht kommen. Bei dieser Aufführung spürt man: Die Librettisten haben bewusst einen Text verfasst, der Anlass zur Musik ist. Gleichzeitig erweist der Komponist dem Libretto aber größten Respekt.

Dass dies der Detmolder Aufführung gelingt, liegt natürlich auch an den vorzüglichen Sängerinnen und Sängern, die durchweg aus dem eigenen Ensemble stammen: Andreas Jören sieht als Dichterfürst Mittenhofer aus wie ein Doppelgänger von Franz Liszt. Mit seinem kantabel geführten Bariton verleiht er der Rolle stimmliche Autorität. Kirsten Labonte singt die halsbrecherischen Koloraturen der Hilde Mack mit großer Selbstverständlichkeit und begeistert mit ihrer klaren und kraftvollen Stimme. Von ihrer Figur geht so eine große suggestive Kraft aus.

Viel lyrischen Schmelz steuert Stephen Chambers als Toni bei, während Eva Bernard die Elisabeth zwischen zarter Liebender und sich selbstbewusst-emanzipierende Frau interpretiert. In der Detmolder Aufführung sind leider alle Szenen des Paares im 3. Akt gestrichen, wodurch dieses zum Opfer Mittenhofers wird, ohne dass wir an ihrem Schicksal Anteil nehmen. Vervollständigt wird das Ensemble durch den knorrig-vollmundig tönenden Michael Zehe als Leibarzt des Dichters und Katharina von Bülow, die mit weichem Mezzo die adelige Sekretärin Carolina singt.

Insgesamt erlebt man in Detmold eine gelungene Aufführung, die das Werk adäquat auf die Bühne bringt und den Zuschauer fesselt.

Rudolf Hermes 14.5.2017

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DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG

Premiere: 18. September 2016

Wenn die großen NRW-Opernhäuser eine Oper von Richard Wagner auf den Spielplan setzen, feiern sie sich gerne selbst als „Bayreuth am Rhein“ oder „Bayreuth an der Ruhr“. Aufgrund der städtischen Sparmaßnahmen oder unsinniger Spielplanentscheidungen spielt Wagner aber für diese Häuser gar nicht mehr die zentrale Rolle. „Die Meistersinger von Nürnberg“ wurden in NRW zuletzt am 7. Juni 2012 als Abschieds-Aufführung vom Kölner Opernhaus am Offenbachplatz gespielt, waren also vier Jahre lang gar nicht zu sehen. Dass nun ausgerechnet das Landestheater Detmold eine Neuinszenierung herausbringt, ist gleichzeitig eine Auszeichnung für Detmold und ein Armutszeugnis für die anderen Häuser.

Der Detmolder Intendant Kay Metzger hat nach seiner Ring des Nibelungen (2006 bis 2009) auch noch „Tristan und Isolde“ sowie „Parsifal“ inszeniert, so dass es nur noch eine Frage der Zeit war, wann die „Meistersinger“ kommen würden. Metzger und Ausstatterin Petra Mollérus verorten das Stück in der deutschen Nachkriegsgeschichte der 50er Jahre, was sich am ehesten mit der Stuttgarter Neuenfels-Inszenierung von 1992 vergleichen lässt, wo das Stück entlang Trümmerdeutschland, Studentenkrawallen und Wiedervereinigung erzählt wurde.

Der erste Akt spielt in Detmold in einer Fabrikhalle, deren Besitzer Veit Pogner ist. Der Werkschor probt gerade und Stolzing, der als der grüngekleideter Wandervogel auftritt, als der Rudolf Schock gerne vermarktet wurde, wird von einem bayerischen Kobold mit Eva zusammengebracht. Sind die „Meistersinger“ sonst ganz im Diesseits eingeordnet, erfindet Metzger diesen Lederhosen-Kobold hinzu, der alle entscheidenden Momente der Geschichte vorantreibt.

Leider wundern sich die Figuren viel zu wenig über all die Dinge, die ihnen da zustoßen. Wenn Hans Sachs im dritten Akt während des Wahn-Monologs mit dem für ihn unsichtbaren Kobold zusammenstößt und dann folgert „Ein Kobold half wohl da“, ist dies ein magischer Gänsehautmoment.

Die Meistersinger erscheinen im ersten Akt wie Vorstandvorsitzende, die sich in ihrer Freizeit mit Kultur beschäftigen und nicht wie Handwerker. Jedoch wundert man sich dann im zweiten Akt, dass Pogner und Sachs zur Miete in zwei gegenüberliegenden Betonblöcken wohnen. Sachs greift hier auch, wie man das kennt, noch selbst zu Hammer und Leisten.

Wandervogel Stolzing lässt im ersten Akt die Meistersinger von der Natur träumen: Bei seinem „Fanget an“ wird der Bühnenraum grün ausgeleuchtet und ein Baum hängt vom Schnürboden herab. Leider wird dieser Ansatz nicht weiter verfolgt. Auch würde dieser Ansatz viel besser zu den Blumenkindern der 60er oder der Grünen-Bewegung der 70er und 80er Jahre passen.

Sehr ungewöhnlich inszeniert Metzger die „Festwiese“: Beckmesser steht alleine im Festzelt und memoriert sein Lied, während von draußen die Gesänge hereinschallen. Zu den „Mädel von Fürth“ versucht sich eine Verehrerin an Beckmesser heranzumachen und beim Aufmarsch der Meistersinger genehmigen die sich erst mal ein Bierchen, während sich Beckmesser unter dem Tisch versteckt. Erst zum „Wach auf“-Chor verschwindet das Zelt und gibt den Blick auf die „Festwiese“ frei, die den prächtig klingenden Chören (Einstudierung: Marbod Kaiser) mit Treppen und Galerien gute Auftrittsmöglichkeiten bietet.

Die Sängerbesetzung ist fast durchweg beachtlich. Als Gast vom Mainzer Staatstheater singt Derrick Ballard mit starkem Heldenbariton einen kernigen Sachs. Er ist durchweg textverständlich und hat bei keinem seiner Monologe und Ansprachen irgendwelche konditionellen Probleme. Dieser Sänger dürfte eine große Karriere als Wotan vor sich haben.

Als Gast von der Bayerischen Staatsoper hat Christoph Stephinger in Detmold bereits den Hagen und den Gurnemanz gesungen. Stephinger verfügt über eine warme balsamische Bassstimme, leidet an diesem Abend aber unter Lampenfieber: In seiner Ansprache wirkt einiges klug interpretiert, anderes fahrig. Ensemblemitglied Andreas Jören singt einen schneidig-intellektuellen und wohltönenden Beckmesser. Seine Dialoge und Wortgefechte mit Sachs gehören zu den Höhepunkten des Abends. Die Inszenierung karikiert ihn nicht, belässt ihn aber als spießig-nervigen Verwaltungsbeamten.

Mit schön gerundetem Bariton überzeugt Insu Hwang als Kothner, dessen Koloraturen er geschmeidig dahin gleiten lässt. Ansonsten ist die Meistersinger-Riege gut besetzt, wobei auffällt, dass der Ulrich Eisslinger mit Nobert Schmittberg besetzt ist, der in seinen Heldentenor-Zeiten den Siegfried in Weimar oder den Äneas in Dortmund sang.

Heiko Börner hat den Stolzing schon in Erfurt gesungen, scheint sich aber nach einem kräftig-stürmischen Einstieg zu schonen. Im 2. Akt klingt er eher wie ein Herodes-Charaktertenor, bevor er dann beim Preislied seine Stimme endlich frei strahlen lässt. Auch Stephen Chambers, der den Davids singt, besitzt das Potenzial sich bei guter Planung zum Heldentenor zu entwickeln. Seine Stimme klingt füllig und farbenreich, zudem hat er keinerlei Höhenprobleme.

Gritt Gnauck singt die Magdalena zuverlässig, wie man es von ihren Auftritten im Essener Aalto-Theater gewohnt ist, während Eva Bernard als Eva Pogner keinen lyrischen Glanz entfalten kann.

Der Detmolder GMD Lutz Rademacher weiß genau wie er Wagner zu dirigieren hat: Die Tempi wirken weder übereilt noch schleppend Da der Detmolder Orchestergraben weit unter die Bühne reicht, kann das Symphonische Orchester Detmold in großer Besetzung aufspielen, so dass der Orchesterklang sehr gut ausbalanciert ist. Rademacher formt einen leichten und frischen Gesamtklang, der auch den Sängern genügend Spielraum bietet und ihnen stets ermöglicht ohne Anstrengung zu singen. Hier merkt man bei jedem Takt: Rademacher kennt sein Haus und das Orchester, er weiß, wie er für diesen Saal den Klang gestalten muss.

Bis zum Mai 2017 gibt es vier weitere „Meistersinger“-Aufführungen in Detmold, vom 27. Januar bis 5. Februar gastiert diese sehens- und hörenswerte Produktion in Schweinfurt. Weitere Aufführungen folgen in Paderborn (26.3.) und Wolfsburg (13.5.).

Rudolf Hermes 21.9.16

Bilder (c) Landestheater

 

 

 

LA BOHEME

Besuchte Premiere am 18. September 2015

Genugtung für Traditionalisten

Video

…und die ganze dramaturgische Spannung, die Tragik des Sterbens, platzte wie eine Seifenblase, weil – obwohl der Schrei der Verzweiflung und der Orchesterklang noch im Saal schwangen – das Publikum schon frenetisch klatschte. Als hätten die Leute den Leichenschmaus nach Mimis Tod nicht abwarten können? Aber was hatte man zu erwarten? Bei den vier Bohemiens in der Dachgeschoßwohnung gab es nur eine trockene Wurst und ein zu kurz geratenes Baguette, sinnbildlich für Kunst und Künstler, die überall zu kurz kommen. Auch beim Bäcker.

Fangen wir aber anders an: Mimi in der ersten Szene, in der sie Rodolfo kurz von sich erzählt. Megan Marie Hart, eine amerikanische Sopranistin mit einer kräftigen, perfekt artikulierten Stimme, reichen einige sparsame Handbewegungen, das dezente Aufknöpfen der Bluse, um ein ihre Rolle bestimmendes Merkmal zu setzen: Die Körperlichkeit und Sinnlichkeit des Leidens, die Körperlichkeit und Sinnlichkeit des Sterbens. Dieses Merkmal begleitet Mimi in der ganzen Vorstellung. Auch wenn die Sterbensszene – findet die Freundin – nicht besonders dramatisch ausgefallen war, der schleichende Tod war von Anfang an dabei. Ein Stigma. Ein Schicksal, das sich nicht durch das verstohlene Husten ankündigt – was lediglich dem im Original aufgedrängten Verhaltensmuster entspricht – sondern durch das erste Zeichen bei der ersten Begegnung: Hier bin ich, das ist mein Körper, der ist krank, der wird eingehen. Ich sterbe.

 

Die Inszenierung bemüht sich gar nicht, progressiv, umstürzlerisch, gar skandalös zu sein – was unter einigen der Kollegen Rezensenten schon ein Grund genug für einen Skandal wäre. Nein. Gabriele Wiesmüller zeigt die Oper so, wie sie von Puccini und Illica geschrieben worden war, ganz in der Konvention des damaligen Theaters. Wer etwas anderes erwartet, wird hier enttäuscht sein. Für Traditionalisten (da müssen wir uns einigen, wo die Tradition ansetzt: Bühne? Gesang? Orchester? – Meistens steht nur die Bühne kopf; an die Musik geht niemand ran. Und warum eigentlich nicht?), also, für Traditionalisten ist diese Detmolder Boheme eine Genugtuung. Mehr noch: ein Genuss. Gabriele Wiesmüller lässt keine von Puccini und Illica gegebene Möglichkeit aus, sie geschickt in die Bühne zu setzen. Sie macht ein Theater, schafft die theatereigene Illusion fern einer künstlichen „theatralischen“ Schablone. Es ist bunt, wo es auf der Straße bunt zugeht, nüchtern und vorsichtig, wo die Emotionen persönlich, intim, nach innen gewandt werden. Mit langem Schweigen, wenn eine Reflektion unvermeidlich ist (vorausgesetzt, niemand fängt an zu klatschen). Die vier Bohemiens - Ewandro Stenzowski, Insu Hwang, Andreas Jören, Michael Zehe – zeigen sich zwar als eine geschlossene Gruppe, geschlossen um ihre Mittellosigkeit. Jeder einzelne ist aber ein Individualist, ich-bezogen, launisch, kindisch. In ihren Gewaltausbrüchen achten sie am Spielanfang noch sehr darauf, das Theatermobiliar nicht allzu sehr zu strapazieren (in Zeiten der Etatkürzungen muss man wohl auch darauf achten?), später aber gibt es keine Hemmung mehr. Sie alle folgen im Ganzen dem Konzept der Regie, machen ein gutes Theater mit Musik – und gute Musik zu einem guten Theater. Mit der Einschränkung, dass man nicht von allen auch gleich großes schauspielerisches Talent erwarten kann.

 

Musetta, Katharina Ajyba. Baut den Kontrast zu der nachdenklichen Mimi auf mit einer übertriebenen Artikulation, was das Verstehen ihrer Musik zuweilen erschwert. Ja, einverstanden, das ist ein Teil ihrer Rolle. Aber man kann die Allüren der schrill auftretenden Dame klarer, musikalisch präziser darstellen. Nach der Premiere vom Liebestrank war ich von Aiybas Stimmsicherheit und Gesangstechnik angetan, mit dem Hinweis auf gegebene Voraussetzungen für gute weitere Entwicklung. Ich warte darauf.

Das Bühnenbild von Petra Mollérus markiert den Ort und die Zeit des Geschehens dezent, es ist nur eine Andeutung der Dachgeschoßwohnung. Dafür die Kostüme korrespondieren kongenial mit der Dramaturgie. Im Zusammenspiel mit der Beleuchtung (Eva-Nadine Krischok) spiegeln die Farben konsequent die Stimmung auf der Bühne wider. Und über allem der kalte abweisende Wolkenhimmel.

Jan Ochalski, 21.09.2015

Bilder: Landestheater

 

 

 

OTELLO

Besuchte Premiere am 26. Oktober 2014

Häusliche Gewalt mit Todesfolge

Wieder mal zeigt sich, dass Soldaten Menschen vom geringen Verstand sind, und Frauen mit Ihren Gefühlen allein sich nicht dagegen durchsetzen können. Einem Kameraden von der Truppe schenkt man unbeschränkt Glauben, einer geliebten und liebenden Frau dagegen gar keinen: Das Jago-Syndrom? Hätte Otello einen gut funktionierenden Nachrichtendienst, statt naiv an Gerüchte zu glauben, wäre es vielleicht nicht zu dem Mord gekommen.

Wie dem auch sei, Otello ist eine Oper über häusliche Gewalt mit Todesfolge. Wenigstens diesen Eindruck habe ich, nachdem ich die Inszenierung von Kai Metzger in Detmold gesehen habe.

Die Detmolder Otello-Inszenierung (Regie Kay Metzger) weckt in mir ambivalente Gefühle / Reaktionen / Gedanken, ich versuche darin einen Leitfaden herauszuklären, etwas, woran ich mich festhalten könnte. Und nichts, ich finde nichts. Entweder gab es hier keine Leitidee (der Opernstoff an sich ist schon klar genug, und Verdi mit Boito lassen wenig Spielraum für freien Lauf von weitreichenden Regieeinfällen), oder die Leitidee wurde so verhüllt… Ja, eben, in was verhüllt, und was muss ich enthüllen, um sie zu finden? Zu verstehen? Ich greife ins Leere, und wenn, dann sehe ich das kleine Theater zur grandiosen Musik. – Betont zeitgenössisch gekleideter Chor lässt an Gaffer am Wrack von Costa Concordia denken, die Riesenwellen in der Bühnentiefe an eine Fototapete im Wohnzimmer, das Steingebilde – das einzige plastische Bühnenelement - an eine im Schrebergarten nachgebaute antike Grotte (Bühne & Ausstattung Petra Mollérus). Alles zum Schein? Pars pro toto für das Ambiente eines biederen kleinbürgerlichen Wohnzimmers, in dem… Ja, das ist es, die häusliche Gewalt in den vier Wänden eines gemütlichen Heimes.

Und doch passt hier etwas nicht zusammen: Einerseits der kleinbürgerliche, nach Kitsch riechende Mief, andererseits die Raffinesse der Musik. Dieser krasse Kontrast trübt hin und wieder die Korrespondenz zu der raffinierten Welt der Gefühle, der Emotionen, der genial expressiven Musik (Orchesterleitung Lutz Rademacher). Was wiederum gar nicht auf die Rolle der Desdemona zutrifft. Susanne Serfling ist der unumstrittene Star des Abends. Zerbrechlich, verängstigt, verloren zwischen den unverständlichen Aggressionsausbrüchen des Otello, sensibel bis an die Grenze der Selbstzerstörung - ausgezeichnete Stimme, gutes, nuanciertes Schauspiel. Ihre Gebet-Arie im 4. Akt war der emotionale Höhepunkt der Premieren-Vorstellung - wenn nicht diese verdammten Hustenanfälle im Publikum, ausgerechnet dann, wenn es am spannendsten, das heißt, am leisesten war. Husten der Rührung?

Heiko Börner (Otello) und Andreas Jören (Jago) passten gut sowohl mit ihren Stimmen als auch der Bühnenpräsenz zu ihren Rollen. In ihrem Schauspiel dagegen dominierte die Überschaubarkeit des Handelns - zu offensichtlich ihre Absichten, zu plakativ die primitive Gewalt und Intrige.

Aber vielleicht auch das mit Absicht: das geradlinige eingeschränkte Denken des Militärs als Gegenpol zu der nicht begreiflichen Gefühlswelt einer Frau?

Jan Ochalski, 31.10.2014

Fotos Landestheater/Lefebvre 

 

 

LIEBESTRANK

Premiere am 6.06.2014

in Zirzensik erstickt

Es ist wie im Zirkus: Clowns, Muskelmänner, siamesische Zwillinge, Jongleure und Messerwerfer, Indianer, sogar Conchita Wurst ist dabei (gute Maskenbildung, phantasievoll und amüsant). Und doch ist es ein Klischee vom Zirkusleben - diese Zirkustruppe scheint die ganze Zeit ausgelassen zu feiern. Wo gibt es denn einen solchen Betrieb, in dem dies möglich ist? Meiner Kenntnis (und Erfahrung) nach ist Zirkus ein sehr hartes Geschäft, eine ununterbrochene Knochenarbeit. Zum Feiern hat es das Publikum. Und dieses bejubelt frenetisch die Premiere von „L’eilsir d’amore“ in Detmold.

Der Regisseur Christian Poewe hat sich für eine etwas abgeflachte Darstellung der aufkeimenden Liebesbeziehung Adina – Nemorino entschieden. Statt eines grotesk romantischen Spiels, geht es hier bunt und schrill zu. So wird die Annäherung der beiden Protagonisten mehr eine verständliche Folge des launischen und ausgelassenen Treibens, als eine emotional tiefere Neigung. Sonst könnte man sich nicht erklären, warum die schöne und reiche Adina ausgerechnet den unattraktiven einfältigen Hilfsarbeiter Nemorino zum Lebenspartner wählt.

Unter der Regie von Poewe wird Nemorino zu einem Clown wider Willen. Er, gesungen und gespielt von Ewandro Stenzowski, ist der einzige, der nicht zu der spielenden Truppe gehört, ein Faktotum, das dann und wann mit der Schubkarre ratlos hantiert. Also einer, der auch von der Manege ausgeschlossen bleibt. So agiert er auch, einer, der hinein will aber nicht kann, auch nicht in das Herz der zirkusschönen Adina. Schwer nachzuvollziehen, warum die Schöne & Reiche sich dann doch von dem Trottel verführen lässt.

Nur wenn Stenzowski zu Una furtiva lagrima ansetzt, zeigt er den scheuen, verletzlichen, unsicheren, verzweifelt liebenden, für alle Opfer bereiten Jungen. In Gedanken sieht man vor seinem Gesicht die Maske eines Clowns und die Traurigkeit eines Spaßmachers, der eigentlich nur ein Handlanger ist.

Katharina Ajyba als Adina agiert spontan, ihre manchmal hell aufbrausende Stimme korrespondiert mit der Rolle einer Frau, die sich ihrer Sonderstellung in der Truppe bewusst ist. Bereits nach der Premiere von West Side Story habe ich geschrieben: Katharina Ajyba glänzte als Maria-Darstellerin… Ich meine, (sie) würde in einer Opernrolle noch mehr glänzen; in West Side Story kontrastiert Ihre kraftvolle, reife Stimme zu deutlich mit dem Musical-Sound des Ensembles. Nun hat sie ihre Opernrolle, die meine Prognose bestätigt: Hier zeigt sie auf hohem professionellem Niveau ihre Stimmsicherheit und Gesangstechnik, und die Leichtigkeit des Schauspiels. Kurzum, eine junge Opernsängerin und -schauspielerin mit merklich guten weiteren Perspektiven. 

Gute Chancen für weitere Erfolge hat auch die selbstbewusste, stimmsichere Nachwuchssängerin Franziska Ringe, hier in der Rolle der Gianetta.

Und der Quacksalber Dulcamara? Michael MacKinnon ist ein guter Sänger mit einem ungebremsten Hang zur Selbstdarstellung. Einverstanden, wenn er bewusst einen Berufsanfänger spielt, der mit einer kindlichen Freude auf die ersten Betrugserfolge reagiert – so ließe sich seine ununterbrochene Selbstbegeisterung erklären. Aber ob die Zirkusleute ihm das abnähmen? Hier passt etwas nicht zusammen: Der kindliche Quacksalber und die Leichtgläubigkeit der Zirkusleute, die ja von Berufs wegen Vollprofis in dem Truggewerbe sind.

Oder war das doch die Wirkung des Liebestranks? - Wer zweifelt an dessen magischen Kräften, sei eines Besseren belehrt. Der Zaubertrank ist zwar nur ein einfacher Wein. Aber sobald Nemorino ihn ausgetrunken hat und trunken über die Angebetete lästert, fällt diese auf ihn rein: Nein nein nein nein, so geht das nicht, mein Lieber, du wirst nicht über mich lachen, oh nein, du wirst mich lieben! - Also, wenn das kein Zauber ist.

Jan Ochalski 16.6.14

Fotonachweis: Landestheater/Lefebvre

 

 

 

WRITTEN ON SKIN

11.4.14

Wundervoll. Unbedingt sehen !

Ein Machthaber, der nach einer Rechtfertigung seiner Macht sucht, braucht Legenden. Heute genauso wie in aller Ewigkeit.

Zum Beispiel im 13. Jahrhundert, in der Provence. Eine Geschichte, erzählt hier in gröbsten Zügen: Ein reicher Landbesitzer beauftragt einen jungen Künstler, ein illuminiertes Buch zu gestalten, in dem alles Böse den Feinden und alles Beste dem Auftraggeber zugeschrieben werden soll. Der Künstler und die kindliche Frau des Auftraggebers verliebten sich ineinander, und sie – durch die Liebe selbstbewusst geworden – nimmt Einfluss auf den Inhalt der entstehenden Schrift. Der Landbesitzer entdeckt die Liebenden, tötet den Künstler, die Frau bringt sich selbst um.

Das in groben Zügen. Im Original ist die Geschichte subtil, sehr nuanciert in der Erwachsenenwerdung der Frau, in der Poetik der Gewalt und der Liebe, ein dankbarer Stoff für das fein gesponnene Drama. Martin Crimp fertigte danach das Libretto für George Benjamins Oper „Written on Skin“, eine Musik, die nicht nur wegen der drei Engel auf der Bühne eine himmlische ist.

„Ich habe sehr darauf geachtet, dass die Vokallinien klar herauskommen und sogar in das harmonische Gewebe rundherum integriert werden. Ich wollte vor allem, dass die Vokallinie zu jedem Zeitpunkt die Intentionen der Figuren widerspiegelt. Hinter jeder Dialogzeile gibt es ein Kräfteverhältnis und eine Absicht. Ich versuche also, diese Absicht in der Stimmlage, der Linie, der Rhythmen und den Farben der Stimme einzufangen, denn meine Rolle ist es, dem Drama zu dienen und versuchen, eine Wahrheit zu finden.“ (George Benjamin, zitiert nach dem Abendprogramm)

Diesem Versuch der Wahrheitsfindung folgte auch Kai Metzger, der Benjamins Werk am Landestheater Detmold inszenierte, mit dem Ergebnis, dass eine Produktion entstand, die das seltene Prädikat verdient: Wundervoll. Und gleich die Frage: Was bedeutet „wundervoll“? Was ist es konkret, greifbar, vorstellbar, was diese Oper und diese Inszenierung so auszeichnet? Es ist eine traurige, wundervoll gesponnene Liebesgeschichte, es ist das Anreihen von mehreren dramaturgischen Höhepunkten, Bruchstücken, aus denen doch jedes Glück – und jede Tragödie – besteht. Wie das zum Beispiel, wenn die Geliebte auf Befehl ihres Mannes, ihres Tyrannen, das Herz des ermordeten Geliebten essen muss, und fast wahnsinnig vor Verzweiflung zu sagen wagt: „Nichts, was ich esse, nichts, was ich trinke, wird je den Geschmack vom Herzen dieses Jungen aus diesem Körper nehmen. Keine Gewalt, die du anwendest, nichts, was du verbietest, kann die Bilder entfernen, die der Junge mit seinen Händen auf diese Haut gezeichnet hat.“ Oder wenn sie, eine Analphabetin, sich das Wort „Liebe“ auf ihrer beschriebenen Haut zeigen lässt und es an die Wand nachmalt… Billige Griffe? Keinesfalls. In der Symbiose dieses Dramas, des Schauspiels, der Musik, der Bilder, gehen diese kleinen Szenen unter die Haut. Realistisch. Nachvollziehbar für jeden, der fähig ist, selbst starke Emotionen zu spüren.

Lutz Rademacher führt das Orchester – für diese Produktion ergänzt durch Studenten der Detmolder Musikhochschule  – äußerst vorsichtig, um das Gleichgewicht zwischen dem Theater und der Musik nicht zu gefährden. Benjamins Musik ist „direkt, authentisch und modern“ (G.B.) zugleich, stellt aber keinen Anspruch auf Dominanz oder Wiedererkennungswert, sie fügt sich kongenial  in die dramatische Spannung der Tragödie, malt die Geschichte mit Klangfarben förmlich nach. So wie auch die Videoprojektionen (Martin Kemner), die mal eine Landschaft, den Himmel oder abstrakte Farbformen zeigt, dezent, elegant, keinen Augenblick überflüssig.

Kai Metzger verstand diese Oper als ein Kabinettstück: Eine kleine Besetzung war ohnehin vorgegeben, der während des ganzen Abends unverändert gebliebene Raum, passt sich den Dimensionen des kleinen Landestheaters konsequent und selbstverständlich an (Bühne und Kostüme Petra Mollérus). Es ist ein verlassener, verfallener Raum einer Heilanstalt. Hierhin verirrt sich nur selten das Anstaltspersonal, und wenn, dann ohne die Berührung mit den Protagonisten. Diese sind wie Geister aus einer anderen Welt, einer anderen Wirklichkeit, die parallel aber vom imaginären hintergründigen Anstaltsleben nicht wahrnehmbar verläuft. Doch nicht ganz konsequent, ab und zu greift das stumme Personal ein, als wenn es Verstorbene versorgte. Die Dramatis personæ bleiben davon unberührt, sie funktionieren auf einer anderen intellektuellen Ebene, eingekapselt in ihrer Gefühlswelt, dramaturgisch so glaubwürdig aufgebaut, dass man die Ergriffenheit im Saal spürt. „Einfach genial“, sagt die Freundin.

Die Regie verzichtete auf die wortgetreue Textübersetzung. Stattdessen erscheinen auf der Szenenrückwand deutlich lesbare Erklärungen und Kommentare der jeweiligen Situation und einzelne Sätze der Dialoge, wenn sie dem Verstehen der Handlung auch tatsächlich dienen. Sie stören nicht, sind in der natürlichen Augenhöhe der Zuschauer ausgestrahlt, gut integriert in die Szene. Sie lenken von dem Geschehen nicht ab, man kann, man will sich ganz auf das Spiel konzentrieren, auf die Mimik, Gestik, den Gesang. - Jedes Detail in dieser Inszenierung ist wichtig, Agnès wird von Vera-Lotte Böcker gesungen, wie geschaffen für diese Rolle: mädchenhaft, zart, und auch fähig, Stärke zu zeigen, eine stimmsichere, sensible Schauspielerin. Den Protektor, ihren Mann, singt Andreas Jören. Den Jungen, zugleich einen der drei Engel, Bernhard Landauer. Die beiden übrigen Engel sind Anna Werle und Markus Gruber – allesamt ein sehr homogenes Ensemble mit hohen musikalischen und schauspielerischen Qualitäten.

Nach den bisher eher schwachen, nichtssagenden Detmolder Produktionen in dieser Spielzeit ist „Written on Skin“ eine geistreiche, intelligente Inszenierung der Superlative, ein Werk der gelungenen Symbiose der Musik und des Theaters. Ein Muss.

Jan Ochalski 19.4.14                         FotosTheater Detmold

 

 

 

JENUFA

Premiere: 7. Februar 2014

Taliban-Philosophie und -Moral im mährischen Dorf.

„Muss das böhmische Dorf so trist sein?“ – schrieb jemand nach der Premiere in das Gästebuch des Landestheaters.

Es muss nicht trist sein, es ist nur eine triste, und doch keine ungewöhnliche, Geschichte, die sich in einem mährischen (nicht böhmischen!) Dorf Ende des 19. Jahrhunderts abspielt: Jenufa wird schwanger von einem Mann, der sie nicht liebt und fallen lässt. Und der Mann, der Jenufa liebt, verstümmelt sie mit dem Messer. Weil er sie liebt. Kein Grund, dass das Dorf trist ist. Im Gegenteil, ein solcher Vorfall wird strengst geheim gehalten, und die Menschen feiern, mal mit mal ohne ersichtlichen Anlass. Bunt, fröhlich, ausgelassen.

Hier beginnt das Missverständnis. Die Regie (Dirk Schmeding) hat sich für eine allgemeine Tristesse entschieden, im Einklang mit deprimiert farblosen Bühnenbild und Kostümen (Susanne Ellinghaus). Der Blick in die Kulturgeschichte, oder einfacher, der Blick in die Literatur der Jenufa-Zeit, zeigt die typische Eigenart der kleinbürgerlichen Moral, von der auch ein mährisches Dorf nicht frei ist: Erotische Leidenschaft ist die Schande für die Frau und das selbstverständliche Vergnügen für den Mann. Die Schwangerschaft ohne den Segen der ausgerechnet zeugungsabstinenten Priester wird zur Lebenskatastrophe der Frau. Das Natürlichste im Menschenleben, die Zeugung und Geburt eines Kindes, wird so zur ungeheuerlichen Schande. Soweit stimmt das Theaterbild.

Doch je größer diese Schande, umso pompöser, bunter und schöner der Besen, der sie unter den Teppich kehrt. Nach außen hin muss das Dorf, oder die betroffene Gemeinschaft, Glück, Freude, Unbekümmertheit vortäuschen: Nichts ist passiert, alles ist gut. Prüderie pur. Die Dramatik der Janacek-Oper – und der literarischen Vorlage von Gabriela Preissova – liegt in diesem krassen (auch im audiovisuellen Sinn) Widerspruch zwischen der Tragödie Jenufas und ihrer Ziehmutter einerseits, und dem bunten ausgelassenen Treiben der ahnungslosen oder wegschauenden Dorfgemeinschaft anderseits. Die Detmolder Inszenierung lässt aber den Eindruck entstehen, dass alle Beteiligten von Anfang an mit der Last der Mitwisserschaft und Mittäterschaft zu schaffen haben. Oder… Wollte der Regisseur hier – auch durch die Verlegung des Geschehens in eine nicht näher unbestimmte moderne Zeit – andeuten, wie dünn unsere Zivilisationsdecke ist, wie nah es ist zu einem Rückfall in die Taliban-Philosophie und -Moral?

Dem trist bedrohlichen Ton des Bühnenspiels fügt sich auch die Orchesterführung (Lutz Rademacher): Wenig nuanciert, sehr auf die (programmatische) Expression, und weniger auf Janaceks positivistische Volksmusik-Empathie bedacht, die ja auch sehr lyrisch und farbenfroh ist. Die Sänger (Jana Havranova als Jenufa, Andrea Baker als Küsterin, Ewandro Stenzowski als Stewa, Heiko Börner als Laca – um nur die vier wichtigsten Protagonisten zu nennen) müssen oft in ihren nicht gerade leichten Parten gegen das forte des Orchesters ankämpfen. Was gut dabei, sie verlieren trotz alledem nicht ihre hohe Stimmqualität.

Was auf Unverständnis stößt, ist die Entscheidung, Jenufa auf Deutsch aufzuführen. Nach dem fragwürdigen, auf Deutsch gesungenen Gianni Schicchi, ist nun Jenufa die zweite in Folge Produktion in Detmold, die die Originalfassung umgeht. Mag die Übersetzung von Max Brod auch so kongenial sein, der deutsche Text ist ein fonetischer Fremdkörper, der allerdings dem Regiekonzept (grau & grausam) folgt. In seinem Werk setzt Janacek die verbale Volksart in die Tonsprache der Musik um: traurig – tragisch – spielerisch – lustig - komisch. Er sublimiert ihre Sinnlichkeit bis zu einer raffinierten Harmonie der Musik und des Wortes. Der gesungene Text wird im Original zur „Wortmelodik“, einem Begriff der Musikgeschichte, den er mit kreiert hat. Die Übersetzung in eine klanglich andere Sprache zerstört sie. Nur einmal singt Jana Havranova eine Arie auf Tschechisch, zu wenig Gutes für eine gelungene Produktion.

Jan Ochalski 15.1.14                                     Fotos Landestheater/Lefebvre

 

 

 

 

IL TRITTICO

Besuchte Premiere 18.10.2013

Eine Perle des Musiktheaters – in fremder Fassung

Jedem Regisseur, der eine Oper – zumal eine wenig bekannte – in der deutschen Übersetzung und ohne Übertitel inszeniert, sei es geraten, vor der Premiere eine zufällig ausgewählte Gruppe von Menschen ins Theater einzuladen. Sie sollten sich die Produktion anhören und sagen, was und wie viel sie von den gesungenen Texten verstanden haben. Ohne eine solche Verständlichkeitsprüfung könnte es so laufen, wie just in Detmold, wo sich Ernö Weil für eine deutsche Textfassung von Puccinis Gianni Schicchi entschieden hat: ein etwas verstümmeltes Meisterwerk. Mehr darüber gleich.

 

IL TABARRO

Gesungen in der Originalsprache, gespielt in einer sehr realistischen Szenerie: Eine Barkasse am Seine-Kai in Paris (Bühnenbild Petra Mollérus), stummes Leiden eines Mannes, dessen Frau das Leben auf dem Wasser satt hat und von einem kleinen Häuschen mit Garten träumt, allerdings zusammen mit einem anderen Mann. Das Drama der nicht ausgelebten Lebensvorstellung, auch wenn es nur der Traum vom Kleinbürger-Glück ist. Der Skipper schweigt, sein Lebensbild ist zerstört. Nichts will so sein, wie seine Vorstellung von Frau, Kind, Arbeit. Kind ist gestorben, Frau liebt einen anderen. Er verlangt nur: Sei meine Liebste! Fragt aber: Was willst du von mir? Und urteilt: Dirne! Der Ausdruck der Ratlosigkeit eines Mannes, der die Liebe seiner Frau für sein selbstverständliches Eigentum hält, und doch unfähig ist, Gedanken und Gefühle auszusprechen. Ihm bleibt nur das Verbrechen, der Mord, als Folge von Missverständnissen. Missverständnisse als Folge der Schweigsamkeit, Schweigsamkeit als Folge der Gedankenlosigkeit. „Du hast recht, man sollte niemals denken“, sagt er.

Bedenken Sie: Der Inhalt der meisten Opern sind literarische und musikalische Berichte von Gewaltverbrechen. Und zwar mit 100% Aufklärungsquote. 

In der Rolle des Skippers Michele James Tolksdorf, in der seiner Frau Giorgetta, Marianne Kienbaum-Nasrawi, ihres Geliebten Luigi, Daniel Magdal, ein stimmgewaltiger Tenor, der in einigen Szenen der Zärtlichkeit den Eindruck erweckt, er wolle seine Geliebte gegen die Pariser Kaimauer schmettern, und das in einem starken Kontrast zum Orchester, das besonders in Il tabarro, wo die manchmal an die Gleichgültigkeit des Alltags grenzende, manchmal sanfte Stimmung und die emotionale Spannung sich rasch abwechseln. Diese Opernminiatur ist dynamisch sehr differenziert, das Drama spielt nuancenreich, deutlich zu hören das Phänomen der Opernwerke Puccinis – das Orchester spielt nicht nur Musik, die Musik des Orchesters spielt das Theater. Das Akustische wird zu einem fast materiell greifbaren Spiel, was das Orchester unter Lutz Rademacher, dem gerade neu engagierten Generalmusikdirektor des Landestheaters Detmold, diesmal perfekt umsetzt. Guter Einstand, Herr Rademacher.

 

SUOR ANGELICA

Als Folge einer Liebesnacht, die den Himmel verspricht und mit Mutterschaft endet, muss Angelica das Kind gleich nach der Geburt abgeben und selbst ins Kloster gehen. Der „Schänder“ heiratet ihre viel jüngere Schwester, una piccola bambina - also ein Kind. Und das alles mit der Zustimmung der hochadeligen Familie und der Kirche. Die Familie nimmt mit Angelica nach sieben Jahren absoluter Isolation und Totalüberwachung („Maria hört alles!“ was bedeutet, Priorin hört alles) Kontakt auf, weil sie ihre Unterschrift in Erbangelegenheiten braucht. Mutterschaft und Moral stehen auf höchst unterschiedlichen Positionen. Die Tragödie einer Mutter, der Mutterschmerz, ist die Strafe für die Mutterschaft. Der Glaube an diesen Zusammenhang treibt Angelica in den Selbstmord.  

Das Bühnenbild beschränkt sich auf schlichte, grau angerauchte Wände mit Zellentüren, nur das Licht deutet Änderungen in Zeit und Raum an – beeindruckende Arbeit von Eva-Nadin Krischok. Darin der weißgekleidete Chor der Nonnen – eine formlose Masse, die sich ausbreitet, zusammenzieht, pulsiert und wieder erstarrt – ein Hintergrund des Dramas, das sich nur auf die Titelheldin konzentriert. In dieser Masse gefangen ist sie allein mit ihrem Schmerz. Ergreifend Marianne Kienbaum-Nasrawi in der Rolle der Angelica. Sie spielt mit Andeutungen, Schemen, mit einer Stimmzurückhaltung, die die Dramatik noch steigern lässt. Schade nur um die Schlussszene: Marianne Kienbaum-Nasrawi verlässt die dramatisch wirksame Zurückhaltung und robbt in konvulsiver Agonie ihrem Kind entgegen, das leibhaftig aus der Kulisse vortritt. Leider kitschig dies.

 

GIANNI SCHICCHI

Der Tod ist für sich schon ein trauriges Ereignis. Als das Thema einer Geschichte garantiert er a priori Traurigkeit. Darüber eine Komödie zu schreiben, ohne der Pietät zu schädigen, ist eine raffiniert intelligente Kunst. Das Libretto hat Giovacchino Forzano frei nach Dante gedichtet, Gunter Selling hat es ins Deutsche übersetzt, und diese Deutschfassung hat das Detmolder Ensemble an das Publikum weitergegeben. Oder besser: weiter geben wollen. Denn – was anfangs erwähnt -, der Text kam im Publikum stellenweise unverständlich an. Puccini hat zum Original-Wortwitz die Musik geschrieben, für ihn waren das Wort und die Musik eine Einheit, ein Theater. Expression und Witz, sprudelnde Komik entstanden aus der Symbiose von Sprache und Musik: Unterhaltsam Szene für Szene, jede Rolle ein Charakter, publikumswirksam, intelligent, komisch, köstlich, eine Perle des Musiktheaters. Das gilt für die Detmolder Inszenierung mit einiger Einschränkung. Der deutsche Text – falls er überhaupt verstanden worden ist – klang hier wie, hm... wie eine Fremdsprache.  

Natürlich hat das Publikum begeistert reagiert – nur einige kurze Gespräche im Foyer erklärten dies: Kaum jemand kannte diese Oper. Nie gesehen, nie gehört. Daher der begeisterte Empfang. Zu Recht. Diese Oper lebt mit der Komik und Verschlagenheit der Protagonisten, wird in einem rasanten Tempo erzählt, und zwar mit allen Mitteln, die ein Opernhaus und das ganze Team zu Verfügung haben. Das klappt auch in Detmold. Denn auch ohne die Sprachnuancen, ohne den Klangwitz der italienischen Dialoge ist diese Komödie leicht verständlich. Und das reicht schon in vielen Fällen für einen Erfolg, besonders wenn man keine Vergleichsskala kennt. Aber, wenn man so verwöhnt ist, wie ich – ich kenne nicht nur mehrere Inszenierungen, ich kann einige Original-Passagen auswendig auf Italienisch mitsingen – schreit man nach mehr. Nach mehr Witz, nach Wortwitz! Nein, ich habe nichts gegen Überraschungen, ich will nur, dass der Text, in welcher Sprache auch immer – verständlich bleibt. Mit allen Feinheiten der Dichtung, wenn es sie gibt. Das wird leider von keinem Theater garantiert, falsche Diktion, Akzent, Dominanz des Tons über dem Text, etc. etc. führen manchmal zu dem Schluss, die Singenden wissen nicht ganz, welche Rolle sie singen, sie wissen nur, welche Noten sie singen. 

So zum Beispiel die Firenze-Arie, eine heimliche Hymne an die Stadt, oder der gesungene Stadtführer. Sie – einer der Höhepunkte der seltenen Soli - bleibt fast unbemerkt. Hyungseung You bemüht sich zu sehr, Attribute seiner voluminösen, tragenden Stimme zu zeigen, statt mit der Stimme Attribute seiner Rolle. Sehr krass dies am Premierenabend im Schlussduett Lauretta – Rinuccio. You vergisst die Rolle, ist nur ein Sänger. Dafür bleibt Vera-Lotte Böcker mit ihrer sanften, warmen Stimme und klaren Führung ihrer Rolle, immer noch die glückliche, schelmische Lauretta. Auch das übrige Ensemble (Gianni singt und spielt Andreas Jören) zeigt sich gut in der Spontanität der chaotischen Ratlosigkeit, der fast ununterbrochenen Komik der Gruppe.

Jan Ochalski, 26.10.13                             Fotos: Landestheater/Lefebvre

 

 

 

WEST SIDE STORY

Premiere: Freitag, 13. September 2013

Gegen veraltete Musical-Inhalte setzt man am besten die Spielfreude junger Darsteller. Wovon sonst könnte man sich einen Erfolg versprechen, wenn man mit einem Stoff arbeitet, der vor 70 Jahren – mit Vorbehalt - als aktuell galt? West Side Story ist ein Musical, dem das Pionierhafte nachgesagt wird. Doch die Story, die in den 1950er Jahren die Kämpfe der kriminellen Straßenbanden theatralisch darstellen wollte und sie nie glaubwürdig darstellen konnte, verliert angesichts der heutigen Straßenkriminalität ganz den kritischen Kontext. Was bleibt sind Musik und Ballett, die Evergreens und die groß aufgebauten, dynamischen Tanzszenen. Ganz im Sinne von Leonard Bernstein und Jerome Robbins.

Das Werk entstand in den Köpfen von einem Choreographen und einem Musiker, und zwar in dieser Reihenfolge, und nicht in den Köpfen von Sozialarbeitern, Polizisten oder Jugendpsychologen. Der Choreograf Robbins sah die Gruppendynamik einer Straßenbande als Gruppendynamik der Balletttänzer auf der Bühne, der Musiker Bernstein die Spannung der Kontrapunkte: „Zwei Banden, aufeinander prallende dynamische Kräfte - ich habe sie vor Augen, ich spüre Rhythmen.“ Um daraus ein vorzeigefähiges Spektakel zu machen, brauchten sie nur noch eine zu diesem Rahmen passende Story.

Das Beste, was ein Stück universal macht, sind – seit es Liebe und Theater gibt – die Liebesgeschichte mit Hindernissen und die traurige Schönheit des Todes aus Liebe. Es sollte – nach Bernstein – eine moderne Version von Romeo und Julia werden. West Side Story ist ein Werk, das sich vorwiegend der Musik bedient: Bernstein war ein genialer Musiker, aber kein genialer Musik-Theatermacher. Die Musik gibt die Vorstellung, das Orchester und die Sänger mit ihren Songs voller Ohrwurm-Melodik. Die Story bleibt zweitrangig, sie ist ein Mittel, das das Theatergeschehen zusammenhält.

 

Die Detmolder Inszenierung (Regie Kai Metzger, Choreografie Richard Lowe) geht den einfachen, risikolosen Weg: Sie hält sich weitgehend an die Inszenierung der Uraufführung vor knapp 70 Jahren. Die Gruppenchoreografien wechseln sich mit den Songs ab, die Dialoge dazwischen sind nur ein Füllstoff. Diese dramaturgische Tücke kann die Regie nicht umgehen: Was macht man mit der Tanzkompanie, die nicht tanzt? Sie muss eine simpel gestrickte, durchschaubare Geschichte mimen. Das sind die Schwachstellen der Detmolder Inszenierung, Passagen, die den schnellen Fluss bremsen. Sobald das Ballett zum Sprechtheater wird, schwächelt das Tempo, die Spannung fällt. Man wartet auf das Fortkommen, wartet, bis wieder getanzt und gesungen wird. Ein Plus für die Choreografie, dass die statischen, manchmal nicht ganz verständlich gesprochenen Gruppenszenen, sich wie zufällig in Tanz auflösen. Dann lebt die Bühne auf, dann lebt auch die erzählte Geschichte weiter. Dass bei der geordneten Gruppen-Choreografie etwas chaotisch zugeht, stört nicht, schließlich stehen die Tänzer sinnbildlich für gesetzlose gewaltbereite Straßenbanden. Dem Tanzensemble, das für diese Produktion dank Sponsorengeldern mit externen Künstlern verstärkt wurde, merkt man deutlich die Freude am Spiel; hier besonders auffallend Stevie Taylor, vom Publikum gefeiert für ihren Sinn für Humor.

 

Katharina Ajyba glänzte als Maria-Darstellerin, an ihrer Seite agierte Kai-Ingo Rudolph als Tony. Ich meine, Katharina Ajyba würde in einer Opernrolle noch mehr glänzen; in West Side Story kontrastiert Ihre kraftvolle, reife Stimme zu deutlich mit dem Musical-Sound des Ensembles und mit der Rolle eines sehr jungen, ja unerfahrenen Mädchens.

Das Bühnenbild von Petra Mollérus verdeutlicht den Ort des Geschehens: Öde graue Betonblöcke werden zu Räumen, Wänden, Straßenwinkeln, Brückenpfeilern zusammen- und auseinandergeschoben.

Das Orchester (musikalische Leitung Matthias Wegele) hat mit der Akustik des kleinen, schmucken Landestheaters ein Problem: Die Bläser, in dieser Bernstein-Musik oft forte eingesetzt, klingen im Verhältnis zu anderen Instrumentengruppen so schrill, dass ich es nicht wagen kann, von einem Klangkörper zu sprechen, sondern vielmehr von Klangkörperteilen. Da müsste man noch viel Feinarbeit leisten und vielleicht mehr darauf achten, wie der Klang im Orchestergraben in Zuschauerraum ankommt.

Jan Ochalski                                      Fotos: Landestheater /Björn Klein

 

Weitere Vorstellungen: So 29.09./ Fr 11.10./ So 13.10./ So 03.11./ Sa 07.12./ Do 26.12./ Fr 27.12.2013; Sa 08.02./ Sa 12.04./ Mo. 21.04./ Do 01.05./                   Do 19.05.2014

 

 

 

KISS ME KATE

Broadway und Thespis-Karren

22.6.13

Theater auf dem Theater ist immer ein Spaß auch für die Darsteller, die dabei selbstironisch aus dem (ihrem) Bühnenleben schöpfen können. „Kiss Me, Kate“ von Samuel und Bella Spewack mit den Songs von Cole Porter ist so ein Stück, das auf mehreren Ebenen den Protagonisten wenigstens zwei Chancen gibt, zu brillieren: im eingebundenen Shakespeare´schen Original und der witzigen doppelten Rahmenhandlung. Das gelang dem Ensemble des Landestheaters Detmold in der Inszenierung von Peter Rein, die am vergangenen Samstagabend fast 300 Zuschauer ins Remscheider Teo Otto Theater lockte. 

Nach 65 Jahren ist „Kiss me, Kate“ noch immer ein Publikumsmagnet für die große Bühne. Peter Rein bot bunten Theater-Genuß: von Bodo Demelius entworfene prachtvolle Kostüme (ein Augenschmaus) und sein einfallsreiches Bühnenbild mit Glimmervorhang und Thespiskarren, großes Ensemble mit Ballett und Chor - wimmelndes Bühnenleben, wie es das Stück verlangt. Die Saxophon-verstärkten Bergischen Symphoniker in kleiner Besetzung unter Mathias Mönius bewiesen sich erneut als veritables Jazz- und Unterhaltungsorchester. Amüsante Petitessen von eigenem Wert waren die für die Umbaupausen eingeschobenen Clownerien vor dem prächtigen Zwischenvorhang.

Ein weiterer Garant für beste Unterhaltung ist die deutsche Text-Fassung des Kabarettisten Günter Neumann (Katakombe, Die Insulaner, Stachelschweine, Wühlmäuse) zu der verzwickt komischen Handlung zwischen Globe und Off-Broadway. 

Die Aufzählung der Hits, mit denen Cole Porters pointierte Bearbeitung von Shakespeares „Der Widerspenstigen Zähmung“ seit ihrer Broadway-Premiere 1948 wuchern kann, reiht unsterbliche Evergreens aneinander, die seither wirklich die Spatzen von den Dächern pfeifen. „Ich bin dein (So in Love)“ rührt immer wieder an, „Premierenfieber (Another Op´nin´)“ ist ungezählte Male zitiert worden, der Walzer „Wunderbar“ ein (hier parodistisch gelungener) Ohrwurm, den man summend mit nach Hause nimmt und „Von Venedig nach Venedig (We Open in Venice)“ geht in die Beine. „Wo ist die liebestolle Zeit?“ wurde wie seine anderen Songs zum Triumph des sympathischen Andreas Jören in hervorragender Ironie als Fred Graham/Petruccio. Die temperamentvolle Silke Dubilier an seiner Seite gab mit Verve und schönem Timbre eine charmant kratzbürstige Lilli Vanessi/Katharina, deren „Kampf dem Mann“ ihr ebenso auf den Leib geschrieben war, wie die Erkenntnis der großen Liebe zu Ex-Ehemann Fred, mit dem sie schließlich wieder zusammenfindet.

Auch in der „zweiten Reihe“ gab es erste Klasse: Lois Lane/Bianca (eine Orchidee: Peti van der Velde) und Bill Calhoun/Lucentio (Patrick A. Stamme). Peti van der Veldes „Aber treu bin ich…“ auf improvisierter Show-Treppe mit gekonnter Burlesque a la Dita von Teese war ein Bonbon. Das fingerschnippende „It´s darn too hot“ („Viel zu heiß“) wurde in der Choreographie von Richard Lowe zur mitreißenden, atemberaubend wirbelnden Ensemble-Tanznummer (je ein Extra-Sternchen für Lemuel Pitts und Stevie Taylor), und das „Ehe-Quartett“ begeisterte als glitzernde Show-Nummer. Seit Wolfgang Neuss/Wolfgang Müller wartet man bei jeder „Kate“gespannt auf „Schlag nach bei Shakespeare (Brush Up Your Shakespeare)“ mit dem geflügelten Refrain. Die beiden Filmkomiker haben mit ihrer Interpretation kaum mehr zu erreichende Maßstäbe gesetzt. Der Song war hier etwas gequält plaziert, aber Manfred Ohnoutka und Kevin Dickmann konnten trotz etwas schwacher Darstellung der beiden bildungsbeflissenen Gangster Sympathie ernten.

Alles in allem ein vergnüglicher, entspannter Musical-Abend mit etlichen Höhepunkten, der mit reichem Applaus belohnt wurde.

Frank Becker

Dank an: Musenblätter.de

 

 

Großartiger

TROUBADOUR

PR 15.2.13

Allein für die eine Szene lohnt sich die Fahrt nach Detmold: Zweiter Teil, drittes Bild, das Zwiegespräch zwischen der Zigeunerin Azucena und dem Troubadour Manrico. Evelyn Krahe und Emmanuel di Villarosa in Höchstform schufen ein exzellentes, ergreifendes Stück Musiktheater, ebenbürtig Musik und Theater im zeitlos minimalistischen Bühnenbild von Susanne Ellinghaus. Über die geweckten Emotionen schweigt der Kritiker - es ist müßig, die Dramatik dieser Szene zu beschreiben. Man muss sie erfahren.

Die ganze Inszenierung stützt sich auf zwei Paare: Evelyn Krahe als Azucena - Emmanuel di Villarosa als Manrico, und Marianne Kienbaum Nasrawi als Leonore - James Tolksdorf als Graf von Luna. Sie gestalten das Drama, überzeugend, ergreifend, mit einem famosen Gespür für Musik und Erzählung. Sie werden konsequent durch die Inszenierung geführt, auch wenn man denken könnte, die Regie agiere sehr vorsichtig und kaum spürbar. Nein, hier wird kein Detail sich selbst oder dem Zufall überlassen. Die Szenen, wenn sie so gut gespielt sind, brauchen keine aufwendige Staffage, die Gewalt ist grausam ohne dies, auch in leisen Tönen. Wenn Tolksdorf zuweilen schargiert, deutet er nur einen unsicheren Macho la Luna an, dessen Stärke nur die Lautstärke ist. Die wahre Macht der Leidenschaft liegt ja im Verborgenen.

Der Regisseur Dirk Schmeding teilte die Oper in einzelne Bilder, die jeweils mit dem Vorhang und einer kleinen Pause der Stille enden. Die Geschichte wird dadurch klar strukturiert, großformatige Überschriften, die sich nur auf wesentliche Textpassagen des Librettos einschränken, erklären das Geschehen verständlich. Das kleine schmucke Detmolder Theater hat eine große, großartige Operninszenierung gezeigt.

Jan Ochalski

Fotos: Landestheater/ Lefebvre

Weitere Vorstellungen am 7. und 19. April 2013. Sonst Gastspiele in Paderborn und Gütersloh.

 

Besprechungen älter Vorstellungen befinden sich ohne Bilder weiter unten auf der Seite Detmold unseres Archivs

 

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