DER OPERNFREUND - 51.Jahrgang
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2015 - von Rosalie verziert - Foto:  Wolf-Dieter Gericke

 

 

 

Manon

21.9.22

NO RISK, NO FUN

So lautet das Lebensmotto vieler junger Menschen. Das war zur Zeit, als der Abbé Prévost sein moraliserendes Lehrstück "La Véritable histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut" verfasste (1731) nicht anders als hundertfünfzig Jahre später, als sich Jules Massenet des Stoffs annahm und eines seiner schönsten und ergreifendsten Werke für die Opernbühne schuf. Und auch heute kennen wir alle aus eigener Erfahrung oder aus den Medien, welche Risiken man für etwas Vergnügen oder einen kurzen Moment "Berühmtheit" in Kauf zu nehmen bereit ist. So verwundert es nicht, dass sich diese Oper ganz besonders für eine szenische Umsetzung eignet, die sie näher an unsere Zeit bringt. Das haben der Regisseur David Bösch, der Bühnenbildner Patrick Bannwart, der Kostümbildner Falko Herold und der Lichtdesigner Michael Bauer dann auch auf geradezu kongeniale Weise getan. Diese hoch spannende Produktion ist exemplarisch für intelligentes, wohl durchdachtes Musiktheater für das Hier und Heute. 

Jedes der sechs Bilder wird durch eine kurze Videosequenz (schwarzweiß gedreht) eingeleitet, darin wird mit einem Titel versehen und das Leben einer Katze spielt darin auch eine allegorische Rolle. Diese Katzenidee ist nicht etwa eine absurde regietheaterliche Kopfgeburt, sonder beruht auf einer Stelle im Libretto, wo Manon sich an die Katze erinnert, die zu den Anfängen ihrer Liebe in der kleinen Wohnung in Paris mit ihr und Des Grieux zusammengelebt hatte. Manon läuft die Katze im ersten Bild zu. Zu Beginn des zweiten Bildes sitzt die Katze am Fenster, springt dann auf den Schreibtisch, hinterlässt üble Tintenkleckse auf dem Brief, den Des Grieux an seinen Vater schreibt. Für das dritte Bild haben sich die Videodesigner Patrick Bannwart und Falko Herold eine ganz besondere Zeichentrickfilm Sequenz ausgedacht: Eine Revue-Katze, die sich kaleidoskopisch vervielfacht. Vor der Szene in der Kirche St.Sulpice sehen wir Fotos von Manon und der Katze, später stellt Des Grieux dann wirklich einen Futternapf hin. Die zweitletzte Filmeinleitung kommt ohne Katze aus man vermisst sie schon schmerzhaft (wir sehen nur eine rotierende Pistole und Roulettetische. Bevor sich der Zwischenvorhang zum letzten Akt öffnet, wissen wir dann auch warum:

 

 

Die Kamera folgt Katzenspuren im Schnee und bleibt an dem leblos im Blut liegenden Katzekörper hängen. So konsequent durchdacht und umgesetzt ist die gesamte Inszenierung. Jeder Charakter wird detailreich gezeichnet, z. B. der spielsüchtige Lescaut, der zu Beginn in seiner Lederjacke und den engen Jeans und seinem jungenhaften, nonchalanten Auftreten noch eine gewisse Sympathie genießen könnte, dann jedoch neben der Spielsucht zusehends mit Alkohol- und Drogenmissbrauch (erst Kokain schnupfend, dann intravenös noch härteres Zeugs zu sich nehmend) verbunden mit unkontrollierten Gewaltsausbrüchen jegliche Empathie verspielt. Björn Bürger spielt ihn mit phänomenaler Darstellungskraft und lässt mit seiner sicher geführten und markant timbrierten Baritonstimme aufhorchen. Ein starkes Rollenportrait liefert auch Daniel Kluge als rachsüchtiger (kann man irgendwie verstehen), stinkreicher Guillot-Morfontaine ab. Sein heller Tenor passt perfekt zum leicht erzürnbaren Charakter dieses Schürzenjägers. Nobler klingt der Bariton seines Saufkumpanen de Brétigny, der schließlich die luxussüchtige Manon mit seinem Reichtum blendet und ihr für kurze Zeit (in dieser Inszenierung) den Ruhm als Sängerin in einem Glitzerkasino ermöglicht. In weiteren mittleren und kleineren Rollen überzeugen Wilhelm Schwinghammer als Vater Des Grieux, Norea Sun als Poussette, Ulrike Helzel als Javotte, Kady Evanyshyn als Rosette, David Minseok Kang als gerne mit dem Fleischerbeil drohender Wirt und Florian Panzieri und Han Kim als Gardisten. Sie alle machen diese Oper zu einem aufregenden, spannenden Theaterabend.

 

 

Endlich darf man in der Oper wieder einmal ein auf jede Szene angepasstes, stimmiges Bühnenbild blicken, muss sich nicht mit einem Einheitsbühnenbild in einer sterilen "Schöner Wohnen" Sitzlandschaft abfinden. Das bedingt zwar (dank ausgeklügeltem Konzept) kleinere Umbaupausen, die man aber gerne in Kauf nimmt, wenn man dadurch einer Drehbühne in Dauerbewegung für einmal entgehen kann. Wunderbar ist gerade die Szene in der Kirche St.Sulpice gelungen, wo hinten dran bereits wieder der Glitzervorhang der Spielhölle des Hotels de Transylvanie droht. Hier ist dem Regisseur eine ganz besonders plausible Wendung für die NO RISK - NO FUN Thematik eingefallen: Sie spielen Russisches Roulette im Hotel! Dabei erschießt Manon den Guillot. So wirkt auch ihre Verhaftung glaubwürdiger. 

DAS LIEBESPAAR

Elbenita Kajtazi ist eine Name, den man sich unbedingt merken muss. Was für eine wunderschöne, jugendlich-frische Stimme, ein Sopran, der mit seiner ungetrübten Leuchtkraft perfekt zu der erst naiv geschwätzigen Göre (Je suis encore tout étourdie) und später zu dem vergnügungssüchtigen Teenager passt. Immer aber wieder findet sie auch zu ausdrucksstarker, inniger Lyrik und Selbstreflexion (Voyons, Manon und Adieu notre petite table). Die mit Koloraturen geschmückte Arie "Je marche sur tous les chemins" im dritten Bild meistert sie mit Bravour im Glitzeroutfit und mit weißem Hermelinmantel im Kasino. Das "N'est-ce plus ma main?" im Kirchenbild ist dermaßen überzeugend vorgetragen, dass man sehr wohl begreift, wenn Des Grieux die eben erst erworbene Soutane bereits wieder an den Nagel hängt, um ihr in den Vergnügungsstrudel zu folgen. Benjamin Bernheim ist dieser Des Grieux, der der femme fatale verfallene junge Mann, der ihretwegen auch bereit ist, jedes Risiko einzugehen. Bernheim vermag in jeder Rolle seines klug ausgewählten Repertoirs zu begeistern, aber die des Des Grieux in MANON scheint ihm ganz besonders zu liegen, seine Interpretation ist zum Niederknien. Die Stimme strahlt mit bestechender Sicherheit, gekonnt setzt er die voix mixte ein (En fermant les yeux) und dringt mit der tief empfundenen Emphases in "Ah! Fuyez, douce image" tief in diee aufgewühlte Seele vor. Die Duette der beiden Protagonisten sind ein klanglicher Hochgenuss, der vom Publikum zu Recht mit vielen Bravi-Rufen gewürdigt wurde.

Am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters stand Nicolas André, der es auf fantastische Art verstand, raffinierte Stimmungen zu zaubern, ohne allzu aufdringlichen Parfumduft zu verbreiten (was bei Massenet schnell mal passieren kann). Die Premiere dieser Produktion fiel 2020/21 in die Corona-Pandemie. Deshalb hatte man darauf verzichtet, den Chor auf die Bühne zu holen. Das hat man nun für die Wiederaufnahme beibehalten, der Chor singt aus den vorderen Logen im ersten und zweiten Rang. So nimmt er eine fast antike Rolle des Kommentierens ein. Passt!

Diese wunderbare, begeisternden Aufführung ist leider nur für zwei Vorstellungen in dieser Spielzeit geplant, die letzte findet also bereits am 24. September statt. Unbedingt empfehlenswert, die Besetzung ist Weltklasse, die Inszenierung eine Wucht und das Werk einfach wunderschön. Wenn am Ende die beiden Liebenden sterben und Manon mit den Worten "Et c'est là l'histoire de Manon Lescaut" das Leben aushaucht, ist man echt be- und gerührt.

P.S.: Die beiden Artikel des Dramaturgen Detlef Giese im Programmheft über die Inszenierung und über das Werk sind meisterhaft verfasst - so muss ein Programmhefte gemacht werden!

 

Kaspar Sannemann, 22.9.22

Bilder (c) StOp Hamburg

 

 

DON PASQUALE

Aufführung am 29.5.22 (Premiere)

 

Wieder einmal wurde eine im 19. Jahrhundert geschriebene Oper in die Gegenwart versetzt. Die Inszenierung in der Regie von David Bösch kam beim Publikum sehr gut an und hatte tatsächlich viele nette Einfälle, so beispielsweise die Projektion von Slogans und Schlagzeilen von Boulevardmedien ("Milliardärs-Traumhochzeit", "Blitzscheidungen - bei 5 Scheidungen eine gratis") und Ähnliches, ein paar davon auf Hamburgs bekanntesten Milliardär Klaus-Michael Kühne zugeschnitten (siehe auch mein P.S.).

Bösch sieht in Pasquale in erster Linie einen sehr reichen Junggesellen (sein erster Auftritt erfolgt aus einem Riesensafe voller Geldbündel, was unweigerlich an Dagobert Duck denken lässt). Als er sich auf Brautsuche macht, setzt er sich auf den Hometrainer, um seine mangelnde körperliche Fitness zu verbessern. Die Regie sieht ihn also als den berühmten "alten weißen Mann", der sich eine junge Frau "kaufen" möchte. Auf der Strecke bleibt dabei Pasquales Verlangen nach Liebe und Familie, wie er sie im Duett mit Malatesta besingt, als er seinen Wunsch nach "vielen Kinderlein" zum Ausdruck bringt. Das gesamte Ambiente (Bühne: Patrick Bannwart, Kostüme: Falko Herold) ist das einer Spassgesesellschaft, denn angesichts der zahllosen in Norinas Behausung herumhängenden Fähnchen ist die Armut der Dame, von welcher im Text die Rede ist, wohl auf kompulsives shopping zurückzuführen. Malatesta bewegt sich auf dem E-Roller vorwärts, und die Kommunikation erfolgt natürlich per (exzessiv genutztem) Handy. Dabei erhebt sich dann die Frage, wieso Ernesto trotz aller Wischerei und Schreiberei über die Intrige zu Lasten Don Pasquales nicht informiert ist...

Vieles in dieser Regie ist gelungen, denn die flott vorangetriebene Handlung entspricht den spritzigen Stellen in Donizettis Musik. Dabei kommen allerdings die nachdenklich-lyrischen Szenen zu kurz, denn bei Ernestos "Cercherò lontana terra" würde man sich anstatt der Selfies des jungen Paares einen Moment des Innehaltens wünschen, ebenso - und noch mehr - in der Szene nach Norinas Ohrfeige für Pasquale, die nicht klar genug macht, dass die junge Frau begriffen hat, eine Grenze überschritten zu haben. In den Bereich "schlechter Geschmack" gehören Pasquales rutschende Hosen während des Kennenlernens mit Norina, aber auch, dass diese während des Liebesduetts im 3. Akt ihr Höschen zu Ernesto schleudert, wie es weibliche Fans von Popsängern oder -bands zu tun pflegen. Nett die Schlussszene mit Pizza aus - na, von wo? - der Pizzeria "Morale", was dem moralisierenden Schlusstext entspricht.

Die Sicht auf den Protagonisten als eigentlich nicht sehr sympathische Figur wurde durch die Persönlichkeit von Ambrogio Maestri gemildert, dessen Ausstrahlung ein großes Quantum von Sympathie zu verdanken ist. Für Böschs Sicht der Dinge hätte es eines Protagonisten mit einem Hauch Zynismus bedurft, den Maestri glücklicherweise nicht besitzt. Stimmlich bewältigt sein Bariton die Rolle natürlich perfekt, mit Ausnahme zweier winziger besonders tief liegender Stellen (immerhin ist die Rolle für Bassbaritone geschrieben). Die tiefen Stimmen waren auch mit Kartal Karagedik als Malatesta bestens vertreten. Das Hamburger Ensemblemitglied sang so wendig wie es spielte und ließ bei seinem aberwitzig schnellen Duett mit Pasquale zu Beginn des 3. Aktes auch beachtliche Höhen hören. (Der letzte Teil des Duetts wurde vor dem Vorhang wiederholt, um Zeit für den Szenenwechsel zu haben: Ein besonders netter Regieeinfall stoppte die Geschwindigkeit des sillabato der beiden und ließ sie als Weltmeister darin hervorgehen).

Danielle de Niese, anstelle der vorgesehenen, hochschwangeren Rosa Feola, war szenisch eine ideale Besetzung für die hier als fashion victim dargestellte Norina, wendig in allen Szenen ab dem ersten Auftritt mit ihrer Arie in der Badewanne. Die Stimme ist von durchschnittlicher Qualität, wird aber sicher geführt, mit Ausnahme der brutal herausgeschleuderten Spitzentöne. In der dramaturgisch undankbaren, aber gesanglich fordernden Rolle des Ernesto ließ Levy Sekgapane einen weißen Rossinitenor hören, dem für Donizettis Romantik die Sinnlichkeit fehlte. Demgemäß gelangen ihm Koloratur und agilità am besten. Szenisch fügte er sich gut in das Konzept ein. Jóhann Kristinsson ergänzte schwungvoll als Notar.

Was der Regie an lyrischer Empathie fehlte, wurde klanglich vom Graben her ausgeglichen. Matteo Beltrami ließ das Philharmonische Staatsorchester Hamburg mit Ausgewogenheit zwischen Heiterkeit und elegischen Momenten musizieren, sodass die spritzigen Momente ganz zu ihrem Recht kamen und die romantischen bzw. nachdenklichen das Gewicht besaßen, das ihnen die Regie nicht zugestand.

Ein Riesenerfolg im vollen Haus, mit Applaussalven und langem Jubel.     

Eva Pleus 5.6.22

 

P.S.: Das am Vorabend der Premiere von Klaus-Michael Kühne gemachte Angebot, der Stadt Hamburg eine neue Oper zu schenken, damit die alte abgerissen werden könne, machte die Inszenierung noch einen Deut aktueller. Neben allen anderen Fakten hat Kühne übrigens nicht bedacht, dass die Hamburger ihr Opernhaus lieben.

 

Fidelio

Wiederaufnahme: 26.4.

Warum nur schwirrten mir während der gestrigen Aufführung von Beethovens FIDELIO immer wieder Tannhäusers verzweifelte Ausrufe "Zuviel, zuviel" im Kopf herum? (Nicht nur, weil ich TANNHÄUSER am Abend zuvor hatte erleben dürfen.)

Hier ein Versuch, subjektive Antworten auf die Frage zu finden.

"Todsünden" der Regie

Intendant und Regisseur Georges Delnon hatte den FIDELIO 2018 für "sein" Haus inszeniert. Die philosophische und intellektuelle Auseinandersetzung muss immens gewesen sein, viele zwar hochinteressante, aber auch schwere Lesekost darstelllende Beiträge diverser Geistesgrößen im Programmheft zeugen davon (Hannah Arendt, Ingeborg Bachmann, Heiner Müller u.a.m.). Daneben spielten die deutsche Wiedervereinigung und die Symbolkraft des deutschen Waldes für die Konzeption des Regisseurs eine zentrale Rolle. Mit Verlaub, das ist für die meisten Operngänger "zuviel". Wir befinden uns also in einem Vestibül einer Villa in der DDR, Büro und Wohnküche des Gefängnisverwalters Rocco zugleich. Aktenschränke können aus der geblümten Tapete herausgefahren werden, in den Akten sind echte Leichen begraben. Bodentiefe Fensterfronten geben nach hinten den Blick in den Wald frei, ein Wald, der mal leuchtend grün eine Idylle samt Bambi vorspielt, sich aber auch bedrohlich bewegen, uns näher kommen kann, wie weiland der Wald von Birnam in MACBETH.

 

 

Im zweiten Akt sehen wir einen weissen Isegrim zwischen den Bäumen, am Ende ist es ein zu Eis erstarrter Winterwald. Die Konnexion zwischen Freischütz-Wald und FIDELIO wird mir nicht klar und ich kann sie aus den Texten im Programmheft nicht extrahieren. Erneut: Zuviel. Ganz arg wird es, wenn Leonore ihre große Arie (Abscheulicher, wo eilst du hin) vor dem schwarzen Zwischenvorhang singen muss. Denn nun flimmert auch noch irgendein kluges Zitat im Halbdunkel über den Vorhang, dazu die Übertitel und die wunderschöne Arie. Dieses System wiederholt sich eins zu eins beim Duett "Oh namenlose Freude". Die Multitasking - Fähigkeit der Zuschauer überstrapaziert und ist irgendwie den Sänger*innen gegenüber respektlos. Erneut: Zuviel. Dass man als intellektueller Regisseur die singspielhaften, komischen Szenen in Beethovens idealistischer Befreiungsoper nicht so ganz goutieren mag, ist nachvollziehbar. Aber wenn man schon, wie Delnon hier in Hamburg, neue Handlungsstränge aufpfropft, sollten die auch irgendwie zu Ende geführt werden. Hier also wird Marzelline zu einem pubertierenden Schulmädchen, verliebt sich in Fidelio, will sich mit im Schulranzen versteckten Damenschuhen attraktiver für den Umschwärmten machen. So weit so gut. Auch dass sie auf dem Klavier mehr schlecht als recht Beethovens FÜR ELISE übt und dem Gouverneur Don Pizzarro zur Unterhaltung vorspielen muss, geht noch in Ordnung. Dass sie dann aber sowohl von Jaquino als auch von Pizarro vergewaltigt wird, ist zu harte Kost, zumal dieser Handlungsstrang mit losen Enden hängenbleibt. Zuviel. Für einzelne Nachrichten aus dem Staatssender hat man prominente Stimmen aufgenommen, nämlich die von Hannelore Hoger und Hans Löw. War bestimmt nicht billig.

 

 

Und soviel hat das auch nicht gebracht: Pizarro hört sich den Dialog zwischen Rocco und Fidelio bei deren Abstieg in Florestans Verlies wie ein Hörspiel im Radio an. Warum? Überwachungsstaat? Im ersten Akt sieht man während längerer Zeit einen nackten Mann im Aktenschrank, Tuch über dem Kopf, ein Folteropfer. Meine Sitznachbarin sagte laut: "Ich gehe nicht in die Oper, um nackte Männer zu sehen." Genau da stellt sich das Problem mit Opern wie FIDELIO. Im Programmheft analysierte Günther Anders in einem Text aus dem Jahr 1950 das sehr treffend. Er konstatierte, dass allein schon die Kunstgattung "Oper" der Botschaft einer Oper im Wege steht, ein Werk wie FIDELIO sowohl in Hitlers Nazi-Deutschland bejubelt wurde, als auch beim Wiener Kongress für "Garanten der europäischen Unfreiheit" (Kaiser Franz, König Friedrich Wilhelm III. und Zar Alexander) gespielt worden war. Schon in der Vergangenheit gelang es also nicht, die Menschen spüren zu lassen, worum es in FIDELIO wirklich geht - die Inszenierung an der Staatsoper Hamburg schafft es durch die intellektuelle Überladenheit leider auch im Heute nicht zu berühren oder aufzurütteln, zuviel Ballast steht der emotionalen Wirkung im Wege. Für die Bühne (eigentlich ein guter Raum, aber nicht für dieses Werk) zeichnete Kaspar Zwimpfer verantwortlich, die dazu passenden Kostüme schuf Lydia Kirchleitner.

Kein Funkenflug

Kent Nagano und das Philharmonische Staatsorchester Hamburg spielten (wie anlässlich der Uraufführung der letzten Fassung des FIDELIO) die Leonoren-Ouvertüre Nr. 3. Die originale Fidelio-Ouvertüre hatte Beethoven erst ein paar Tage später fertiggestellt. Sehr plastisch führte Nagano die Musiker "per aspera ad astra", vom zerfaserten Dunkel ins Licht. Subtil gestaltete Übergänge, die Trompetenrufe aus dem hinteren Parkett und der allumfassende Jubelschluss vermochten zu begeistern. Danach war jedoch das Feuer verglüht. Es wurde anständig gesungen, da kann man nicht meckern, doch so richtige Jubelstimmung für vokale Leistungen wollte nicht aufkommen. Die Vorstellung war auch bei weitem nicht ausverkauft, und am Ende waren auch einige deutliche Misfallensbekundungen zu vernehmen. Jacquelyn Wagner als Fidelio/Leonore beeindruckte vor allem in den lyrischen Passagen mit schöner Stimmführung und mit sicherer Höhe und war klug genug, ihre nicht allzu voluminöse Stimme im Forte-Bereich nicht überzustrapazieren. Ob diese Partie zur Zeit wirklich eine gute Wahl für ihr Repertoire ist, wage ich zu bezweifeln.

 

 

Benjamin Bruhns war das genaue Gegenteil: Klangstark und durch Mark und Bein gehend sein "Gott, welch Dunkel hier", eine bombensichere Bank in der gefürchteten Tenorpartie. Die "namelose Freude" der beiden gelang dann prima. Simon Neal musste einen widerlich schleimigen Bösewicht Pizzarro darstellen, da geriet ihm in Verbindung mit seinem markant gestaltenden Bariton ein intensives Porträt dieses unsäglichen Charakters. Andreas Bauer Kanabas war ein durch und durch solider Rocco mit der besten Diktion aller auf der Bühne. Narea Son war eine fantastische Marzelline, für mich klar die beste sängerische Leistung an diesem Abend. Hell und klar leuchtete ihr wunderschön timbrierter Sopran, führte das Quartett im ersten Akt mit einnehmendem Wohlklang an. Bernhard Berchtold als Jaquino beeindruckte durch seinen sicher geführten Tenor und eine starke Bühnenpräsenz als alternder, geifernder Junggeselle auf Brautschau. Chao Deng war der in dieser Inszenierung etwas zwielichtige Minister Don Fernando und Dae Young Kwon und Doojong Kim verliehen dem Gefangenenchor die berührendsten Stellen. Der von Eberhard Friedrich einstudierte Chor (wie Sektenmitglieder weiss gewandet) lief vor allem im Schlussbild zu überwältigender Form auf. 

Fazit: Intellektuell für mich überladen, daher nicht berührend; die musikalische Seite anständig, aber ohne Begeisterungsstürme auszulösen.

 

Kaspar Sannemann, 10.5.22

copyright: Arno Declair

 

 

 

 

Tannhäuser

4.5.22

Der Mensch, das androgyne Wesen

Mit plastischer und nachvollziehbarer Genauigkeit formt der ungarische Theater- und Filmregisseur Kornél Mundruczó die Persönlichkeitsprofile der Protagonisten für diese Neuproduktion von Wagners TANNHÄUSER an der Staatsoper Hamburg. Am offensichtlichsten wird dies in der Figur der Elisabeth sichtbar. Die Inkarnation der reinen, selbstlos liebenden Frau wird feinfühlig hinterfragt. Sie tritt im Hosenanzug (Kostüme: Sophie Klenk-Wulff) und mit Kurzhaarfrisur auf, wirkt so sehr androgyn und zeigt am Ende des zweiten Aktes durchaus männlich-dominante Züge, wenn sie sich gegen die rachsüchtige Männerwelt stellt - und sich szenisch und stimmlich durchsetzt. Jennifer Holloway setzt das ausgezeichnet um, zeigt die Verletztheit mit manischen Zwangshandlungen (ständiges Kratzen am Arm, Hang zu Selbstverletzungen). Im dritten Akt ist sie vollständig gebrochen, hat kaum mehr die Kraft, den Felsen zu erklimmen, um nach Tannhäuser Ausschau zu halten, das Gebet "Allmächt'ge Jungfrau, hör mein Flehen" wird zur Schau in eine gebrochene Seele. Stimmlich leuchtet ihr von leichtem Vibrato umflorter Sopran in der Hallenarie, intoniert mit berührender Emphase im Duett mit Tannhäuser das "Heinrich, was tatet ihr mir an?", legt sich mit kraftvollem Glanz über das Ensemble im "Concertato" des Finales II.

 

 

Auch die Gegenfigur zur Elisabeth, die Liebesgöttin Venus, ist in dieser Produktion nicht einfach eine erotische Produktionsfläche für Hetero-Männerfantasien und Vollweib. Die mit überwältigend sattem und schon beinahe autoritärem stimmlichem Volumen aufwartende Tanja Ariane Baumgartner zeigt ganz klar, wer in diesem Aussteiger-Paradies auf der Tropeninsel die Hosen anhat: Wenn Tannhäuser am Ende jeder Strophe seiner Lobpreisung den Wunsch äußert, die Beziehung zu beenden, verabreicht sie ihm erst mal eine schallende Ohrfeige. Voller Sinnlichkeit in der Stimme sucht sie Tannhäuser im dritten Akt wieder zu ihr zu locken. Tannhäuser steckt in einer großen Krise, man nennt das heutzutage Midlife-Crisis. Auch er hat weiche, weibliche Züge, die Männerrituale (den erlegten Hirschen, die von der Decke hängen, die Kehle durchschneiden zu müssen) widern ihn gewaltig an. Klaus Florian Vogt singt die überaus anspruchsvolle und gefürchtete Partie mit unglaublich schöner, reiner Stimmführung, textlicher und intonatorisch bestechender Sicherheit, ohne jegliche Ermüdungserscheinungen. Selbst in der Romerzählung am Ende kann er noch mit einer herrlichen akustischen Persiflage auf den Papst aufwarten. Manchem Aficionado mag das helle, jungenhafte Timbre von Klaus Florian Vogt als nicht rollenadäquat erscheinen. Ich finde das überhaupt nicht, das ist mir tausendmal lieber, als ein gaumig stemmender und baritonaler klingender Heldentenor mit Konditionsproblemen. Die Mühelosigkeit, mit welcher er die Stimmführung in den Ensembles übernehmen kann, ist bestechend. Jedenfalls freue ich mich auf sein Rollendebüt im September als Jung-Siegfried in Zürich.

 

Unschärfen der Regie

Neben den drei gelungenen Charakterporträts von Elisabeth, Venus und Tannhäuser erschien mir die seelische Befindlichkeit Wolframs noch etwas diffus. Zwar spürt man zu Beginn des zweiten Aktes, dass da was war zwischen ihm und Elisabeth, doch die Beziehung zu Tannhäuser wird nicht ganz klar. Auch er, der sanfte Wolfram, kann durchaus physische Gewalt anwenden (er knallt Tannhäuser eine, als der aus Rom zurückkehrt). Über ihn würde man sehr gerne noch mehr erfahren. Wolfram hat ja mitunter die "schönsten" Stellen in Wagners Oper zugeteilt bekommen. Christoph Pohl sang sowohl seine Plädoyers für die "reine - sprich asexuelle - Liebe", als auch das Lied an den Abendstern mit balsamischem Wohlklang. Ebenfalls nicht ganz klar wird, was sich da im Inselparadies genau abspielt: Tannhäuser wird zum Orchestervorspiel von Alpträumen heimgesucht, das wird auf die Leinwand projiziert. Die Träume sind sehr bruchstückhaft, eine Wasserleiche, Blut, bedrohliche Hunde. Filmisch ist das hervorragend gemacht, bleibt aber enigmatisch. Tannhäuser wacht dann in einem Bett unter den Palmen auf, im Bett befinden sich auch mehrere junge Mädchen. Inzest, Pädophilie oder unschuldiges Familienleben? Auch das wird nicht vollends klar. Eine junge Frau raucht gar noch einen Joint, Knaben turnen an Lianen. Kommt daher Tannhäusers "lassitude", ist es der Überdruss am Familienleben?

Die Schauplätze

Auf den ersten Blick mag es erstaunen, dass Monika Pormale für Mundruczós Inszenierung eine tropische Insel auf die Bühne hieven ließ. Doch wenn man auf den Text hört, macht das durchaus Sinn. Tannhäuser vermisst u.a. im Reich der Venus die Jahreszeiten, den Frühling, die Nachtigall - also das, was die Tropen nicht bieten können. Er sehnt sich somit nach Thüringen, und wenn er das Heil Marias anruft, teilt sich die Insel und macht einer unwirtlichen, felsigen Gegend Platz. Auf den Felsen sitzt ein Hirte und singt seine fröhliche Weise. Friedrich Tödtner, Solist der Alsterspatzen, intoniert diese mit der Gänsehaut erregenden Reinheit seines Knabensoprans. Ganz große Klasse! Der Auftritt der Jagdgesellschaft wird angeführt vom Landgrafen Hermann, dem kein geringerer als der großartige Georg Zeppenfeld seine luxuriöse Bassstimme leiht. Sein "So bleibe denn unausgesprochen" im zweiten Akt ist von tröstlicher Schönheit. Die Halle in der Wartburg wird dominiert von einem mittelalterlichen, ein fürstliches Festmahl darstellenden Gobelin auf der Rückseite und einem Tisch im Vordergrund, hinter dem fünf weiße Hirschköpfe mit stechend leuchtenden, roten Augen Platz genommen haben. Sie erinnerten mich an eine Richterbank. Der sechste Richter (Hirsch) dient Elisabeth als Beichtvater oder Kuscheltier, wird dann aber vor dem Einzug der Gäste vom Zeremonienmeister an seinen Platz am Tisch gestellt.

 

 

Der Sängerwettstreit ist ein Sektempfang, ziemlich lustig inszeniert mit herunterfallenden Tabletts und ungebetenen Gästen, die sich Gratissekt zu erschleichen versuchen. Auch klug gemacht, die johlenden Nationalisten und Machos bei gewissen Vorträgen der Sänger oder bei den Worten des Landgrafen zur "deutschen Majestät". Neben Tannhäuser und Wolfram beteiligen sich Walther von der Vogelweide (mit schönem, hellem Tenor von Daniel Kluge interpretiert) und der bärbeissige Biterolf von Levente Páll am Wettgesang. Martin Summer (Reinmar von Zweter) und Jürgen Sacher (Heinrich der Schreiber) ergänzen die hochklassige Riege der Minnesänger. Wenn Tannhäuser dann erregt gesteht, dass er sinnliche Freuden bei Venus genossen hatte, wird der Gobelin von der hereinfahrenden Tropeninsel heruntergerissen und Tannhäuser schwebt wie von Zauberhand gezogen als Marionette in Nebelschwaden hoch über dem Tisch. Die ungebetenen Gäste haben unterdessen schon längst Brunftkämpfe mit den Hirschköpfen ausgefochten. Der von Eberhard Friedrich einstudierte Chor der Staatsoper Hamburg überzeugt mit gesanglicher Klangkultur vom Feinsten und macht in den operettenhaften Kostümen beim Sektempfang, als Pilger mit grell und grün leuchtenden Kreuzen und als Sirenenstimmen gute Figur. Im dritten Akt sind wir wieder in der felsigen Landschaft, allerdings sind die Felsen nun mit grünem Moos überzogen. Doch für Tannhäuser gibt's keine "grüne Hoffnung", er verflucht den ganzen religiösen und scheinheiligen Zirkus des Papsttums und wünscht sich zur Venus zurück. Die Insel baut sich tatsächlich wieder auf, aus einer Palme steigt ein golden leuchtender Phallus. Doch Tannhäuser sinkt am Stamm der Palme nieder, der Chor dringt mit der Heilsbotschaft des Papstes ins Parkett und mit quasi quadrophonischen Klangen geht die Oper zu Ende.

Die Erzählebene des Orchesters

TANNHÄUSER ist selbstverständlich Chefsache, somit steht Kent Nagano am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg. Gespielt wird eine Mischfassung aus Dresdener, Pariser und Wiener Fassung. Manchmal hatte man das Gefühl, vieles sei extrem langsam und relativ leidenschaftslos dirigiert. Doch handkehrum war da auch sehr viel an Subtilität in der Gestaltung auszumachen. Und da der Dirigent sehr auf klangliche Transparenz und die ausgewogene Balance achtete, schienen die Tempi bloß langsam zu sein, denn meine absolute Zeitmessung ergab keine nennenswerten Abweichungen von der Dauer der Akte durch andere Interpreten.

Großer, beinahe 10 Minuten andauernder Jubel des Publikums am Ende dieser dritten Vorstellung der Neuproduktion von Wagners TANNHÄUSER!

Fazit: Ein richtiges Bühnenbild, das diese Bezeichnung auch verdient; man muss nicht drei Stunden auf weiße (wenn möglich noch rotierende) Wände starren. Hervorragende gesangliche Leistungen und spannende Interpretationsansätze durch die Regie.

Kaspar Sannemann, 6.5.22

copyright: Brinkhoff/Mögenburg, mit freundlicher Genehmigung Staatsoper Hamburg

 

 

 

 

 

Luisa Miller

Giuseppe Verdis dritte Auseinandersetzung mit einer Vorlage aus dem dramatischen Schaffen Friedrich Schillers stellt einen gewichtigen Meilenstein im Reifeprozess des genialen Opernkomponisten dar. Dies wurde einem nach dieser packenden, ergreifenden Aufführung von LUISA MILLER an der Hamburger Staatsoper einmal mehr in Erinnerung gerufen - und man bedauert, dass diese so konzis gearbeitete Oper nicht öfter auf den Spielplänen auftaucht, vor allem wenn die Besetzung so grandios ist wie gestern Abend bei der letzten Vorstellung dieser Wiederaufnahme-Serie einer Produktion, die 2014 ihre Premiere erlebt hatte!

 

DER ÜBERFLIEGER

Der umjubeltste Sänger gestern Abend war ausgerechnet der Einspringer: Charles Castronovo sprang für Startenor Joseph Calleja ein und riss das Publikum mit seiner jugendlich-dramatisch attackierenden, dem Sturm-und-Drang Charakter Rodolfos so fantastisch entsprechenden, makellos geführten Tenorstimme von den Sitzen. Nun ist Castronovo natürlich auch kein Nobody der internationalen Opernszene: Der New Yorker debütierte 1999 an der Met, startete dann eine internationale Karriere, die ihn an die renommiertesten amerikanischen und europäischen Bühnen von San Francisco über Covent Garden an die Berliner, die Münchener und die Wiener Staatsoper führte, an die Festspiele in Glyndebourne und Salzburg. Sein Rodolfo zeichnete sich aber nicht nur durch ungestüme Dramatik, sondern auch durch mit gekonnten Lyrismen versehene, wunderbar verliebt schmachtende Phrasierung aus. In seiner wunderschönen (und diffizilen!) grossen Arie Quando le sere al placido flocht er wunderbar passend eine Portion Wehmut und Verzweiflung ein.

 

 

DIE TRAGISCHE FRAUENFIGUR

Als einzige der Premierenbesetzung kehrte die georgische Sopranistin Nino Machaidze an die Staatsoper zurück. Ihre leicht guttural-metallisch timbrierte Stimme mag für die einfache Bürgertochter vielleicht etwas zu reif klingen, nichtsdestotrotz verfügt sie aber nach wie vor über die jungmädchenhafte Leichtigkeit in der Auftrittsszene (ihr Geburtstagsfest). Im Verlauf der traurigen Intrige entwickelt sie sich zur tragischsten Figur des Abends, besticht mit ihrer unerschütterlichen Liebe zum Vater, für den sie ihr Liebesglück opfert. Hoch spannend gestaltete sie ihre Qualen in der Auseinandersetzung mit dem übergriffigen, intriganten Bösewicht Wurm, zu Tränen rührend in ihren Preghiere, verzweifelt im Suizidgedanken, den Geliebten tröstend im gemeinsamen Sterben. Ergreifend schön und intonationssicher legt sich ihre intensive, klangreiche Stimme über diejenigen der Männer und des Chors im genial komponierten Finale I.

 

DIE SCHULD DER VÄTER

Verdi gilt als der Komponist, der die Seelen von Vaterfiguren mit analytischer Genauigkeit musikalisch auszuloten verstand: Man denke an Rigoletto, Giorgio Germont in LA TRAVIATA, Philipp II. in DON CARLO, Simon Boccanegra, Nabucco ... . In LUISA MILLER hat er gleich zwei Vaterfiguren musikalisches Leben eingehaucht, Luisas Vater Miller und Rodolfos Vater Il Conte di Walter. Franco Vassallo (er fiel mir bereits als Sharpless in der BUTTERFLY vor zwei Wochen hier am Haus so positiv auf) gestaltete mit seiner herrlichen Baritonstimme einen warmherzigen, mit Vaterliebe erfüllten Miller, der aber von seiner Tochter eben auch quasi eine Entscheidung für ihn und gegen Rodolfo fordert. Auch sein Gegenspieler, Vitalij Kowaljow als Conte di Walter, gibt vor, seine Verbrechen nur zum Wohle des Sohnes begangen zu haben. Kowaljow sang die Partie mit fantastischer Basssonorität.

 

INKARNATION DES BÖSEN

Das Böse schlechthin offenbart sich in der Partie des Wurm. Der schleimig durchtriebene Angestellte und Mann fürs Grobe in den Diensten des Grafen darf seinen Charakter zwar nicht in einer Arie offenbaren (wie Verdi sie später dem Jago in OTELLO mit dessen Credo zugestanden hatte), doch der oftmals beinahe flüsternd vorgetragene Sprechgesang und das packende Duett mit dem Conte Walter, sowie die intensive Briefszene mit versuchter Vergewaltigung Luisas enthüllen genug. Alexander Roslavets spielt und singt das alles mit unterschwelliger Gemeinheit, nie plump chargierend.

 

DIE EGOISTISCHE ARISTOKRATIN

Gegenspielerin der einfachen Bürgertochter Luisa ist die Herzogin Federica. Sie meint sich mit aristokratischen Privilegien einen jungen, hübschen Burschen (Rodolfo) ins Ehebett holen zu können, ohne Rücksicht auf die Gefühle der einfachen Menschen. Für diese relativ kleine, aber gesanglich anspruchsvolle und wichtige Partie wurde keine geringere als die großartige Elena Maximova verpflichtet. Sie begeisterte mit ihrem wunderbar satten, über erstaunliche Volumina in den tiefsten Lagen verfügenden Mezzosopran. Auch dank ihr wurde das Showstopper-a cappella Quartett (zusammen mit Nino Machaidze, Alexander Roslavets und Vitalij Kowaljow) zu einem der vielen Höhepunkte des Abends.

 


 

DIE SINFONIA

Verdi hielt nicht allzuviel von langen Ouvertüren, und wenn, dann waren sie im Potpourri Stil gehalten (z.B. NABUCCO oder LA FORZA DEL DESTINO). Gerade deshalb ist sein als SINFONIA betiteltes Vorspiel zu LUISA MILLER so ungewöhnlich und erwähnenswert. Aus einer langen und zwei kurzen Noten entwickelte er ein Kernmotiv, auf dem das ganze Vorspiel fußt. Dieses Motiv moduliert er immer wieder, lässt es durch Instrumentengruppen laufen, ändert so die Farbpalette. Paolo Arrivabeni leitete das Philharmonische Staatsorchester Hamburg mit wunderbar federnder Gestaltungskraft, und hielt die Fäden mit ruhiger, präziser Zeichengebung zusammen. Weshalb das keine leichte Aufgabe war, erläutere ich im nächsten Abschnitt.

 

DAS KAMMERSPIEL

Corona bedingt konnte die ursprüngliche Inszenierung von Andreas Homoki für diese Wiederaufnahme nicht 1:1 umgesetzt werden. Der Chor wurde in die Ranglogen "verbannt". So sah man auf der Bühne zwar das ursprüngliche Bühnenbild von Paul Zoller (Licht: Franck Evin) und die schön gearbeiteten, durch eine kluge Farbdramaturgie beeindruckenden Rokoko - Kostüme von Gideon Davey, doch die Oper näherte sich durch die szenische Abwesenheit des Chores einem albtraumartigen Kammerspiel an. Vor allem wenn Luisa zu Beginn des zweiten Aktes aus dem Dunkel des Zuschauerraums heraus von der Verhaftung ihres Vaters erfahren musste. Das war echt gespenstisch. Die Koordination mit dem Orchester war im Geburtstagsbild noch etwas getrübt, auch waren wohl akustisch bedingt einzelne Chorstimmen individuell vernehmbar, was dem Gesamtklang nicht so gut bekam. Erstaunlicherweise fiel das bei den weiteren Choreinsätzen überhaupt nicht mehr auf.

Die Personenführung war sehr zurückhaltend, unaufdringlich, was dem Stück gut bekam. Auch die Guillotine, welche im Programmheft auf Bildern noch zu sehen ist, tauchte nun nicht mehr auf. Konnte man verschmerzen. Unverständlich war für mich das dämliche Bewegungsvokabular, das der Regisseur Luisas Freundin Laura (hervorragend gesungen von Kady Evanyshyn) und dem Contadino (toll gesungen von Collin André Schöning) auferlegt hatte. Insgesamt aber war die Inszenierung mit den drei sich jeweils herausschiebenden, karg möblierten Räumen (eine Spezialität der Hamburger Bühne, welche das Herein- und Herausfahren ganzer Bühnenbilder ermöglicht) dem Stück sehr angemessen. Die bruchlosen Szenenübergänge deuteten Analogien unabhängig von Standesunterschieden an, der gewaltige Goldrahmen mit den den drei Aktüberschriften gerecht werdenden Gemälden verlieh dem Stück zusätzliche optische Atmosphäre. Großer und verdienter Applaus für alle Ausführenden. Die Aufführung hätte ein vollbesetztes Haus verdient gehabt.

Der Kauf des Programmhefts lohnt sich einmal mehr: Der erfrischend launig verfasste Essay von Wolfgang Willaschek über Verdis Versuch, ein Trauerspiel von Schiller in eine kongeniale Oper zu verwandeln, ist reinstes (und überaus informatives) Lesevergnügen!

Interessant auch immer die Auflistung bisheriger Inszenierungen der Werke in Hamburg: Luisa Miller wurde vor der Homoki-Inszenierung nur einmal produziert, nämlich 1981. Am Pult stand Giuseppe Sinopoli, es sangen Katia Ricciarelli, José Carreras, Leo Nucci, Ruggero Raimondi und Mariana Lipovšek. Auch da wäre man gerne dabei gewesen ;-))

 

Kaspar Sannemann, 2.4.2022

Bilder (c) Monika Rittershaus

 

MADAMA BUTTERFLY                        

Aufführung am 24.3.22

(Premiere der Wiederaufnahme am 15.3.)

 

Ein triumphaler Abend: Applausstürme bei dieser dritten und letzten Vorstellung aus 2012 für das Ensemble und den Dirigenten, als sie vor den Vorhang traten, und spontane standing ovations für Ermonela Jaho, die die Titelrolle gesungen, nein, verkörpert, gelebt hatte.

Die Inszenierung aus 2012 stammt von Vincent Boussard (Bühnenbild von Vincent Lemaire, Kostüme von Christian Lacroix). Der französische Regisseur setzte auf eine rein psychoanalytische Interpretation des Schicksals der Cio-Cio-San, was bedeutet, dass er diese Butterfly nicht als naives Mädchen sieht, sondern als junge Frau, die - obwohl verliebt - in der Heirat mit Pinkerton auch die Chance sieht, aus ihrem bisherigen Leben auszubrechen. Als sie ihre Fehleinschätzung während Pinkertons langer Absenz erkennen muss, spinnt sie sich in einer irrealen Welt ein, in die Suzuki und der Konsul schon gar nicht vordringen können. Das Kind ist somit folgerichtig eine Puppe, die von Suzuki in einem Schrank mit vielen anderen Puppen verstaut wird. Nach Butterflys Selbstmord öffnet sich die Schranktür: Die Puppe ist allein geblieben, und als sie herausstürzt, zerbricht sie. Eine Auslegung, die mit einer phantastischen Singschauspielerin wie Jaho funktionieren kann. Das Bühnenbild stellte eine Wendeltreppe in den Mittelpunkt, wobei die Bühnenebene von unten durch eine Öffnung zu erreichen war (nie war Sharpless' „Uff“ bei seinem Auftritt logischer...). Große Bedeutung kommt der Beleuchtung von Guido Levi zu mit ihren malerische Wände mit Blumen erhellenden Projektionen. Im 2. und 3. (richtigerweise pausenlos gespielten) Akt gesellt sich nur ein Lederfauteuil zur Ausstattung, auf dem Butterfly, nunmehr in Leggins, wiederholt in embryonaler Stellung Zuflucht sucht. Modeschöpfer Lacroix hatte sich ja bei den prachtvollen Entwürfen für die Kimonos bei der Hochzeitszeremonie austoben können (da schiebt man den Einwand, Butterflys Familie sei in Ungnade gefallen und daher arm, gern zur Seite...).

Wie bereits erwähnt war Ermonela Jaho die perfekte Interpretin dieser „kleinen Frau Schmetterling“ (so lautete der Titel der seinerzeitigen deutschen Übersetzung). Spätestens im Liebesduett, wenn sie Pinkerton fragt, ob Schmetterlinge im Westen tatsächlich aufgespießt ausgestellt werden, erkennen wir ihre übergroße Sensibilität, wenn sie sich panisch erschreckt in eine Ecke flüchtet. Ihr Verharren in einer eigenen Welt führt geradewegs in den Abgrund und damit den Selbstmord. Das Schöne an dieser Leistung ist aber nicht nur die schauspielerische Seite, sondern auch die stimmliche, denn wunderbar blühen die Höhen ihres nie forcierten lyrischen Soprans auf, die Momente der Erschütterung werden regelmäßig auch zu vokalen Höhepunkten. Über ein gewisses Defizit in manchen tiefliegenden Phrasen will ich hier nicht beckmessern. Als Pinkerton war ihr Pavel Cernoch ein eleganter Partner, dessen an Farben nicht eben überreicher Tenor besser zu seiner dramatischen Reue im 3. als zur Sinnlichkeit des Liebesduetts im 1. Akt passte. (Die Regie zeichnet ihn als dem Alkohol zutiefst verbunden, denn von seiner Whiskyflasche trennt er sich im 1. Akt nur schwer). Ausgezeichnet war Franco Vassallo (in der ganzen Serie anstelle von Ambrogio Maestri), der bei bester Diktion einen etwas behäbigen Sharpless gab, dem erst im 2. Akt die Situation völlig bewusst wurde. Eine hellwache, mitfühlende Suzuki war Kristina Stanek, der allerdings eine überzeugende Mezzotiefe fehlte. Stimmlich und szenisch ausgezeichnet der Goro mit seinen kommerziellen Interessen von Peter Hoare. Unter den Comprimari seien noch Tigran Martirossian als donnernder Zio Bonzo, die in Marilyn-Outfit als Kate Pinkerton auftretende Kady Evanyshyn und, leider ein Ausfall, Peter Galliard als Yamadori genannt.

 

Zu loben ist die Leistung des Chors des Hauses unter Christian Günther und vor allem die des Philharmonischen Staatsorchesters, das den Vorgaben seines Dirigenten Matteo Beltrami „auf der Sesselkante“ folgte, wie man zu sagen pflegt. Daraus ergab sich eine orchestrale Wiedergabe von einer Intensität, die für mich der doch recht intellektuellen Regie das exquisite, tränentreibende Element gegenübersetzte.

Vom triumphalen Erfolg war schon die Rede.    

                                    

Eva Pleus 30.3.22

 

 

Madama Butterfly

trailer

 

Ich weiss, man sollte den Begriff "musikalische Sternstunde" nicht exzessiv verwenden, doch gestern Abend kam man in der Staatsoper Hamburg in den Genuss einer solchen. Ermonela Jaho ist wohl DIE Butterfly unserer Tage, was sie an Gesangskultur, Reinheit der Intonation, blühendem Timbre, das glutvoll leuchten, dann wieder in beinahe depressive Innerlichkeit zurückfallen konnte und psychologischer Durchdringung der Geisha in die Waagschale warf, war unfassbar. Ich kann mich auch nicht erinnern, je auf Tonträger eine bessere Cio-Cio San gehört zu haben. Ihr Abdriften in das Paralleluniversum rührte zu Tränen. Die Partner an ihrer Seite trugen ebenfalls entscheidend zu diesem exzeptionellen Opernereignis bei: Pavel Černoch als strahlkräftig und mit exemplarischer Phrasierung gestaltender Pinkerton, voll jugendlichem Übermut in Dovunque al mondo im ersten und mit tragischer Selbsterkenntnis in Addio fiorito asil im dritten Akt. Das lange Liebesduett im ersten Akt wurde durch Ermonela Jahos und Pavel Černochs grandios harmonierenden und sich umschlingenden Stimmen zu einem Fest. Franco Vassallo vermochte als wunderbar warmstimmiger Sharpless ebenso zu begeistern wie Kristina Stanek, die mit sattem, wunderbar eindringlich geführtem Mezzosopran als Suzuki wichtige Akzente setzte. Peter Hoare verlieh dem Heiratsvermittler Goro überzeugendes Profil, ebenso wie Peter Galliard als Principe Yamadori und Alexander Roslavets als strenger Zio Bonzo. Das grandiose Dirigat von Matteo Beltrami und das fantastisch präzise, in allen klanglichen und rhythmischen Schattierungen prunkende Spiel des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg ließen einen die Preziosen von Puccinis orchestral wohl bester Partitur erneut bewundern.

 

 

Der Regisseur Vincent Boussard hat diese Inszenierung vor zehn Jahren für Hamburg geschaffen. Äusserlich kommt sie relativ schlicht daher, mit Ausnahme der Kostüme im ersten Akt, wo der Modezar Christian Lacroix für die Kimonos der Familie, der Freundinnen und Cousinen von Cio-Cio San aus dem Vollen schöpfen konnte. Welch eine Pracht an Seidenstoffen, Schnitten, Mustern und Farben! Das Bühnenbild von Vincent Lemaire besteht aus pastellfarbenen Blumentapeten, grossen Türen, die Ausblicke auf die Bucht freigeben können. Dominiert wird die Bühne einzig von einer wie ein Pfahl das Häuschen Butterflys durchbohrenden, geländerlosen Wendeltreppe. Von unten her ermöglicht sie die Auftritte der Besucher, führt oben ins Nichts. Zufluchts- und Hoffnungsort zugleich. Der schwarze Zwischenvorhang zeigt psychedelisch schimmernde Mohnblumen, symbolisiert die Traumwelt, in welche Cio-Cio San sich immer weiter steigert. Selbst das Kind, das sie mit Pinkerton gezeugt hatte, tritt nicht als Wesen aus Fleisch und Blut auf. Es ist ein Objekt, eine Puppe, Cio-Cio San hat einen ganzen Schrank voll von solchen Puppen. Das Phänomen der Scheinschwangerschaften wird vom Regisseur im Programmbuch erwähnt. Natürlich haben die beiden wirklich ein Kind, doch es wird von beiden eben nur als Objekt benutzt. Nach Cio-Cio Sans Suizid stürzt die Puppe ins Zimmer, die Illusion ist tot. Vincent Boussard zeigt den Realitätsverlust Cio-Cio Sans mit eindringlicher Personenführung. Oftmals in embryonaler Stellung liegt Cio-Cio San auf der Lehne des Lederfauteuils, des einzigen Möbelstücks auf der Bühne. Leggins und ein schlichtes Top sind nun ihre Kleidungsstücke, sie hat sich dem westlichen Stil angenähert. Trotzdem besteht da natürlich noch ein gewaltiger Unterschied zur amerikanischen Frau, mit welcher Pinkerton zurückkehrt: Kate Pinkerton ist eine Marilyn-Kopie, platinblond, enges Kostüm, knallrote Pumps. Während des mit gewaltiger Emphase dirigierten Vorspiels zum dritten Akt macht sich Cio-Cio San bereit für die Wiederbegegnung mit Pinkerton, wäscht sich, zieht sich einen Morgenmantel an. Doch er kommt nicht, und so sieht sie nur noch einen Ausweg: Con onor muore. Ermonela Jaho gestaltet diese Szene ganz ohne Theatralik, mit rührender, beinahe entrückter Kraft. Das geht wirklich unter die Haut. Und wenn dann Pavel Černoch Pinkertons erschütternde Butterfly, Butterfly Rufe intoniert, könnte man nur noch schreien vor soviel Ungerechtigkeit des Schicksals, des fehlenden menschlichen Einfühlungsvermögens. Puccini hat hier dramaturgisch wahrlich meisterhaft gearbeitet.

 

Kaspar Sannemann, 26.3.2022

Fotos (c) Bernd Uhlig

 

Turandot

16.3.2022

Peinliche Buhrufe

Desweiterern 19.3. | 23.3. | 26.3. | 29.3. | 1.4.2022

 

Einem Happy End einer Geschichte traut man heutzutage kaum noch, zu düster sind Zeitgeist und Realität der Gegenwart. So macht auch die Regisseurin Yona Kim in ihrer Neuinszenierung von Puccinis letzter Oper das Märchen um die "von Eiseskälte umgürtete" chinesische Prinzessin zu einem Gänsehaut erregenden Schauerstück. Sie misstraut der letzten von Puccini noch gebilligten Fassung des Librettos - für einmal zu Recht. Denn Puccini rang 1924 nicht nur um sein Leben (Kehlkopfkrebs), sondern auch um das Ende seiner Oper TURANDOT. Knapp drei Monate vor seinem Tod haderte er noch immer mit der Fassung des Schlussduetts, sah schwarz, wie er seinem Librettisten Adami schrieb. Ein Ende zu komponieren schaffte der Todkranke nicht mehr. Bei der Uraufführung eineinhalb Jahre später brach Toscanini die Vorstellung nach der letzten Note aus Puccinis Feder (dem Tod Liùs) ab. Zwei Tage später wurde dann die vom Komponisten Franco Alfano vollendete Fassung gespielt, mit dem leidenschaftliche Liebe zwischen Turandot und Calaf vorgaukelnden Schlussduett. Diese Fassung (mit einem kleinen Strich) wurde nun auch in Hamburg gespielt, wobei wie erwähnt dem Paar der glückliche Ausgang verweigert wird: Turandot erdolcht Calaf und wird wohl danach selbst von den Schergen des Kaisers hingerichtet. Yona Kim bietet uns eine genau auf Musik und Text basierende Interpretation der Schauergeschichte, deren Grundthema die Liebe ist, nicht auf Rosamunde-Pilcher-Art, sondern die im Programmheft vermerkte Definition der Dreifaltigkeit der Liebe des Marquis de Sade aufnehmend: "Das Zartgefühl ist der Schatten, die Wollust der Körper und die Grausamkeit der Geist der Liebe."

 

 

Liù stellt also das Zartgefühl der Reinheit dar, Calaf ist von Begierde, von Eroberungs- und Wollust getrieben und Turandot verteidigt ihre feminine und sexuelle Selbstbestimmung mit unerbittlicher Grausamkeit. Das gigantische Bühnenbild von Christian Schmidt mit der angedeuteten Art-déco Architektur und die faschistische Elemente verwendenden Kostümen von Falk Bauer evozieren ein bedrückendes Klima der Angst und der Gewalt. Die grotesken Figuren der drei Minister Ping, Pang und Pong mit ihren wie Gruselclowns geschminkten Gesichtern und die gespenstischen Bewegungen des Chores verstärken das gruselige, parabelhafte Geschehen noch zusätzlich. Yona Kim hat auch in der szenischen Gestaltung der Auftritte herausragende Arbeit geleistet, hat Vorder-, Mittel- und Hinterbühne konsequent genutzt und so das Auge wirkungsvoll auf das Wesentliche gelenkt. Überraschenderweise haben sie und der Dirigent Giacomo Sagripanti die musikalische Zäsur, welche nach dem Tod Liùs entsteht, nicht überspielt. Liù wird aufgebahrt, mit weißen Chrysanthemen bedeckt, zugleich werden Fotografien von Puccinis Leichnam projiziert und es folgt eine Generalpause, bevor das Alfano-Finale einsetzt.

 

Die gesamte Aufführung besticht durch einen geradezu unheimlichen Sog. Dieser Sog reicht von dem mit überraschend schnellen Tempi aufwartenden Dirigat von Giacomo Sagripanti und dem überaus transparent aufspielenden Philharmonischen Staatsorchester Hamburg, über den kraftvoll und mitreißend singenden Chor der Staatsoper zu den lupenrein intonierenden Alsterspatzen (Einstudierung: Eberhard Friedrich und Luiz de Godoy) und der phänomenalen Besetzung. Anna Smirnowa singt die hochdramatische Titelpartie mit bombensicher attackierender, stählerner Kraft, ungefährdeten, trompetenhaften Tönen, lässt an wenigen Stellen aber auch eine verborgene Verletzlichkeit und oft ihren gewaltaffinen Charakter durchschimmern. Das ist einfach grandios. Ein Ereignis der Sonderklasse bietet der ebenso strahlkräftige Tenor von Gregory Kunde als Calaf. Der Sänger hat seine Karriere dermaßen klug aufgebaut, dass er nun mit 68 Jahren über eine Schönheit des Timbres und eine sagenhafte Technik verfügt, die einen bass staunen machen und das Ohr erfreuen. Da könnte sich manch jüngerer (und höher gehandelter) Tenor eine Scheibe von abschneiden. Guanqun Yu hat als Sympathieträgerin in dieser düsteren Gesellschaft das Publikum natürlich von Anfang an auf ihrer Seite - verdientermaßen, denn sie sorgt mit ihren beiden wunderbar einfühlsam gestalteten Arien und den lichten Einwürfen in den Massenzenen für exquisite musikalische Momente, eine Reminiszenz an die typischen Puccini-Frauengestalten wie Mimì oder Cio Cio San. Eine gewichtige Rolle in der Oper spielen die beiden Vatergestalten, über deren Bedeutung die Regisseurin im Programmheft mit kluger Analyse eingeht. Liang Li als Calafs Vater Timur bringt seine unmöglichen Anforderungen an den Sohn mit seinem warmen, runden Bass vor. Der alte, gebrechliche Kaiser Altoum hat genauso egoistische Forderungen an seine Tochter Turandot. Jürgen Sacher zeichnet ein gelungenes Porträt dieses Machtmenschen. Die Commedia dell'Arte Figuren von Ping, Pang und Pong bringen normalerweise etwas Humor und Sarkasmus in die Handlung. In dieser Inszenierung tragen sie zum grotesken Grauen bei, eine Hand ist bei ihnen blutbefleckt die andere schwarz behandschuht. Mal in Bowlerhüten, dann in sommerlichen Strohhüten geben sie ihr opportunistisches Wesen preis. Roberto de Candia, Daniel Kluge und Seungwoo Simon Yang gestalten dieses Gruseltrio hervorragend. Blutbefleckt sind auch die Hände des Mandarin, der von Chao Deng mit grosser Eindringlichkeit gesungen wird.

 

Neben der beabsichtigten bitteren Note des Endes schlich sich in der gestrigen Vorstellung eine noch bitterere Note während des Applauses ein: Da buhten doch tatsächlich ein paar wenige, aber lautstarke Flegel die Russin Anna Smirnowa aus, die verständlicherweise sichtlich irritiert war. Die Buhs konnten nicht ihrer künstlerischen Leistung an diesem Abend gegolten haben (denn die war phänomenal!), sondern bezogen sich schlicht auf ihre Nationalität. Das ist ein abscheuliches Verhalten gegenüber Künstlern, das ich zutiefst verurteile. Wir leben tatsächlich in düsteren, unreflektierten Zeiten!

 

Kaspar Sannemann, 17.3.2022

Bilder (c) Hans Jörg Michel

 

 

 

AGRIPPINA

Liebe, Lügen und Intrigen 

300 Jahre wurde Händels Dramma per musica Agrippina von 1709 in Hamburg nicht gespielt, nun feierte es am 28. Juni 2021 Premiere im Rahmen der Wiedereröffnung der Staatsoper nach der durch die Pandemie bedingten Schließung. Die Inszenierung von Barrie Kosky entstand für eine Aufführungsserie an der Bayerischen Staatsoper München 2019 und wurde danach auch am Royal Opera House Covent Garden in London gezeigt. Johannes Stepanek hatte an der Inszenierung mitgearbeitet und sie nun in Hamburg einstudiert. Sie setzt auf Witz und Ironie, überzieht gelegentlich die Turbulenzen der Handlung – ganz in der bekannten Manier Koskys – durch überdrehten Klamauk und Slapstick-Einfälle. Dafür ist vor allem im 3. Akt Gelegenheit, wenn sich die Ereignisse zu überschlagen scheinen und Poppea nacheinander alle ihre drei Bewerber empfängt. Am Ende negiert der Regisseur das barocke lieto fine, streicht den Auftritt der vom Himmel herabsteigenden Göttin Juno und lässt die Titelheldin ganz allein zurück – verlassen und einsam sitzt sie in dem großen Container-Käfig, den Rebecca Ringst erdacht hatte. Dessen drei Teile werden von Bühnenarbeitern in schwarzer Kleidung und Gesichtsmasken permanent bewegt und immer wieder neu zusammengesetzt.

 

 

Störend sind die Reflektionen des grellen Lichtes (Joachim Klein) auf der metallenen Oberfläche des Kastens sowie die klappernden Geräusche der Jalousien, welche die einzelnen Segmente verschließen. Die Ausstattung ohne zeitlichen und lokalen Bezug gehört zu jenen, in denen man jedes Stück aufführen kann, die aber keinem einzigen optisch eine individuelle Atmosphäre verleiht. Weit attraktiver sind die von Klaus Bruns entworfenen Kostüme. Vor allem für Poppea gibt es Atem beraubende Roben und Julia Lezhneva trägt sie mit wahrhaft majestätischer Würde. Die russische Sopranistin erweist sich dann auch vokal als die Königin des Abends und feiert nach ihrer Morgana in der Alcina einen weiteren großen Erfolg in Hamburg. Schon in ihrer von der Flöte lieblich umspielten Auftrittsarie, „Vaghe perle“, becirct sie mit zärtlich-süßen Tönen und staccato-Koloraturen, die das Zwitschern der Vögel in Vollendung imitieren. Die folgende Arie, „È un foco quel d’amore“, ist dagegen hektisch-aufgeregt, die nächste, „Se giunge un dispetto“, am Ende des 1. Aktes gar von keifender Raserei und mit furiosen Koloraturgirlanden bestückt. Für all diese divergierenden Stimmungen findet die Russin den adäquaten Ausdruck und lässt es dabei nie an Bravour und Perfektion fehlen. Ihr fast ebenbürtig Anna Bonitatibus in der Titelrolle bei ihrem Hamburger Debüt. Die Italienerin, im schwarzen Kleid von strenger Erscheinung, lässt einen pastosen Mezzo von großer Autorität hören. Ihre Koloraturläufe sind virtuos und expressiv. Die  große Szene, „Pensieri“, im 2. Akt reizt sie bis ins Extrem aus, sowohl in der dargestellten Gefühlswelt als auch der Tessitura. „Ogni vento“ serviert sie mit Delikatesse und Raffinement, das Da capo singt sie wie einen Hit in ein Handmikrofon und schickt am Ende noch ein „Grazie, Hamburg!“ nach. Ihr letztes Solo, „Se vuoi pace“, ertönt dann ganz zart und entrückt, was einstimmt auf den intimen Schluss, der das übliche festliche Ballett ersetzt.

 

Die drei Partien der einstigen Kastraten werden in Hamburg von drei exzellenten Countertenören wahrgenommen. Franco Fagioli mit tätowiertem Schädel zeichnet den Nerone im schwarzen Hoodie als verklemmten und affektierten Psychopathen. Am Ende trägt er als Kaiser einen Designer-Anzug mit reicher Goldstickerei. Noch immer sind seine Koloraturgirlanden von stupender Perfektion, ist der Umfang der Stimme von baritonaler Tiefe bis in die exponierte Höhe staunenswert. Allerdings hört man in den ersten Soli auch einen verhärteten Klang, der sich erst später rundet. „Quando invita la donna“ im 2. Akt profitiert vor allem von der träumerisch-zarten Wiedergabe des Da capo. Und das Bravourstück „Come nube“ verfehlt dann auch nicht seinen Effekt, empfängt in der Ausformung des Interpreten eine geradezu artistische Dimension. Insgesamt sehr ausgewogen singt Christophe Dumaux den Ottone, dem er mit stattlicher Erscheinung und in schmucker Uniform auch optisch einen attraktiven Umriss verleiht. Bei aller stimmlichen Virtuosität, über die auch der Franzose verfügt, beeindruckt er doch vor allem mit der schmerzlichen Arie „Voi che udite il mio lamento“, der ein expressives accompagnato-Rezitativ vorausgeht und deren Da capo der Sänger ganz zart und verinnerlicht ausbreitet. Dritter Counter ist Vasily Khoroshev als infantiler Narciso, einer von Claudios politischen Beratern, mit weichem Klang. Der andere ist der Bassist Renato Dolcini als Pallante – eine der drei Partien, welche kontrastierend tiefe Töne einbringen. Zu diesen zählt neben Chao Deng als Diener Lesbo vor allem Luca Tittoto als Kaiser Claudio mit ausladendem, auftrumpfendem Bassbariton.

 

Das hohe musikalische Niveau der Aufführung garantiert nicht zuletzt Riccardo Minasi, ausgewiesener Spezialist für die Alte Musik, am Pult des Ensemble Resonanz. Schon mit der straffen Sinfonia setzt er starke Akzente, die sich später mit differenziert und farbig musizierten Szenen wiederholen. Pompöser Bläserglanz kündigt das Eintreffen Claudios an, dissonant-harsche Akkorde begleiten Ottones Lamento, furios wird Agrippinas große Arie eingeleitet. Immer wieder fühlt sich das Publikum zu Beifall animiert, der sich am Ende zu Ovationen steigert.

 

Bernd Hoppe, 2.6.2021

Bilder (c) Hans Jörg Michel

 

 

Manon

von Jules Massenet

 

Stream vom 28. Januar 2021

Ein Sängerfest

Etwas verspätet seien doch noch einige Anmerkungen zur von der Staatsoper Hamburg gestreamten Premiere der „opéra comique“ Manon von Jules Massenet auf das Libretto von Henri Meilhac und Philippe Gille getattet. Darüber waren alle Rezensenten einer Meinung – betreffend die Solisten war es ein „Sängerfest“ , wobei bei allen das gut verständliche Französisch auch in den gesprochenen Szenen gelobt werden muß - wegen dieser Sprechszenen heißt sie „opéra comique“

Das galt vor allem für Elsa Dreisig in der Titelpartie, die die wechselnden Stimmungen   sängerisch perfekt ausdrücken konnte – sie ist ja fast in jedem Akt ein anderer Charakter. Das reichte vom naiven Auftrittslied im ersten Akt „Je suis encore tout étourdie“ über die Koloraturen der Cours-La-Reine Szene mit bis hin zu exakt getroffenen Spitzentönen auf „Profitons de la jeunesse“ oder der sinnlichen Verführungskunst im St.-Sulpice-Kloster. Ebenso eindringlich gelangen die p-Stellen, der lyrische Abschied von der „petite table“, die Reue im letzten Akt oder der nur noch gehauchte Abschied vom Leben bei den Schlußworten der„l´histoire de Manon Lescaut“ Ioan Hotea als ihr geliebter Chevalier des Grieux verfügte über das für französische Oper notwendige Tenor-Timbre bei gelungener Flexibilität, um sentimentales Liebesglück oder abgründige Verzweiflung stimmlich auszudrücken. Als Beispiel sei genannt die Vision des einfachen Lebens mit Manon auf dem Land „Je ferme les yeux“ oder der Stimmungswechsel im Kloster St. Sulpice. Auch Björn Bürger als Manon´s Bruder Lescaut verfügte über Bariton-Qualitäten zwischen lyrischen und und zynischen Ausdrucksmöglichkeiten, obwohl er dazu noch fast immer bekifft über die Bühne torkeln mußte. Mit würdigem profundem Baß sang Dimitry Ivashchenko den Vater Grieux Auch Manon´s Freundinnen wurden rollengerecht gesungen ebenso die beiden Rivalen von des Grieux.

 

Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg  brachte unter der Leitung von Sébastien Roland die verschiedenen musikalischen Facetten von Massenet´s Partitur zwischen sonoren Streicherklängen, Tanzrhythmen oder schnellen Spielkartenmotiven als Genuß für den Zuhörer zum Ausdruck, wobei etwa manche Streicherpartien doch von der corona-bedingten kleinen Besetzung weniger schwelgerisch als gewohnt klangen. Hervorgehoben seien die Soli einzelner Instrumente. Der Chor der Hamburgischen Staatsoper einstudiert von Eberhard Friedrich sang aus den Rängen des natürlich leeren Opernhauses heraus. Aus dieser Position war dann doch die Abstimmung mit dem Dirigenten im Orchestergraben manchmal etwas schwierig, hervorzuheben war der Damenchor als Betschwestern im Kloster S. Sulpice.

 

Die Inszenierung von David Bösch, das Bühnenbild von Patrick Bannwart und die Kostüme von Falko Herold ebenso wie Aktualisierung der Handlung ins heuteempfand ich als die Musik unangemessen vergröbernd. Man fragt sich, warum der Wirt im ersten Akt mit einem Schlachtermesser herumlief, warum Manon im Cours-la-Reine-Akt als Marilyn Monroe-Verschnitt auftrat oder im Hotel Transsylvanien weniger Glücksspiel als Spiel mit Pistolen gezeigt wurde. Dies stand auch in keinem Zusammenhang zum corona-bedingten Abstand der Mitwirkenden zu einander. Natürlich durften Videos entworfen von Bühnenbildner und Kostümbildner nicht fehlen – sie zeigten neben Großaufnahmen von Manon vor allem mehrere oder eine Katze, die dann zum Schluß verblutete. 

 

So war dies den vor allem eine Aufführung für den musikbegeisterten Zuhörer, was bei einer richtigen Aufführung sicher heftigen und langen Applaus hervorgerufen hätte.

 

Sigi Brockmann, 30. Januar 2021

 

 

NORMA

Premiere am 08.03.2020

Triumph zweier Sängerinnen

Mit dieser Norma ist Hamburg musikalisch ein großer Wurf gelungen, der zu Recht größte Begeisterung bei der Premiere auslöste. Die Neuinszenierung markiert gleichzeitig den Beginn der „Italienischen Opernwochen“, in deren Verlauf u. a. noch Aufführungen von „Otello“, „Simon Boccanegra“, „Tosca“ und „Falstaff“ auf dem Programm stehen.

Marina Rebeka als Norma, Diana Haller als Adalgisa und Matteo Beltrami am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters machten den Abend zu einem Ereignis. Marina Rebeka kann vom ersten bis zum letzten Ton uneingeschränkt überzeugen. Sie meistert die hohen Anforderungen der Partie mit Bravour und gestaltet ihren Part ganz aus dem Geist des Belcanto. Stimmschönheit und Ausdruck halten sich dabei ideal die Waage. „Casta Diva“ singt sie mit Ruhe und Klarheit - vielleicht nicht ganz so schwebend, wie man es schon sonst gehört hat, aber auf ihre Art durchaus berückend. Insgesamt zeichnet sie ein Porträt voller Emotion, Autorität, Rachsucht und Verzicht. Das kann sie darstellerisch und stimmlich mit beklemmender Intensität umsetzen. An ihrer Seite ist Diana Haller eine kongeniale Partnerin. Ihr Debüt in Hamburg hätte nicht eindrucksvoller ausfallen können. Sie gibt die Adalgisa sehr fraulich und voller Empathie. Ihr schlanker und weich timbrierter Mezzo harmoniert bestens mit der Stimme von Marina Rebeka.

Die großen Duette von Norma und Adalgisa erklingen hier in perfektem Einklang und bescheren Belcanto-Wonnen allererster Güte. Den römischen Feldherrn Pollione singt Marcelo Puente mit robustem und kraftvollem Tenor. Seine leidenschaftliche Gestaltung ist bemerkenswert, auch wenn sein etwas sprödes Timbre gewöhnungsbedürftig ist. Mit Kraft und Volumen gibt Liang Li Normas Vater Orovesco. Gabriele Rossmanith und Dongwon Kang ergänzen als Clotilde und Flavio das Ensemble.

Matteo Beltrami und das Philharmonische Staatsorchester setzen Bellinis herrliche Musik fernab jeder Routine um. Da wird nicht nur einfach im Belcanto geschwelgt, sondern mit fein austarierten Tempi, dramatischem Impetus und subtilen Klangdifferenzierungen auf höchstem Niveau gestaltet. Gleiches gilt für den von Eberhard Friedrich einmal mehr bestens vorbereiteten, klangmächtig auftrumpfenden Chor.

Die letzte szenische Aufführung von Norma führt in das Jahr 1921. Damals sang Frida Leider die Titelpartie. Die Aufführungen in der Jahren 1978 und 2007 waren konzertant. Und so hätte man es jetzt auch halten sollen. Denn die Regie von Yona Kim kann kaum überzeugen. Die Bühne von Christian Schmidt zeigt abwechselnd einen grauen Wellblech-Container als Wohnung Normas (mit Keller als Versteck für ihre Kinder) und die Andeutung eines finsteren Waldes. Durch Zwischenvorhänge wird ständig (und oft unmotiviert) zwischen diesen Schauplätzen gewechselt. Die Momente, in denen Kims Personenführung spannend und stimmig wird, sind an einer Hand abzuzählen. Denn oft stehen oder sitzen die Protagonisten statisch nebeneinander, was einer konzertanten Aufführung schon nahe kommt.

Das gilt auch für den Chor, der oft einfach nur herumsteht. Und wenn die Gallier dann mit ihrem Kriegswillen ernst machen, wirkt es wie ein Tiroler Volkssturm. Dazu kommen merkwürdige Rituale wie das Heranzüchten neuer, jungfräulicher Göttinnen und Selbstverstümmelungen. Und ständig wird mit einem Benzinkanister oder kleinen Hackebeilchen hantiert. Das Ergebnis: Massive Buhrufe für die Regie und großer Jubel für die musikalische Seite.

 

Wolfgang Denker, 09.03.2020

Fotos von Hans Jörg Michel

 

 

FALSTAFF

Premiere am 19.01.2020

Ohne Charme

Um es gleich vorwegzunehmen: Dieser Falstaff wird nicht lange in Erinnerung bleiben, auch wenn der Regisseur Calixto Bieito heißt. Bieito galt lange als „Enfant terrible“ der Opernszene, weil seine Inszenierungen oft provokant waren. Nach „Otello“ und dem Verdi-Requiem ist dieser Falstaff die dritte Produktion in Hamburg mit Bieito. Aber hier sind Bieitos Einfälle nur dünn gesät.

Bevor das Orchester einsetzt, sitzt der dicke Sir John Falstaff vor einem Wirtshaus und schlürft eine Auster nach der anderen - eine gefühlte Ewigkeit lang. Das Wirtshaus kann man dank ständigem Einsatz der Drehbühne von allen Seiten bewundern. Mal ist es eine kahle Wand, mal der Innenraum des Gasthofs (warum dort leuchtende Shell-Muscheln prangen, bleibt ein Rätsel). Oben befindet sich ein Schlafzimmer, in welchem Fenton und Nannetta bei erster Gelegenheit übereinander herfallen (Bühne von Susanne Gschwender). Dieser Wechsel der Optik scheint eine differenzierte Personenführung größtenteils zu ersetzen. Oft stehen die Frauen (Alice, Meg, Quickly und Nannetta) nur aufgereiht an der Rampe oder lehnen sich an die Hauswand, dann sind es - nicht viel anders - die Männer. Ein bisschen Aktion gibt es dennoch, etwa wenn Dr. Cajus (Jürgen Sacher) auf den Kopf gestellt wird, bis ihm die Geldmünzen aus der Kleidung fallen, wenn Falstaff bei seinem Rendezvous mit Alice Ford ihr unverblümt an die Wäsche geht oder wenn Ford und eine irrwitzig große Schar von Nachbarn das Haus stürmen und nach Falstaff suchen.

Der hat sich zur Tarnung allerdings einen Lampenschirm auf den Kopf gesetzt. Am Ende wird er mit einem Kübel Kot übergossen und verschwindet nicht in der Gelben Tonne, wie man hätte vermuten können. Dort versteckt sich dafür der halbnackte Fenton. Seinen Monolog über die Schlechtigkeit der Welt hält Falstaff auf der Toilette, während er mit Klopapier hantiert. Diese Örtlichkeit wird später auch von Nannetta heimgesucht, die über das positive Ergebnis ihres Schwangerschaftstest entsetzt ist. Dass Falstaff seine Kumpane Bardolfo und Pistola (Daniel Kluge und Tigran Martirossian) mit einer Sektfontäne duscht, ist hinnehmbar. Dass Alice Ford es bei ihren Mitstreiterinnen dann ebenso tut, ist einfallslos. Und deren ständiges wippendes Gezappel im Takt der Musik nervt einfach nur.

Dass zwischendurch ein Transparent mit der Aufschrift „Fette Steuern für die Fetten“ ausgerollt wird, ist deplaziert und an Plattheit nicht zu übertreffen. Nein, dieser Falstaff ist kein großer Wurf, dazu hätte man in der Charakterisierung subtiler vorgehen müssen. Vor allem die Figur des Falstaff, der eigentlich ein philosophisches Schlitzohr ist und auch sympathische Seiten zeigen sollte, bleibt eigentlich ohne Charme.

Das liegt nicht an Ambrogio Maestri, der ein erfahrener Falstaff ist und der Figur in seinem gelben T-Shirt (Kostüme von Anja Rabes) trotz allem viel Profil geben kann. Sein Gesang ist stets präsent und ausdrucksvoll. Auch die Damenriege mit Maija Kovalevska als gewitzter Alice Ford, Ida Aldrian als Meg Page und Nadezhda Karyazina als allzu sehr auf jugendlich getrimmte Mrs. Quickly überzeugen. Stimmlich und darstellerisch bezaubernd sind Elbenita Kajtazi und Oleksiy Palchykov als Liebespaar Nannetta und Fenton, die schon gleich am Anfang im Partnerlook erscheinen. Auch Markus Bruck macht als Ford mit sonorem Bariton eine gute Figur.

Für das gute Gelingen der musikalischen Seite sorgen auch der von Eberhard Friedrich einstudierte Chor und das von Axel Kober umsichtig geleitete Philharmonische Staatsorchester. Für die Regie gab es teilweise massive Buh-Rufe bei der Premiere.

 

Wolfgang Denker, 21.01.2020

Fotos von Monika Rittershaus

 

 

DON GIOVANNI

Premiere am 20.10.2019  

besuchte Aufführung am 23.10.2019

Prima la musica

Man kann mit der Neuinszenierung von Mozarts Don Giovanni an der Hamburgischen Staatsoper gut leben, weil Regisseur Jan Bosse dem Werk keine Gewalt antut. Das ist per se schon mal erfreulich, weil es heute keine Selbstverständlichkeit mehr ist.

Aber wenn man eine tiefgründige Interpretation erwartet, die dem „Mythos Don Giovanni“ nachspürt, ist man eher enttäuscht. Eine differenzierte Personenführung und eine individuelle Charakterisierung der Figuren bleibt hier eher die Ausnahme, etwa wenn Don Giovanni und Zerlina sich schon bei dem Duett „La ci darem la mano“ spielerisch und in fast kindlicher Freude ihren Gefühlen hingeben. Aber oft wird einfach nur statisch an der Rampe gestanden. Viel Platz ist (im 1. Akt) auch nicht, denn das Bühnenbild von Stéphane Laimé ist mit seinen immer neuen Ansichten von heruntergekommenen Palazzo-Fronten eher etwas erdrückend. Dafür hat Bosse seine Arbeit mit einigen Zutaten „angereichert“. Da ist zum einen die erfundene Figur Amor/Tod - ein androgynes Wesen, das an Fassaden klettert, skurrile Tänze aufführt oder lauernd sie Szenerie beäugt. Anne Müller vollführt das mit beachtlichem körperlichem Einsatz. Aber die Funktion dieser Figur und deren Aussage wird nicht deutlich, was sie letztlich überflüssig macht. Überflüssig sind eigentlich auch die Video-Bilder, die oft über die Fassaden projiziert werden und erst recht der Einsatz einer Live-Kamera, die (zudem noch unsynchron) die Gesichter vergrößert.

Im 2. Akt öffnet sich die Bühne etwas und beschwört den Charakter eines Nachtstücks. Nur Don Giovannis Festsaal ist hier ein heller Albtraum in Lametta. Und fast alles, was hier an Bewegung zugelassen wird, ist Sache der Drehbühne, die nur noch pausenlos rotiert. Eindrucksvoll gerät immerhin Don Giovannis Höllenfahrt, auch wenn ihr ein Hauch von „Geisterbahn“ anhaftet. Damit endet auch die Oper, das „lieto fine“ hat Bosse gestrichen. Eine Inszenierung, die nicht weh tut, die aber auch keine nachhaltigen Eindrücke hinterlässt. In Bremen, wo der Don Giovanni am gleichen Tag Premiere hatte, war die Regie ausgefeilter, dafür aber eher näher an Beckett als an Mozart.

Uneingeschränktes Vergnügen bereitet die musikalische Seite. Adam Fischer und das Philharmonische Staatsorchester Hamburg sorgen für eine klanglich fein austarierte Wiedergabe, bei der die instrumentalen Details ebenso zu ihrem Recht kommen, wie die mit großen Bögen entfachte Dramatik. Exzellent auch die auf der Bühne postierten Musiker (Cello bei Zerlinas Arie „Batti, batto o bel Masetto“!).

Mit André Schuen als Don Giovanni und Kyle Ketelsen als Leporello steht ein prachtvolles Duo auf der Bühne, das an stimmlicher und darstellerischer Präsenz keine Wünsche offen lässt. Ketelsen hat an stimmlicher Substanz sogar noch etwas die Nase vorn. Seine Registerarie begeistert, ebenso Schuens im Liegen gesungenes Ständchen. Bei Julia Kleiter und Federica Lombardi sind Giovannis Opfer Donna Anna und Donna Elvira bestens aufgeboten. Beide Sängerinnen können mit Glanz und Ausdruck überzeugen.

Anna Lucia Richter ist mit lieblichem Sopran als Zerlina wie ein Sonnenschein. Sie ist die einzige, die aus ihrem Abenteuer ohne seelischen Schaden herauskommt und mit ihrem Masetto (Alexander Roslavets) wohl doch noch ihr Glück findet. Dovlet Nurgeldiyev singt beide Arien des Don Ottovio mit kraftvollem, männlichem Ausdruck. Eine Klasse für sich ist Alexander Tsymbalyuk als Komtur. Sein voller Bass ertönt mit erzener Wucht raumgreifend und bedrohlich durch das Finale.

 

Wolfgang Denker, 24.10.2019

Fotos von Brinkhoff/Mögenburg

 

 

DIE NASE

Premiere am 07.09.2019   besuchte Aufführung am 13.09.2019

Karin Beier hat den richtigen Riecher

Der Kollegienassessor Kowaljow wacht eines Morgens ohne seine Nase auf. Auf der Suche nach seinem Riechorgan, das sich inzwischen verselbständigt hat, auf menschliche Größe angewachsen ist und sich als Staatsrat ausgibt, durchlebt Kowaljow albtraumhafte Situationen, bevor die Nase plötzlich an ihren angestammten Platz zurückkehrt. Die Vorlage zu dieser grotesken Geschichte stammt aus Nikolai Gogols Novelle Die Nase. Sie gilt als erstes surrealistisches Prosastück der russischen Literatur.

Dmitri Schostakowitsch begann 1927 im Alter von 21 Jahren mit der Arbeit an seiner gleichnamigen Oper, die dann 1930 in Leningrad uraufgeführt und nach nur sechzehn Vorstellungen abgesetzt wurde. Nicht ohne Grund: Obwohl das Werk eigentlich im zaristischen Russland spielt, ist die satirische Auseinandersetzung mit einem totalitären Polizeistaat unübersehbar. Das konnte Stalin nicht gefallen. Ein damaliger Kritiker schrieb, Schostakowitsch komponiere wie ein „Anarchist mit Handgranate“. Nach Stalins Tod sagte Schostakowitsch über sein Werk: „Die Figur der Nase hat gar nichts komisches. Die Nase kann ohne dich zu einem Menschen werden, noch dazu zu einem hohen Vorgesetzten. Hätte Gogol zu unserer Zeit gelebt, er hätte noch viel seltsamere Dinge gesehen. Heute spazieren so viele Nasen umher, dass man sich nur wundern kann.“

Diese Sätze machen deutlich, wie aktuell „Die Nase“ auch in unserer Zeit noch ist. Man braucht sich nur unter dem derzeitigen politischen Personal weltweit umzusehen.

Regisseurin Karin Beier, derzeitig Intendantin des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg, verlegt „Die Nase“ aus der Zaren- in die Stalin-Zeit, schlägt aber mit Videos (Maika Dresenkamp und Severin Renke) vom G-20-Gipfel auch die Brücke zur Tagesaktualität. Nach längerer Pause (seit 2006) ist es Beier, die 1997 mit „Carmen“ in Bremen erstmalig eine Oper inszeniert hatte, mit ihrem erneuten Engagement für das Musiktheater gelungen, eine gleichermaßen beklemmende wie unterhaltsame Arbeit vorzulegen. Ihre Regie ist detailfreudig, sehr exakt gearbeitet und äußerst temporeich. Daran hat auch die Choreographin Altea Garrida gehörigen Anteil. Wie sie Polizisten und Soldaten (alle mit Stalinbärtchen und dickem Hintern) als Parodie auf Militärparaden über die Bühne im Stechschritt oder grotesk tänzeln lässt, ist nicht nur komisch, sondern auch entlarvend.

Ein riesiger Rasierspiegel beherrscht das Bühnenbild von Stéphane Laimé und verdeutlicht die permanente Überwachung. Ansonsten rotiert die Drehbühne mit ihren Gerüsten und Spiegelwänden fast pausenlos, aber stets im Einklang mit der teils grellen, immer unter Volldampf stehenden Musik von Schostakowitsch. Mit einem kleinen gesprochenen Einschub („Liebe Nasen von nah und fern“), bei dem der Polizeichef unbeholfen dümmliche Verschwörungstheorien herausblökt, kommt die Schauspielregisseurin durch.

Als Kowaljow hat Bariton Bo Skovhus gesanglich und darstellerisch einen großen Abend. Mit seinem Schweinchenrüssel, den er sich als Ersatz für seine Nase angeklebt hat, mit seiner Mischung aus entschlossener Aktion und lethargischem Gejammer kann er die Hilflosigkeit und Verzweiflung der Figur überzeugend verdeutlichen. In weiteren Partien sind u. a. Andreas Conrad als Polizeihauptmeister, Levente Páll als Barbier, Gideon Poppe als Kowaljows Diener, Hellen Kwon als Finderin der Nase oder Athanasia Zöhrer mit ihrem Sopransolo zu nennen.

Die Musik von Schostakowitsch wird vom Philharmonischen Staatsorchester unter Kent Nagano glänzend umgesetzt. Da kommt der pausenlose Drive der Musik brilliant zur Geltung, kommen die Marsch- und Polka-Parodien zu effektvoller Wirkung. Sonderbeifall gibt es für die Schlagzeugparaphrase, bei der sich die Schlagwerker auf der Bühne aufreihen und ein wahres Feuerwerk abbrennen.

 

Wolfgang Denker, 14.09.2019

Fotos von Arno Declair

 

 

OFFENBACHS TRAUM

Uraufführung: 24.05.2019    

besuchte Aufführung: 25.05.2019

Gelungene Hommage an Jacques Offenbach

Zum 200. Geburtstag von Jacques Offenbach hat sich die Hamburger Kammeroper etwas Besonderes ausgedacht und ein bei Mathias Husmann in Auftrag gegebenes Werk zur Uraufführung gebracht: Offenbachs Traum ist eine Kammeroper in zwei Teilen.

Zunächst sieht man, wie der bereits schwer kranke Offenbach von seiner Amerika-Tournee nach Paris zurückkehrt. Er möchte noch die Arbeit an seiner großen Oper „Hoffmanns Erzählungen“ vollenden. Im Traum erscheinen ihm die Muse Niklas und sein Komponistenkollege Hector Salomon, der niemand anderes als der Tod ist. Niklas und der Tod schmieden mit der Sängerin Marguerite Ugalde einen Plan, um Offenbach zu inspirieren und seine Figuren Olympia, Antonia und Giulietta mit Leben zu erfüllen. Der Tod fordert allerdings einen hohen Preis: Offenbachs Augen für Olympia, sein Blut für Antonia und seinen Schatten für Giulietta. Andreas Franz hat das alles sehr vergnüglich inszeniert, etwa die skurrile Bluttransfusion oder Olympias puppenhafte Bewegungen. Sehr gelungen sind auch die Bühnenbilder von Lisa Überbacher, die mit einfachen Mitteln verschiedene Schauplätze andeuten. Von ihr sind auch die Kostüme, die sehr prägnant, farbenfroh und mit Augenzwinkern gestaltet sind.

Die Musik von Mathias Husmann arbeitet mit moderaten Klängen und ist oft von Offenbachs Originalthemen durchzogen. Die Ballade vom Kleinzack wird hier zu „Es war einmal in Köln ein junger Jeck“. Der Tod wird mit skelettartigen Tönen des Xylophons, die Muse mit denen des Vibraphons charakterisiert. Husmanns Musik ist sehr suggestiv und wird durch den roten Faden Offenbachs bestimmt. Neben „Hoffmanns Erzählungen“ sind auch „Orpheus in der Unterwelt“, „Die schöne Helena“ und „Pariser Leben“ vertreten.

Im zweiten Teil gibt es dann das historisch verbürgte Hauskonzert mit den fertig gestellten Teilen in Offenbachs Privatgemächern. Hier hält sich Husmann eng an Offenbach. Die Zuordnung der Musikthemen hält sich zwar nicht immer an die entsprechenden Akte bei „Hoffmanns Erzählungen“, passt aber bestens zur Stimmung der jeweiligen Szene. In jedem Fall aber sind seine Melodien hervorragend arrangiert. Die sieben Musiker des Allee Theater Ensembles unter der Leitung von Ettore Prandi spielen mit Schwung und Herzblut - eine durch und durch gelungene Wiedergabe, bei der man ein großes Orchester kaum vermisst.

Die Sängerinnen und Sänger agieren nicht nur mit großer Spielfreude, sondern können auch gesanglich bestens bestehen. Bariton Marius Adam gibt (in perfekter Maske) den Komponisten und schlüpft auch gleich in die Rolle des Hoffmann, der ja sein Alter Ego ist. Ebenfalls mit sonorem Bariton kann Titus Witt als Tod sowie als Coppelius, Mirakel und Dappertuto überzeugen. Iva Krušić gibt mit schlankem Mezzo den Niklas und die Stimme der Mutter. Am meisten ist Luminita Andrei gefordert, die als Sängerin Ugalde auch die drei weiblichen Hauptpartien in „Hoffmanns Erzählungen“ übernimmt. Ihr klarer, aufstrahlender Sopran wird den unterschiedlichen Anforderungen mehr als gerecht. Das Terzett aus dem Antonia-Akt mit Andrei, Krušić und Witt gehört zu den besonders beeindruckenden Momenten der Aufführung.

Natürlich dürfen bei einer Offenbach-Hommage die Barkarole und der Can-Can nicht fehlen. Sie bilden den Schluss eines gelungenen und unterhaltsamen Abends.

 

Wolfgang Denker, 26.05.2019

Fotos von Dr. Joachim Flügel

 

 

 

LESSONS IN LOVE AND VIOLENCE

 

Musikalisch sind es vor allem die orchestralen Interludes zwischen den sieben Szenen der Oper LESSONS IN LOVE AN VIOLENCE, welche in Erinnerung bleiben werden. In diesen Zwischenspielen erreicht der Komponist George Benjamin ein gewaltige atmosphärische Dichte, einen regelrechten Sog, mal mit aufrüttelnden Klangballungen, dann wieder mit subtil austarierter, kammermusikalischer Transparenz. Kent Nagano und das Philharmonische Staatsorchester Hamburg machen diese Passagen zu einem eindringlichen Erlebnis, davon würde man gerne eine Orchestersuite hören – für einmal zeitgenössische Musik, die schon beim ersten Zuhören fesselt.

Leider setzt sich dies in der Behandlung der Stimmen nicht fort. Benjamin komponiert in einem gepflegten, aber leider etwas leidenschaftslosen Deklamationsstil, irgendwo zwischen Debussy und Britten angelegt, ohne deren dramatische oder poetische Kraft und Eindringlichkeit zu erreichen. Und so schleppt sich der Abend an manchen Stellen etwas dahin (was zum Teil bestimmt auch am etwas kopflastigen Libretto von Martin Crimp liegt), obwohl das Stück lediglich 90 Minuten dauert. Das ist beileibe nicht die Schuld der Sänger*innen, denn die Stimmen dieser Besetzung in Hamburg sind ausgesprochen schön, ebenmäßig, blitzsauber. Nur für den Part der Isabel hat Benjamin Phrasen und Kantilenen von aufhorchen lassender Intensität gefunden – und mit Georgia Jarman steht in Hamburg eine Interpretin zur Verfügung von stupender vokaler (und darstellerischer) Gestaltungskraft. Mein Gott, ist das eine traumhaft schöne Stimme, die trotz allen Glühens wunderbar klar und kontrolliert leuchtet, virtuos strahlt und damit auch berührt. Exzellent auch das eigentliche Liebespaar der Oper, der King und sein Geliebter Gaveston, der in der 6. Szene als Fremder wiederkehrt und dem gefangenen König aus der Hand liest. Benjamin hat dieses gleichgeschlechtliche Paar mit zwei Baritonen besetzt. Evan Hughes als King und Gyula Orendt als Gaveston singen beide mit wunderbar weichen, warmen Stimmen – und setzen sich doch im klanglichen Ausdruck voneinander ab.

Der kunstbesessene, die Notlage des Volkes völlig ignorierende König von Evan Hughes klingt sanfter, entrückter, der Gaveston von Gyula Orendt selbstbewusster, fordernder. Schade, dass die Musik hier nicht mehr Leidenschaft ins Spiel bringt. Selbst die Bettszene klingt unterkühlt. Da drängt sich zugegebenermaßen der Vergleich mit Andrea Lorenzo Scartazzinis vor zwei Jahren in Berlin uraufgeführter Oper EDWARD II auf. Und was  Leidenschaft und Erotik in Szene und Musik anbelangt, hat mich persönlich Scartazzinis Oper weit mehr bewegt. Vielleicht liegt es auch an der allzu behutsam distanzierten Inszenierung von Katie Mitchell, welche verantwortlich zeichnet für diese Koproduktion von sieben großen Opernhäusern. Es dominieren einmal mehr schwarze Anzüge und Kostüme im Business-Look (entworfen von Vicki Mortimer), welche eine unnahbare Kälte und Distanz verbreiten. Faszinierend jedoch ist der Bühnenraum, der ebenfalls von Vicki Mortimer stammt: Von Szene zu Szene ändert sich der Blickwinkel auf dieses Apartment, mit seiner blau-kalten Holztäfelung, die Wände scheinen zu wandern. Das ist überwältigend gut gemacht. Am Ende ist dann auch das Aquarium ausgetrocknet, sind die Kunstschätze aus der Vitrine verschwunden. Die Kinder Edwards, welche die ganze Zeit über Zeugen des Spiels um Liebe und Macht waren (selbst die Bettszene King-Gaveston haben sie mitangesehen) haben die Lessons of Love and Violence gelernt und richten Mortimer (mit klarem hellen Tenor: Peter Hoare) vor den Augen Isabels hin. Von den beiden Kindern hat nur der Junge und spätere König zu singen.

 Samuel Boden macht das mit lichtem hohem Tenor, eine engelsgleiche Stimme, die eine Unschuld verströmt und mit Eiseskälte von der brutalen Folter und der Erschießung Mortimers durch das Mädchen (mit stummer Präsenz: Ocean Barrington-Cook) berichtet. Hervorragend besetzt sind auch die kleinen Partien der Zeugen: Hannah Sawle und Emilie Renard als Witness 1 und 2 und Andri Björn Róbertsson als Witness 3 und Madman.

Die Darstellerinnen und Darsteller wurden am Ende vom Publikum stürmisch gefeiert, ebenso Kent Nagano und das Orchester. Es war dies bereits die vierte und letzte Vorstellung dieser Deutschen Erstaufführung.

 

Kaspar Sannemann 3.5.2019

Bilder (c) Forsters

 

 

Parsifal

Karfreitag 19. April 2019G

Grell-phantastisches Musiktheater

Neben der für ein Opernhaus wie der Staatsoper Hamburg zu erwartenden musikalischen Qualität waren die letzten Inszenierungen von Richard Wagner´s Bühnenweihfestspiel Parsifal durchaus spektakulär.

Die ab 1976 gezeigte Inszenierung von August Everding erregte besondere Aufmerksamkeit dadurch, daß der Wiener Künstler Ernst Fuchs dafür ein monumentales und in Jugendstil-Ornamentik farbiges Bühnenbild mit entsprechenden Kostümen schuf. (ML Eugen Jochum und Horst Stein)

Ab 1991 sorgte dann der Texaner Robert Wilson für eine Neuinszenierung und auch gleich für das manchmal etwas kunstgewerblich anmutende Bühnenbild. Die meisten Zuschauer erlebten damals zum ersten Mal seine fast ganz auf Lichteffekte reduzierte Regie mit gespreizten Bewegungen der Darsteller im Zeitlupentempo - heute wissen wir, daß das eine Art Masche ist, die er auf alle Operninszenierungen anwendet. (ML nacheinander Gerd Albrecht, Ingo Metzmacher und besonders Simone Young)

Diese Reihe wurde nun zu Beginn der vorigen Spielzeit weitergeführt. Nach Absetzung seiner sehr lange im Repertoire gehaltenen Inszenierung der Zauberflöte wandte sich Achim Freyer jetzt fast als Fortsetzung davon  dem Parsifal zu und war unter der musikalischen Leitung von Kent Nagano wieder für Inszenierung, Bühne, Kostüme und Licht verantwortlich. Am vergangenen Karfreitag war Wiederaufnahme.

Prägend für den visuellen Eindruck der Aufführung war bekanntlich das Bühnenbild. Es bestand aus einer riesigen die ganze Bühne ausfüllenden kugelförmigen Spirale. Auf ihrer Vorderseite konnten auf einem bis zum Orchestergraben hin reichenden durchsichtigen Gazevorhang Worte projeziert werden, die irgendwie mit dem Bühnenweihfestspiel in Zusammenhang stehen sollten, heute fast schon üblich! Nach hinten waren Ringe der Spirale begehbar, zum einen für phantastische Gestalten der christlichen Mythologie, aber auch für weltliche Gegenstände wie ein Fahrrad – den Besucher aus Münster freut`s! Die kurze Projektion eines Hasen sollte vielleicht an Schlingensief´s Bayreuther Parsifal erinnern? Zum anderen konnten auf den Spiralen Solisten und Chöre stehen. Kundry etwa stürzte so von oben auf die Bühne. Die Gralsritter konnten zur Gralsenthüllung verteilt neben- und übereinander stehend singen – akustisch sehr eindrucksvoll. Während der Gralsenthüllung schritt eine Figur mit leuchtendem Unterrock von rechts nach links, die später als Skelett im Kinderwagen zurückgeschoben wurde. (auch Erinnerung an Schlingensief?) Sehr passend war, daß bei der militaristischen Chorstelle gegen Ende des ersten Aufzuges die von den Rittern getragenen weissen Lichter sich in rotweisse Grablichter verwandelten. Zwar war der Speer nur eine Neonröhre, die beim Zusammenbruch von Klingsors Reich am Ende des zweiten Aufzugs erlosch, durch Lichteffekt, die die Bühne zusammenstürzend in schmutziges Grau verwandelte, entstand trotzdem ein starkes Bild.

Durch Drehen der Kugel sollte wohl noch mehr zum Raum die Zeit werden sodaß gegen Ende des dritten Aufzuges sogar das Orchester verzerrt in den Zuschauerraum gespiegelt wurde..

Dagegen wirkten die grell geschminkten Gesichter und Kostüme teils befremdlich. Parsifal kam als Clown daher, Kundry sah aus wie ein dem Wald entsprungenes Zottelwesen, mehr furchtbar als furchtbar schönes Weib – der Versuch, Parsifal zu verführen, konnte da nur singend erfolgen. Als Superhirn, das alles weiß verfügte Gurnemanz im ersten Aufzug über zwei Köpfe. Titurel im Rollstuhl war eigentlich nur ein grosser Papst-Hut kleinem Kopf darunter (mit viel Vibrato Tigran Martirossian) Wie die Ritter waren die Knappen schwarz gekleidet – dazu bauhandwerkliche Instrumente tragend (Freimaurer?). Dabei sangen sie präzise. .

In diesem Rahmen spielte - einziger Sänger einer Hauptrolle aus der Premierenbesetzung -    Vladimir Baykov beweglich, fast akrobatisch, den unglücklichen Klingsor. Sein Kostüm wurde geprägt durch eine riesige rosa Krawatte die die Stelle bedeckte, wo er die Frevlerhand an sich gelegt hatte Dabei sang er textverständlich sowohl Dämonie als auch Verzweiflung mit kernigem Baß ausdrückend. Mit Hilfe eines Laptops und Lichteffekten konnte er Parsifal rechtzeitig zu Kundry´s Erweckung kommen sehen und die Blumenmädchen aktivieren. Letztere fielen vor allem durch gross aufgeblasene Brüste auf, versuchten aber trotzdem nur mit Luftballons, Parsifal zu verführen – dafür sangen sie verführerisch schön.

Alle anderen Darsteller der Hauptpartien standen meist nur singend auf der Bühne mit gestischen Bewegungen der Arme, die an Wilson´s Inszenierung erinnerten.

Als eigentliche Hauptpartie des Stücks sang Attila Jun für zwei Aufführungen den Gurnemanz. Hatte man im ersten Aufzug Bedenken, ob der die riesige Partie bis zum Schluß meistern würde, so konnte er sich im dritten Aufzug erheblich steigern – für die langen Töne etwa bei Gesegnet sei oder im Karfreitags-Zauber das will ihr Gebet ihm weihen hatte er den langen Atem ohne falsches Vibrato. dies alles mehr mit kraftvollem denn mit salbungsvollem Timbre. Als Amfortas überzeugte Egils Silins mit starkem textverständlichem Baß, mächtigen Erbarmen – Rufen und ekstatischem Schlußaufschrei. Spielen brauchte er nicht viel, denn er wurde wie ein gekreuzigter Jesus mit Dornenkrone von zwei Ku-klux-Clan Figuren getragen. Im letzten Aufzug riß der dies dann doch weg und zeigte seine Wunde. Für einen Tenor, der Tristan und Otello gesungen hat, ist der Parsifal eine kleinere Partie. Robert Dean Smith sang sie mit gut geführter Stimme, den Aufschrei Amfortas die Wunde oder auch den Schluß Nur eine Waffe hat man schön kräftiger gehört. Stimmlich grosse Klasse war Tanja Ariane Baumgartner als Kundry. Trotz ihres unvorteilhaften Kostüms beeindruckte sehr sowohl das tiefe p bei Herzeleide starb als auch der grosse stimmliche Sprung bei und lachte. Furiengleich besang sie ihr danach wiederkehrendes Lachen und den Fluch an Parsifal.

Ihren besonderen musikalischen Rang erhielt die Aufführung einmal durch den von Eberhard Friedrich einstudierten Chor der Staatsoper. Mächtig erklangen die Herrenchöre der Ritter - für alle sei stellvertretend genannt Ks. Jürgen Sacher als erster Gralsritter. Ergreifender war noch, wenn der gesamte Chor p im ersten Aufzug ohne Orchesterbegleitung selig im Glauben sang oder verklingend im dritten Aufzug Erlösung dem Erlöser

Hauptträger des Bühnenweihfestspiels ist das Orchester. Hier liessen Kent Nagano und das Philharmonische Staatsorchester auch mit von weither angereisten Aushilfen eine Glanzleistung hören. Angepaßt an deren stimmliche Möglichkeiten wurden die Sänger rücksichtsvoll begleitet. Dynamisch und betreffend Tempo disponierte der Dirigent genau überlegt – der erste Akt dauerte trotz langsamen Vorspiels gut fünfundneunzig Minuten, wie schon bei seinem Dirigat vor langer Zeit in Baden-Baden. Innerhalb dieses Rahmens gab es ganz dramatisch schnelle Stellen und fast Stillstand, etwa nach Titurels Enthüllet den Gral. Natürlich konnte im offenen Orchestergraben kein Bayreuth-ähnlicher Mischklang entstehen, dafür erfreuten um so mehr der ruhige runde Klang der Hörner oder die jetzt deutlich zu hörenden Soli einzelner Holzbläser und Streicher. Ein musikalischer Höhepunkt war das Vorspiel zum dritten Aufzug.

Nicht nur musikalisch erfreulich war der Schluß, auch szenisch war er positiv gestaltet. Kundry starb nicht. Sie und Parsifal standen bei den Schlußakkorden mit erhobenen Armen auf der Bühne, während das Wort Anfang darüber projeziert wurde – vielleicht Erlösung für beide?

Das Publikum in der gut besuchten Staatsoper – gut besucht trotz zum Karfreitags-Zauber passenden Frühlingswetters – dieses Publikum spendete allen Sängern, besonders der Kundry, und dem Chor grossen Beifall mit Bravos, Es steigerte sich zum Bravo-Geheul, als Kent Nagano - inzwischen in Hamburg sehr beliebt, wie schon der Beifall vor der Aufführung zeigte – die Bühne auch mit Dank ans grosse Orchester betrat.

 

Sigi Brockmann 22. April 2019

 

Fotos Hans-Jörg Michel- ausser dem Darsteller des Klingsor jeweils die Mitwirkenden der Premiere. Dank Schminke und Kostümen sind sie allerdings ohnehin kaum zu unterscheiden.

 

 

 

Die Opernpräsentation von morgen?

NABUCCO                    

Aufführung am 2.4.19

Premiere am 10.3.2019

Wollen wir die brennenden Probleme der heutigen Welt mit Hilfe der Oper beleuchten?

Der Name des russischen Regisseurs Kirill Serebrennikov ging durch die Medien, weil er als Gegner Putins in Moskau unter Hausarrest stand (er wurde vor kurzem freigelassen, darf aber die Stadt nicht verlassen). Serebrennikov, der auch sein eigener Bühnen- und Kostümbildner ist, lässt seine Entwürfe und Regieeinfälle durch seine Anwälte ins Ausland bringen und von seinem Choreographen und Co-Regisseur Evgeny Kulagin und weiteren russischen Mitarbeitern umsetzen. Das sind schon einmal spezielle Voraussetzungen für seine Arbeit.

 

„ Nabucco“ ist für Serebrennikov keine auf historischen Elementen beruhende Bibelgeschichte, sondern ein höchst aktueller Stoff. Demgemäß fügt er den Namen der Protagonisten ein „Donoso“ hinzu, also Abigail Donoso usw. Zaccaria hat, ebenso wie Anna, den Familiennamen Badavi, Ismael heißt zusätzlich Sedecia. Im Programmheft werden in Steckbriefen nicht nur die Geburtsjahre, sondern auch die politischen Ideen der Figuren erläutert. So ist Nabucco ein Autokrat mit dem Motto „Assyria first“, Abigail verfolgt mit ihm eine minderheitenfeindliche Agenda, während Fenena an einer vorsichtigen Annäherung an die EU arbeitet. Als Chefunterhändler des Gelobten Landes setzt sich Zaccaria „für eine Welt ohne die Götzen der Nationalstaaten ein“, und Ismael ist sein engster Mitarbeiter.

 

So weit, so überzeugend. Wir sehen dann im 1. Akt eine UNO-Vollversammlung, in der Zaccaria u.a. mit brisanten Informationen über Fenena droht. Laufbänder in englischer Sprache beleuchten für uns die Situation, wobei auch andere schwerwiegende Fragen wie die Klimakrise nicht ausgespart werden. In den folgenden Szenen werden sie erklären, worum es geht, denn am in den Übertiteln gezeigten Originaltext, der zu den gezeigten Geschehnissen ja in Kontrast steht, wurde nichts geändert. Später, als Nabucco sich zum absoluten Herrscher (nicht zum Gott) ausruft, ereilt ihn ein Infarkt. Gut gemacht sind auch Abigails Szenen, in denen sie, nun allein an der Spitze der Regierung, bei ihrem Leibwächter (auch physischen) Trost sucht. Auch Zaccarias großer Auftritt wird zum politischen, direkt in die Maschine diktierten, Statement. Überzeugend auch Abigails Benehmen gegenüber ihrem Vater, der sich nicht zu erholen scheint. Bis dahin gilt, wenn man denn will, angesichts einer perfekten szenischen Umsetzung das Motto „Toll, man glaubt gar nicht, in der Oper zu sein“. Darauf werden wir noch zurück kommen.

 

Ab Nabuccos Gebet „Dio di Giuda“ funktioniert dann schlagartig gar nichts mehr, auch wenn Serebrennikov die plötzliche Heilung des Despoten abschwächt, indem er ihn einen neuerlichen Herzanfall erleiden lässt, sodass er im 4. Akt im Krankenbett am Tropf hängt. Ismaele, Fenena und Nabuccos Anhänger versammeln sich in einer Weise um ihn, als müssten sie von einem Sterbenden Abschied nehmen, desto unglaubwürdiger dann, wenn er schließlich aufsteht und den Chor zur Lobpreisung Jehovas anstimmt, ganz zu schweigen davon, was den Selbstmord der Abigail durch Vergiftung bewirkt haben soll. In dieser Szene füllt sich die Bühne mit Götzenbildern und Gläubigen verschiedener Religionen, wobei nicht klar wird, ob es sich um ein „Alle Religionen sind Opium für das Volk“ oder einen Aufruf zum friedlichen Zusammenleben aller Religionsgemeinschaften handelt. Wir sehen uns also wieder einmal einem an sich intelligenten Konzept gegenüber, das aber unmöglich konsequent zu Ende geführt werden kann. „Nabucco“ ist auch von der mageren Konsistenz des Librettos her ungeeignet, so schweres dramaturgisches Gewicht zu tragen.

 

In seinem (mehr als legitimen) Wunsch nach Befriedung unseres Planeten fügte Serebrennikov in den Umbaupausen außerdem den Auftritt syrischer Künstler ein: Hana Alkourbah (Gesang) und Abed Harsony (Gesang und das Instrument Oud). Da drei der insgesamt vier Auftritte im zweiten, dramaturgisch ohnehin schon zerfallenden, Teil des Werks stattfanden, machte sich verständlicherweise ein gewisser Unmut im Publikum Luft. Dazu wurden aufwühlende Bilder des berühmten russischen Kriegsreporters Sergey Ponomarev projiziert. Die Szene des Gefangenenchors, in der sich echte Flüchtlinge unter den Chor des Hauses mischten, um schließlich in der ersten Reihe zu stehen, wäre in ihrer Eindringlichkeit, der betroffenes Schweigen folgte, ausreichend (und von intensiverer Wirkung) gewesen.

In einem ersten Fazit möchte ich auf das Lob „Toll, man glaubt gar nicht, in der Oper zu sein“ zurückkommen. Meiner Ansicht nach erhebt sich nämlich die Frage, ob es sich wirklich um ein Kompliment handelt. Wenn wir „vergessen, in der Oper zu sein“ rückt in unserer Rezeption die Musik unvermeidlicherweise in die zweite Reihe oder wird bei nicht habituellen Opernbesuchern vielleicht gar nicht mehr wahrgenommen. Ist das der Weg, den unsere geliebte Kunstform nehmen wird? Wenn ich von der lautstarken Zustimmung eines zum Teil erfreulich jungen Publikums ausgehe, so ist dem so. Man könnte natürlich auch zynisch feststellen, „besser ein solcherart begeistertes Publikum als gar keines“.

Diesen Betrachtungen schließt sich eine weitere nahtlos an: Wollen wir die brennenden Probleme der heutigen Welt mit Hilfe der Oper beleuchten? Eigentlich entspricht diese Frage der vorhergehenden: Wenn es die einzige Möglichkeit ist, jüngere Menschen für Opern zu begeistern, mag es so sein, aber echte Oper und vor allem deren Musik haben sie nicht kennengelernt.

 

Zurück zu eben dieser Musik: Alle Interpreten folgten den Intentionen des Regisseurs und versuchten mit wechselndem Erfolg, dessen Konzept auch vokal umzusetzen. Der Grieche Dimitri Platanias in der Titelrolle verfügt über einen festen, solide klingenden Bariton, dem ein paar piani mehr nicht geschadet hätten. Als Zaccaria ließ der Russe Alexander Vinogradov einen ziemlich slawisch timbrierten Bass hören, der auch die gefürchtete Tessitura der Rolle recht gut bewältigte und am meisten gefeiert wurde. Die Ukrainerin Oksana Dyka warf sich mit Elan in die Rolle der Abigail, für die aber ihr tiefes Register zu wenig hergibt, während bei den Höhen eine Tendenz zum Schreien bestand. Als Fenena wirkte die Französin G é raldine Chauvet stimmlich recht unbedeutend. Als Ismaele zog sich der turkmenische Tenor Dovlet Nurgeldiyev passabel aus der Affäre. Solide der Rumäne Alin Anca als Oberpriester des Baal. Als Abdallo und Anna ergänzten der Südkoreaner Sungho Kim bzw. die Israeli

Na'ama Shulman, beide aus dem Opernstudio des Hamburger Hauses. (Also weder Deutsche, noch Italiener in der Besetzung, was mir ein weiterer Beweis dafür scheint, dass die Oper als solche in unseren Breiten immer mehr an Bedeutung verliert).

 

Ganz besonders zu preisen ist der von Eberhard Friedrich einstudierte Chor, der sich über die Bühne verstreut befand (beispielsweise waren einige Choristen im 1. Akt als Dolmetscher in hochliegenden Kabinen von ihren Kollegen getrennt) und dennoch mit Stimmschönheit und Präzision imponierte. Bei seinem Hamburger Debüt sah sich Matteo Beltrami einer komplexen Produktion gegenüber, bei deren Entstehung im März er ja nicht dabei war. (Die ersten Vorstellungen wurden von Paolo Carignani geleitet). Es war beeindruckend, wie souverän es ihm gelang, die Musik nicht ins Hintertreffen gelangen zu lassen. Wobei ihn das Staatsorchester Hamburg jederzeit bestens unterstützte.

Am Schluss herrschten Jubel und Feierstimmung, die auch die syrischen Gäste mit einschlossen. Meine hier dargelegten Bedenken bleiben nicht weniger aufrecht.           

 

Eva Pleus 14.4.19

Bilder: Brinkhoff/Mögenburg

 

 

NABUCCO

Besuchte Vorstellung 17. März 2019

(Premiere am 10. März 2019)

Flüchtlingsoper zum Zweiten

Alexander Vinogradov

Giuseppe Verdis „Nabucco“ ist die Flüchtlingsoper par excellence; so ist es gut nachvollziehbar, bei der Inszenierung des Bibel-Stoffes die aktuelle Flüchtlingsproblematik auf die Bühne zu bringen. Wie das aber der in Moskau unter Hausarrest stehende Regisseur Kirill Serebrennikov getan hat, fordert Macher und Zuschauer heraus. Einzelheiten der Neuinszenierung kann ich mir und unseren Lesern angesichts des übergroßen Medieninteresses ersparen und auf die Premierenbesprechung im „opernfreund“ verweisen. Mein Fazit lautet: Verdi hält vieles aus, aber hier ging es nun doch aus mehreren Gründen zu weit. Damit meine ich eindeutig nicht die so genannten Interludien, bei denen zu syrischen Liedern Fotos des preisgekrönten Fotografen Sergey Ponomarev  gezeigt werden, die – da man Derartiges inzwischen leider fast täglich in den Medien sieht – gar nicht so sehr an die Nieren gehen. Schlimmer sind während der Opernszenen die ständige Flut von Fernsehbildern auf einem relativ großen Bildschirm und Spruchbändern, die allgemeine ernste Probleme wie Klimawandel u.v.a. anzeigen, aber auch überflüssigerweise die Handlung auf Englisch erklären (trotz der Obertitel!). Auch geht die Verlegung des Handlungsorts vom biblischen Babylon in den modern-realistischen Sicherheitsrat der UNO und in die dortigen Büros der Handlungsträger letztlich nicht auf. Hier passt eben doch vieles nicht zusammen. Dies alles beeinträchtigt die Konzentration der Zuschauer auf die Opernhandlung und damit auch auf die Musik.

Dadurch ließen sich Sängerinnen und Sänger in der besuchten Vorstellung glücklicherweise nicht stören, indem sie durchweg glaubhaft nach den regielichen Vorgaben agierten. Vom kontrastreich gespielten Vorspiel an beeindruckte das bestens disponierte Philharmonische Staatsorchester, das unter der prägnanten und fordernden Leitung von Paolo Carignani hohe Klangqualität entwickelte. Der italienische Dirigent betonte deutlich die lyrischen Szenen und übertrieb die plakativ herausragenden Passagen nicht über Gebühr. Auch der von Eberhard Friedrich einstudierte Staatsopernchor zeigte eine Klangpracht und Ausgewogenheit, die Ihresgleichen sucht. Von besonderer Güte war passend zum Konzept der in schwarzer Einheitskleidung in ergreifender Manier präsentierte Gefangenenchor, während dessen sich die syrischen Flüchtlinge vorsichtig zwischen den Choristen bewegten und schließlich vor ihnen aufstellten. Beim folgenden Interludium rührte der von diesen natürlich laienhaft gesungene Gefangenchor die Herzen des Publikums an, was im Zwischenbeifall, aber auch beim Schlussapplaus deutlich wurde.

Alin Anca/Dimitri Platanias/Oksana Dyka

Von den Protagonisten gebührt es Alexander Vinogradov (Zaccaria), zuerst genannt zu werden. Der russische Sänger verfügt über einen imposanten Bass mit großem Umfang und einer enormen Durchschlagskraft, den er in allen Lagen von der kraftvollen höheren Lage bis in die schwarze Tiefe äußerst präsent einzusetzen wusste. Nabucco war Dimitri Platanias, der mit seinem gut durchgebildeten Bariton sowohl die ruhigen Passagen seiner Partie eindrucksvoll ausdeutete als auch die nötige dramatische Attacke in den Stretta-Teilen seiner Arien zur Verfügung hatte. Die – wie bekannt – gesangstechnisch mörderische Partie der Abigaille war der Ukrainerin Oksana Dyka anvertraut, die die vielen Spitzentöne mit erstaunlicher Stimmstärke herausschleuderte, leider stellenweise ein Spur zu hoch und mit einigen Schärfen versehen. Auch die Registerwechsel zu den mittleren und tieferen Lagen wollten nicht immer reibungslos gelingen.

Oksana Dyka/Alexander Vinogradov

Der deutsch-turkmenischer Tenor Dovlet Nurgeldiyev ist seit längerem Mitglied des Hamburger Opernensembles; strahlkräftig sang er den Ismaele. Bei der Französin Géraldine Chauvet und ihrem charaktervollen Mezzosopran war die Partie der Fenena gut aufgehoben. In den kleineren Rollen gefielen mit frischem Tenor Sungho Kim als Abdallo, Alin Anca als Oberpriester des Baal und Na'ama Shulman als Anna.

Das Publikum im ausverkauften Haus war mit Zwischenapplaus eher sparsam, zeigte seine Begeisterung aber beim starken Schlussbeifall. Vereinzelte Buhrufe meinten wohl das Gesamtkonzept, trafen aber völlig unberechtigt den tadellosen Chor und die Flüchtlinge, die das nun überhaupt nicht verdient hatten.

 

Fotos © Brinkhoff / Mögenburg

Gerhard Eckels 20. März 2019

 

 

Verdi

NABUCCO

Premiere am 10.03.2019

Der Weltsicherheitsrat und die Flüchtlinge

Das war eine Premiere der besonderen Art, der schon allein durch die Tatsache, dass der Regisseur Kirill Serebrennikov seit August 2017 in Moskau unter Hausarrest steht und seine Inszenierung von Verdis Nabucco an der Hamburgischen Staatsoper nur mittels Videobotschaften realisieren konnte, mediale Aufmerksamkeit gesichert war. Die Regieanweisungen von Serebrennikov, der auch das Bühnenbild und die Kostüme entworfen hat, wurden von seinem Co-Regisseur Evgeny Kulagin und den Mitstreitern Olga Pavluk (Bühne) und Tatyana Dolmatovskaya (Kostüme) umgesetzt.

Serebrennikov verlegt die Handlung vom biblischen Babylon in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Der Plenarsaal ist Schauplatz des 1. Aktes, später kommen Aibigails Büro, die Zentrale der Baal-Partei oder das Krankenlager Nabuccos hinzu. Dazwischen gibt es wiederholt eindringliche, als Intermedien bezeichnete Auftritte von syrischen Musikern: Hana Alkourbah und Abed Harsony singen, während letzter dazu an der Oud (orientalische Laute) begleitet. Diese Auftritte stehen jeweils unter einem anderen Motto: „Die Ankunft“, „Der Weg“, „Krieg“ und „Die leeren Städte“. Dazu werden an Eindringlichkeit kaum zu übertreffende Bilder von Sergey Ponomarev, dem mit dem Pulitzer-Preis für seine Berichte zur europäischen Migrationskrise ausgezeichneten russischen Fotografen, projiziert. Diese Szenen sind höchst emotional und dazu geeignet, Flüchtlinge nicht als Bedrohung zu empfinden, sondern sich ihnen mit Empathie zu nähern. In diesem Sinn ist auch die Umsetzung des berühmten Gefangenenchors zu sehen - der Staatsopernchor steht im Halbdunkel während unter der Überschrift „Das sind sie“ die Gesichter von Flüchtlingen gezeigt werden. Später kommen gut dreißig echte Flüchtlinge (als Projektchor bezeichnet) auf die Bühne, die ihrerseits, nur von der Oud begleitet, „Va, pensiero“ intonieren.

Der Schwerpunkt dieser Inszenierung ist von der persönlichen Tragödie Nabuccos und seiner Töchter zugegeben deutlich in Richtung einer Anklage gegen das Leid der Flüchtlinge verrückt worden. Aber die Thematik des Nabucco legt dies nahe - bei welcher Oper sonst? Gleichwohl handelt es sich hier nicht um eine platte Aktualisierung. Die Machtkämpfe, die Intrigen, das Ränkespiel in Hinterzimmern, die Enthüllungsdrohungen (über Aibigails Herkunft), inszenierte Pressekonferenzen und die über Bildschirme flimmernden Nachrichtensendungen - alles ist sehr schlüssig umgesetzt worden und sorgt für einen Opernabend, der betroffen macht und zum Nachdenken anregt.

Dass bei dieser sehr ambitionierten Inszenierung die musikalische Seite nicht zu kurz kommt, ist dem Dirigat von Paolo Carignani trotz mancher extrem langsamen Tempi, dem sehr diszipliniert aufspielenden Philharmonischen Staatsorchester, dem einmal mehr grandios singenden Staatsopernchor in der Einstudierung von Eberhard Friedrich und natürlich den durchweg mitreißenden Leistungen der Solisten zu danken. Dimitri Platanias kehrt in der Titelpartie mit wuchtigem Bariton den Machmenschen deutlich heraus, zeigt aber auch in seinem Absturz einen gebrochen Charakter. Abigail wird von Oksana Dyka verkörpert. Sie ist in ihrem roten Hosenanzug eine von Ehrgeiz getriebene Intrigantin. Der rückhaltlose Einsatz ihres metallischen, kraftvollen Soprans sorgt für unglaubliche Intensität, führt aber auch zu manch grellen Tönen. Alexander Vinogradov kann als Zaccaria seine politischen Zielsetzungen glaubhaft vermitteln und singt seine Partie zudem mit rundem, klangvollem Bass.

Dovlet Nurgeldiyev punktet als Ismaele mit lyrischen Tenortönen und Géraldine Chauvet erfreut als Fenena mit einer ausgesprochen schönen, samtigen Stimme. Das Premierenpublikum reagierte mit begeistertem Beifall, auch während auf der Bühne ein Transparent mit den Worten „Free Kirill“ entrollt wurde.

 

Wolfgang Denker, 11.3.2019

Fotos von Brinkhoff / Mögenburg

 

 

ORPHÉE ET EURYDICE

Premiere am 03.02.2019

Ein Abend für die Seele

Eine Ballettprobe: Der Choreograph arbeitet mit seinen Tänzern. Mit einer der Tänzerinnen, die auch seine Ehefrau ist, gibt es eine Meinungsverschiedenheit bis hin zum Streit mit einer schallenden Ohrfeige, die sie ihm gibt und dann die Probe verlässt. Wenig später kracht ein Auto mit lautem Knall auf die Bühne. Sirenengeheul und ein Anruf auf dem Handy des Choreographen mit der Todesnachricht der Tänzerin. Es ist immer schlecht, wenn böse Worte die letzten waren, bevor der Tod ein endgültiges Ende setzt.

Aber ist das Ende wirklich endgültig? Wir befinden uns nämlich in der Oper Orphée et Eurydice von Christoph Willibald Gluck. Der Choreograph ist Orpheus und die Tänzerin Eurydike, Amor ist der Assistent des Choreographen. Im Wahn stellt sich Orpheus vor, im Hades zu sein und seine Eurydike ins Leben zurückholen zu können. Das misslingt, weil er sie verbotenerweise doch ansieht. Eine erneute Gnade der Götter gibt es nicht: Eurydike wird nur in seinem Herzen und in dem Ballett, das er kreiert, weiterleben.

So sieht es John Neumeier in seiner Inszenierung an der Hamburgischen Staatsoper, die als Koproduktion mit den Opernhäusern in Chicago und Los Angeles nun in Hamburg Premiere hatte. Sein Konzept enthält auch Autobiographisches: Neumeier widmet die Produktion dem Andenken der 2005 verstorbenen Tänzerin Sybil Shearer, deren „einzigartiger Beitrag als Tänzerin und Choreographin sowie deren kreative Künstlerpersönlichkeit für ihn eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration waren“.

Neumeier hatte das Werk bereits 1978 (mit Marco Arturo Marelli) in Hamburg inszeniert. Bei der Neuproduktion zeichnet er allein für Regie, Choreographie, Bühne, Kostüme und Licht verantwortlich. Das Ergebnis ist wie aus einem Guss. Das gleichberechtigte Nebeneinander (besser: Miteinander) von Oper und Ballett hätte besser nicht gelingen können. Beides fügt sich völlig organisch zusammen. Da ist die vor allem mit Elementen des klassischen Balletts konzipierte Choreographie, die raumgreifend und ausdrucksvoll ausfällt und vor allem in ihren Bewegungsabläufen von bezwingender Natürlichkeit geprägt ist. Und die Personenführung von John Neumeier macht die Trauer und Verzweiflung von Orpheus geradezu greifbar. Die Rahmenhandlung holt die Geschichte zwar etwas vom Podest des Mythologischen herunter, ändert aber nichts am Kern der Geschichte: Unendliche Liebe, die den Tod als Ende nicht akzeptieren will.

Im Hintergrund der Bühne ist das Bild „Die Toteninsel“ von Arnold Böcklin zu sehen. Im Kontext dieser Inszenierung markiert es keinen Ort des Schreckens, eher einen des Trostes. Mit spiegelnden Wänden und mit drehbaren Raumelementen ist die Bühnengestaltung variabel und aussagekräftig. Eine Bank mit einer Zypresse, wie sie sich auch in Böcklins Bild finden, ist für Orpheus ein Ort der Zuflucht und des Gedenkens. Bilder der Erinnerung, etwa von seiner Hochzeit mit Eurydike, tauchen vor seinem inneren Auge auf. Dabei klammert er sich, auch am Ende, an den Schal, den Eurydike beim Verlassen der Probe verloren hat. Die Lichtstimmungen von Blau bis Orange sind von ausgesprochen ästhetischer Schönheit und Symbolkraft. Ein Abend für die Seele!

Chor und Orchester teilen sich den Graben. Eberhard Friedrich sichert dem Chor einmal mehr die gewohnte Präzision und Klangfülle. Und Alessandro De Marchi sorgt am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters für eine ausgeglichene und in vielen Details funkelnde Wiedergabe.

Die Riesenpartie des Orpheus wird von Dmitry Korchak glanzvoll bewältigt. Die emotionale Spannbreite kann er überzeugend vermitteln, wobei er seinen ausdruckvollen Tenor mit feiner Differenzierung führt. Dass er bei einigen Koloraturen an Grenzen stößt, tut seiner Leistung keinen Abbruch. Ihm zur Seite gefällt auch Andriana Chuchman als Eurydike mit ebenmäßig strömendem Sopran. Marie-Sophie Pollack, die als Amor und als „moralische Stütze“ für Orpheus fungiert, komplettiert das Trio der Solisten sehr kompetent.

 

Wolfgang Denker, 4.2.2019

Fotos von Kiran West

 

 

 

SZENEN AUS GOETHES „FAUST“

Premiere am 28.10.2018

Symbolik schleicht über die Bühne

 

Goethes „Faust“ hat in verschiedensten Formen und Facetten Eingang in die klassische Musik gefunden, sei es als Oper, Oratorium, Orchesterwerk oder Lied. Spohr, Gounod, Boito und Busoni haben neben anderen zu dem Stoff veritable Opern geschrieben, bei Berlioz und Robert Schumann sind ihre Faust-Adaptionen eher in die Nähe eines Oratoriums gerückt. Besonders bei Schumann macht die Anlage seines Werks eine Inszenierung, die den Anforderungen einer Opernhandlung entspricht, zu einer heiklen Aufgabe. Gleichwohl ist der Hamburgischen Staatsoper eine Produktion von Robert Schumanns Szenen aus Goethes Faust gelungen, der es dank der Intensität ihrer Optik gelungen ist, dem Faust-Stoff gerecht zu werden.

Schumanns Werk besteht aus drei Abschnitten. Im ersten Teil (Faust I) steht Gretchen im Mittelpunkt - ihre Begegnung mit Faust, ihr Gebet und ihre durch Mephistos Einflüsterungen verstärkten Seelenqualen. Der zweite Teil (Faust II) zeigt Fausts rastloses Streben, seine Begegnung mit den vier grauen Weibern (Mangel, Schuld, Not und Sorge), seine Erblindung, seinen körperlichen Verfall und schließlich seinen Tod.  In der dritten Abteilung (ebenfalls Faust II) geht es um Fausts Verklärung und Erlösung.

Achim Freyer hat in seiner Inszenierung gar nicht erst den Versuch unternommen, sich dem Faust über eine Dramatisierung zu nähern. Stattdessen bebildert er die von Schumann ausgewählten Textteile mit aussagekräftiger Symbolik. Dunkle Gestalten schleichen während der gesamten Aufführung in Zeitlupe über die Bühne und tragen die verschiedensten Gegenstände umher: eine Miniaturkirche, ein Kreuz, einen Totenkopf, eine Schubkarre, einen Spaten, geometrische Formen und vieles andere. Und auch die blaue Blume der Romantik fehlt nicht. Denn Schumanns Sicht auf den Faust entspringt ganz dem Geist der Romantik. Das unterstreicht auch die Stilisierung des Bildes „Wanderer über dem Nebelmeer“ von Caspar David Friedrich. Diese Wandererfigur hat keinen Kopf. Sie bekommt ihn erst dadurch, dass Faust sich dahinterstellt und er sich sozusagen mit ihr identifiziert. Beim Tode Fausts fällt die Figur in sich zusammen und taucht, dann ganz in Weiß, erst wieder bei Fausts Erlösung auf. Projektionen von bedrohlichen Wolken, von bunten Quadraten oder von strahlenförmigen Sonnenstrahlen ergänzen die Szenen. Doch insgesamt herrscht eher eine düstere Endzeitstimmung vor. Freyer zeigt vor allem die dunkle Seite der Romantik. Dabei macht er es zum Zuschauer nicht leicht. Man muss den „Faust“ schon gut kennen, um alle Chiffren zu entziffern. Und auf Dauer ist dieses Spiel mit Symbolen auch etwas ermüdend. Aber die Inszenierung ist ein typischer, unverwechselbarer Freyer. Bühnenbild, Kostüme und Lichtkonzept stammen auch von ihm. Er arbeitet hier mit ähnlichen Stilmitteln wie bei seinem „Parsifal“ vor einem Jahr.

Kent Nagano am Pult des auf der hinteren Bühne postierten Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg verdeutlicht die musikalischen Schönheiten dieses selten gespielten Werkes in ihrer ganzen Pracht. Dabei schlägt er eine überwiegend ruhige Gangart ein und lässt der Musik Zeit zum atmen. Der von Eberhard Friedrich einstudierte Chor, der vor allem im letzen Teil seinen entscheidenden Einsatz hat, wird verstärkt von den Hamburger Alsterspatzen (Jürgen Luhn) und sorgt für ätherische Klänge. Als Faust (sowie Pater Seraphicus und Dr. Marianus) überzeugt Christian Gerhaher mit seinem in Diktion und Phrasierung am Liedgesang geschulten Bariton ohne Einschränkungen. Den Schluss gestaltet er mit geradezu entrückter Stimme, so als wäre er nicht von dieser Welt. Christina Gansch ist ein stimmfrisches Gretchen (sowie die Not). Franz-Josef Selig gibt den Mephisto (sowie den Pater Profundus und den Bösen Geist) mit viel Ausdruck. Als Ariel und Pater Ecstaticus macht Norbert Ernst mit expressivem Tenor nachdrücklich auf sich aufmerksam. In weiteren Partien sind Narea Son (u.a. als Sorge), Renate Spingler (u.a. als Schuld), Katja Pieweck (u.a. als Mangel) und Alexander Roslavets (Engel) zu hören.

 

Wolfgang Denker, 29.10.2018

Fotos von Monika Rittershaus

 

 

 

COSI FAN TUTTE

Premiere am 08.09.2018

Bonbonfarbenes Absurdistan

Der Regisseur Herbert Fritsch ist bekannt dafür, dass er in seinen Inszenierungen mitunter wenig Respekt für das jeweilige Werk zeigt und es durchaus auch mal mit Klamauk und Albernheiten anreichert. Wer sich nun mit gemischten Gefühlen in die Eröffnungspremiere der neuen Spielzeit in der Hamburgischen Staatsoper begeben hat, wurde angenehm überrascht. „Cosi fan tutte“ von Wolfgang Amadeus Mozart kann auch in der Lesart von Herbert Fritsch durchaus gefallen. Man darf eben nur keine ausgefeilte Charakterisierung der Personen und kein psychologische Ausleuchtung ihrer Gefühlskonflikte erwarten. Das heißt - ausgeleuchtet wird schon kräftig. Denn die in quietschbunten Bonbonfarben gehaltene Einheitsbühne (ebenfalls von Herbert Fritsch) mit ihren spiegelnden Wänden und allerlei bunten „Bausteinen“ in allen Formen und Farben wird in immer neue Lichtstimmungen getaucht. Dieses Szenenbild ist zwar nicht spezifisch für „Cosi fan tutte“ (man könnte auch einen „Barbiere“ so ausstatten), aber es setzt doch ein Signal: Hier wird auf Teufel komm raus Komödie gespielt, fernab von jedem Realitätsbezug. Wir befinden uns in einem nirgendwo zu verortenden Land Absurdistan. Und das hat dann in Hinsicht auf die grotesk konstruierte Handlung von „Cosi fan tutte“ doch eine Berechtigung.

Fritsch gönnt seinen Sängerinnen und Sängern einige markante Aktion, in manchen Szenen aber auch nur sehr wenige. Arien werden oft direkt ins Publikum gesungen, bei Duetten stehen die Beteiligten nur still und halten Händchen. Allerdings lässt er alle oft unisono zum Takt der Musik in den Knien wippen. Man muss darin keinen tieferen Sinn suchen, sondern es als Spaß an der Groteske werten. Don Alfonso ist hier kein weiser, zynischer Philosoph, sondern eher eine Knallcharge. In seiner roten Uniform sieht er aus wie ein Hotelportier. Allerdings taucht er ständig und überraschend in jeder Szene auf, was seine Funktion als Drahtzieher dieser Liebeswette nachhaltig verdeutlicht. Dorabella und Fiordiligi stehen oft wie unnahbare Püppchen oder wie Kleiderständer herum. Sie unterscheiden sich kaum in ihren Reaktionen, sondern eigentlich nur in der Farbe ihrer Kleider: Blau (Treue) bei der zunächst standhafteren Fiordiligi, Rot (Feuer) für die eher entflammbare Dorabella. Wenn Ferrando und Guglielmo sich verkleiden, verwandeln sie sich mit ihren fellartigen Gewändern und den langen Zottelhaaren in eine Mischung aus Yeti und Neandertaler. Und die wuselige, fast kahlköpfige Despina ist mit ihrem roten, gebauschten Kleidchen und den staksigen Beinen eine Art Kobold - fast wie der Puck im „Sommernachtstraum“. Victoria Behr zeichnet für diese Kostüme verantwortlich.

Es sind nur wenige Zutaten (etwa das Stottern von Ferrando oder die kleinen Cembalo-Einschübe), in denen Fritsch über das Ziel hinausschießt. Ansonsten spult er die Oper in geordneten, komödiantischen Bahnen ab, was ihm uneingeschränkten Publikumszuspruch sichert.

Den gibt es auch für die musikalische Seite. Sébastien Rouland am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg sorgt für eine klare, in ihren Tempi und Proportionen ausgewogene Wiedergabe. Gleich die munter sprudelnde Ouvertüre nimmt für sich ein. Das hochgefahrene Orchester zeigt sich in bester und differenzierter Klangkultur. In gewohnter Pracht tönt der von Eberhard Friedrich einstudierte Chor.

Mit Maria Bengtsson steht eine attraktive Besetzung für die Fiordiligi zur Verfügung. Auch die heikle Felsenarie bewältigt sie, zumindest in der frei strömenden Höhe, sehr souverän. Das Rondo im 2. Akt gelingt ihr grandios. Idra Aldrian hat die Dorabella sehr kurzfristig übernommen und sich darstellerisch und stimmlich mit schlankem Mezzo gut in die Inszenierung eingefunden. Sylvia Schwartz ist die Despina. Sie bleibt vor allem als „Type“ in Erinnerung, kann ihrem etwas spitzen Sopran aber nicht immer die Schärfe nehmen. Dovlet Nurgeldiyev verströmt als Ferrando bei seiner gefühlvollen Arie „Un aura amorosa“ reinsten Wohllaut und besticht mit feinem Piano. Kartal Karagedik kann als Guglielmo mit sympathischerer Ausstrahlung und noblem Kavalierbariton für sich einnehmen. Pietro Spagnoli ist ein präsenter Darsteller, ein temperamentvolles „Bühnentier“. Sein Bariton ist allerdings sehr hell timbriert, da hätte man sich auch dunklere Farben gewünscht.

Seinem Hang zu komödiantischer Übertreibung lässt Fritsch in letzter Sekunde mit seiner „Choreographie“ beim Schlussapplaus dann doch noch freien Lauf.

Wolfgang Denker, 09.09.2018

Fotos von Hans Jörg Michel

 

 

 

 

 

 

Aufführung am 8.8.2018

Wiederauferstehung in Hamburg

Im Jahre 1912 kam es zu einem der dramatischsten Unglücke des 20. Jahrhunderts, dem Untergang der RMS Titanic auf seiner Jungfernfahrt, nachdem das Schiff mit einem Eisberg kollidierte. Das Musical basiert auf den Schicksalen der Menschen an Bord und versucht diese möglichst detailgetreu wiederzugeben. Es ist also weit weg von der allseits bekannten Hollywood-Liebesgeschichte, stattdessen wird der Zuschauer mitgenommen auf die Reise, stets in dem Bewusstsein, was am Ende passieren wird. Mit diesem Wissen des Zuschauers im Hintergrund „spielen“ Komponist Maury Yeston und Autor Peter Stone sehr geschickt, so dass ein emotionaler und bewegender Theaterabend mit einer der vielleicht schönsten Musicalkompositionen der letzten 25 Jahre entsteht. Die Broadway Inszenierung wurde 1997 mit insgesamt 5 Tony Awards ausgezeichnet, u. a. als bestes Musical, für die beste Musik und das beste Buch. In Deutschland feierte das Musical seine deutschsprachige Uraufführung Ende 2002 in der Neuen Flora, Hamburg. Nun bringt BB Promotion erstmals die hochgelobte englischsprachige Tournee-Produktion nach Deutschland in die nur rund 3 km von dort entfernt liegende Hamburger Staatsoper.

Regisseur Thom Southerland legt bei seiner Inszenierung großen Wert auf die Vorstellung der Personen, wie es das Buch vorsieht und verzichtet auf unnötiges Beiwerk. Bereits in dem Moment wo der Zuschauer den Saal betritt, erblickt er den Schiffskonstrukteur Thomas Andrews (wunderbar besetzt mit Greg Castiglioni) bei der Arbeit, im Hintergrund aufgeregtes Stimmengewirr kurz vor dem ersten Auslaufen der Titanic. Das Musical beginnt dann mit dem Eintreffen der ersten Passagiere, streng unterteilt nach erster, zweiter und dritter Klasse und dem Beladen des Schiffes. Hierbei wird der vordere Zuschauerraum geschickt eingesetzt um die Größe des Schiffes bildlich darzustellen. Im ersten Akt nimmt sich das Stück viel Zeit die vielen Passagiere, die das Schiff größtenteils mit großen Wünschen und Hoffnungen betreten, etwas genauer vorzustellen. Da wären beispielsweise die drei irischen Kates, die in Amerika ein neues und besseres Leben beginnen wollen oder der Heizer Barrett (Niall Sheehy), der auf der Titanic anheuert und bereits frühzeitig die Gefahren der ständig höheren Knotenzahl erkennt, hieran aber auf Grund der strikten Klassenordnung an Bord nichts ändern kann.

Der Inhaber der White-Star-Flotte J. Bruce Ismay (Simon Green), ebenfalls an Bord, wenn auch später mit dem ersten Rettungsboot verschwunden, ist stets darauf bedacht, einen neuen Weltrekord für die Überquerung des Atlantik aufzustellen. Hierfür schreckt er auch nicht davor zurück Kapitän Edward Smith (Philip Rham) mehrmals unter Druck zu setzen. Ganz anders dagegen, das rührige Seniorenpaar Ida und Isidor Straus (Judith Street und Dudley Rodgers), Isidor weigert sich trotz seiner hohen Position als ehemaliger Abgeordneter und als mehrfacher Millionär später das Rettungsboot zu betreten, bevor nicht alle Frauen und Kinder von Bord sind und seine Frau will ihn nicht alleine zurück lassen, so dass beide sehenden Auges und bei vollem Bewusstsein lieber den gemeinsamen Tod wählen um den Platz im Rettungsboot anderen zu überlassen. Alle Personen und kleineren Geschichten nun hier aufzuführen würde sicherlich den Rahmen sprengen, auch die durchweg hervorragende Besetzung mit insgesamt 25 Darstellern soll hier nur noch stellvertretend durch den Erste-Klasse-Stewerd Henry Etches, wunderbar dargeboten von Matthew McKenna gewürdigt werden. Ein Highlight des Musicals sind sicherlich die vielen Chorstücke, die sehr kräftig daherkommen, bei „Godspeed Titanic“ beispielsweise ergeben sich einige Gänsehautmomente. Nach dem eindrucksvoll inszenierten Zusammenstoß mit dem Eisberg zum Ende des ersten Aktes, widmet sich der deutlich kürzere zweite Akt dem unvermeidlichen Verlauf hin zur Katastrophe. Beeindruckend hierbei vor allem „The Blame“ bei dem sich Mr. Ismay, Mr. Andrews und Kapitän Smith gegenseitig die Schuld am Unglück geben.

Das Bühnenbild ist recht einfach gehalten mit einem großen Rahmen aus Metall, in dem durch eine verschiebbare Treppe weitestgehend das Geschehen am Schiff auf mehreren Ebenen dargestellt wird. Umso detailreicher dagegen die vielen Kostüme von David Woodhead, die schön der damaligen Zeit angepasst sind und vor allem die Mehrklassengesellschaft gut darstellen. Unterstützt wird das Bühnenbild durch ein gelungenes Lichtdesign von Howard Hudson wo der Bühnenraum beispielsweise im unteren Getrieberaum durch einen in rot schimmerndem Rauch dargestellt wird. Musikalisch kann man in Hamburg zwar nicht ganz mit der diesbezüglich wohl besten Aufführung bei den Bad Hersfelder Festspielen in den letzten Wochen mithalten, allerdings weiß auch das Orchester unter der musikalischen Leitung von Mark Aspinall zu gefallen.

Natürlich gibt es Unterschiede zwischen einem großen Symphonieorchester und einem technisch verstärkten kleineren Orchester, doch auch im zweiten Fall ist der Ton in der Hamburger Staatsoper erfreulich gut ausgesteuert, so dass auch hier dem Genuss des Abends nichts im Wege steht. Zum Ende gibt es daher zu Recht großen Applaus des Publikums und überraschend schnelle Standing Ovations des gesamten Saales, bei dem auch das ein oder andere Tränchen floss. Nicht zuletzt auch durch die Würdigung aller Opfer des Untergangs auf einer großen Gedenktafel als Schlussbild dieses wunderbaren Musicalabends. Leider ist das Stück nur noch bis zum 19. August 2018 in Hamburg zu sehen, als einzige Station dieser gelungenen Tourproduktion in Deutschland. Absolute Besuchsempfehlung.

Markus Lamers, 11.08.2018
Fotos: © Scott Rylander

 

 

Zum Zweiten

TITANIC

Premiere: 08.08.2018  

besuchte Aufführung am 10.08.2018

Spannend und bewegend

 

Der Untergang der „Titanic“, bei dem rund 1500 Menschen ums Leben kamen, liegt schon über hundert Jahre zurück, ist aber bis heute ein besonderer Mythos geblieben. Unzählige Filme und Bücher hat es dazu gegeben - und auch das Musical „Titanic“ von Maruy Yeston. Es wurde 1997 in New York uraufgeführt und ist seitdem erfolgreich in aller Welt gespielt worden, auch 2002 in Hamburg in der Neuen Flora.

Die Sommerpause der Hamburgischen Staatsoper wird nun mit einem Gastspiel der Londoner Neuinszenierung von 2016 überbrückt. Aber diese Produktion ist alles andere als ein Pausenfüller. Regisseur Thom Southerland sorgt mit knappen, aber präzisen Mitteln für einen spannenden und bewegenden Abend. Das Bühnenbild mit Stahlwänden an den Seiten und einer Kommandobrücke im Mittelpunkt ist effektvoll und gibt der Phantasie freien Raum. Die Szenerie lässt sich nahtlos in den Speisesaal, die Funkerkabine, den Heizerraum oder die „Katakomben“ der 3. Klasse verwandeln. Im ersten Teil geht es darum, die Charaktere des Schiffspersonals und der Passagiere einzuführen. Da gibt es Bruce Ismay (gespielt von Simon Green), den skrupellosen Direktor der „White Star Line“, der alle Warnungen des Konstrukteurs Thomas Andrews (Gregory Castiglioni) ignoriert, immer höhere Geschwindigkeiten anordnet und einen nördlicheren Kurs einschlagen lässt.

Der Kapitän (Philip Rham) fügt sich, erkennt aber später seine Schuld und erschießt sich. Eindrucksvoll sind der Auftritt und das Lied des Heizers (Niall Sheehy).

Unter den Passagieren finden sich Lady Caroline (Claire Marlowe) und ihr unstandesgemäßer Verlobter Charles (Stephen Webb), die zusammen durchbrennen wollen. Für anrührende Momente sorgt das alte Ehepaar (Dudley Rogers und Judith Street), das sich verliebt wie am ersten Tag zeigt und einen letzten Walzer tanzt. Ansonsten gibt es nur eine Tanzszene (Ragtime) in diesem Musical. Die aber gelingt rasant und schwungvoll. Die Unterschiede zwischen der 1. und besonders der 3. Klasse werden gut herausgearbeitet. Die Hoffnungen auf ein besseres Leben in Amerika, die in einer grandiosen Ensembleszene ausgebreitet werden, zerplatzen allerdings nach dem Zusammenstoß mit dem Eisberg wie Seifenblasen.

Auch die Euphorie beim Ablegen des Schiffes, gepaart mit Überheblichkeit und fester Technikgläubigkeit, wird sinnfällig verdeutlicht. Am Ende stehen die Überlebenden aufgereiht und ziehen bittere Bilanz. Diese eindrucksvolle Szene mutet an wie ein Requiem.

Die Musik von Maury Yeston ist abwechslungsreich und melodiös. Das Herzstück sind die zahlreichen Chorszenen, die sich in prachtvollem Klang entfalten. Die Stille („No moon“) vor dem Crash, in die sich die immer bedrohlicheren, dunklen Orchesterfarben drängen, ist an suggestiver Wirkung kaum zu übertreffen. Der musikalische Leiter Mark Aspinall sorgt besonders hier für Gänsehaut. Das Ensemble überzeugt mit einer ausgefeilten Leistung. Viele Stimmen sind ausdrucksvoll und markant, einige allerdings eher nicht. Gleichwohl ist „Titanic“ unbedingt sehenswert.

 

Wolfgang Denker, 11.08.2018

Fotos: Scott Rylander

 

 

 

BENJAMIN

Uraufführung am 03.06.2018

Philosophische Gedanken zu großer Orchestermusik

 

Eine Oper über den Philosophen, Kulturkritiker und Übersetzer Walter Benjamin zu schreiben, ist per se ein ambitioniertes Unterfangen. Peter Ruzicka hat es im Auftrag der Hamburgischen Staatsoper getan, vor ihm allerdings auch schon Claus-Steffen Mahnkopf („Angelus novus“, 2000), Brian Ferneyhough („Shadowtime“, 2004) und Elliott Sharp („Port Bou“, 2014).

Ruzickas Oper „Benjamin“, die jetzt in der Hamburgischen Staatsoper in 90 pausenlosen Minuten uraufgeführt wurde, nennt sich „Musiktheater in sieben Stationen“. Dabei handelt es sich aber nicht um die verschiedenen Stationen von Walter Benjamins Leben, Die Librettistin und gleichzeitig auch Regisseurin Yona Kim sagt dazu: „Es geht nicht darum, die Biografie von Walter Benjamin nachzuerzählen, vielmehr ist es der Versuch eines Musiktheaters, das in seiner Dramaturgie die magische Gangart seines radikal grenzgängerischen Denkens aufnimmt, das kein abgeschlossenes Denkgebäude, kein Zuhause suchte, sondern das rastlose Reisen selbst war.“ Allerdings hat Yona Kim in ihr Libretto eine solche Fülle von philosophischen und weltanschaulichen Gedanken eingebracht, dass der Zuschauer es schwer hat, ihnen zu folgen.

Walter Benjamin befindet sich auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus. Er begegnet den Personen, die in seinem Leben eine besondere Rolle gespielt haben. Das sind Hannah Arendt, mit der er sich im Pariser Exil befreundete, Gershom Sholem, ein Freund aus Studententagen, Dora Kellner, mit der er verheiratet war, die Schauspielerin Asja Lãcis, die ihn zum Marxismus bekehren wollte und seine Geliebte wurde sowie - bei aller Gegensätzlichkeit -auch Bertolt Brecht.

Alle beschwören Benjamin, aus Europa zu fliehen. Der Stand der politischen Entwicklung wird laufend vom Chor gemeldet - etwa der Pakt zwischen Hitler und Stalin und der Einmarsch in Polen. Immer wieder gibt es gedankliche Rückblicke von Walter Benjamin. Seine Kindheit in Berlin wird erwähnt, die Zeit der Weimarer Republik, sein Aufenthalt bei Brecht in Skovsbostrand oder seine Zeit in Paris.

Trotz der zeitlichen und räumlichen Sprünge wird das Bühnenbild von Heike Scheele durchgängig beibehalten: eine monumentale Halle in einem teilweise zerstörten Gebäude. Es ist eine Art Wartehalle für die Reise ins Ungewisse, in der sich beeindruckend ein Koffer an den anderen reiht. Aber noch mehr erinnert sie an die Ruine einer riesigen Bibliothek. Es ist eine bunte Gesellschaft, die sich dort aufhält. Blickfang ist Asja Lãcis in ihrem langen, knallroten Paillettenkleid, zu dem sie eine russische Militärmütze trägt. Sie wirkt wie ein exotischer Paradiesvogel, was durch die blitzenden Koloraturen von Lini Gong noch unterstrichen wird. Der Liebesziehung zwischen ihr und Walter Benjamin geben die Librettistin (und die Regisseurin!) breiten Raum. Überhaupt gibt sich die Regie so detailverliebt, dass man alle kleinen Begebenheiten gar nicht so schnell erfassen kann. Es passiert in jeder Ecke etwas. Das von Asja gegründete Kindertheater wird von den Hamburger Alsterspatzen (Einstudierung Jürgen Luhn) vorgeführt, ebenso die Schachpartie zwischen Brecht und Benjamin. Die mal kraftvoll ausgesungenen, mal geflüsterten Chorauftritte geraten eindrucksvoll (Einstudierung Eberhard Friedrich).

Peter Ruzicka hat die musikalische Leitung am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters persönlich übernommen. Seine Musik ist in den reinen Orchesterpassagen, von denen es viele gibt, am eindrucksvollsten. Hier entwickelt sie eine überwältigende Kraft, eine mitunter betörende Sinnlichkeit. Was die Pauken und das schwere Blech an Urgewalt entfesseln, ist ein besonderes Hörerlebnis. Dann gibt es (speziell in der sechsten Station) eine ätherisch verklärte Innigkeit, ein raffiniert aufgebautes Klanggeflecht, das entfernt an „Parsifal“ erinnert. Die letzte Szene wirkt da musikalisch fast überflüssig.

Abgesehen davon, das viele Texte gesprochen und nur von Musik untermalt werden, ist Ruzickas Behandlung der Singstimmen vor allem dem Sprechgesang verpflichtet, auch wenn die eine oder andere „Kantilene“ aufblitzt.

Die Maske hat den Bariton Dietrich Henschel perfekt in Walter Benjamin verwandelt. Er gestaltet seine Partie mit sonorem Klang durchweg überzeugend. Das gilt auch für die anderen Partien, insbesondere für die bereits erwähnte Lini Gong, aber auch für Dorottya Láng (Hanna Arendt), Andreas Conrad (Bertolt Brecht), Tigran Martirossian (Gershom Sholem) und Marta Swiderska (Dora Kellner). Obwohl das Werk durchaus schwere Kost ist, konnten sich Peter Ruzicka und alle Mitwirkenden den uneingeschränkten Jubel des Publikums sichern.

Wolfgang Denker, 04.06.2018

Fotos von Bernd Uhlig

 

 

DIE ZAUBERFLÖTE

Vorstellung 9.5.2018

Am Sonntagnachmittag verwandelte sich die Bühne der Staatsoper Hamburg einmal mehr in das LED – glitzernde Reich, in dem Regisseurin Jette Steckel und ihr Team Tamino (Dovlet Nurgeldiyev) nach vielen Prüfungen, mithilfe von drei Knaben, drei Damen und nicht zuletzt seinem Freund Papageno (Zak Kariithi), seine Liebe Pamina (Olga Kulchynska) finden lässt. Steckel macht daraus eine Art Retrospektive, eine Erinnerung des gealterten Taminos.

Wir erleben ihn als Jungen, der von den drei Damen (Iulia Maria Dan, Nadezhda Karyazina, Ruzana Grigorian) verhätschelt wird. Von frühester Kindheit an wird er von Papageno begleitet, dessen Verständnis von Lebensfreude sich auf die einfachen Dinge beschränkt. Tamino hingegen sucht nach einem tieferen Selbst, lässt sich dabei von der Königin der Nacht (Jessica Pratt) und Sarastro (Wilhelm Schwinghammer) manipulieren und leiten. Bis er, wieder ein alter Mann, reif ist für eine reife Liebe und ein gemeinsames Leben mit Pamina.

Mozarts Zauberflöte, ein Werk, das immer wieder neu interpretiert, gedeutet und verstanden wird. Es gilt als Meisterwerk, als Märchen und wurde sogar auch schon „Machwerk“ genannt. Die Zauberflöte soll Geheimbotschaften enthalten und auch eine nicht allzu hohe Meinung von Frauen vermitteln und vieles mehr.

Nur bei einer Sache streiten sich die Geister nie: Bei der gewaltigen Schönheit von Wolfgang Amadeus Mozarts Musik, die das Publikum durch die Wirren der Geschichte trägt. Die es, einhüllt in Klänge, die machtvoll hallend oder subtil leichtfüßig, in knapp drei Stunden, alle Facetten der Emotionen des Daseins durchleben lässt.

Generalmusikdirektor Kent Nagano entlockte, durch für ihn, eher sparsamen aber darum um so effizienteren Bewegungen, dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg, Töne die es leicht machten, sich der Faszination der Musik einfach hinzugeben. Es ist nicht immer so, aber gestern übersetzten Nagano und sein Orchester Mozarts Sprache so, dass die Spannung und die Freude nicht nur auf der Bühne zu sehen, sondern auch aus dem Graben zu hören waren.

 

Für sichtbare Freude und Spannung sorgen auch die kleinen aber doch wirksamen Veränderungen, die an der Inszenierung vorgenommen worden. Durch das Bühnenbild von Florian Lasche das aus langen LED-Leuchtschnüren besteht, die ihre Farben ändern und auch Gesichter aufleuchten lassen, sind technische und tiefgreifende Änderungen nicht möglich. In der Spielweise der Akteure jedoch schon. Hier und da sind kleine Späßchen, kleine Gesten eingebaut, die nicht nur die zahlreichen Kinder im Publikum begeistern. So macht der sehr füllige Sarastro bevor er in den Kreis steigt, der ihn über das normale Volk erhebt, Stretching-Übungen, während die Königin der Nacht keck über eine Sonnenbrille lugt. Kleine Interaktionen, wie das gemeinsame Singen des Liedes „Das klinget so lieblich, das klinget so fein“, fördern so manchen geschulten Sopran zutage. Und auch Papagenos mehrmalige Frage nach dem Namen der unbekannten Schönen trägt, wenn auch nur, scheue Früchte. Was beim Lesen vielleicht albern anmuten mag, gibt im Ganzen gesehen, der polarisierenden Produktion jedoch den Schubs in die richtige Richtung, den berühmten „letzten Kick“.

 

Was sich auch auf die Spielfreude der Sänger zu übertragen scheint und den LED-Produktionen – zum Beispiel des Gesichts von Sarastro – eine faszinierende Lebendigkeit. Denn Wilhelm Schwinghammer gelingt es bei seiner Arie „O Isis und Osiris“ und auch bei „In diesen heil‚gen Hallen“ einen nie respektlosen, doch leicht selbstironischen Zug, um den kunstvollen Lichtermund zu suggerieren. Auch aus dem Orchestergraben trägt sein volltönender Bass und und übertragt im gesamten Tonregister Sicherheit in der Stimmführung und Kraft.

Kraftvoll in Stimme und Spiel ist auch Zak Kariithi als Papageno. Der junge Kenianer wirbelt über die Bühne und auch durchs Publikum, Mal blitzen seine Augen schelmisch, mal scheint er in Körperhaltung und Gesang tatsächlich das das Lid der Welt in sich zu tragen. Sein Bariton tönt verhältnismäßig hell. Hier und da blitzen, – ungebrachte?- Vergleiche zu berühmten Kollegen aus früheren Zeiten auf. Doch fallen sie nicht wirklich zu Kariithis Ungunsten aus, da der knapp 30-jährige gerade am Anfang seiner Karriere steht und somit noch viel Zeit hat, seine Fähigkeiten weiter zu entwickeln.

Noch immer nicht am Limit seiner Fähigkeiten angekommen zu sein scheint Dovlet Nurgeldiyev. Das gilt vor allem für seinen darstellerischen Ausdruck, vor wenigen Jahren noch eher zurückhaltend, bedient er sich heutzutage nun nicht des Gegenteils der Übersteigung, sondern wird immer freier und authentischer. Beeindruckend seine Darstellung des alten, zitternden, von einem Herzanfall geschwächten, Mannes. Befreiend aber sein Humor im Zusammenspiel mit seinen anderen, ebenso überzeugenden Kollegen. Schon immer hingegen war er bekannt für eine ungewöhnlich schöne Tenorstimme. Lyrisch, weich und nicht wie bei seinen Kollegen aus dem dramatischen Fach, mit strahlendem Stahl in der Stimme. Dafür aber mit leuchtendem Gold in der Kehle. Wirkten vor zwei Jahren einige der Spitzentöne seines „Dies Bildnis ist bezaubernd schön“, angestrengt und unsicher, so schweben sie nun federleicht die Ohren umschmeichelnd, durch den, fast ausverkauften Saal.

 Etwas schwer tut sich Jessica Pratt mit der Leichtigkeit ihrer Koloraturen bei ihrem ersten Auftritt „ Oh zittre nicht ..“und dem Bravourstück „Der Hölle Rache …“ Dazwischen jedoch hat ihr Sopran alle Facetten von beschwörend bis pathetisch bis rachsüchtig zu bieten, so klar und strahlend, dass kaum Wünsche offen bleiben. Zumal die Königin der Nacht, eine tragende Rolle der Oper, ja nicht mehr als eben diese beiden sehr anspruchsvollen Arien hat, um das Publikum für sich zu gewinnen.

Olga Kulchynska, die erst kurzfristig als Pamina eingesetzt wurde, gelingt es schnell, die Zuschauer mit ihrem ungekünstelt geführten, jugendlich leichten Sopran, für sich einzunehmen.

Sehen wir Tamino zuerst gealtert, um dann seinen Lebensweg zu verfolgen, sehen wir Pamina anfangs als Lichterprojekion eines Kindes, das dann dargestellt von Kulchynska, vom jungen Mädchen zu alten Frau wird. Kulchynska nimmt das Publikum mit auf diese Reise des Reifens. Nicht nur ihr Spiel, auch ihr stimmlicher Ausdruck scheint sich anzupassen.

Ein Ensemble, zu dem nicht zuletzt auch der momentan auffallend positiv disponierte Chor der Hamburgischen Staatsoper gehört,und natürlich die Damen und Herren in den kleinen doch zumeist gut besetzten Nebenrollen wie Iulia Maria Dan, Nadezhda Karyazina, Ruzana Grigorian, Narea Son (Papagena), Peter Galliard (Monostatos) und Alexander Roslavets (Zweiter Geharnischter).

Scheint eine Vorstellung am Nachmittag auch wie ein, wenn auch nicht sehr scharfes zweischneidiges Schwert, da es zwar Familienfreundlich, aber nicht unbedingt zu 100% „Sängerrhytmusfreundlich“ ist, so war die gestrige Zauberflöte dennoch ein Genuss, der Sonnenschein und Sommerhitze vergessen ließ. Er schenkte Wärme und Sonne anderer Art.

Birgit Kleinfeld 9.5.2018

Credits (c) Arno Declair / StOp Hamburg

 

TOSCA

besuchte Aufführung am 17.04.2018

 

Seit dieser Spielzeit hat die Hamburgische Staatsoper ein neues Format: „Italienische Opernwochen“ heißt es. Der Start erfolgte am 11. März mit eine Neuinszenierung von Verdis „Messa da Requiem“ (wir berichteten), gefolgt von mehreren Aufführungen von „Madama Butterfly“, „La Traviata“, „Aida“ und „Tosca“.

Eine mit Anja Harteros, Jonas Kaufmann und Franco Vassallo hervorragend besetzte „Tosca“ (in der bewährten Inszenierung von Robert Carsen aus dem Jahr 2000) markierte den grandiosen Abschluss dieser ersten „Italienischen Opernwochen“. Die Vorstellung war seit Monaten ausverkauft, nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil sie den einzigen Auftritt von Jonas Kaufmann in dieser Spielzeit an der Hamburgischen Staatsoper markierte.

Kaufmann erfüllt mit seinem virilen, baritonal gefärbten Tenor als Cavaradossi alle Erwartungen und ruft gleich mit seiner Auftrittarie „Recondita armonia“ Beifallsstürme hervor. Beim Duett mit Tosca im 1. Akt schöpft er klanglich aus dem Vollen und sorgt, gemeinsam mit Anja Harteros, für üppigsten Wohllaut. Seine lang ausgehaltenen „Vittoria“-Rufe beeindrucken durch Kraft und Intensität. Bei „E lucevan le stelle“ zeigt sich Kaufmann als feinsinniger Lyriker mit viel Piano-Kultur. Und bei „O dolci mani“ legt er eine zu Herzen gehende Zärtlichkeit in seine Stimme.

Anja Harteros ist eine Tosca der Superlative. Gerade hat sie in Salzburg in dieser Partie Triumphe gefeiert. Ihre leidenschaftliche Darstellung und ihre innige Gestaltung von „Vissi d’arte“ lassen keine Wünsche offen. Harteros und Kaufmann sind eine ideale Kombination für Tosca und Cavaradossi. Aber auch wie Harteros ihr „Duell“ mit Scarpia gestaltet, ist von der ersten bis zur letzten Sekunde von atemberaubender Spannung und Intensität geprägt.

Mit Franco Vassallo als Scarpia hat sie einen gleichwertigen Gegenspieler, der keinen Zweifel an seinem skrupellosen Machtmissbrauch aufkommen lässt. Schon bei seinem imponierenden ersten Auftritt verdeutlich Vassallo die Gefährlichkeit dieses Polizeichefs. Vassallo formt mit differenziertem Gesang und auftrumpfender Klangfülle alle Facetten dieser Partie.

Als Vierter im Bunde ist der Dirigent Pier Giorgio Morandi zu nennen, der besonders die Dramatik des 2. Aktes zuspitzt, der aber auch im „Te Deum“ Chor und Orchester zu einem überwältigenden Höhepunkt führt.

Auch in der nächsten Spielzeit wird es vom 10. März bis 6. April „Italienische Opernwochen“ geben, allerdings ohne Jonas Kaufmann. Der tritt dafür am 16.4.2019 in „Carmen“ auf.

Wolfgang Denker, 18.04.2018

Credits (c) Arno Declair / StOp Hamburg

 

 

MESSA DA REQUIEM

Premiere am 11.03.2018

Tod in Häuserschluchten

Über Giuseppe Verdis „Messa da Requiem“ gibt es das Bonmot, dieses Requiem sei Verdis beste Oper. Und Hans von Bülow bezeichnete es dereinst gar als „Oper im Priestergewand“. Aber das bezieht sich natürlich auf die Musik, es gibt ja keine eigentliche Handlung. Eine solche hat der Regisseur Calixto Bieito auch nicht erfunden. Er beschränkte sich darauf, die Abschnitte des Requiems assoziativ zu bebildern. Und wer hier nun Exzesse und skandalträchtige Phantasien erwartet hatte, wurde enttäuscht.

 

Selten hat sich Bieito bei einer Inszenierung so zahm gegeben wie hier - zum Glück für die Musik, die sich unter der Leitung von Kevin John Edusei in ihrer ganzen Pracht entfalten konnte. Edusei und das Philharmonische Staatsorchester offerierten eine breite dynamische Palette, die von zartesten Geigentönen bis zu den machtvoll aufgebauten Klängen des Jüngsten Gerichts reichte. Eindruckvoll der Klang der von oben tönenden Posaunen, berührend das innige Flehen um Gnade. Der Chor zeigte sich dabei in imponierender Bestform. Eberhard Friedrich hat hier einmal mehr hervorragende Arbeit geleistet. Auch bei den Solisten gab es durchweg gute und homogene Leistungen. Maria Bengtsson konnte mit ihrem lyrischen Sopran weitgehend überzeugen, obwohl man manche Passagen schon schwebender und ätherischer gehört hat. Nadezhda Karyazina führte einen glutvoll geführten Mezzo ins Feld, Dmytro Popov glänzte nicht nur bein „Ingemisco“ mit kraftvollem, höhensicherem Tenor und Gábor Bretz sorgte mit seinem schlanken Bass für reinstes Balsam.

Und die Inszenierung? Die Bühne von Susanne Gschwender zeigt ein riesiges Holzregal, in dem die Protagonisten mitunter wie in einem Setzkasten sitzen. Die Regalteile verschieben sich und wecken die Assoziation von Schluchten zwischen stilisierten Hochhäusern. Zunächst sieht man eine mit ihrem Kind ballspielende Familie. Kinder, die immer wieder in diesen Häuserschluchten spielen, symbolisieren die Hoffnung, die der Gesellschaft versagt scheint. Denn Bieito sieht für sie keine Erlösung. Schmerz und Trauer bestimmt das Schicksal der Solisten: Die Mezzosopranistin ist zwischenzeitlich an das Regal angeschmiedet, setzt sich das Messer an die Kehle und lässt das Blut auf ihr knallgelbes Kleid rinnen. Beim „Offertorium“, wo von Opfern und Gebeten die Rede ist, wird eine Nackte wie ein Opfer aufgebahrt. Die Sopranistin ist durchweg eine Leidensfigur, die vom Chor attackiert wird. Der reckt oft die Arme flehentlich zum Himmel. Aber alles ist vergebens. Am Ende liegen alle wie tot da.

Bieitos Bebilderung des „Requiems“ ist dennoch nie verstörend oder ärgerlich. Aber letztendlich ist sie auch kein Gewinn, denn Verdis Musik ist so stark und suggestiv, dass sie auch ohne szenisches Beiwerk ihre Botschaft verkündet.

Wolfgang Denker, 12.03.2018

Fotos von Brinkhoff / Mögenburg

 

 

 

FIDELIO im Wald

Premiere am 28.01.2018  

besuchte Aufführung am 01.02.2018

 

VIDEO

 

Warum haben der Dirigent Kent Nagano und der für die Regie verantwortliche Hausherr Georges Delnon nicht gleich die Ouvertüre zum „Freischütz“ oder zu „Hänsel und Gretel“ an den Beginn ihres „Fidelio“ gesetzt? Denn der Wald spielt hier eine zentrale Rolle.

Durch die große Fensterfläche von Roccos spießigem und scheußlich tapeziertem Wohnzimmer sieht man ihn in verschieden Variationen, mal in saftigem Grün, mal in fahler Beleuchtung und am Ende gar neblig und kahl von Schnee bedeckt (Bühne von Kaspar Zwimpfer). Fast immer wenn jemand von draußen dieses Wohnzimmer betritt, ist Hundegebell zu hören - ein „running gag“ ohne tiefere Bedeutung. Die tiefere Bedeutung fehlt der Inszenierung eigentlich durchgängig. Sie ist mit ihrer überwiegend hilflosen Rampensteherei eher langweilig. „Abscheulicher, wo eilst du hin?“ oder die „Namenlose Freude“ werden sogar einfach nur vor dem geschlossenen Zwischenvorhang gesungen. Zudem gibt es ein paar entbehrliche Zutaten: Bevor die hier an den Beginn gestellte dritte Leonoren-Overtüre erklingt, die von Nagano und dem Philharmonischen Staatsorchester differenziert und eindringlich musiziert wird, klimpert Haustochter Marzelline am Klavier und hackt Rocco in die Schreibmaschine.

In den Aktenschränken stapeln sich die Gefangenen. Florestan liegt in einer Badewanne wie Jean Paul Marat - womit auch die Französische Revolution in den deutschen Wald verlagert wird. Diese Szene, bei der Rocco und Fidelio ein Grab in die Naßzelle schaufeln sollen, während Pizarro den Schauplatz lauernd umschleicht, ist am wenigsten gelungen. Auch die Idee, die wunderbare Einleitung zu Florestans Auftrittsarie dadurch zu verhunzen, dass Jaquino dabei mal eben Marzelline vergewaltigt, ist abwegig. Die Kunde von der Befreiung Florestans tönt schließlich aus den Lautsprechern eines Konzertschranks Modell „Fidelio“, den es in den 50er Jahren tatsächlich gab.

Licht und Schatten auf der musikalischen Seite: Falk Struckmann überzeugt als Rocco mit jedem Ton dank seiner kernigen Stimmsubstanz. Auch Simone Schneider kann mit ihrem etwas herben und dunkel gefärbten Sopran punkten, denn sie gestaltet die Partie mit Kraft und Emotionalität. Chistopher Ventris hingegen kommt als Florestan stellenweise einem Totalausfall gleich. Er hat mit der Rolle sehr zu kämpfen, wobei die exponierten Töne selten gelingen. Mélissa Petit gibt die Marzelline als koketten Teenager und überzeugt mit schlankem Soubrettenton. Werner von Mechelen singt den Pizarro nicht mehr als solide, wobei er aber die Gefährlichkeit der Figur kaum vermitteln kann. Thomas Ebenstein ist ein zuverlässiger Jaquino, während Kartal Karagedik als Don Fernando eher blass bleibt. Aufhorchen lässt hingegen Dae Young Kwon als 1. Gefangener. Der Chor (Eberhard Friedrich) beweist besonders im Finale opulente Klangfülle. Kent Nagano hat sicher schon inspirierter dirigiert, aber seine Wiedergabe kann insgesamt doch gefallen und kommt Beethovens „Fidelio“ näher als die Inszenierung.

Wolfgang Denker, 02.02.2018

Fotos von Arno Declair

 

 

 

Zum Zweiten

PARSIFAL

Dass der Maler, Theatermacher und Brecht- Schüler Achim Freyer nicht viel von über ein Werk gelegter Aktualisierungen hält, hat er des Öfteren mit seine Inszenierungen deutlich gemacht. Viel lieber legt er seine eigenen, die typisch Freyerschen Folien, als Klammer über die Theaterbühnen. Und da bei ihm Inszenierung, Licht, Kostüme und Bühnengestaltung aus einer Hand kommen, entsteht auch bei seinem PARSIFAL, an den er sich nun im hohen Alter von über 80 Jahren zum ersten Mal wagte, eine Art Gesamtkunstwerk, das erst mal theoretisch sehr gut mit Wagners Gesamtkunstwerk (wo Text und Musik sich so eindringlich zusammenfügen) zu harmonieren scheint. Wie erleben also auch hier die aus Freyers Arbeiten bekannten, dick weiss geschminkten Gesichter, akzentuiert mit kräftigen schwarzen Augenringen, auch schräg versetzten, was den Figuren etwas gruselig Fratzenhaftes verleiht, dazu die ebenfalls vorwiegend in Schwarz und Weiss gehaltenen, teils clownesken Kostüme. Die Kundry ist mit ihren bis zu den Füssen reichenden Dreadlocks ein archaisches Urweib - zwischen Gothic-Look und Erda - welches sie selbst im Klingsor-Akt bleibt. Das Verführerische, Sündige der Klingsor-Welt wird durch Blumenmädchen mit üppigen, aufgeblasenen Brüsten dargestellt, die aus einem Russ Meyer Film stammen könnten.

Klingsor selbst ist ein ganz bunter Vogel mit knallroten Haaren, lindengrünem Anzug und magentafarbener Riesenkrawatte, unter der er seine schmerzhafte, selbst durchgeführte Kastration verbirgt. Gurnemanz trägt quasi die Welt, Freyers sich nach oben spiralförmig fortsetzende Bühne, auf dem Kopf. Der an seinen Sünden und der Wunde leidende Amfortas trägt natürlich Dornenkrone und muss fortwährend die Haltung des Gekreuzigten einnehmen. Die Bühne wird hinten durch halbrunde Rampen abgeschlossen, unten und oben gespiegelt, so dass ein Effekt der Unendlichkeit entsteht. Sehr geschickt und auch sängerfreundlich gemacht. Sie ist mit einem gigantischen Gazevorhang verdeckt, auf den all die Gedankenfetzen, welche sich Freyer zum Werk gemacht hat, eingeblendet werden. Das reicht von SCHWARZ, TRAUM, SCHMERZ, SCHLAF, MITLEID zu WEIB, GEFAHR (!), bis zu LEIB, TOD, ERLÖSUNG, FLUCH und LUST. Sicher, dies sind die Ingredienzien von Wagners Schwanengesang, doch reicht es wirklich aus, diese nur als Wortfetzen dem Publikum quasi mit pädagogischer Pedanterie einzubläuen?

Im Schlussbild verdichten sich diese Projektionen, sie bleiben nun alle auf dem Vorhang stehen. Doch wirkliche Erlösung ist auf der Bühne nicht zu erleben, denn der ganze Abend wirkt trotz aller grotesker Elemente überaus statisch. Am Ende steht PARSIFAL wie ein irrer Cäsar da, die Bühne dekonstruiert sich zusehends, viele der mehr oder weniger rätselhaften Symbole fallen von den Wänden (Buchstsben, Ziffern - Hammer und Sichel sowie das Häschen bleiben aber). Die Zeiger der herunterfallenden Uhr sind nun blutrot - eine sehr pessimistische Sicht auf das Werk und die Welt. Auch das Mädchen mit dem leuchtenden Reifrock, welches vor den Gralsrittern am Ende des ersten Aktes langsam und linkisch mit seinem Bunny über die Bühne ging, ist nun im Hintergrund wieder zu sehen (Zitat aus Schlingensiefs PARSIFAL in Bayreuth?). Da schleicht sich ein krankhaft pädophiler Gedanke in die "keusche" Männerwelt der Gralsritter. Doch solche Aspekte werden eben nur angedeutet, (zu) vieles wird im Ungefähern, im Dunkeln gelassen, eine optisch etwas ermüdende Statik schleicht sich ein.

Das hat den Vorteil, dass man sich über lange Zeit vollständig auf die Schönheiten von Wagners Partitur einlassen kann, "die Kunst des Hörens, die lernen muss, wer das Werk begreifen will", wie Theodor W. Adorno zu Recht angemerkt hatte. Dazu hatte man im ersten und dritten Akt mehr als reichlich Gelegenheit, denn diese weihevolle Musik wurde vom Philharmonischen Staatsorchester Hamburg regelrecht zelebriert, mit einer Klangschönheit und Rundung, die einen völlig in ihren geheimnisvollen Sog riss. Das Tempo des Dirigenten, insbesondere im ersten Akt, war schon sehr gedehnt. Das muss man erst mal aushalten wollen, doch dafür wurde man belohnt mit Feinheiten der Musik, mit weich gezeichneten Farben und transparent evozierten Motiven. Dazu begeisterte der Gurnemanz von Kwangchul Youn, welcher seinen unendlich langen (manche sagen auch unnötig geschwätzigen) Erzählungen sonores, überaus wohl artikuliertes Profil verlieh und auch im dritten Akt kaum Ermüdungserscheinungen zeigte. Wolfgang Koch triefte als Amfortas vor Selbstmitleid - genau wie des sich für diesen gefallenen "Heldenritter" gehört - ein weinerlicher Antiheld, mit schön timbriertem Bariton. Die rätselhafte Kundry (ein Konglomerat aus Wagners Frauenbildern, Heilige, Dienerin, Verführerin, Sünderin, nach Erlösung Dürstende) ist ja die einzige Frau, welche sich in die hermetisch abgeriegelte Männergesellschaft verirrt. Claudia Mahnke verlieh ihr vokal ein herbes Profil, fand in der Verführungsszene und der anschliessenden Selbstoffenbarung im zweiten Akt zu sehr eindringlichen Piani, sanft schmeichelnd, ohne jegliche hysterischen Anflüge. Andreas Schager sang den Parsifal mit klarer Präsenz, jugendlich, kraftvoll, wobei er vor allem im dritten Akt nicht seinen allerbesten Tag zu haben schien, da im Forte die Stimme nicht immer ganz sauber intonierte. Grossartig gestaltete Vladimir Baykov den Horrorclown Klingsor, welcher, durch den Effekt der Verdoppelungen dieser Figur, dem Akt viel an szenischer Kraft verlieh. Sehr überzeugend sang auch Tigran Martirossian den alten Titurel, erst gekonnt etwas zittrig klingend (im Rollstuhl, mit geknickter Tiara), dann nach dem "Genuss" des Anblicks des enthüllten Grals zu Neuen Kräften gelangend. Sehr schön gestalteten die Blumenmädchen ihre Szene, weihevoll erklangen die Chöre der Gralsritter (Einstudierung: Eberhard Friedrich).

Wer also mit Freyers artifizieller und besonderer Ästhetik etwas anfangen kann, der kommt bei diesem PARSIFAL durchaus auf seine Kosten, wer Regiearbeiten mit konkreteren Aussagen und Stellungnahmen (auch provozierenden) bevorzugt, wird sich eher etwas langweilen und gerne die Augen schliessen.Werk:

PARSIFAL, das letzte Bühnenwerk Wagners, fügt sich nahtlos in sein Schaffen ein. Die Thematik des Erlösungsgedankens, welcher seit seinem FLIEGENDEN HOLLÄNDER sein Werk und seine (zum Teil kruden) Philosophien durchzogen hatte, wird in dieser Oper nochmals in aller Deutlichkeit veranschaulicht: Die Erlösung des Menschen von seinen Sünden durch eine von Mitleid erfüllte, reine Seele. Hier ist es Parsifal, der reine Tor, welcher durch Mitleid wissend wird.

Nach dem Willen Wagners (und vor allem seiner zweiten Frau Cosima) sollte PARSIFAL ausschliesslich in Bayreuth gespielt werden dürfen. Doch die Metropolitan Opera verletzte den Urheberrechtsschutz bereits 1903 mit einer szenischen Aufführung in New York. 1913 lief die offizielle Schutzfrist aus. Cosima kämpfte vergeblich um eine Verlängerung. Das Opernhaus Zürich zeigte die erste legitime und vollständige Aufführung ausserhalb Bayreuths.

Musikalisch gehört Wagners Partitur zum Erhabensten, was der Komponist geschaffen hatte, auch wenn, wie oft bei ihm, gewisse Passagen vor Geschwätzigkeit nur so strotzen (die unendlich langen Erzählungen Gurnemanz'). Doch dann beglückt die Musik wieder mit einem berührenden, nie leeren Pathos, einer unendlichen Schönheit, Tiefe und Reinheit, einem „ausserordentlichen Gefühl, Erlebnis und Ereignis der Seele im Grunde der Musik, das Wagner die höchste Ehre macht.“ (Friedrich Nietzsche, der sich von Wagner abgewandt hatte, nachdem er das Vorspiel I gehört hatte.)

Neben aller Erhabenheit und Schönheit der Musik ist PARSIFAL aber auch ein inhaltlich streckenweise kaum geniessbares Konglomerat aus christlichen (Fusswaschung, Taufe, Abendmahl, heilige Lanze, Christi Blut), buddhistischen (Figur der Kundry mit ihren Wiedergeburten, Verbot des Tötens von Tieren) und freimaurerischen (Initiationsriten, Männerbünde) Ingredienzen. Es wurde als unmenschliches, frauenfeindliches und die sterile Männerwelt und ihre militärisch-mönchischen Ideale verklärendes Spektakel bezeichnet. (Wapnewski). Der von Wagners Witwe Cosima begründete Kult der beinahe alljährlichen „Enthüllung“ des Grals, sprich Aufführung des PARSIFAL im Festspielhaus auf dem grünen Hügel, begründete den an pseudoreligiöse Hysterie gemahnenden Gottesdienstcharakter, welchen eingefleischte Wagnerianer in diesem Werk erleben wollen. Für andere hingegen war PARSIFAL (und seine Zelebrierung in Bayreuth) eine „Geschichte, die ordentlich schlecht riecht wie die Kirche, die nie gelüftet worden ist … eine Weihrauchmuffelei, eine ungesunde geistliche Wundmalverzückung … fast ein Brechmittel.“ (Elisabeth von Herzogenberg).

Kaspar Sannemann 5.10.2017

Bilder siehe unten Premierenbericht

 

PARSIFAL

Premiere am 16.09.2017

Bildgewaltiges Mysterienspiel

 

Für die Regie, die Bühnenausstattung und die Kostüme beim neuen Hamburger “Parsifal” zeichnet der inzwischen 83-jährige Achim Freyer verantwortlich. Freyer ist Maler (wie es auch Wieland Wagner war) - und das ist in seinen symbolkräftigen, phantasievollen Bühnenbildern und auch in den kunstvollen Kostümen mit ihren Masken und weiß geschminkten Gesichtern stets zu spüren. Freyers Inszenierung bezieht ihre Stärken aus dieser bildhaften Wirkung, weniger aus der Personenführung, die hier doch oft sehr statisch ausfällt. Im 3. Akt etwa passiert fast nichts, außer dass Parsifal und Gurnemanz in endlosen Wiederholungen die Arme zum Symbol des Kreuzes ausbreiten. Quälend oft passiert das und wirkt letztlich ermüdend.

Die Bühnbilder zeigen ein spiralenartiges Gebilde, das durch Spiegel zur Unendlichkeit geweitet wird. In Projektionen sind Zahlen, Buchstaben und geometrische Symbole zu sehen, wie man sie aus der Welt der Freimaurer kennt, aber auch ein Zitat des Schlingensief-Hasen sowie ein Sternenhimmel. Die Assoziationen zur “Zauberflöte” liegen nahe. Die Gralswelt, wie sie hier gezeigt wird, könnte auch für das Reich Sarastros stehen, der hier aber Gurnemanz heißt. Die Bühne ist überwiegend dunkel gehalten, sodaß die Ortung der in mehreren Ebenen postierten Sänger mitunter zum Suchspiel wird. Dennoch - dieser 1. Akt hat eine mystisch-szenische Geschlossenheit, die in ihrer rituellen Strenge und ihrer monochromen Farbgebung fast an eine Art Gottesdienst denken läßt, der mit Elementen eines Hexensabatts angereichert ist. Verstärkt wird der Eindruck noch dadurch, dass zu Beginn der Zuschauerraum ganz langsam und in fast unmerklichen Schritten verdunkelt und am Ende wieder erhellt wird. Die Zuschauer werden zum Bestandteil der “Gemeinde”. Freyer hat hier archaische Mysterien gekonnt in seine Bilderwelt übersetzt.

Ganz anders kommt der 2. Akt daher. Klingsor und sein Double zaubern mit pyrotechnischen Effekten. In seinem buten Kostüm mit der überdimensionalen Krawatte könnte er einem Zirkus entsprungen sein, zu dessen Personal auch der Harlekin Parsifal gehört. Bei den Blumenmädchen mit ihren Pappbusen in jeder Größe wird auf drastische Symbolik gesetzt. Bunte Luftballons schweben überall auf der Bühne. Der durch eine Neonröhre angedeutete Speer wirkt eher komisch. Kundry entwickelt nur stimmlich ihren Verführungszauber, optisch bleibbt sie die zottelige Urteufelin. Die Personenregie beschränkt sich, bis auf wenige Augenblicke, wieder auf beziehungsloses Herumstehen und direktes Singen ins Publikum.

Im 3. Akt fallen Schneeflocken, alles scheint in Kälte und Verfall erstarrt. Im Hintergrund ist zeitweilig eine bewegte Wasseroberfläche sichtbar. Die Wunden von Amfortas haben sich geschlossen. Der Spiegel senkt sich herab und der neue Gralskönig Parsifal schultert ihn wie Atlas das Himmelsgewölbe. Alles steht wieder auf Anfang. Es ist eine Inszenierung, die trotz bezwingender Details insgesamt doch zwiespätige Eindrücke hinterläßt.

Eindeutig positiv fällt die musikalische Seite aus. Kent Nagano und das Philharmonische Orchster Hamburg musizieren mit teilweise sehr zügigen Tempi. Die Verwandlungsmusiken im 1. und 3. Akt gelingen mit geradezu überwältigender Wucht. Die Orchesterfarben im Klingsor-Akt kommen sinnfällig zur Geltung. Großartig ist die Leistung des von Eberhard Friedrich einstudierten Chors, der mit satter Klangfülle überzeugt.

In der Titelrolle führt Andreas Schager seinen kraftvollen Heldentenor substanzreich und höhensicher durch die Partie. Vielleicht klang sein Ausbruch „Amfortas! Die Wunde!“ im letzten Monat in Bayreuth noch intensiver, aber insgesamt bietet er eine überzeugende Leistung. Das gilt auch für den souveränen Kwangchul Youn als Gurnemanz, der mit sattem Bass die Riesenaufgabe bewältigt und dessen Stimme nur in der Höhe etwas an Substanz verliert. Claudia Mahnke ist eine geheimnisvolle Kundry mit wandlungsreicher und durchschlagender Stimme, die selbst in der Verführungsszene noch ihre eigene Zerrissenheit durchscheinen lässt. Wolfgang Koch singt den Amfortas mit rundem Bariton fast zu nobel. Die Expressivität und das Schmerzvolle der Rolle hätte noch mehr ausgereizt werden können. Den Klingsor gibt Vladimir Baykov mit abgefeimter Dämonie. Der Titurel ist in der Gestaltung von Tigran Martirossian mehr als eine Nebenrolle.

Wolfgang Denker, 18.09.2017

Fotos von Hans Jörg Michel

 

 

 

 

Zum Dritten

DIE FRAU OHNE SCHATTEN

Vorstellung am 29.4.

Premiere am 16.4.2017

Spannende, tiefenpsychologische Vertikalinszenierung

Immer wieder drängt sich bei der „Frau ohne Schatten“ ein Vergleich mit Mozarts „Zauberflöte“ auf. In beiden Opern regieren Geisterwesen. Sarastro entspricht dem Geisterkönig Keikobad, nur das dieser niemals persönlich auftritt, die Königin der Nacht hat ihr Pendant wiederum in der Amme in der „Frau ohne Schatten“. Und wie bei Mozart haben wir auch bei Richard Strauss die doppelten Paare. Bei Mozart müssen diese aber erst zueinander finden und sich bewähren. Bei Strauss hingegen haben die beiden Paare, Kaiser-Kaiserin, beide Herrscher der südöstlichen Inseln in einem Geister- bzw. Traumreich, das von den sieben Mondbergen umschlossen wird, und das irdische Färberpaar einander bereits gefunden. Ihre Liebe aber ist gefährdet und droht zu zerbrechen. Sie muss sich erneuern und wird – hie wie dort – harten Prüfungen unterzogen.

In Carlo Gozzis „Turandot“ erscheinen gleichfalls ein Barak als Mentor von Prinz Kalaf und ein König Kaikobad, in dessen Diensten sich Kalaf als Gärtner verdient gemacht hatte. Der literarisch belesene und versierte Hugo von Hofmannsthal verwendete für sein dreiaktiges Libretto zur „Frau ohne Schatten“ neben Goethes „Das Märchen“ aus den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter“ (1795), Wilhelm Hauffs „Das kalte Herz“ (1827), Teile aus den „Geschichten aus tausendundeiner Nacht“ und sein eigenes Drama „Der Kaiser und die Hexe“ (1897). Der vom Schauspiel kommende Regisseur Andreas Kriegenburg rückt nun in seiner Inszenierung die namenlose Frau des Färbers Barak, gemäß der Absicht von Hofmannsthal und Strauss, in den Mittelpunkt und lässt sie zu Beginn – in leider nur schwer verständlichem Deutsch – einige Sätze murmeln: „Zu dir, zu dir! Nimm mich fort von hier… Ich will nicht!“. Dann wirft sich die Färberin erschöpft auf eine schäbige Matratze und erträumt den Inhalt der Oper, wobei sie ihr eigenes Schicksal jenem der feenhaften Kaiserin gegenüberstellt. Das Bühnenbild von Harald B. Thor ermöglicht eine spannende Vertikalreise, wie sie sonst nur im Rheingold anzutreffen ist. Oben das Geisterreich, in der Mitte die Bühne, unten die Welt des Färberpaares und den drei Brüdern des Färbers. Eine weiße Wendeltreppe dient der Überwindung dieser Spielebenen und erinnert an die biblische Jakobsleiter in Gen 28,11ff, die Arnold Schönberg zu seinem unvollendeten Oratorium „Die Jakobsleiter“ inspiriert hatte.

Hier steigen die Wesen aus der Geisterwelt zu den Menschen hinab. Und je nachdem, ob sich die Ereignisse in der Geister- oder der Menschenwelt ereignen, bewegen sich die drei Etagen nach oben oder nach unten. Die Doppelung der Kaiserin und Färberin im dritten Akt, die in Krankenhausbetten liegend über die Bühne geschoben werden, vermag als Paraphrase auf Pedro Almodóvars Film von 1988 “Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs“, hier in ihrem traumatischen Gebärzwang vorgeführt, nicht so recht zu überzeugen. In dieser Freud‘schen Psychoklinik „versteinert“ aber auch der in einem Rollstuhl sitzende Kaiser wie nach einem Schlaganfall. Die mehrheitlich weißen Kostüme von Andrea Schraad ermöglichen dem Personal des Geisterreiches, dem Geisterboten, dem Hüter der Schwelle und dem Damenchor anmutige tänzerische Bewegungen. Der Herrenchor wiederum bewegt sich als namenlose Masse in grauen Anzügen mit Krawatte und weißen Masken. Am Ende der Oper wird aus ihnen eine Schar Ballspielender Jugendlicher in bunten T-Shirts. Interessanter Weise verzichtete der Regisseur auf das Versinken der Färberwelt am Ende des zweiten Aktes. Dafür gestaltet er jene Szene in der der Kaiser vermeint, seine Gattin sei ihm untreu geworden, mit äußerster Brutalität, indem er sein Schwert in ihre Scheide stößt und die Amme danach eine Unmenge an gelben Stoffballen zur Wundstillung unter das Laken des im Krankenbett liegenden Doubles der Kaiserin schiebt. Parallel zum Happy End der Oper, in der die Färberin Barak auf der Wendeltreppe nach oben in die Geisterwelt zieht und beide, Kaiserin und Färberin sichtlich ihren Eisprung, ihre Mutterschaft, empfinden und kitschig auf weißen Parkbänken umringt von einer Horde von Kindern sitzen, inszenierte Kriegenburg aber auch einen negativen Ausgang, bei dem Barak um die Färberin, die aus ihrem Traum einer existenzialistischen Sinnsuche nicht mehr erwacht, trauert.

Für den erkrankten Kent Nagano war Axel Kober kurzfristig in die Bresche gesprungen und es gelang ihm, trotz weniger Verständigungsproben mit den Solisten einen ausgewogenen, spannungsreichen Abend am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters musikalisch zu leiten. In Hamburg kam, neben chinesischen Gongs, Windmaschinen, Castagnetten und einer Celesta auch eine Glasharmonika zum Einsatz. Dankenswerter Weise nahm sich der Dirigent immer dann zurück, wenn die drei Damen hörbar drohten, allzu sehr zu forcieren. Emily Magee hat die Kaiserin, laut Programmheft, bereits in der letzten Inszenierung von Keith Warner unter Simone Young 2007 gesungen. Zwar schien mir ihre Intonation nicht immer ganz rein und ihre Koloraturen bisweilen etwas schwerfällig, dafür gelangen ihr wunderschöne Gesangslinien und sie überzeugte vollends in ihrem Ringen um Annahme oder Verweigerung des Lebenstrankes, den ihr der (weibliche) Hüter der Schwelle tänzelnd überreichen möchte. Linda Watson feierte als nicht immer textverständlich, dafür aber auf ganzer Linie hochdramatische Amme ihr diabolisches Rollendebüt. Ein weiteres Rollendebüt gab Lise Lindstrom als Färberin, mit der Hofmannsthal Pauline, der Gattin des Komponisten ein poetisches Denkmal gesetzt hatte. Denn auch sie wollte zu Beginn der Ehe nicht auf ihre Karriere verzichten und versagte sich daher beharrlich dem Kinderwunsch ihres Gatten.

Sie ist keineswegs eine matronenhafte Frau, sondern eine junge, schlanke Frau auf der Suche nach Selbstverwirklichung und Emanzipation. Mit dem verständnisvollen Barak, einem Abbild des Komponisten, gab auch der polnische Bariton Andrzej Dobber sein gelungenes Rollendebüt. Den häufigen hysterischen Anfällen seiner Gattin begegnete er immer wieder mit geradezu stoischer Ruhe. Robert Saccà bot einen noblen, stimmlich etwas zurückhaltenden Kaiser. Alex Kim durfte in der stummen Rolle des androgynen Jünglings seine Verführungskünste an der Färberin auch in Gestalt des heiligen Sebastians – erfolglos - versuchen. Bogdan Baciu gab sein Rollendebüt als tänzelnder Geisterbote und Gabriele Rossmanith ergänzte rollengerecht als Hüter der Schwelle des Tempels und Stimme des Falken. Die drei Brüder Baraks, der Einäugige, der Einarmige und der Bucklige, wurden von Alexey Bogdanchikov, Bruno Vargas und Markus Nykänen spielfreudig interpretiert. Marta Swiderska, Mitglied des internationalen Opernstudios, war als geheimnisvolle Stimme von oben zu vernehmen. Die Stimmen der Wächter der Stadt gehörten zu Julian Arsenault, Alin Anca und Alexander Roslavets. Die drei Dienerinnen waren Diana Tomsche, Luminita Andrei und Marta Swiderska. Eberhard Friedrich leitete den Damenchor exzellent, ebenso Jürgen Luhn jenen der Hamburger Alsterspatzen.

Das Publikum des nahezu ausverkauften Hauses bedachte alle Mitwirkenden mit Applaus und Jubelrufen. Auch wenn nicht alles in dieser Produktion auf den ersten Blick schlüssig wirkte, muss sie als akribisch durchdacht und gelungen bezeichnet werden. Bravo!                                                             

Harald Lacina, 3.5.2017                                                       

Fotocopyright: Brinkhoff/Mögenburg

 

 

 

„Jetzt fehlt nur noch, dass sie Ostereier suchen!"

DIE FRAU OHNE SCHATTEN

Ein gut gemeintes, aber nicht restlos überzeugendes Plädoyer für Empathie und Verantwortung

2. Opernfreund-Kritik

Schon vor den ersten Takten der neuen Hamburger Frau ohne Schatten schleppt sich die Färbersfrau über die Bühne, murmelt (für mich) Unverständliches, bevor sie sich auf der rechten Seite auf ihr Lager wirft. Es ist diese Figur, die Andreas Kriegenburg ins Zentrum seiner Deutung der Oper stellt, ihre Flucht in eine märchenhafte Traumwelt (die Geschichte von Kaiser und Kaiserin in ihren japanisch anmutenden, komplett weißen Lagenlookkostümen von Andrea Schraad ist bloß imaginiert), weil sie den Druck und die Armut der schmutzigen, trostlosen Färberwelt mit ihren niedrigen Decken, billigen Möbeln und schmutzigen Kitteln nicht mehr aushält. Eine Wendeltreppe verbindet geschickt die verschiedenen Handlungs- und Bewusstseinebenen miteinander. Die junge Frau indes verliert mehr und mehr die Kontrolle über die Grenzen von Realität und Traum, der Regisseur lässt sie in von weißen Stäben durchzogenen Seelenräumen von Harald B. Thor, die bisweilen auch an die Anonymität einer Psychiatrie in der Entstehungszeit des Werkes erinnern, ihren eigenen Albtraum erleben, bis sie nach endlosen Kämpfen am Ende versteht, dass es die Kraft der Liebe und der Solidarität ist, die den Menschen in extremen Situationen überleben lässt – ein gut gemeinter Appell in einer Zeit, „in der das Irrationale, das Narzisstische und das Egomane Konjunktur haben und … Stimmen … lauter werden müssen, die nach Empathie und Verantwortung rufen“, wie Kriegenburg es formuliert. Leider verkompliziert er bei grundsätzlich enger Orientierung an Hofmannsthals Text in vielen Momenten die ja ohnehin nicht sehr übersichtliche Handlung zusätzlich durch die Verdopplung der Figuren der Kaiserin und der Färberin.

Zuschauer und Zuschauerinnen, die das Programmheft nicht genau gelesen haben, dürften damit ebenso überfordert gewesen sein wie mit der (nicht überzeugend autobiographisch motivierten) Einbeziehung christlicher Symbolik - der Kaiser trägt ein metallenes Folterwerkzeug auf dem Kopf, das an Jesu Dornenkrone erinnert, es gibt eine Anspielung auf den heiligen Sebastian. Leider fehlt es der Produktion streckenweise auch an der nötigen Spannung, es gibt viel Konventionelles zu sehen, Darsteller etwa, die bald eine sehr artifizielle Körpersprache umzusetzen haben, dann aber wieder so agieren, als hätte ihnen niemand Vorgaben gemacht. Eine echte Identifikation mit den Figuren und ihrem Schicksal fällt da schwer, und so dauert es bis zum dritten Aufzug, bis die Story wirklich anrührt, vor allem wenn Barak die kleinwüchsigen, in graue Anzüge gesteckten Menschlein von ihren Masken und Sakkos befreit und fröhliche Teenager in bunten T-Shirts darunter sichtbar werden, die sich im Park mit allerlei Ballspielen vergnügen, während die beseelten Protagonistenpaare sich Frühlingsblumen schenken, Erdbeeren in den Mund stecken, auf den weißen Parkbänken die Hände nicht mehr voneinander lassen können und den Kindersegen bestaunen – „Jetzt fehlt nur noch, dass sie Ostereier suchen!", kommentierte eine Dame hinter mir und beschrieb die naiv-kitschige Idylle der in grünes Frühlingslicht getauchten Szene (der stets sich ändernden Beleuchtung von Stefan Bolliger kommt in dieser Produktion große Bedeutung zu, jede Stimmung wird farblich umgesetzt, jede Veränderung illustriert) damit ganz treffend. Für pessimistischere, nüchternere Zuschauerinnen und Zuschauer bietet die Regie immerhin einen Alternativschluss an: Die zweite Färberin sinkt im dritten Aufzug auf ihrem Lager nieder und erwacht nicht mehr aus ihrem Schlaf.  

Auch musikalisch sprang der Funke spät über, erst vor dem dritten Aufzug mischten sich ein paar Bravorufe in den eher höflichen, moderaten Beifall für Kent Nagano, der bis dahin eine tadellose, viele Feinheiten der komplexen Partitur hörbar machende, sorgfältig einstudierte Wiedergabe von großer klanglicher Schönheit leitete, die aber ähnlich wie das Geschehen auf der Bühne nicht recht unter die Haut ging und arg diskret blieb: Mir war bei aller kultivierten Klangschönheit in den ersten beiden Aufzügen manches zu glatt, zu weichgespült, zu gefällig. Für die Sängerinnen und Sänger müssen die große Zurückhaltung des Philharmonischen Staatsorchesters und das fleißige Einsatzgeben des Maestros freilich eine Offenbarung gewesen sein – ebenso wie die meist günstige Position weit vorn in wichtigen Momenten.


Emily Magee war schon in der Premiere der Vorgängerproduktion eine umjubelte Kaiserin, ich selber habe sie 2009 in Zürich in der Partie erlebt - ganz so selbstverständlich kommen die gefürchteten Töne über dem System acht Jahre später nicht mehr, der eine oder andere erfordert doch hörbare Arbeit, aber grundsätzlich bewältigt sie diesen Teil der Partie immer noch auf erstklassigem Niveau, während die Stimme sich leider in Mittellage und Tiefe überhaupt nicht weiterentwickelt hat, da rettet sich die Künstlerin allzu oft in wenig charmante, harsche Brusttöne und Sprechgesang, was mancher mit Expressivität verwechseln mag. Einen eher schwachen Eindruck hinterließ der rollenerfahrene Roberto Saccà als Kaiser, ein paar strahlende Acuti entschädigten kaum für viele graue, sehr verhaltene und mitunter an Markieren erinnernde Töne – da hatte Alex Kim als Erscheinung des Jünglings vokal fast mehr anzubieten als der bekanntere Kollege. Über den meisten Applaus konnte sich Andrzej Dobber freuen, der einen sehr anrührenden Barak gab, zu dem auch leichte Gebrauchsspuren auf der wuchtigen, aber diszipliniert eingesetzten, bei einigen hohen Tönen etwas Anlauf und Nachdruck benötigenden Stimme hervorragend passten - ein sehr gelungenes Rollendebüt. So uneingeschränkt kann ich das über Lise Lindstroms erste Färberin nicht sagen, die sich zweifellos mit Haut und Haaren auf die neue Aufgabe stürzte und optisch einigen Eindruck hinterließ, die sicher auch alle Töne für die Partie hat und sehr, sehr laut singen kann, deren schlanker Sopran aber eben doch eher zu einer Salome passt - mir fehlte der wirklich hochdramatische Aplomb, eine satte Tiefe, eine Durchschlagskraft, die nichts mit Lautstärke an sich zu tun hat, sondern mit einer besonderen Farbe, über den die großen Vorgängerinnen in Hamburg und anderswo verfügt haben, namentlich Gladys Kuchta, Birgit Nilsson, Gabriele Schnaut oder auch Linda Watson, die 2008 in Düsseldorf eine sehr beeindruckende Färberin war und die Partie im Herbst 2015 noch in Kopenhagen gesungen hat, bevor sie nun bei der Hamburger Premiere ins Mezzofach zurückkehrte und ihre erste Amme gab (im Oktober übernimmt sie an der Wiener Staatsoper die Babulenka in Prokofievs Spieler).

Eine raffinierte Darstellerin ist die Amerikanerin bekanntermaßen nie gewesen, diese Amme ist weniger eine verschlagene Schlange als eine maliziöse Majestät, vom Ausdruck her von ihrer Brünnhilde oder ihrer Turandot kaum zu unterscheiden - es ist immer Linda Watson, die eine Partie gibt, nie vergisst man die Interpretin hinter der Figur -, aber natürlich kann sie die Rolle wirklich singen, auch der zweite Aktschluss etwa brachte sie nicht in Schwierigkeiten, das Vibrato hielt sich in vertretbaren Grenzen, und insgesamt klang die Stimme weniger müde und grau als zuletzt im Sopranfach. Mit prachtvollem Bariton und großen Gesten ließ Bogdan Baciu als Geisterbote aufhorchen, Gabriele Rossmanith war eine ordentliche Besetzung des Hüters der Schwelle und des Falken, Marta Swiderska eine prägnante Stimme von oben, Alexey Bogdanchikov, Bruno Vargas und Markus Nykänen ergänzten das Ensemble als Baraks Brüder.

Thomas Tillmann 21.4.2017

Bilder siehe unten !

 

DIE FRAU OHNE SCHATTEN

16.04.2017

Gesanglich und musikalisch perfekt

TRAILER

Das ist ja mal ein interessanter Ansatz, die symbolbefrachtete Märchenoper DIE FRAU OHNE SCHATTEN ganz aus der Perspektive der "zweiten" Frau zu erzählen, der Färberin. Genau dies tut Regisseur Andreas Kriegenburg im beeindruckenden Bühnenbild von Harald B. Thor und mit den wunderbar luftigen, asiatisch angehauchten Kostümen von Andrea Schraad (für die Ebene der Geisterwelt mit Kaiser und Kaiserin) in dieser Neuproduktion an der Staatsoper Hamburg, die gestern Abend ihre zu Recht umjubelte Premiere feiern durfte.

Bei Kriegenburg beginnt die Oper nicht mit dem wuchtigen Keikobad-Motiv des Orchesters, sondern wir sehen die Färberin auf die Bühne taumeln, die Worte " Zu viel, zu viel - nimm mich fort von hier" flüstern. Sie besteigt quasi die Ebene des Geisterreichs im Traum - und alles, was nun kommt, ist eigentlich ein Traum (und manchmal auch nur ein Tagtraum) der Färberin. Oft sind im Verlauf des Abends die Figuren der Kaiserin und der Färberin verdoppelt, die Färberin sieht sich also quasi selbst in der Handlung, spürt ihren seelischen Zerfall, ihr unglückliches Dasein in der ärmlichen Umgebung mit ihrem braven, arbeitsamen Mann Barak, der ihr nicht das geben kann, wonach ihre Seele und ihr Leib dürsten. Der Regisseur zeigt dabei die Parallelen zwischen dem Befinden der Färberin und der Kaiserin deutlich auf: Beide sind sie immer wieder verhaftet in einem Leben, das sie nicht selbst gewählt haben und flüchten in Traumwelten - Sigmund Freuds Einsichten in die weibliche Hysterie werden an diesen beiden Figuren abgearbeitet.

Beide sind sie kinderlos, die Färberin und die Kaiserin, und trotz aller Umstände lieben sie ihre Männer, die Färberin vielleicht noch mehr als die Kaiserin. Das Schöne bei Kriegenburgs Inszenierung ist, dass er die Geschichte durch diese neue Perspektive mit der träumenden Färberin nicht kaputt oder unverständlich macht, im Gegenteil. Auch hier kommt es zur reinigenden Katharsis des Traums (ganz ähnlich wie bei Claus Guths Inszenierung, die vor einer Woche in Berlin Premiere hatte und vor fünf Jahren in Mailand zu sehen gewesen war, nur ist dort alles aus der Traumsicht der Kaiserin erzählt). Im Halbrund des eindrücklichen Bühnenbaus von Harald B. Thor - mit dem gigantischen Stangenwald und der Wendeltreppe, welche die Durchlässigkeit zwischen den beiden Welten ermöglicht, den beiden Ebenen der Menschen- und der Geisterwelt (das ist dann schon sehr beeindruckend, wenn das gesamte Bühnenbild hoch- oder niederfährt, um eine neue Spielfläche zu erschliessen) und den wunderschönen, stimmungsvollen Lichteffekten von Stefan Bolliger - lässt der Regisseur mit sparsamer Personenführung agieren, man könnte das abwertend als Rampengesang bezeichnen.

Aber mir ist das allemal lieber, als aufgesetztes, hysterisches Herumgewusel. So kann man sich auf den Text und die Musik konzentrieren und wird nicht durch verkopfte Regiemätzchen abgelenkt. Einzig die Aktschlüsse II und III sind etwas missraten. Im zweiten Akt, wo am Ende die Übermächte im Spiel sind und alles auseinander fallen sollte, passiert bei Kriegenburg gar nichts. Und der von Hofmannsthal und Strauss so idyllisch angelegte Schluss wird hier ohne doppelten Boden inszeniert, mit Ball spielenden Kindern in bunten T-Shirts. Das ist Kitsch pur und unerträglich bieder. Kann ja sein, dass er das Ende immer noch als Traum der Färberin gesehen hat, die sich die bürgerlich heile Welt nur imaginiert, doch wenn es so gemeint war, dann wurde das zu wenig deutlich.

Aber nichtsdestotrotz - szenisch ein bemerkenswerter Abend, bei dem man sogar die etwas ausgelutschten Symbole des Rollstuhls und des Krankenhausbettes aus der Nervenheilanstalt gerne in Kauf nimmt.

Das musikalische Glanzlicht setzten das Philharmonische Staatsorchester Hamburg und sein Chefdirigent Kent Nagano. So berührend, so kammermusikalisch fein durchgearbeitet, so subtil Akzente setzend, hat man Strauss Partitur noch selten erleben dürfen. Nagano verzichtete auf dynamische Exzesse, das war alles sehr ruhig, mit wunderbar herausgearbeiteten Kantilenen, mit einer gehaltenen Spannung sondergleichen. Das Orchester spielte mit einer berückenden Transparenz, herausragende solistische Einsätze wechselten mit opulentem, aber nie dick pastosem, Gesamtklang. Ein grandioses Erlebnis, nicht nur für die Zuhörer im Saal, auch die Sängerinnen und Sänger profitierten von diesem filigranen Zugang zu Strauss' Meisterwerk, denn nicht weniger als vier Rollendebüts in den Hauptpartien waren angesetzt.

Lise Lindstrom war eine blendend aussehende, glaubhaft agierende Färberin. Sie war wie eine Farah Fawcett in Lumpenkleidung! Ihre Stimme war sehr präsent, sie brauchte nie zu forcieren. Von der Farbpalette und den dynamischen Abstufungen her vielleicht noch eine Spur zu eindimensional, doch wenn man bei "Welt in der Welt" Gänsehaut kriegt, ist alles gut! Auch Barak, ihr Mann (der einzige neben dem nicht auftretenden Keikobad, der einen Namen trägt in dieser Oper) wurde von einem Debütanten gesungen: Andrzej Dobber. Der weltweit vor allem für seine Interpretationen von Verdis Bariton Rollen gefeierte Sänger erfüllte diese dankbare Rolle mit fantastischem Wohlklang, warmer, rund und sonor geführter Stimme, mit einer Eindringlichkeit, für die er am Ende auch den größten Jubel des Publikums für sich beanspruchen durfte. Wann hat man je das "Fürchte dich nicht" dermassen schön und rein gehört?

Linda Watson, einst eine gefeierte Färberin, ist nun ins Mezzofach zurückgekehrt und sang eine wunderbar gestaltete Amme, und ja, sie sang und keifte nicht, war von der Regie her nicht ganz so dämonisch angelegt, wie man es gewohnt ist - aber es ist immer gut, Seh - und Hörgewohnheiten zu hinterfragen. Ihr "Her zu mir" am Schluss des zweiten Aktes liess einem kalte Schauer über den Rücken jagen. Das vierte Rollendebüt gab Bogdan Baciu als Geisterbote: Bei seinem ersten Auftritt schien er noch etwas unter der Premierennervosität zu leiden, doch im dritten Akt strömte sein markanter Bariton dann herrlich. Versierte und bewährte Interpreten ihrer Partien sind Emily Magee und Roberto Saccà als Kaiserin und Kaiser. Emily Magee (mit den langen weissen Haaren sah sie aus wie Dame Gwyneth Jones) meisterte die schwierige "Vogel-Koloratur" des ersten Auftritts hervorragend, gestaltete die Erwachensszene des zweiten Aktes mit fiebriger Intensität und der dritte Akt, der ganz ihr gehört, war von zu Tränen rührender Eindringlichkeit ("Vater bist du's") mit ihrer Wandlung zur Empathie empfindenden gereiften Frau, ihrem Abschied aus der Geisterwelt und dem Hinfinden zum Menschsein.

Roberto Saccà sang den Kaiser mit beinahe liedhafter Gestaltung. Das alles war sehr zurückhaltend, kontrolliert und zum genauen Zuhören auffordernd, nie forciert die hohe Tessitura attackierend. Und doch, etwas mehr an heldisch glänzendem Aplomb hätten die beiden grossen Szenen des Kaisers und das Finale durchaus ertragen, vor allem weil Dobbers gewaltige Stimme Saccàs zarten Tenor in diesm Finale dann doch zu erdrücken drohte und die vokale Klangbalance ins Wanken geriet. Ausgezeichnet war Gabriele Rossmanith als Falke und vor allem als Hüter der Schwelle des Tempels - herrlich klar und rein! Imponierend auch Martha Świderska als Stimme von oben, sehr gut Baraks Brüder (Alexey Bogdanchikov, Markus Nykänen und Bruno Vargas). Alex Kim sang die Erscheinung des Jünglings (beim letzten Auftritt von den roten Pfeilen des Kaisers durchbohrt wie der Heilige Sebastian) mit einnehmend gefärbter Tenorstimme. Die Wächterstimmen aus dem Off am Ende des ersten Aktes, klangen zwar eindringlich, doch nicht allzu balsamisch. Diese Szene verfehlt aber ihre Wirkung nur selten - selten ist jedoch, dass es danach einige Sekunden der absoluten Stille im Saal gab, bevor der Applaus einsetzte. Das wünschte man sich öfter mal. Leider war das am Ende des letzten Aktes nicht mehr der Fall, einige Zuschauer klatschten laut los, bevor noch die letzten Akkorde gespielt worden waren. Doch der nachfolgende Jubel des Premierenpublikums für alle Beteiligten war verdient.

Bilder (c) Brinkhoff/Mögenburg / Staatsoper Hamburg

Kaspar Sannemann 20.4.2017

 

 

LULU

TRAILER

Premiere am 12.02.2017  

besuchte Aufführung am 15.02.2017

Eine Lulu der Sonderklasse

Alban Bergs Oper „Lulu“ dauert in Hamburg inklusive zwei Pausen geschlagene vier Stunden - und dabei wird nicht einmal die von Friedrich Cerha instrumentierte Version des 3. Aktes gespielt. Den gibt es trotzdem: Regisseur Christoph Marthaler und Dirigent Kent Nagano haben eine ungewöhnliche Lösung für Bergs unvollendete Oper gefunden. Der dritte Akt liegt nur als Particell vor. Johannes Harneit, Jochen Neurath und Nagano haben eine Fassung für Violine und Klavier eingerichtet, die sich als ungeheuer wirkungsvoll erweist und die Darstellung der Vereinsamung und der Verelendung Lulus noch intensiviert. Der eigentliche Clou besteht aber darin, dass nach den Worten „Mein Engel“, die die sterbende Gräfin Geschwitz ihrer geliebten Lulu zuruft, das komplette Violinkonzert von Berg gespielt wird. Berg hatte dem Konzert den Untertitel „Dem Andenken eines Engels“ gegeben und es der mit 18 Jahren verstorbenen Tochter von Alma Mahler gewidmet. Die hervorragende Solistin Veronika Eberle und das Philharmonische Staatsorchester Hamburg unter Kent Nagano sorgen für eine traumhafte Wiedergabe. Eberle spielt ihren Part auf der Bühne, im Hintergrund sind Lulu und vier Doppelgängerinnen zu sehen, die mit ruhigen Bewegungen eine Atmosphäre des Friedens und der Erlösung erzeugen. Dieser Schluss für Bergs „Lulu“ könnte berührender und überzeugender schwerlich gestaltet werden.

Die Lulu ist bei Marthaler tatsächlich mehr Engel als femme fatale. Eigentlich ist sie ein liebenswertes Mädel, das in ihrem blauen Bademantel fast staunend zur Kenntnis nimmt, was um sie herum geschieht. Erotik spielt zumindest bei ihr nur eine untergeordnete Rolle. Aber sie hat einen unbändigen Bewegungsdrang. Lulu hüpft und turnt, was das Zeug nur hält - anfangs aus jugendlicher Lebensfreude, im letzten Akt wohl eher als Mittel gegen die Kälte auf der Strasse. Barbara Hannigan ist diese Lulu der Sonderklasse. Sie lässt die Grenzen zwischen Gesang, Schauspiel, Tanz und Akrobatik verschwimmen. Wie sie bei aller Aktion, von der Rückwärtsrolle vom Tisch bis zu kopfüber an den Beinen hängend, stets die Kontrolle über ihre makellos geführte Stimme behält und die mit Schwierigkeiten gespickte Partie perfekt erfüllt, ist ein Ereignis.

Marthaler greift in seiner Inszenierung zu dem alten Trick der Bühne auf der Bühne. Der geht hier aber auf, weil er die Künstlichkeit der Charaktere regelrecht „vorführt“. All die Männer, die Lulu verfallen und an ihr zerbrechen, sind die Psychopaten. Nicht Lulu ist ihr Problem, sondern sie selbst. Lulu ist da eher normal. Marthalers Personenführung erweist sich in jedem Moment als stimmig, konsequent und nachvollziehbar. Eine Inszenierung, die ohne grelle Knalleffekte auskommt und ihre Wirkung aus einem ruhigen, fast sachlichen Erzählfluss entwickelt.

Anna Viebrock hat dazu sehr stimmige Bilder entworfen: Zunächst die Probebühne eines abgehalfterten Varietetheaters, dann den vertäfelten Salon eines Herrschaftshauses mit riesiger Treppe im Hintergrund und schließlich der kalte Platz, auf dem sich Lulus Schicksal vollendet. Hier kehrt Dr. Schön als Jack the Ripper zurück.

Rund um Barbara Hannigan agiert ein bis in die kleinste Rolle bestens besetztes Ensemble. Anne Sofie von Otter ist eine still leidende Gräfin Geschwitz, Jochen Schmeckenbecher der zunächst zynische, später auch körperlich gebrochene Dr. Schön. Seinen Sohn Alwa (mit roter, aufmüpfiger Frisur wie Campino) verkörpert Matthias Klink mit gleißendem Tenorglanz. Als Athlet und Tierbändiger überzeugt Zachary Altman ebenso wie Peter Lodahl als Maler, Sergei Leiferkus als Schigolch, Marta Swiderska als Gymnasiast und Martin Pawlowsky als Medizinalrat.

Kent Nagano am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters sorgt für eine kraftvolle, präzise und gleichermaßen aufwühlende Wiedergabe. Eine exemplarisch gut gelungene Inszenierung!.

Wolfgang Denker, 16.02.2017

Fotos von Monika Rittershaus

 

OTELLO

Premiere am 08.01.2017

Blut und Champagner

„Soll ich springen oder nicht?“ - Diese Frage stellt sich Desdemona in Verdis „Otello“ eher selten. Wohl aber in der Inszenierung von Calixto Bieito, die von der Staatsoper Hamburg aus Basel (2014) übernommen wurde. Desdemona hat nämlich den riesigen, knallgelben und die gesamte Bühne beherrschenden Hafenkran erklommen, wo sie nach den erfahrenen Demütigungen, die in einer Vergewaltigung durch Otello gipfelten, offensichtlich Suizid-Gedanken hat. Aber sie springt, nach einem berührenden „Lied von der Weide“ und dem „Ave Maria“, denn doch nicht. Gleichwohl kann sie ihrem Schicksal nicht entrinnen: Otello erwürgt sie in luftiger Höhe und klettert danach auf die weit in den Zuschauerraum ausgefahrene Kranbrücke, wo er elendiglich an einem Herzinfarkt verreckt.

Bieito hat sich in seiner Sicht weit vom eigentlichen „Otello“-Drama entfernt. Hier geht es nicht mehr um Seelenqualen und Minderwertigkeitskomplexe eines Außenseiters und die hinterlistige Intrige, hier geht es um das Thema Demütigung, Frauenfeindlichkeit und Flüchtlinge. Bevor Verdis fulminante Sturmmusik einsetzt, sieht man gefesselte Menschen hinter Stacheldraht. Ist Zypern ein zweites Lampedusa? Otello steht wie Macbeth mit blutverschmierten Händen da, die Flüchtlinge werden zynisch mit Champagner bespritzt, eine Frau wird misshandelt und einer der Flüchtlinge wird am Kran aufgeknüpft, wo er minutenlang zappelt, bis er leblos baumelt. Warum? Otello ist kein Schwarzer, sondern der Anführer einer moralisch degenerierten Gesellschaft. Desdemona ist das Luxusweibchen im schicken Pelzmantel an seiner Seite. Später versucht sie ihr Unglück mit Alkohol zu ertränken und torkelt betrunken über die Bühne. Da ist Jago, der zumeist wie ein zurückhaltender Kammerdiener agiert, fast die einzige, in sich gefestigte Figur. Beim Credo kommt er langsam aus der Bühnentiefe und wirft wie eine Nosferatu-Variation einen bedrohlichen, riesigen Schatten.

Bieitos Personenführung ist über weite Strecken sehr statisch. Man steht an der Rampe oder an festen Plätzen in der Bühnenmitte, fast oratorienhaft. Das gibt sich nach der Pause, weil dann doch etwas mehr Interaktion stattfindet.

Gleichwohl entsteht der Eindruck, dass Verdis „Otello“ einfach nur für die Ideen des Regisseurs herhalten muss. Die Kostüme von Ingo Krügler (Anzüge und Gehrock) sind beliebig, die Bühnenausstattung von Susanne Gschwender setzt ganz auf die spektakuläre und aufwändige Konstruktion des hin- und hergefahrenen Krans. Allein vom optischen Eindruck käme man nicht auf die Idee, dass hier Verdis „Otello“ gespielt wird. Zwar hat Bieito nun bei seinem Hamburg-Debüt seinen Ruf als Skandal-Regisseur nicht bestätigt, weil sich Gewaltorgien für seine Verhältnisse in Grenzen hielten, aber ein großer Teil des Publikums reagierte dennoch mit massiven Buhrufen.

Einhellig gefeiert wurde die musikalische Seite. Der von Eberhard Friedrich einstudierte Chor zeigte sich einmal mehr in Bestform, ganz besonders im 3. Akt. Und auch das Philharmonische Staatsorchester Hamburg unter der Leitung von Paolo Carignani überzeugte durchweg mit einer dramatisch aufgeheizten Wiedergabe, wenn auch manchmal etwas „knallig“ auf die Tube gedrückt wurde.

Als Otello ist Marco Berti für den erkrankten Carlo Ventre eingesprungen. Er steht die Partie gut durch. Seine helle Stimme lässt das in dieser Partie doch wünschenswerte baritonale Fundament vermissen, wodurch manches etwas grell ausfällt, aber in den entscheidenden Momenten ist er immer voll da. Claudio Sgura singt den Jago ausgesprochen elegant und mit schmiegsamem Bariton - ein „Opernschurke“ der feinen Nuancen. Als Desdemona gab Svetlana Aksenova ihr erfolgreiches Debüt in Hamburg. Ihre kontinuierlich sich steigernde Leistung wird gekrönt vom „Lied von der Weide“ und dem „Ave Maria“. Hier findet sie zu einer Innigkeit und gestalterischen Intensität, die gleichzeitig den Höhepunkt der Premiere markiert. Es ist in dieser Inszenierung auch der einzige Moment, der wirklich tief berührt. Aufhorchen lässt Nadezhda Karyazina, die als Emila stimmlich und darstellerisch mit beachtlicher Präsenz überrascht. In den weiteren Partien bewähren sich Markus Nykänen (Cassio), Peter Galliard (Roderigo), Alexander Roslavets (Lodovico), Bruno Vargas (Montano) und Michael Reder (Herold).

Wolfgang Denker, 09.01.2017

Fotos (c) Staatsoper / Hans Jörg Michel

 

 

SENZA SANGUE / HERZOG BLAUBARTS BURG

Premiere am 06.11.2016  

besuchte Aufführung am 09.11.2016

Aus zwei wird eins

Mit der Kopplung der Opern „Senza Sangue” von Peter Eötvös und „Herzog Blaubarts Burg” von Béla Bartók zu einem knapp zweistündigen, ohne Pause gespielten Abend ist der Hamburgischen Staatsoper ein veritabler Volltreffer gelungen.

„Senza Sangue” wurde 2015 in Köln konzertant uraufgeführt. Eötvös hat seine Oper bewußt daraufhin konzipiert, um sie mit Bartóks Werk zu verknüpfen. Das ist ganz hervorragend und eindrucksvoll gelungen, wie sich bei der Hamburger Produktion (der ersten szenischen in Deutschland) in der Regie und Ausstattung von Dmitri Tcherniakov zeigte.

In „Senza Sangue” treffen ein älterer Mann (Sergei Leiferkus) und eine junge Frau (Angela Denoke) aufeinander. Die Familie der Frau wurde einst von Partisanen ermordet Sie mußte dies als kleines Mädchen in einem Versteck mit ansehen. Einer der Täter entdeckt das Mädchen. Er verrät sie aber nicht und rettet dadurch ihr Leben. Die Oper setzt bei ihrer Begegnung auf einem Platz irgendwo in Italien ein. Ein großzügiges, wunderbares Bühnenbild fängt diesen in neblige Tristesse getauchten Schauplatz ein. Beide erkennen sich, gehen in ein Straßencafé und sprechen, jeder aus seiner Sicht, über die damaligen Ereignisse, ihre Gefühle und ihrer Traumata. Aber die Frau verzichtet auf Rache und geht mit dem Mann in ein Hotel, um dort eine Nacht mit ihm zu verbringen. Der Weg ins Hotel wird in einem Video gezeigt. Danach hat sich die weite Bühne in ein klaustrophobisches Hotelzimmer verwandelt. Beide liegen auf dem Bett. Es sind zwar jetzt andere Sänger (Bálint Szabó und Claudia Mahnke), aber im gleichen Kostüm. Hier setzt nahtlos die Bartók-Oper ein. In der Inhaltsangabe des Programmheftes heißt es: „Eine fiktive Situation unter dem Namen ausgedachter Figuren zu durchleben, ist ein Mittel, Angst zu überwinden - die Angst davor, über unsere realen Alpträume zu sprechen.“ Die Figuren Judith und Blaubart sind in dieser Sichtweise also nur Bestandteil eines Rollenspiels, mit dem die junge Frau und der Mann in fast therapeutischer Form ihr Gespräch im Café fortsetzen. „Senza Sangue“ besteht aus sieben Szenen, korrespondierend mit den sieben Türen in Blaubarts Burg. Gegen Ende zeigt ein weiteres Video das verängstigte Mädchen in seinem Versteck und den erstaunten Blick des Partisanen.

Tcherniakov hat in seiner Inszenierung mit ausgefeilter Personenführung dieses seelische Kammerspiel zu einem beklemmenden Ereignis gemacht und eine ganz andere Sichtweise auf Bartóks „Blaubart” eröffnet. Aus zwei wird eins - das ist hier in beeindruckender Verdichtung gelungen. Und es bezieht sich nicht nur auf den Inhalt, sondern auch auf die Musik. Peter Eötvös, der bei beiden Opern am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg steht, hat in seiner Komposition seinen eigenständigen Stil gewahrt, sich dabei aber durchaus an Bartók angenähert. Auch bei ihm gibt es gewaltige Eruptionen, auch bei ihm erzählt die Musik oft, was im Libretto unausgesprochen bleibt. Zwar enthält die Tonsprache von Eötvös weniger geheimnilvolle Farben, ist aber in ihren Details und ihrer feinsinnigen Differenzierung ein überzeugendes Gegengewicht zu Bartók.

Angela Denoke und Sergei Leiferkus sind in „Senza Sangue” ideale Besetzungen. Die etwas schartige Stimme von Leiferkus passt für die Partie sehr gut. Claudia Mahnke und Bálint Szabó haben zugegeben die dankbareren Aufgaben, die sie mit Glutvoller Intensität und opulentem Stimmklang erfüllen. Ein beglückender Opernabend

Wolfgang Denker, 10.11.2016

Fotos von Monika Rittershaus

 

 

 

DIE ZAUBERFLÖTE

Premiere am 23.09.2016

Der rote Kompass für das Leben

Sanitäter tragen einen alten, im Zuschauerraum zusammengebrochenen Mann auf die Bühne. Es ist Tamino am Ende eines langen Lebens, das hier als eine Art Rückblick gezeigt wird. Beim Auftritt der drei Damen, die hier Nonnen sind, verwandelt sich Tamino in einen Säugling - offenbar ein Findelkind, das in der Obhut des Klosters aufwächst. Man sieht ihn als Kind Ball spielen, bis er sich als junger Mann in die nur mit Lichteffekten schemenhaft auftauchende Pamina verliebt. Auch Papageno lebt in dem Kloster.

Er und Tamino sind seit Kindertagen befreundet. Von den Nonnen bekommen sie hier keine Flöte und kein Glockenspiel, sondern einen rot leuchtenden Pfeil. Es ist eine Art Kompassnadel für den Weg durch das Leben. Das Ende der Oper zeigt Tamino und Pamina deutlich gealtert. Ihre Liebe hat trotz aller Widrigkeiten, die ihnen durch die beiden Machtzentren von Sarastro und der Königin der Nacht bereitet wurden, gehalten. Der Kompass hat sie letztlich gut durchs Leben geführt. Regisseurin Jette Steckel (die Tochter von Frank-Patrick Steckel) hat damit eine durchaus interessante Sicht auf Mozarts beliebteste Oper „Die Zauberflöte“ gefunden. Aber: Die Details der Inszenierung waren höchst zweifelhaft - ein ungeheures Buhgewitter war die Folge.

Zwar zeigt das Bühnenbild von Florian Lösche am Anfang und dann wieder am Ende einen mystischen, geheimnisvollen Zeittunnel (der an den Berliner Ring von Götz Friedrich erinnert), der als Bild für unbekannte Welten durchaus seinen Reiz hat und zudem mit surrealen Klängen angereichert wird. Aber fast überwiegend sind die mit Stroboskop-Technik betriebenen Pixel-Vorhänge zu sehen. Da flattern pausenlos Lichteffekte, verzerrte Videos von der Königin der Nacht und von Sarastro mit weit aufgerissenem Mund und anderes auf den Zuschauer ein. Diese von Paulus Vogt und Alexander Bunge entworfenen Licht- und Videoinstallationen zerrten zunehmend an den Nerven. Es war so, als hätte man ein neues technisches Spielzeug entdeckt und meinte, dieses bis zum Anschlag ausreizen zu müssen.

Die meisten Dialoge waren gestrichen, obwohl einige davon für die Handlung wichtig gewesen wären. Dafür wurden andere, teilweise in Englisch, eingefügt, etwa bei der Szene, in der Tamino und Papageno buchstäblich im Regen stehen. Wenn das ein Versuch war, ein wenig „Comedy“ einzubauen, ist er jedenfalls missglückt. Und dann gab es bei einigen Dialogen quälend lange, „bedeutungsvolle“ Pausen, oft für eine gefühlte Ewigkeit. Weitere überflüssige Zutaten waren ein albern am Bühnenhimmel schwebender Raumfahrer, wenn Tamino Sarastros Reich betritt, obwohl der unendliche, nächtliche Sternenhimmel eigentlich ein schönes Bild war. Klischeehaft war auch die Zeichnung des Monostatos: ein mit „schwulen“ Bewegungen agierender, abgehalfterter Entertainer. Das durfte ja nicht fehlen.

Wer gut und wer böse ist, darüber gibt Steckels Inszenierung kein Urteil ab. Sarastro und die Königin der Nacht schweben am Ende gleichberechtigt im Zentrum der Bühne. Beide Figuren möchte Steckel als „Energien, Kräfte, Mächte“ begriffen wissen. Zumindest das war ein starkes Bild.

Am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg stand Jean-Christophe Spinosi, der schon gleich bei der Ouvertüre für sich einnahm. Selten hat man die so stimmig in Tempo und Dynamik, so ausgewogen in ihren Proportionen gehört. Spinosi schlug insgesamt ein breites Tempo an. Als Folge konnten die einzelnen Orchesterstimmen gut zur Geltung kommen. Die Feierlichkeit der Sarastro-Szenen wurde dabei trotzdem nicht über Gebühr gedehnt. Hervorragend präsentierte sich auch der von Eberhard Friedrich bestens präparierte Chor. Der erst schwebende, dann machtvoll aufbrausende Klang des Priesterchores „O Isis und Osiris“ geriet höchst eindrucksvoll.

Eindrucksvoll war auch die Leistung von dem aus Turkmenistan stammenden Tenor Dovlet Nurgeldiyev, der als Tamino sein Rollendebüt gab. Er verfügt über eine sicher und ausgeglichen geführte Stimme von besonderem klanglichem Reiz. Nicht nur die Bildnisarie sang er mit schönem Legato und guter Phrasierung. Eindruck machte auch Christina Poulitsi als Königin der Nacht, die ihre beiden Arien mit gestochen sauberen Koloraturen und einem für die Rolle überraschend warmem Timbre sang.

Eine Königin, die nicht nur eiskalt und machtbesessen wirkte. Mehr als solide, trotz kleiner Höhenprobleme, war auch Christina Gansch in der Partie der Pamina, die ihre Arie „Ach, ich fühl’s“ mit Herzblut gestaltete und als Figur sympathisch und bodenständig erschien. Jonathan McGovern gab mit kernigem Bariton einen Papageno, der eher ernsthaft und weniger als „lustige Person“ herüberkam. Andrea Mastroni blieb als Sarastro seinen beiden Arien mit urgesunder Baßfülle nichts schuldig. Die weiteren Rollen waren mit Dietmar Kerschbaum (Monostatos), Maria Chabounia (Papagena), Alin Anca (Sprecher), Christan Juslin und Bruno Vargas (Geharnischte) sowie Iulia Maria Dan, Nadezhda Karyazina und Marta Świderska (drei Damen) adäquat besetzt.

Wolfgang Denker, 24.09.2016

Fotos von Arno Declair

 

 

DAPHNE

Premiere am 5.6.2016  

besuchte Aufführung am 8.6.2016

Kaum Mythologisches im Wirtshaus

Wir befinden uns in einem bayerischen Wirtshaus - Biertische, Krachlederne und Dirndl. Regisseur Christof Loy hat die Oper “Daphne” von Richard Strauss in die Niederungen bajuwarischer Wirtshausbräuche gezogen. Da blieb kaum Mythologisches übrig. Dass die Inszenierung (eine Übernahme vom Theater Basel) trotzdem funktioniert und weitgehend schlüssig rüberkommt, ist der differenzierten Personführung Loys und der psychologisch motivierten Sicht auf die Titelfigur zu danken.

Das Bühnenbild (von Annette Kurz) besteht aus einer Holzbretterwand mit einer Tür. Was hinter der Tür alles abgeht, will man vielleicht gar nicht so genau wissen - denn davor ist schon genug los. Daphne ist in der dörflichen Gemeinschaft eine Außenseiterin, deren ganze Liebe der Natur dient. Zärtlich und fürsorglich umhegt sie ihre Topfpflanzen; mit Männern hat sie nichts im Sinn. Sie macht einen verstörten Eindruck, ist vielleicht sogar Opfer eines früheren Missbrauchs. Ganz anders sind da die anderen beiden Bedienungskräfte (Raffaela Linti und Dorottya Láng) im Wirtshaus (im Libretto die Mägde), die es ordentlich krachen lassen und einem der Burschen sogar die Hose runterziehen. Wenn das dionysische Fest immer orgiastischer wird, führt Daphnes Mutter Gaea eine Horde fast nackter, geiler Jünglinge wie Hunde an der Leine.

Sie selbst hängt an der Schnapsflasche und sorgt kupplerisch dafür, dass das “Fest der Paarungen” seinen Namen verdient. Kein Wunder, dass Daphne da in ihre Traumwelt flüchtet und sich sogar von Leukippos, ihrem Freund aus Kindertagen, abwendet. Denn auch der fängt plötzlich an, sie zu bedrängen. Der Gott Apollo, der wie ein Jäger mit Armbrust auf dem Fest erscheint, ist da augenscheinlich aus anderem Holz. Daphne ist jedenfalls von ihm zunächst fasziniert. So sehr, dass sie von ihm zum Mord an Leukippos manipuliert wird. Im Libretto ist es eigentlich Apollo, der seinen Nebenbuhler tötet. Eine Verwandlung in einen Baum findet nicht statt. Hier wird Daphne, nachdem sie sich einen Lorbeerzweig ins Haar gesteckt hat, von Schergen in Nazi-Uniform abgeführt, um dann aus dem Off ihre Vocalise zu singen. Dass es nun unbedingt wieder Nazi-Look sein musste, wirkte ziemlich aufgesetzt, auch wenn die Tatsache, dass “Daphne” 1938 uraufgeführt wurde, der Vater des Gedankens gewesen sein mag. Trotz kleiner Einwände gegen manches plakative Detail, ist Loy doch eine einfühlsame Seelenschilderung Daphnes und Apollos gelungen. Die Szenen zwischen beiden sind von zartem, intimem Charakter geprägt. Weil „Daphne“ hier von der Mythologie entkoppelt und „geerdet“ wurde, entsteht das Bild von einer, durch welche Umstände auch immer, dem Wahnsinn verfallenden Hauptperson und einem reuevollen Apollo. Wenn die Natur sich mit Blitz und Donner von ihrer bedrohlichen Seite zeigt, wird die Bretterwand hochgezogen und grelle, ins Publikum gerichtete Scheinwerfer beleuchten die Szene.

Über die musikalische Seite kann man nur ins Schwärmen geraten. Die schwedische Sopranistin Agneta Eichenholz, die die Partie schon in Basel gesungen hat, erwies sich als Traumbesetzung für die Daphne. Ihr warmer Sopran glitt mühelos durch alle Lagen ohne jeden Anflug von Schärfe. Mit aufblühender Höhe, perfekter Linienführung und persönlichkeitsstarker Präsenz gelang ihr ein eindringliches Debüt in Hamburg. Auch Eric Cutler konnte als Apollo mit kraftvoll und heldisch geführtem Tenor begeistern. Die Stimme hatte Volumen und Ausdruckskraft. Peter Lodahl kam da als Leukippos etwas schmalspuriger daher, konnte die Partie aber sicher erfüllen. Hanna Schwarz, verdiente und legendäre Altistin, war als Gaea zu erleben, die sie fast wie eine Schwester der Herodias anlegte. Mit ausladender Stimme und viel Persönlichkeit gab sie der Partie nachdrückliches Profil. Wilhelm Schwinghammer wirkte als Peneios daneben etwas blass.

Michael Boder am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg ließ die opulente, farbenreiche Musik von Strauss in allen Schattierungen funkeln. Die dramatischen Zuspitzungen, der sinnliche Fluss der Musik und der schwelgerische Klang waren einfach überwältigend. Schade und eigentlich unbegreiflich, dass „Daphne“ doch relativ selten in den Spielplänen auftaucht.

Wolfgang Denker, 9.6.2016

Fotos von Brinkhoff / Mögenburg

 

WILHELM TELL

Zum Zweiten

Premiere 6. März 2016  

besuchte Aufführung 26. März 2016

Rechtspopulist statt Freiheitskämpfer

Unter „Grand opéra“ verstand man im Frankreich des 19. Jahrhunderts Opern meist über historische Ereignisse für virtuose Gesangssolisten, grosse Chöre und Doppelchöre, mit eingängigen Melodien und grossem Orchester, das auch Ballette begleitete und Natur- und Schlachtenszenen musikalisch untermalte. Quasi erfunden hat diese Gattung - ganz unterschiedlich zu seinen früheren Opern -   Gioachino Rossini mit seiner letzten Oper in vier Akten „Guillaume Tell“ auf einen Text von Etienne de Jouy und Hippolyte Bis. Als literarische Vorlage verwendeten sie - zum Teil mit veränderten Namen - Friedrich Schillers „Wilhelm Tell“

Diese „grosse Oper“ wurde jetzt in der Staatsoper Hamburg aufgeführt unter der musikalischen Leitung von Gabriele Ferro in der Inszenierung des Schweizers Roger Vontobel.

Da die Regie des letzteren einen anderen Wilhelm Tell als den Freiheitskämpfer zeigt, wie wir und auch wohl die Autoren der Oper ihn zu kennen glauben, soll zuerst die musikalische Seite gewürdigt werden, denn darin lag vor allem die Stärke der Aufführung

Nicht dem Titelhelden ist die musikalische Hauptpartie anvertraut, sondern einem Liebespaar in Romeo-Julia-Verhältnis, aber hier mit „happy end“. Arnold, Sohn des Schweizers Melchthal, - ungefähr Ulrich von Rudenz bei Schiller – und die habsburgische Prinzessin Mathilde – ungefähr Berta von Bruneck bei Schiller – lieben sich. Arnold wird nun zerrissen zwischen dieser Liebe und Pflicht, für die Freiheit seines Volkes zu kämpfen, dies um so mehr nach der Ermordung seines Vaters durch Habsburger Soldaten. Stimmlich erfordert diese gefürchtete Partie einen ganz hohen Tenor. 19 mal hat er, wie Jürgen Kesting im Programmheft angibt, das hohe C und zweimal sogar das um einen Halbton höhere cis zu singen. Dies bewältigte Yosep Kang mit einer fast unglaublichen Treffsicherheit und anscheinend ganz mühelos. Auch Legato-Bögen und verschiedene Stimmfärbungen, etwas weicher p, wenn seine Liebe zu Mathilde ausgedrückt werden sollte, heldischer bei Kriegsgesängen. Wenn er im vierten Akt die Schweizer auch mit hohen Spitzentönen zur Rache aufrief, klang das wie eine Vorwegnahme der Stretta aus dem „Troubadour“

Ebenso vollendet sang Guanqun Yu seine geliebte Mathilde. Schon in ihrer Auftritts - „Romanze“ im zweiten Akt bewies sie ihr Können mit Legato im p, sauber getroffenen Spitzentönen und perlenden Koloraturen. Das Duett der beiden Liebenden im zweiten Akt und das über Trennungsschmerz zu Beginn des dritten Akts waren die musikalischen Höhepunkte des Abends, vom Publikum als „Traumpaar“ für diese Oper mit entsprechendem Zwischenapplaus gefeiert. Insofern war es folgerichtig, die Pause erst nach dem zweiten Duett der beiden beginnen zu lassen

Für die Titelpartie fehlten Sergei Leiferkus zu Beginn etwas Durchschlagskraft für die ganz tiefen Töne, sein Französisch war ziemlich unverständlich. Wohl regiebedingt wirkte er etwas ältlich, ganz ergreifend gelangen ihm Bitten an Gessler und Segnung seines Sohnes vor dem Apfelschuß in p – Kantilenen. Diesen Sohn Gemmy, bei Rossini sein einziger, sang als Hosenrolle Christina Gansch mit leuchtendem Sopran, deutlich verständlich auch zusammen mit Chor und Orchester. Hier war man erinnert an ihren ebenso geglückten Ascanio (Ascagne) in den „Trojanern“ im Herbst. Mit in allen Lagen volltönendem Baß gab Vladimir Baykov den bösen Gessler, rollengemäß auch mit schneidend scharfen Tönen. In ihrem kurzen Auftritt als Gemmys Mutter Hedwig beeindruckte wie gewohnt Katja Pieweck mit ihrer weichen volltönenden Altstimme. Von allen war ihr Französisch am meisten verständlich. Mit würdevollem Baß sang Kristinn Sigmundsson den alten Melchthal, spielen mußte er ihn als gebrechlichen nur mit medizinischer Betreuung auftretenden Pflegefall. Die kleineren Partien waren passend besetzt mit dem wie immer verläßlich singenden Jürgen Sacher als Harras, mit dem mit grossem Baß den besserwisserischen Walther Fürst darstellenden Alin Anca, mit Nicola Amodio als Fischer und Bruno Vargas als Leuthold.

In weiten Teilen ist Guillaume Tell eine Choroper, das zeigten erfolgreich der Chor verstärkt durch den Extrachor der Herren in der Einstudierung von Eberhard Friedrich, exakt auch dann, wenn er vielfach geteilt und a capella sang. Allerdings durfte er regiebedingt auch immer ruhig in Gruppen stehend singen.

Gabriele Ferro leitete das musikalische Geschehen, er ist ja kein auf italienische Oper beschränkter Dirigent. So kann sich der Verfasser an ein Konzert unter seiner Leitung als ganz junger Gastdirigent in Münster im Jahre 1970 erinnern, wo er Dvořák dirigierte und Christoph Eschenbach mit Beethovens erstem Klavierkonzert begleitete. Für „Tell“ wählte er zunächst breite Tempi, einige Wackler gab es nur zu Beginn, vielleicht auch, weil z.B. der populäre letzte Teil der Ouvertüre von der bereits auftretenden Festgesellschaft des ersten Aktes förmlich zertrampelt, wurde. Dann steigerte er Tempo und Beweglichkeit bis zum Schluß. Von den Orchestersoli waren vor allem die Bläser, hier die Hörner im p, und die Celli in der Ouvertüre und in Tells Szene vor dem Apfelschuß zu loben.

Für dieses musikalische Geschehen gab den Rahmen die Inszenierung von Roger Vontobel. Wie das bei Opern inszenierenden Schauspiel-Regisseuren vorkommt, inszenierte er nicht die Musik mit Text, sondern eine Interpretation des Stoffes, die er der Oper überstülpte. Letztlich ging es ihm darum, auf rechtskonservative, auch fremdenfeindliche Stimmung in der heutigen Schweiz hinzuweisen, als deren Protagonisten er Tell darstellen wollte. Damit der unbedarfte Besucher dies auch kapierte, gab es im Programmheft dazu eine lange Erklärung von Dramaturg Albrecht Puhlmann , passender sind Inszenierungen, die der Zuschauer ohne solche Belehrungen versteht. Um Tell zu einem fremdenfeindlichen Volksverhetzer umzufunktionieren, wurde die Macht der Bilder bemüht, vor allem des Panoramabilds eines Malers Ferdinand Hodler aus dem 1915, das in kraftmeierischer Pose den Rütli-Schwur darstellt und den gesamten Bühnen-Hintergrund einnahm. (Bühnenbild Muriel Gerstner). Bis zum Rütli-Schwur war es zum größten Teil verdeckt (en état de restauration) , nach dem Schwur erstrahlte es in voller Grösse, von Gesslers Schergen wurde es schwarz übermalt, zum Finale stellten dann Tell und seine Schweizer lebend das Bild nach (Restauration finie) Von diesem Bild stammten auch das verdächtige Grüssen mit erhobenem Arm der Schweizer untereinander – nun wußten wir endgültig, was gemeint war! Für die Naturszenen gab es reichtlich Bühnennebel.

Klaus Bruns kostümierte Gesslers Soldaten wie gewohnt in schwarz mit Kalaschnikows, die Schweizer in bunt, Tell und Gesser zunächst in ganz ähnlichen Zivilanzügen. Schwarz-gelb mit entsprechendem Schal war Mathilde gekleidet – in diesem Fall die Farben Habsburgs. Um Arnold von seiner Liebe zu Rachegefühlen hin abzulenken, tauchte der ermordete Melchthal mit grosser Wunde am Kopf ähnlich Hamlets Vater immer wieder auf. Zum Schluß töteten  die Schweizer Gessler und seine Mannen, indem sie sie mit roter Farbe bestrichen. Tell sollte eben weniger geübter Seemann und Bogenschütze sein, deshalb mußte er sich beim Apfelschuß auch von einem Überläufer aus Gesslers Armee helfen lassen, als vielmehr Ruhm-süchtiger Patriarch,

Das Haus war nicht ausverkauft (Ostern und Fußball!) Die Besucher applaudierten passend mit Bravo-Geheul dem jungen Liebespaar, dann Gemmy, Hedwig, Gessler, Tell, den anderen Solisten und dem Dirigenten auch stellvertretend für das Orchester.

Sigi Brockmann 28. März 2016

Fotos Brinkhoff/Mögenburg

 

 

 

 

GUILLAUME TELL

Premiere am 6.3.2016

Im Apfel war ein Wurm

 

Rossinis letzte Oper “Guillaume Tell”, die als eines der ersten Werke der später von Meyerbeer fortgeführten Gattung “Grand opéra” gilt, hatte in Hamburg in einer Inszenierung des aus der Schweiz stammenden Regisseurs Roger Vontobel Premiere. Den “Tell” gab es in Hamburg zuletzt 1980, damals aber nur in konzertanter Form. Zur Besetzung gehörten Giuseppe Taddei als Tell, Teresa Zylis-Gara als Mathilde und Franco Bonisolli als Arnold. Die letzte szenische Produktion war im Jahr 1915 (“Zum Geburtstag Sr. Majestät des Kaisers”!). Umso willkommener also die Neubegegnung mit Rossinis Oper, auch wenn sie etwas gekürzt war.

Das Einheitsbühnenbild (von Muriel Gerstner) war geprägt von der Nachbildung eines Panoramabilds, nämlich “Die Einmütigkeit” (auch als “Der Schwur” bekannt) von Ferdinand Hodler. Das Original hängt im Rathaus von Hannover und zeigt Dietrich Arnsborg, der die Bürger schwören ließ, zu den Reformationen Luthers zu stehen. Auch im “Tell gibt es ja den berühmten Rütlischwur...

Aber zunächst ist das Bild, das erst bei besagtem Rütlischwur in ganzer Pracht zu sehen ist, noch verhüllt, weil Wilhelm Tell sich daran als Restaurator betätigt. Er ist ein Maler - seine Waffe ist der Pinsel und erst in zweiter Linie die Armbrust. Das ist zwar ein origineller Ansatz des Regisseurs, kann aber in der Umsetzung trotzdem über weite Strecken nicht überzeugen. Das geht schon bei der Ouvertüre los, bei dem mit Beginn des Marschthemas die sternhagelvolle Dorfgesellschaft auf die Bühne stürmt und völlig übertrieben Party feiert. Soviel Bewegung gibt es selten an diesem Abend, oft stehen die Protagonisten nur an der Rampe. Statische Bilder überwiegen - oder kitschige, etwa wenn zum nächtlichen Liebesduett von Mathilde und Arnold in blauem Dämmerlicht auch noch Schneeflocken vom Himmel fallen.

Auch die Schlußszene gehört dazu, bei der sich Arnold und Mathilde plakativ und stellvertretend für eine generelle Versöhnung die Hand reichen. Ansonsten hüllt Vontobel die Bühne gern in Nebelschwaden ein, durch die die Verschwörer mit Taschenlampen irren. Ein eher unfreiwillig komischer Einfall war es, den ermordeten Melchthal (Kristinn Sigmundsson) sich wieder von der Bahre erheben und fortan blutverschmiert wie einen Zombie über die Bühne tapern zu lassen. Eine andere Frage ist, ob man das pure Pathos, das zweifellos im Werk enthalten ist, heute noch so ungebrochen und mit zum Himmel gereckten Armen auf die Bühne bringen kann. Immerhin läßt Vontobel bei allem Hass, mit dem die feindlichen Parteien sich begegnen, doch humamitäre Anklänge gelten. Wenn Gessler unbarmherzig auf dem Apfelschuß besteht, zieht die Hälfte seiner schwerbewaffneten Soldateska die Uniform aus und legt die Waffen nieder. Das war eine gelungene und spannende Szene. Das Volk stürzt anschließend Gesslers Aussichtspodest um. Dann werden Gessler und seine Mannen umgebracht, allerdings nicht mit dem Dolch sondern mit roten Farbpinseln. Eine Metapher für den Sieg der Kunst? In Hamburg gab es zumindest einen Sieg der Musik. Die lag in den Händen von Altmeister Gabriele Ferro am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters, der Rossinis herrliche Musik mit breitem Pinselstrich zelebrierte, um bei dem Bild zu bleiben. Seine Rossini-Erfahrung war spürbar.

Allein, wie er die prachtvollen Chortableaus herausarbeitete, hatte großes Format. Ein erheblicher Anteil daran ist auch dem Chordirektor Eberhard Friedrich zuzuschreiben, der seine Sängerinnen und Sänger einmal mehr mit gewohnter Qualität vorbreitet hat. Das sängerische Niveau bei den Solisten bestimmten vor allem die chinesische Sopranistin Guanqun Yu als Mathilde und der koreanische Tenor Yosep Kang als Arnold. Yu begeisterte mit schönen Linien, einer in allen Lagen rund und warm klingenden Stimme und sehr engagierter Darstellung. Sie sang sich als verzweifelt Liebende fast die Seele aus dem Leib. Auch Kang war als Arnoldo mit seinem schlanken Tenor, der trotz der riesigen Partie keine Ermüdung zeigte und den er sicher in höchste Höhen führte, ohne jemals ins Falsett zu gleiten, eine Idealbesetzung. Das kann man von Sergei Leiferkus in der Titelpartie leider nicht mehr behaupten. Die Stimme des verdienten Sängers hat zwar noch Kraft und Volumen, aber inzwischen doch auch ein paar Scharten bekommen. Und als Figur wirkte er in seiner Darstellung vielleicht etwas zu “großväterlich”. Gleichwohl - mit seiner Arie “Sois immobile” konnte er dennoch tief berühren.

Sein Gegenspieler Gessler war bei Vladimir Baykov bestens aufgehoben, der einen klassischen Opernschurken bester Art mit virilem Bariton gab. Christina Gansch konnte mit silberhell-unschuldigem Sopran als Tells Sohn Gemmy die Herzen im Sturm erobern. In weiteren Partien waren Jürgen Sacher (Rudolph der Harras), Alin Anca (Walther Fürst) und Katja Pieweck (Hedwig) zu hören. Begeisterter Beifall für die musikalische Seite, erhebliche Buhrufe für die Regie. Bei Schneewittchen war der Apfel vergiftet, bei “Guillaume Tell” war er es zwar nicht, aber der Wurm war schon drin.

Wolfgang Denker, 7.3.2016

Fotos von Brinkhoff / Mögenburg

 

 

 

STILLES MEER

Uraufführung am 24.1.2016   

besuchte Aufführung 27.1.2016

Trauerarbeit in ruhigen Bahnen

Toshio Hosokawa zählt derzeit zu den wichtigsten Komponisten Japans. Seine vierte Oper „Stilles Meer” ist eine Auftragskomposition der Staatsoper Hamburg, wo sie jetzt uraufgeführt wurde. Sie beschäftigt sich mit dem Tsunami und der Reaktorkatastrophe von Fukushima im Jahr 2011. Das Libretto stammt von Oriza Hirata, der auch für die Regie verantwortlich zeichnet. Das anderthalbstündige Werk hat der Komponist den Opfern des Erdbebens und des Tsunami gewidmet.

Die Oper ist keine Anklage gegen die Atompolitik Japans, nicht einmal gegen den Umgang der Menschen mit der Natur. Die Katastrophe ist halt passiert und man muss sehen, wie man die Folgen verarbeitet. Es ist Trauerarbeit in eher ruhigen, resignativen Bahnen. Sie wird am Beispiel eines Einzelschicksals entwickelt: Claudia, eine Ballettlehrerin aus Deutschland, hat ihren Mann und ihren Sohn Max bei der Katastrophe verloren. Den Tod des Kindes kann sie aber nicht akzeptieren. Ihr Exfreund Stephan, der auch der Vater des Kindes ist, will sie zur Rückkehr nach Deutschland bewegen. Aber Claudia steigert sich immer mehr in den Wahn, dass ihr Sohn noch lebt. Ihre Schwägerin Haruko will sie davon befreien, indem sie mit ihr das Stück “Sumidagawa” (aus dem Nō-Theater) spielen. Denn auch da geht es um eine Mutter, die ihr Kind sucht und seinen Geist beschwören will. Doch das Spiel funktioniert nicht. Statt des Sohnes erscheint nur die kleine Ballettschülerin von Claudia.

Die fast meditativ ausgerichtete Musik von Toshio Hosokawa scheint auf den ersten Höreindruck eher unspektakulär. Aber mit Fortschreiten der Aufführung wird man immer mehr von der Magie dieser fein austarierten Musik gefangen genommen. Hosokawa ist kein brachialer Neutöner - seine Musik weist auch auf europäische Traditionen hin ist ist angenehm zu hören. Kunstvolle Klangflächen, feinstes kammermusikalisches Piano, Naturstimmen und immer neue Farbvaleurs machen ihren Reiz aus. Sogar die Stille erweist sich hier als wirkungsvolles Kompositionsmittel. Andererseits war gleich zu Beginn ein Sturm von Trommel- und Paukenschlägen zu hören, der in seinem Auf- und Abschwellen das Erdbeben in fast einmaliger Weise und in sinnlich spürbarer Bedrohung imaginierte. Wenn Stephan gegen Ende des Stückes allein auf der Bühne hockt, ist nochmal eine ähnliche Sequenz zu hören. Es ist so, als wolle er den Schrecken des Tsunami nachempfinden. Kent Nagano und das Philharmonische Staatsorchester Hamburg bereiteten diese Mischung aus europäischer und japanischer Musik kunstvoll und optimal auf.

Die Inszenierung von Oriza Hirata zeichnet sich durch gut strukturierte Personenführung, vor allem aber durch den Tenor unaufgeregter Ruhe aus - eine Wiederentdeckung der Langsamkeit. Stimmungsvolle Szenen wie das Aussetzen von Laternen im Meer, um die Seelen der Toten zu trösten, haben berugigende Wirkung. Dazu kommt das äußerst ästhetische Bühnenbild von Itaru Sugiyama mit einer schräggestellten Spielfläche und freiem Blick auf Meer und Horizont. Eine Brücke verbindet die „sichere Zone“ mit der unsicheren oder, wenn man so will, das Reich der Lebenden und der Toten. Neonröhren hängen wie Brennstäbe eines Atomkraftwerks vom Bühnenhimmel und die Lichstimmungen wechseln von dunklem Blau bis zum Schwefelgelb. Die Fischer und der Chor tragen Schutzkleidung (Kostüme von Aya Masakane).

Die drei Hauptpartien wurden glanzvoll gestaltet. Vor allem Countertenor Bejun Mehta bestach als Stephan mit traumwandlerischer Stimmentfaltung. Stilsicher und ausdrucksstark gestaltete er seine Partie. Auch die großartige Mihoko Fujimura stellte als Haruko ihren sonoren Mezzo ganz in den Dienst der Partie. Susanne Elmark konnte den fortschreitenden Realitätsverlust der Claudia mit einer subtilen und sehr differenzierten Leistung verdeutlichen. Den Fischer und seinen Begleiter Hiroto sangen Marek Gasztecki und Viktor Rud mit ansprechender Präsenz.

Wolfgang Denker, 28.1.2016

Fotos von Arno Declair

 

 

 

LE NOZZE DI FIGARO

Premiere am 15.11.2015

Ein buchstäblich phänomenales musikalisches Selbstgespräch

Die Idee an sich ist genial: Das ganze Bühnenbild eine dreidimensionale Partitur. Wände und Decke, deren Gittergeflecht wiederum als Notenlinien deutbar sind, dicht an dicht behangen mit Notenblättern, sogar die Rokoko-Kostüme der Protagonisten verstofflichte Musik, im Wortsinn. Mozart, so betonte Wolfgang Hildesheimer (der seine Aussage wiederum von Schopenhauer lieh), ist „kein ‚malender’ Komponist“. Wagner verpasste der Musik des geschätzten Kollegen deshalb das Attribut „absolut“. Mozart vertont nicht etwa Sprache – selbst dann nicht, wenn sie von einem so begabten Autor wie da Ponte stammt – sondern er ist ein Komponist, der „sein eigenes Geschehen aufbaut, orientiert an definierbaren Wendungen des vorliegenden Textes“, so Hildesheimer in seinem Buch „Mozart“. Und: „Figuren (…), vorpsychologische Inventionen, werden erst in der Musik zu Wirklichkeit, das heißt in Mozarts Musik…“

Die Staatsoper Hamburg gibt „Le Nozze di Figaro“ also quasi als ein Stück verkörperlichter Musiktheorie. Der „Klangkäfig“, in den das Geschehen laut Vorankündigung der Produktion „gesperrt“ ist, ist nichts anderes als der Kopf des Komponisten. Zu dessen Komplizen macht Regisseur Stefan Herheim den Zuschauer: Vom ersten Moment an verfolgt jener die Niederschrift der Partitur der Oper, die sich, wie ein Filmvorspann, auf der herabgelassenen Leinwand vollzieht. Man schaut diese „Komödie durch (nicht: mit!) Musik“ durch die Augen des Komponisten. „Mozart gelingt es noch bis in die intrikatesten Ensembleszenen, die jeweilige Situation gleichzeitig von außen und von innen darzustellen: das subjektive Erleben der Beteiligten und das Panorama des Geschehens, wie es sich uns objektiv mitzuteilen habe“, so Hildesheimer. Im letzten Akt, während der nächtlichen Gartenszene, als das im Saal sacht aufleuchtende Licht den Bühnenraum auf das gesamte Auditorium ausweitet und das Publikum dadurch in die Aktion einbezieht, sieht sich der Zuschauer gar selbst aus dem Blick des Komponisten, dringt ganz in dessen Kopf hinein.

Dass es darin nicht immer bloß gesittet zuging, ist spätestens seit den 80er Jahren durch den Film „Amadeus“ von Milos Forman bekannt. Sein Wissen bezog er übrigens von Hildesheimer, der in seinem Buch mit dem überzuckerten Image des Komponisten gründlich aufgeräumt hatte. Mozart hatte enorme Freude an verbalen Ferkeleien, er war zuweilen geradezu hysterisch albern, führte sich kinds- und tollköpfig auf. Es passt also – nicht bloß zum Sujet des „tollen“ Tags, sondern auch zur Persönlichkeit des Komponisten – dass die Musiknotation gleich zu Beginn in erotische Kritzeleien von Strichmännchen und -frauchen, gar ganzen Spermienschwärmen ausartet, die am Schluss in wild skizzierten Feuerwerken explodieren, und dass es in der Zeit dazwischen auf der Bühne fortwährend anzüglich und grotesk zugeht.

Mozart war, neutral ausgedrückt, unangepasst, und zwar nicht nur auf der Verhaltensebene. Hildesheimer mutmaßte, dass es dem „Wunderkind“ wahrscheinlich auch im Erwachsenenstadium nie bewusst wurde, wie (hoch)begabt er war. Überhaupt: „Der verbale Ausdruck seelischer Empfindung ist Mozarts Sache nicht gewesen“, schreibt Hildesheimer. Zu realen Menschen habe der Komponist „ein distanziertes Verhältnis“ gehabt. Er „lebte“ in der Musik – mit dieser Formulierung fühlte nicht einmal Hildesheimer sich wohl und wählte sie zur Erläuterung der Person dennoch.

So ganz stimmt diese Aussage jedoch nicht. Denn Mozart lebte in der Welt. In jener stand zu Zeiten seiner Arbeit an „Le Nozze di Figaro“ übrigens der zweite (kleine) Türkenkrieg ins Haus: ein Zusammenprall muslimischer und westlicher Kultur (dessen Auswirkungen auch musikalische Spuren hinterließen, im Rondo „alla turca“ der Klaviersonate Nr. 11). Für einen kurzen, irritierenden Moment fühlt man sich in dieser Inszenierung an den historischen Kontext erinnert, als – in der Fantasie des Grafen – Figaro durch dessen Dolch enthauptet wird. Was allerdings spätestens dann buchstäblich ins Gesichtsfeld rückt: Rache ist das zweite große Thema in „Le Nozze di Figaro“ – ein gern übersehener, gespenstisch aktueller Aspekt des Stücks.

Den Gegenpol bildet nicht etwa das Thema Ehe – sondern Liebe. Exakt hierin besteht der geradezu visionäre Vorgriff des Komponisten: Die Liebesheirat wird erst in der Epoche der Romantik Ideal der Verbindung zwischen Mann und Frau sein. Mozart war (äußerlich) verspielter Rokoko-Mensch – im tiefsten Inneren jedoch bereits Romantiker. Ein Revolutionär auf dem Gebiet der Liebe.

In seiner Wahlheimat Wien war der Stern des einstmals zumindest vom Publikum Geliebten längst im Sinken begriffen, mochte er im Ausland auch gefeiert sein. „Le Nozze di Figaro“ war nur eine von zahllosen Opern, mit denen sich der Adel die Zeit vertrieb, seine Klavierkonzerte interessierten nicht. Andere Größen, wie beispielsweise Haydn, hatten Mozart gesellschaftlich und musikwissenschaftlich den Rang abgelaufen. Opern wurden bei heute längst vergessenen Komponisten in Auftrag gegeben – und mit „seinen“ Sängern aufgeführt. Mozart hingegen erhielt, vielleicht als Folge von 1784 in Adelshäusern gegebenen Konzerten, Ende 1787 lediglich einen „Dauerauftrag regelmäßiger Lieferungen von Tanzprogrammen für den Hof“. Es ist kein Wunder, dass er ein großes Interesse am Stück von Beaumarchais hegte: In jener Zeit machte er Grafen (beziehungsweise die kaiserliche Hofgesellschaft) tatsächlich Menuette tanzen. Mozart ist Figaro.

Er schrieb mit diesem Werk keine „Revolutionsoper“. Aber er macht seine Auftraggeber lächerlich. Er hatte die Höhen, nun vor allem auch die Tiefen des Erfolgs erlebt, er wusste, dass schon die damalige Amüsiergesellschaft der Reichen und Schönen ihre Lieblinge eiskalt fallen lässt, wenn ihr plötzlich langweilig ist, wenn neue Moden, neue Sternchen „angesagt“ sind.

Die Unzuverlässigkeit der Gunst trifft natürlich auch und insbesondere zu für die weibliche. Die Liebe seines Lebens hatte ihn abgewiesen, deren in jeder Hinsicht weitaus pragmatischere Schwester erwies sich als leidlicher Ersatz. Für Mozart war die Liebe zeitlebens Sehnsuchtsort, nicht Heimat. „Ihr, die ihr die Liebe kennt: schaut, ob ich sie im Herzen habe“: Mozart ist auch Cherubino. Der wiederum ist nicht der Engel der Geschichte (die politische Revolution) – sondern der Engel der Liebe ist in dieser Oper gegenwärtig, singt (himmlisch ergreifend, dank Dorottya Láng) durch diese halb tolle, halb bemitleidenswerte Figur. Sie ist die einzig wirklich Fühlende unter den Protagonisten. Figaro ist das Außen, Cherubino das Innen Mozarts. Und wenn er – nicht selten – ganz allein ist, spricht er mit sich selbst.

Ein solcher Moment ist „Le Nozze di Figaro“. Mozart ist von allen früheren Freunden und Gönnern verlassen, und er schafft sich Gesellschaft – in seinem Kopf. Das Komponieren ist für ihn einerseits (intellektuelles) Spiel, andereseits Ventilieren von Emotion – dies jedoch nonverbal: durch den „Klang der vergeblichen Worte“, wie Cherubino singt. Das Personal des „Figaro“ ist ihm jene Unterhaltung, Genugtuung (die vornehme Form der Rache), Zugehörigkeit, die er im Leben bitter vermisst. Es verschafft ihm, wie uns beim Zuhören (und -sehen), ein Gefühl des Glücks.

Bevor es auf der Bühne tatsächlich eintritt, da endlich alle Verwirrungen gelöst und die Liebe gesiegt hat, lässt der Regisseur dem Publikum buchstäblich ein Licht aufgehen, während der nächtlichen Gartenszene, damit dem Zuschauer bewusst wird, dass etwas Besonderes im Gange ist. Er darf sich, überdies moralisch ermahnt durch Susanna, als Teil des Geschehens betrachten – als Protagonist jener durchgedrehten Spaßgesellschaft dort oben, die „Spiele der Erwachsenen“ betreiben. Und er soll sich gegenwärtigen, dass er die Geschichte „durch (nicht mit!) Mozarts Musik“ erlebt.

Der dann eintretende Augenblick, in dem das Glück vollkommen ist, vollzieht sich wieder im nächtlichen Dunkel, und er ist vertont mit einer Trauermusik. Alle sind glücklich, nur einer nicht: der Komponist. Der leidet, in diesem Moment, an einer Art postnataler Depression, die jeden Künstler kurz vor Fertigstellung des von ihm geschaffenen Werks ereilt. Er hat es zur Welt gebracht und nun, wo die Geschichte fast vorbei ist, wird die Gesellschaft in seinem Kopf ihn verlassen. Er wird zurückbleiben in seiner entsetzlichen Einsamkeit, eingesperrt in seinen eigenen Kosmos, den (Klang-)Käfig in seinem Kopf. Aber bevor das geschieht, zündet er, in unserem Gehör und vor unseren Augen auf der Leinwand-Partitur, rasch noch ein amüsantes kleines Skizzenfeuerwerk als Finale.

Und wird, damals wie heute, von seiner Mitwelt nicht verstanden. Die reagierte gestern abend (zu Recht) mit Ovationen für Sänger, Musiker und Regieteam. Doch einen Moment des Innehaltens gab es zuvor nicht. Das Publikum war „im Kopf des Komponisten“ und ist, dem einhelligen Jubel nach zu urteilen, dem Menschen dennoch nicht nahegekommen. Obwohl er und die ganze Tragik seiner Existenz, so deutlich wie wahrscheinlich in keiner anderen seiner Opern, in „Figaro“ vollkommen sicht- und fühlbar wird. Hildesheimer nämlich irrte in seiner Behauptung, über die Person Mozart sei aus deren Musik nichts erfahrbar. In dieser Produktion gelingt der phänomenale Gegenbeweis. „Le Nozze di Figaro“ ist keine komische Oper. Sondern eine zutiefst traurige.

„Ohne Musik wär’ alles nichts“ (Mozart) – aber ihre fundamentale Wirkung entfaltet „Le Nozze di Figaro“ vor allem durch eine ausnahmslos hervorragende Besetzung (in weiteren Hauptrollen: Katerina Tretyakova als Susanna, Wilhelm Schwinghammer als Figaro, Kartal Karagedik als Graf Almaviva, Iulia Maria Dan als Gräfin Almaviva, Katja Pieweck als Marcellina, Jürgen Sacher als Don Basilio, Peter Galliard als Don Curzio, Tigran Martirossian als Don Bartolo, Christina Gansch als Barbarina, Franz Mayer als Antonio). Dirigent Ottavio Dantone und das Philharmonische Staatsorchester Hamburg lassen durch die „himmlische“ Unbeschwertheit der Komposition effektvoll deren dämonische und tragische Dimension anklingen. Die wunderbare Veranschaulichung der Musik verdankt sich Christof Hetzer (Bühnenbild), Gesine Völlm (Kostüme) sowie den Video-Gestaltern (fettFilm).

Christa Habicht, 16. November 2015

Sämtliche Fotos: Karl Forster

 

 

 

Zum Zweiten

DIE TROJANER

in der Strichfassung von Pascal Dusapin

Premiere 19. September 2015

besuchte Aufführung 26. September 2015

„Arma virumque cano“ (Kriege besinge ich und den Helden) - diesen Beginn und den Inhalt des Versepos „Aeneis“ von Publius Vergilius Maro (70 bis 19 vor Chr) kannte zu Zeiten mit mehr Lateinunterricht jeder Gymnasiast. Heute hingegen verstehen Jugendliche unter einem „Trojaner“ mehr einen Ausdruck der Computersprache als einen Einwohner des antiken Troja. So ist die Aufführung einer Oper, die die Kenntnis der Aeneis mehr oder weniger voraussetzt, ein ehrgeiziges Wagnis .

Zwei Episoden des Epos inspirierten Hector Berlioz zu einer „grossen Oper in fünf Akten“ nach eigenem Text - eigentlich zwei Opern mit Äneas als Verbindungsperson. Der erste Teil „Die Einnahme von Troja“ (La Prise de Troie)zeigt, wie die leichtgläubigen Trojaner trotz Warnungen der Seherin Kassandra das mit feindlichen Griechen gefüllte Pferd in ihre Stadt holen und dann von diesen besiegt werden. Der zweite Teil „Die Trojaner in Karthago“(Les Troyens à Carthage) zeigt die Liebe zwischen Aeneas und Dido ( Énée et Didon), die pflichtgemässe Abreise des Aeneas nach Italien, um dort Stammvater Roms zu werden, und den Selbstmord der enttäuschten Dido. Erst nach dem Tod von Berlioz fand 1890 in Karlsruhe unter Felix Mottl die vollständige Uraufführung statt.

Nach der Hamburger Erstaufführung im Jahre 1982 (ML Sylvain Cambreling an Stelle von Christoph von Dohnányi  - Inszenierung Götz Friedrich) haben die neue Intendanz und der neue GMD Kent Nagano dieses schwierige Werk als ihre erste Opernaufführung ausgewählt. Es paßte insofern gut, da wie Hamburg sowohl Troja als auch Karthago Hafenstädte waren, die ihren Wohlstand dem Handel verdankten. Königin Didos Lob des Welthandels und des Karthagischen Wirtschaftswunders entging demgemäß den Kürzungen. Dieses wurde allerdings konterkariert durch schlammbedeckte Sklaven, die sich gebeugt zu Klängen des „Sklavenballets“- des einzigen übrig gebliebenen Ballets - über die Bühne bewegten. Insgesamt wurde mehr gestrichen als 1982 – damals mehr als vier Stunden Aufführungsdauer. Die jetzige Fassung des französischen Komponisten Dusapin scheint dramaturgisch konsequent, wenn auch z.B. von mehreren Strophen einer Arie nur eine gesungen wurde.

Wie von Regisseur Michael Thalheimer, zu erwarten, war kein Meer zu sehen und auch kein Pferd, das Götz Friedrich 1982 schwarz die ganze Bühne füllend hatte erscheinen lassen. Wenig einfallsreich stellte Olaf Altmann für beide Teile am rechten und linken Bühnenrand jeweils eine riesige bis oben reichende Wand auf, die zur Not im ersten Teil als Festungsmauern, im zweiten als Palastmauern interpretiert werden konnten. Die riesige Rückwand konnte durch Drehen geöffnet werden, vor allem, um durch sie den Chor als geschlossenen Gruppe auftreten zu lassen. Einzig zum grossen   Liebesduett zum Ende des 4. Aktes leuchtete eine Art Mond. (Licht Norman Plathe)

Diese Bühne bildete den Rahmen für den blutigen ersten Teil. Kassandra hatte blutige Hände, mit denen sie während des Oktetts die späteren Kriegsopfer markierte. (Dieses Oktett mit Chor und das ähnliche Septett im vierten Akt waren musikalische Höhepunkte!) Hektors Geist war am ganzen Körper mit verkrustetem Blut bedeckt. Als Zeichen der Zerstörung Trojas regneten Mengen Blut die hintere Wand herunter. Diese blutbedeckte Wand war dann auch Hintergrund für Didos Selbstmord im fünften Akt. Weniger hervorgehoben wurde im dritten Akt, wie Dido, die selbst als Flüchtige an Land gekommen war, die um Landungsrecht bittenden flüchtigen Trojaner aufnimmt. („Wer das Leiden kennt kann nicht andere leiden sehen“) Allerdings brachten im Gegensatz zu heutigen Flüchtlingen die Trojaner auch ihren Schatz mit! Bei der Gelegenheit sorgte Aeneas Sohn Askanius (Ascagne) mit Flügeln versehen(„ein Knabe ähnlich Cupido“) für den Beginn der Liebe zwischen Dido und Aeneas. Dies spielte und sang Christina Gansch überzeugend. Das grosse Duett von der „Nacht des Rausches und der Extase“ sangen die Liebenden wie viele andere Einzelauftritte der Aufführung zunächst ganz an den Bühnenrändern – Dido wirft Äneas Gefühlskälte vor – dann fanden sie aber doch zusammen.

Die heutigem Alltag zugehörigen Kostüme von Michaela Barth waren wenig einfallsreich – irgendwelche unterschiedslose Uniformen für Soldaten einschließlich König Priamos, schlecht passende Anzüge für die friedlichen Karthager, Kassandra ganz in weiss, Dido im eleganten Abendkleid.

Durch diese reduzierten Bühnenmittel konnte die musikalische Seite umso stärker in den Vordergrund treten.

Bestens besetzt waren die beiden wichtigen Frauengestalten. Catherine Naglestad beherrschte hochdramatisch den grossen Stimmumfang der Partie der Kassandra von exakt getroffenen Spitzentönen bis zu den extremen Tiefen ihrer beiden Arien. Auch verstand sie, ihrer Stimme neben den dauernden düsteren Prophezeiungen einen weicheren Klang zu verleihen, wenn es um ihre Liebe zu Chorèbe ging (mit grossen Legatobögen aber etwas Schwierigkeiten bei ganz tiefen Tönen  Kartal Karagedik) Dagegen ist Didos Partie vielseitiger, da sie von der stolzen Königin über die grosse Liebende zur hasserfüllten Furie und schließlich verzweifelten Selbstmörderin wird. Diese extremen Gefühle wußte Elena Zhidkova darstellerische überragend zu vermitteln, vor allem auch stimmlich mit exakt getroffenen Spitzentönen, lyrischem Legato für die Liebesszenen, sogar mit Koloraturen bei den Ensembles. Für den erkrankten Torsten Kerl sprang Ian Storey als Aeneas ein. Auch er traf martialisch die Spitzentöne, sang p im Liebesduett und steigerte sich in seiner grossen, hier leider auch gekürzten Arie im fünften Akt. Von den zahlreichen weiteren Partien muß Katja Pieweck als Didos Schwester Anna bewundert werden. In ihrem matronenhaft unvorteilhaften Kostüm wußte sie mit blühender Altstimme und grossen Kantilenen zu begeistern. Ihr Duett mit Dido im dritten Akt war ein musikalischer Höhepunkt. Mit mächtigem Bass bis in ganz tiefe Töne überzeugte Petri Lindroos als Didos Minister Narbal. Die beiden populären Tenorarien gelangen belcanto-reif Markus Nykänen als Dichter Iopas mit nur einer Strophe und ganz besonders Nicola Amodio mit dem wunderbaren Weltabschiedslied des Matrosen Hylas ganz ungekürzt.

Aber die Oper heißt „die Trojaner“, so waren Chor und Extrachor in der Einstudierung von Eberhard Friedrich nach etwas wackligem Anfang die stimmlichen Hauptakteure, mächtig klingend in ganz grosser Besetzung, durchhörbar mehrstimmig in kleineren Gruppen, ganz pp „perdendosi“ nach Andromaches Trauerauftritt. Besonderes Lob gebührt dem Damenchor in der Selbstmordszene des zweiten Aktes.

Aufgeführt wird heute die Oper nicht als Nachhilfe für die Vorgeschichte des Römischen Reiches, sondern wegen der melodischen und instrumentalen Raffinesse der Musik. Die zeigten in allerschönsten Farben das Philharmonische Staatsorchester – auch als Bühnenmusik – unter der beschwingten und zur raschen Tempi neigenden Gesamtleitung durch ihren neuen Chefs Kent Nagano. So wurden etwa die Musik zur Begleitung der Trauer Andromaches, zum Auftritt von Hektors' Schatten, der „königlichen Jagd“ mit Gewittermusik, die Vorspiele der beiden Teile und Begleitung etwa des Lieds des Hylas auch dank der grossartigen Soli der einzelnen Bläser zu Höhepunkten der Aufführung.

Übertitel gab es in Deutsch und Englisch, Französisch hätte auch dazu gehört, denn man verstand kaum den französischen Text.

Trotzdem gab es im nicht übermässig verkauften Opernhaus viel und herzlichen Beifall nach einzelnen Szenen und der gesamten Aufführung, auch einzelne Bravos, vor allem für die Sänger der Hauptpartien. Schon vor der Aufführung wurde Kent Nagano mit ungewöhnlich langem Beifall begrüßt, was sich nach der Pause und der Aufführung fortsetzte - er scheint schnell die Gunst des Hamburgischen Publikums gewonnen zu haben.

Sigi Brockmann 28. September 2015

Fotos Hans Jörg Michel

 

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