DER OPERNFREUND - 51.Jahrgang
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BROKEBACK MOUNTAIN

Premiere am 19. Februar 2022

Musikalisch stark und szenisch suggestiv

Eine Oper nach einer Filmvorlage? Nein. Das wäre nur ein müder Abklatsch, gerade bei einem so außerordentlichen Filmkunstwerk wie Ang Lees Brokeback Mountain aus dem Jahr 2005. Vielmehr haben der Film und die im Jahr 2014 uraufgeführte Oper des vor zwei Jahren verstorbenen Komponisten Charles Wuorinen dieselbe literarische Vorlage, nämlich eine Kurzgeschichte der Pulitzer-Preisträgerin Annie Proulx. Die Autorin selbst hat dann auch das Libretto zu der Oper geschrieben, die nun das Theater Gießen in einer beachtlichen Produktion herausgebracht hat.

Dabei unterscheiden Film und Oper sich dramaturgisch erheblich. Wo der Film auf die Wirkungsmacht seiner Bilder setzen kann, arbeitet die Oper mit genuin theatralischen Mitteln, und das heißt insbesondere, daß die Figuren stärker über ihre Worte charakterisiert werden. Zudem hat die Autorin versucht, die Geschichte der tragischen Liebe zweier Männer, die an ihren inneren Zwängen mindestens ebenso scheitern wie an den gesellschaftlichen, mit einem Blick auf ihr unmittelbares Umfeld zu weiten. So werden im Unterschied zum Film die Ehepartnerinnen der beiden Protagonisten stärker profiliert. Schließlich ist das Hauptmedium einer Oper der Gesang, und Cowboys sind recht schweigsam.

Der Film setzt über weite Strecken auf die herbe Schönheit der Berglandschaft, in der die beiden jungen Männer einen Sommer lang Schafe hüten. Auch die inszenierende Intendantin Cathérine Miville setzt zu Beginn der Aufführung auf die starken Videoeinblendungen, die Marc Jungreithmeier erstellt hat. Diese entfalten oft eine atmosphärische Wirkung, entgehen aber nicht immer der Gefahr des schieren Naturalismus mit Bergwelt samt Schafherde und schrammen mit einem malerischen Sternenhimmel haarscharf am Kitsch vorbei. Hübsch anzusehen sind diese Videos aber durchweg. Sie fügen sich zudem gut in das Bühnenbild von Lukas Noll ein. Dieses stellt sehr suggestiv den titelgebenden Berg in den Mittelpunkt. Dessen gezackte, schroffe Silhouette ist immer präsent.

Die Handlung erscheint gerade in der ersten Hälfte im Vergleich zum Film stark gerafft. Das erste körperliche Zusammenkommen der beiden Männer ergibt sich recht unvermittelt. Ihre Vereinigung wird dezent als Schattenspiel hinter einer Zeltwand angedeutet.

Die kurzen Szenen überspringen größere Zeiträume, was durch lakonische Einblendungen mitgeteilt wird. Dem leicht abstrahierenden Naturalismus des Settings entspricht die flüssige, schnörkellose und einleuchtende Personenregie. So vergeht die erste Stunde vor der Pause wie im Flug. Das ist eine gar nicht gering zu schätzende Leistung, denn die Partitur zeigt sich formal kompromißlos modern. Sie ist freitonal komponiert. Melodische oder harmonische Zusammenhänge werden strikt vermieden. Und doch fügt sich die Komposition gut zum Text. Das liegt zum einen daran, daß die Führung der Gesangsstimmen der Prosodie der englischen Sprache folgt und trotz ihrer Atonalität dadurch eine große Natürlichkeit besitzt. Zum anderen lebt die Partitur von den Klangfarben des reich und vielfältig besetzten Orchesters. Der suggestive Einsatz heller und dunkler Klänge etwa bedient letztlich dann doch überlieferte Hörgewohnheiten und ist daher für das Publikum gut konsumierbar. Hier und da blitzt dann sogar ein Westernklischee auf, ein paar Takte auf der Fidel etwa oder Trompetenkantilenen. Das Orchester unter der Leitung von Fabrizio Ventura arbeitet die Klangfarben plastisch heraus. Ein Blick in den Orchestergraben verrät, daß man offenbar nicht die für das Salzburger Landestheater erstellte, auf 24 Musiker reduzierte Kammerfassung gewählt hat, sondern entsprechend dem Original mit einer größeren Instrumentalpallette aufwartet.

Die Zuordnung der Stimmfächer ist geradezu traditionell geraten. Samuel Levine darf als schwämerisch-offener Cowboy Jack seinen klangvollen lyrischen Tenor in einigen saftigen Kantilenen vorführen, Sebastian Noack dagegen profiliert mit seinem kernigen Bariton den maulfaulen Ennis zunächst in kurzen, abgehackten Einwürfen, darf aber im Verlauf des Abends auch längere Gesangspassagen mit herber Eindringlichkeit gestalten. Darstellerisch gelingt es den beiden, ihre Figuren glaubwürdig zu charakterisieren.

Die von der Librettistin aufgewerteten weiblichen Figuren sind ebenso stark besetzt. Hailey Clark als Ennis‘ Ehefrau trumpft mit üppigem Sopran auf, während Ilseyar Khayrullova als Jacks Ehefrau mit klangvollem Mezzosopran überzeugt. Auch die vielen kleinen Partien, Charakterrollen oder Stichwortgeber zumeist, sind tadellos besetzt. In seinen kurzen Einsätzen fügt sich der Opernchor nahtlos in eine überzeugende Ensembleleistung ein.

Einmal mehr macht sich das kleine mittelhessische Haus um die Erweiterung des Repertoires verdient und präsentiert eine musikalisch starke, dabei szenisch werkdienliche Produktion, für die sich auch eine weitere Anreise lohnt.

Weitere Vorstellungen gibt es am 4. und 18. März, 9. und 29. April sowie am 12. Mai.

Michael Demel / 26. Februar 2022

Bilder: Rolf K. Wegst

 

 

Bellini: ZAIRA

Besuchte Vorstellung am 8. Januar 2022 (Premiere am 18. Dezember 2021)

Gute Gelegenheit zum Kennenlernen eines vergessenen Werkes

Ist Voltaire schuld, daß Vincenzo Bellini einen seiner größten Mißerfolge erleiden mußte? Das Libretto zu der Oper Zaira folgt einer Tragödie des französischen Aufklärers, die seinerzeit ein vielgespieltes Repertoirestück auf den Spielplänen gerade auch italienischer Theater war. Die Geschichte nimmt das damals beliebte Kreuzfahrersujet auf: Jerusalem ist von den Muslimen zurückerobert worden, die christliche Bevölkerung wird zunächst versklavt, der edle Sultan aber will die Christin Zaira heiraten und läßt die gefangengenommenen Kreuzritter samt deren König frei. Überraschender Weise stellt sich Zaira als verschollene Tochter des Kreuzfahrerkönigs heraus. Obendrein entpuppt sich ein junger Mann, auf den Zaira einst ein Auge geworfen hatte, als ihr leiblicher Bruder. Dieser ist ein christlicher Eiferer, der die Hochzeit der Schwester mit einem Muslim verhindern will. Das trifft sich mit den Absichten des Wesirs, der gegen die geplante Verbindung des Sultans mit einer Ungläubigen intrigiert. Der eifernde Bruder will Zaira zur Flucht bewegen, übersendet ihr dazu einen Brief, welcher abgefangen wird und vom Sultan ohne Kenntnis des Inhalts für einen Liebesbrief an die vermeintlich untreue Braut gehalten wird. Er überrascht Zaira bei einem nächtlichen Treffen mit ihrem Bruder und ersticht sie aus Eifersucht.

 

Naroa Intxausti in der Titelpartie

 

Das ist der übliche italienische Libretto-Standard des 18. und 19. Jahrhunderts mit seinen absurd unglaubwürdigen Wiedererkennenungsszenen („O, mein Vater!“ „O, meine Tochter!“) und konstruierten Verwechslungen. Selten darf dabei ein Brief mit Einladung zu einem nächtlichen Stelldichein fehlen (man denke nur an Mozarts Figaro oder Verdis Don Carlo). Das Ganze wird hier angereichert mit orientalischem Flair und einem edelmütigen Sultan. Die Entführung aus dem Serail läßt grüßen. Auch die Urheberschaft von Voltaire macht diese Ansammlung von Klischees zu keinem Geniestreich. Der französische Philosoph darf in der Gießener Inszenierung aber als Stabpuppe auftreten und das Geschehen zwischen den Szenen kommentieren. Es werden dann Auszüge aus Originaltexten Voltaires in französischer Sprache über Lautsprecher eingespielt und in deutscher Übersetzung als Text auf die Bühnenwände projiziert. Das ist eine hübsche Idee zur Einordnung und intellektuellen Überhöhung, ändert aber nichts an dem Eindruck, daß Voltaire als Dramatiker nicht überschätzt werden sollte und zu Recht in Vergessenheit geraten ist, denn – Hand aufs Herz: Wann haben Sie zuletzt ein Drama von Voltaire auf einer Bühne gesehen?

Gleichwohl, Verdi hat weitaus krudere Textvorlagen mit Erfolg vertont, man denke nur an den Troubadour. Dabei fehlt es der Partitur von Zaira nicht an gut gemachten Duetten, Ensembles und Chorszenen. Einige der Nummern hat Bellini später in anderen, erfolgreicheren Opern wiederverwendet. Der Mißerfolg des Stückes, der seit seiner Uraufführung bis heute anhält, liegt wohl eher in einer unglücklichen Dramaturgie, die für das Liebespaar die sehr ungewöhnliche Kombination Sopran (Zaira) und Baßbariton (Sultan) vornimmt, dem Tenor (Wesir) zwar eine bravouröse Auftrittsarie gönnt, ihn dann aber ins Abseits stellt, und die wirkungsvollsten Duette für Sopran (Zaira) und Mezzo (ihrem Bruder in einer Hosenrolle) reserviert, die ihrerseits ein prima Liebespaar abgäben, aber leider Geschwister sind.

 

Kein Liebespaar: Na'ama Goldman (Nerestano) und Naroa Intxausti (Zaira)

 

Musikalisch wartet die Gießener Produktion mit einem Coup auf: Der vormalige Generalmusikdirektor Herbert Gietzen hat für die beschränkten Verhältnisse des kleinen Orchestergrabens (und wohl auch im Hinblick auf Abstandsgebote angesichts der Corona-Pandemie) eine Kammermusikfassung für dreizehn Instrumente erstellt. Das harmonische Grundgerüst, welches bei Belcanto-Opern meist auf dem Repetieren gebrochener Akkorde beruht, ist einem Klavier und einem Harmonium anvertraut, zu denen an einigen Stellen noch eine Harfe aparte Klangfarben beisteuert. Die übrigen Instrumente, Streicher wie Holzbläser und Horn, sind solistisch besetzt, das schwere Blech wurde eliminiert, und im Schlagzeug sorgen Trommeln, Tamburin und Triangel für orientalisches Kolorit (oder was man sich in Europa seinerzeit darunter vorstellte). Das wird von den Gießener Musikern unter der musikalischen Leitung von Jan Hoffmann mit frischer Lebendigkeit, schön ausgespielten Instrumentalsoli und überraschender Klangfülle umgesetzt.

Der reduzierte Orchesterapparat erweist sich als sehr sängerfreundlich. So kann Naroa Intxausti in der Titelpartie ihre Qualitäten ausspielen. Die langjährige Gießener Stammsängerin verfügt über einen schlanken, hellen, fast silbrigen Sopran, der sie für quirlige Soubretten-Rollen prädestiniert. Die Zaira erfordert an sich eine üppigere, zu dramatischen Weiterungen fähige Stimme. Unter den Verhältnissen des intimen Theatersaals erweist sich aber die Wendigkeit der Intxausti als Vorzug. Mühelos präsentiert sie Koloraturen und Verzierungen. Ihr leichtes, schwebendes Piano füllt den Gießener Zuschauerraum mühelos und weiß zu berühren. Hier hat sie ihre stärksten Momente. Ausgezeichnet fügt sich ihre Stimme zudem in die Duette und Ensembles ein. Lediglich dann, wenn sie zu dramatischer Emphase ausholt, neigt sie zum starken Tremolieren. Als ihr (zunächst unerkannter) Bruder Nerestano überzeugt Na’ama Goldman mit satten und dunklen Mezzotönen. Sie bleibt der Partie nichts an dramatischer Glut schuldig, ist als junger Mann stimmlich wie optisch glaubhaft und überrascht immer wieder damit, wie souverän und unangestrengt sie auch ihre Höhenlage präsentieren kann.

 

Leonardo Ferrando (Wesir) und Marcell Bakonyi (Sultan)

 

Sehr rollenadäquat gibt Marcell Bakonyi den Sultan Orosmane. Sein kerniger, aber schlanker Bariton paßt hervorragend zu einem noch jungen Herrscher. Daß Bellini für den Wesir Corasmino keine größeren Aufgaben vorgesehen hat, ist ein Jammer, denn Leonardo Ferrando ist ein nahezu idealer Belcanto-Tenor. Seine gut sitzende Stimme ist attraktiv gefärbt, hell zwar aber mit virilem Kern, und erweist sich als koloraturensicher. Unerschrocken attackiert er die belcanto-typischen Höhen und wäre perfekt für eine Rolle als Liebhaber, wenn das Libretto ihn nicht zunächst als durchtriebenen Bösewicht einführen würde, um ihn anschließend aufs Abstellgleis zu schieben. Die übrige Besetzung, Stichwortgeber zumeist, fällt nicht hinter die Protagonisten zurück. Auch der Chor bleibt mit homogenem Klang in angenehmer Erinnerung.

 

Die Regie von Dominik Wilgenbus widersteht der Versuchung, den Konflikt von Islam und Christentum und die Verortung des Geschehens im Nahen Osten zur Ausrede für politische Stellungnahmen, Aktualisierungen oder Überschreibungen zu nutzen. Sie unternimmt nichts weiter, als die vorgesehene Handlung plausibel zu arrangieren. Das ist bei unbekannten Stücken für das Publikum hilfreich. Die szenischen Möglichkeiten steckt das Bühnenbild von Lukas Noll ab mit vier neben- und übereinander gestellten kleinen Räumen nach Art eines Setzkastens. Das ermöglicht fließende Szenenwechsel und Parallelaktionen. Christliches und Muslimisches ist teils baulich etwa mit einem angedeuteten Kreuzrippengewölbe, überwiegend aber mit Projektionen jeweils typischer Architektur und Symbole präsent. Die ebenfalls von Noll entworfenen Kostüme mischen phantasievoll, aber dezent historische Kleidungsstile mit aktualisierender Ausführung. Die Männer tragen moderne Anzughosen, welche aber bei den Muslimen mit orientalisierten, mitunter verzierten Gehröcken, dazu Turbanen und bei den christlichen Kreuzrittern mit Andeutungen von Rüstungen mittels Schulteraufsätzen kombiniert werden. Die Damen werden als Angehörige des Harems in Schleier gekleidet wie aus einem Bilderbuch zu Tausendundeine Nacht.

 

Die Produktion ist gut geeignet, um das vergessene Werk kennenzulernen. Es ist immer wieder erstaunlich, wie es dem kleinen Gießener Haus gelingt, adäquate, zum Teil sogar bemerkenswerte Besetzungen zusammenzustellen. Die Gesangsleistungen machen den Abend im Verbund mit der engagierten Leistung des Orchesters, dessen Mitglieder sich hier allesamt solistisch bewähren, zu einer runden Sache.

 

Weitere Vorstellungen gibt es am 29. Januar, 3. Februar sowie am 6. und 27. März.

 

Michael Demel / 20.01.2022

 

© der Bilder: Rolf K. Wegst

 

 

 

THE RAPE OF LUCRETIA

Bericht von der Premiere am 4. September 2021

Anspruchsvolle Saisoneröffnung

Die Kritik zur Eröffnungspremiere hat Intendantin Cathérine Miville beim Schlußapplaus gleich selbst geliefert. Spürbar hingerissen und ergriffen brachte sie nicht nur ihre Begeisterung über einen im Schachbrettmuster gut besetzten Zuschauerraum zum Ausdruck, sondern schwärmte auch von grandioser Musik, phantasievollem Bühnenbild samt Kostümen und einer eindringlichen Inszenierung. Vom OPERNFREUND kommt dazu kein Widerspruch. Einige Fußnoten müssen gleichwohl gesetzt werden.

Mit Benjamin Brittens Rape of Lucretia setzt das Gießener Stadttheater seinem Publikum anspruchsvolle Kost zum Saisonstart vor. Man merkt es zu Beginn, daß das Publikum mit den spröden, schroffen Klangfarben der ersten Szene fremdelt. In einem Feldlager besaufen sich Offiziere und machen derbe Späße über die Tugendhaftigkeit der zu Hause gebliebenen Ehefrauen. Bühnen- und Kostümbildner Lukas Noll hat dafür das Setting von der Antike in die Gegenwart verlegt. Die Soldaten tragen moderne Kampfanzüge. Das Ganze findet im Innern eines geschlossenen Raumes statt, in dem aber ein Zelt aufgebaut ist. Ein wenig wirkt es wie ein Spiel von groß gewordenen Kindern, die im Wohnzimmer ein Feldlager nachstellen.

Die zweite Szene soll dann in einem Patrizierhaus in Rom spielen, aber es sieht dem Raum der ersten Szene verdächtig ähnlich. Beim nächsten Szenenwechsel erkennt man, daß dahinter ein raffiniertes Spiel des Produktionsteams steckt: Bühnenbildner Noll hat auf der Drehbühne des Hauses eine Abfolge von in der Grundanlage immer gleichen Räumen gebaut, welche mit variierenden Requisiten angereichert quasi ein Feststecken, ein Auf-der-Stelle-Treten ausstellen. Schon vor der eigentlichen Handlung zeigt die Regie (Christian von Götz) vor dem Vorhang eine gequälte, traumatisierte Frau. Die Vergewaltigung aus dem Operntitel, altertümlich „Schändung“ genannt, wird als Fluchtpunkt des Stückes überdeutlich herausgestellt. Auch im weiteren Verlauf tut das Inszenierungsteam in seinem Willen zur Verdeutlichung des Guten mitunter zuviel. Wo das Textbuch mit den Mitteln des epischen Theaters Distanz erzeugen will und eine dem Zuschauer des 21. Jahrhunderts fremde Umdeutung der antiken Grundhandlung zu Zwecken der christlichen Heilsgeschichte vornimmt, versucht die Regie die Ungeheuerlichkeit einer Vergewaltigung noch zu steigern: Lucretia wird als hochschwanger dargestellt. In ihrer ersten Szene wird das Kinderzimmer für das Ungeborene in freudiger Erwartung hergerichtet. Die Vergewaltigung, die gemäß dem Textbuch bewußt nicht auf offener Bühne dargestellt wird, führt in der Gießener Deutung zu einer Fehlgeburt. Ein blutiger Haufen Fleisch wird in einem gläsernen Behältnis entsorgt. Diese bemühte Potenzierung der Drastik eines ohnehin schwer erträglichen Vorgangs ist unnötig.

Die Inszenierung überzeugt dagegen überall da, wo sie der Vorlage vertraut und sich handwerklich tadellos auf die Charakterisierung der handelnden Figuren und das Herauspräparieren innerer Vorgänge konzentriert. Dabei gelingen eindringliche Bilder, etwa wenn der Schänder bei seinem Eintreffen im Haus der Lucretia mystifizierend als Tierwesen dargestellt wird, das einem heidnischen Götzen gleich einen Thron besteigt.

Der Einsatz der beiden Erzähler (ein männlicher und ein weiblicher „Chorus“) überzeugt ebenfalls, nicht zuletzt weil man mit Bernhard Berchtold und Anna Gabler zwei herausragende Sängerdarsteller aufbieten kann. Berchtold verfügt mit seinem hellen, gut fokussierten Tenor über eine geradezu ideale Britten-Stimme in der Nachfolge von Peter Pears. Mit lebendiger Diktion weiß er das Publikum zu fesseln. Anna Gablers expressiver Sopran fügt sich zu der herausgehobenen Funktion, welche die Regie ihr zugedacht hat. Über die Aufgabe als mit dem Male-Chorus gleichberechtigte Erzählerin und Kommentatorin spiegelt sie das Trauma der Titelfigur, nimmt es vorweg und durchleidet es mit ihr.

Kleine Häuser wie das Stadttheater Gießen sind bei Kammeropern in ihrem Element. Das zeigt sich gerade auch bei Benjamin Brittens „Rape of Lucretia“. Die Partitur verlangt ein schmales Kammerorchester von nur 13 Musikern und doch läßt der Komponist durch ungewöhnliche Kombinationen und geschickte Mischungen der Instrumentalfarben faszinierende Klanggebilde entstehen, die an keiner Stelle ein üppiger besetztes traditionelles Orchester vermissen lassen. Die Gießener Musiker, die allesamt solistisch im Einsatz sind, fächern die Partitur unter ihrem jungen Generalmusikdirektor Florian Ludwig tadellos auf. Nach etwas tastendem Beginn entsteht aus dem Orchestergraben heraus ein unwiderstehlicher Sog, der das Publikum mehr und mehr in seinen Bann schlägt. Im Schlußapplaus gibt es für diese überzeugende Leistung ungeteilte Zustimmung.

Die Titelpartie kleidet Evelyn Krahe in dunkel-samtige Alttöne ein. Die von ihr vermittelte abgrundtiefe Verzweiflung nach der titelgebenden Gewalttat rührt ans Herz. Mit dem voll und rund strömenden Mezzo von Sofia Pavone als Amme und dem jugendlich-frischen Sopran von Anna Magdalena Rauer als Dienerin ergeben sich in Ensembleszenen die für Britten typischen bitter-süßen Klangmischungen. Keineswegs als eindimensionalen Gewaltmenschen zeichnet Grga Peros den Tarquinius. Läßt er beim Saufgelage des Beginns seinen kernigen Bariton noch situationsgerecht ungehobelt dröhnen, gewinnt er ihm später gegenüber Lucretia derart sonor-schmeichelnde Töne ab, daß man es einen Moment lang für möglich halten würde, ihm könnte die Verführung der ihrem Gatten treuen Frau ganz ohne Einsatz von Gewalt gelingen. Dieser, der römische General Collatinus, wird vom Baßbariton Christian Tschelebiew eher zurückhaltend interpretiert. Als dritter Bariton hebt sich Kay Stiefermann als Junius von den beiden anderen mit einer charakteristischen Schärfe in der Stimme ab.

 

Die stellenweise Überdeutlichkeit der Inszenierung mit etwas wohlfeilen Aktualisierungstendenzen trübt den starken Eindruck eines fesselnden Musiktheatererlebnisses nicht wesentlich. Wieder einmal lohnt der Weg nach Gießen, um eine Repertoirerarität in einer qualitätvollen Produktion zu erleben.

 

Weitere Vorstellungen gibt es am 7. und 24. Oktober sowie am 14. und 27. November.

 

Michael Demel, 26. September 2021

 

Bilder: Rolf K. Wegst

 


Düsterer Macbeth für 11 Musiker

Premiere: 05.09.2020
besuchte Vorstellung: 23.10.2020

 

Wer bietet weniger…

 

Lieber Opernfreund-Freund,

Corona-Beschränkungen machen nicht nur eine Dezimierung der Zuschauer im Theater erforderlich, auch im Graben sollen sich nicht mehr so viele Musiker tummeln. Deshalb scheinen sich die Häuser derzeit beinahe unterbieten zu wollen, was die Orchestrierung beispielsweise der Werke von Giuseppe Verdi betrifft: neben einem Otello in Regensburg für 21 Musiker und einem Trovatore für 14 am Saarländischen Staatstheater (der „Opernfreund“ hat natürlich über beide Produktionen berichtet) gibt es derzeit einen Macbeth am Stadttheater Gießen zu sehen und in der akustisch wohl gewöhnungsbedürftigsten Version auch zu hören: Arno Waschk hat dem Percussionisten bei seiner Orchestrierung für nur noch 11 Musiker neben Pauke und Schlagwerk auch ein Xylophon zur Verfügung gestellt, für klangliche Fülle sorgt ein Akkordeon.

Doch zunächst kurz zur Szene: das düstere Konzept von Georg Rootering hat sich mühelos den neuen Gegebenheiten anpassen lassen; zwar ist die Anzahl der Hexen auf acht geschrumpft, doch wird die kleine Schar durch die schon von Verdi vorgesehene stumme Rolle der Hecate ergänzt, der Göttin der Nacht und der Hexerei, die omnipräsent umhertanzt (toll: Inga Schneidt) und das Geschehen nicht nur beobachtet, sondern immer wieder vorantreibt, entweder selbst oder durch ihre knochenwerfende Hexenschwester Lady Macbeth, mit der Sie nicht nur die schwarzen Federn am Kostüm teilt. Die dunkel gestaltete Drehbühne ist oft in Bewegung, der blutige Aufstieg von Macbeth zeigt sich schon in entsprechenden Farbakzenten auf der Treppe; überhaupt ist abgesehen vom eher deplatziert wirkenden orangenen Dress der Lady im zweiten Akt ein ausgeklügeltes Farbkonzept Teil des Regieansatzes. Rot ist beinahe die einzige Farbe, die Regisseur Georg Rootering und Kostüm- und Bühnenbildner Lukas Noll uns gönnen, fast klerikal anmutendes Violett schmückt Banco und Macduff. Gelungen und nicht überbordend sind die feinen schottischen Highlights in der Garderobe der Protagonisten, bedrohlich das tiefe Schwarz, in das man ansonsten alles taucht. Die Spuren von Macbeths Mordlust werden nur mühsam durch Tücher kaschiert, dessen Machthunger sich mehr und mehr zum Wahn ausprägt. Dem scheint seine Gattin schon von Beginn an verfallen, fast obligatorisch wird von der Regie nicht erfülltes Mutterglück dafür verantwortlich gemacht. Rootering und Noll deuten viel an, lassen dem Zuschauer Raum für eigene Interpretation, lediglich die letzte Szene samt Axtschleudern und vom Band eingespielten Maschinengewehrsalven gerät allzu archaisch. Insofern ist die Lesart nichts Neues – und dennoch schlüssig und durchaus gelungen.

Ein nicht ganz so glückliches Händchen hat man in Gießen bei der Besetzung. Die hochdramatische Katrin Kapplusch stattet die Lady mit einer beinahe schmerzhaften Schärfe in der Höhe aus und kann kaum davon lassen, die komplette Partie in Schrillheit zu ertränken, findet allzu selten leise Töne und überzeugt dabei doch am meisten. Das ist schade, zeigt die Sängerin doch die darstellerisch packendste Leistung des Abends, an die nicht einmal der durch die Bank mehr als überzeugende Grga Peroš als Macbeth herankommt. Das Ensemblemitglied präsentiert die tragische Titelfigur mit glutvollem Bariton und außergewöhnlich intensivem Spiel und trägt so ebenso zum musikalischen Gelingen des Abends bei wie Matthew Anchel als stimmgewaltiger Banco und Ewandro Stenzowski, der als Macduff reichlich tenoralen Glanz versprüht. Der grandiose Tomi Wendt als Arzt und die hinreißende Naroa Intxausti als Kammerfrau sind wahre Luxusbesetzungen, während Jun-Sang Han als Malcolm mir mit seinem einprägsamen Tenor imponiert.

Die Chöre scheinen beinahe solistisch besetzt, so dass sich die genaue Arbeit bei der Einstudierung, für die Jan Hoffmann und Martin Spahr verantwortlich zeichnen, besonders auszahlt. Letzterer hält am vergangen Freitag auch die elf Musiker bei Laune, die in dieser klanglich mitunter fremd erscheinenden Version im Graben verblieben sind. Auch hier kann sich niemand hinter Instrumentalistenkollegen verstecken. Doch alle meistern die Gratwanderung zwischen dem Wunsch nach klanglicher Fülle und präzisem Musizieren, das Akkordeon fügt sich mühelos in die Reihe der „klassischen“ Instrumente ein, vermag sogar mehr Volumen zu erzeugen als beispielsweise ein Klavier dies könnte. Das zarte Xylophon hat vor allem in den gespenstischen Szenen seinen großen Auftritt, ruft bei mir allerdings größeres Befremden hervor als das Akkordeon – aber das ist, so erklärt Arno Waschk im informativen Programmheft, durchaus gewollt. Martin Spohr überzeugt mit einem forschen Dirigat, das den klanglich neuen Akzenten der Orchestrierung ebenso zu ihrem Recht verhilft, wie dem von Verdi gewünschten Charakter des Werks.

Das Publikum in Gießen habe ich schon immer – man verzeihe mir hier diesen persönlichen Eindruck – als außerordentlich klatschfaul erlebt und das ist auch bei dieser Aufführung nicht anders; deshalb vermag ich nicht zu sagen, ob die teils fremden Klänge auf ungetrübte Begeisterung oder eher verhaltenes Echo gestoßen sind. „Freundlich interessiert“ würde ich die Reaktion zusammen fassen und wenn auch Sie, lieber Opernfreund-Freund, zu den Freundlich-Interessierten gehören, wenn Sie sich auf neue Klänge einlassen und dabei eine vielleicht bekannte Partitur neu entdecken mögen, ist dieser Macbeth mit Sicherheit etwas für Sie.

 

Ihr
Jochen Rüth

28.10.2020

 

Die Fotos stammen von Rolf K. Wengst.

 

 

 

 

Zum Zweiten

WER, WENN NICHT WIR

Besuchte Premiere am 26.10.19

Gießener Heimatabend

Es war eigentlich eine sehr schöne Idee des Stadttheaters gerade diesen Abend zum Offenbach-Jubiläum herauszubringen. "Les Bavards" ein relativ kurzer Zweiakter des Komponisten wurde zunächst für Bad Ems, unweit von Gießen, geschrieben und erlebte noch für Wien und Paris zwei weitere vom Komponisten autorisierte Fassungen, von der musikalischen Inspiration steht es nicht hinter Offenbachs großen, bekannteren Meisterwerken zurück. Andererseits sind "Die Schwätzer" auch eine beliebte bronzene Skulpturengruppe in der Gießener Fußgängerzone. Die Idee die drei Schwätzer innerhalb einer "Probe" in diese Operette eingreifen zu lassen und eine Art Revue für das Kölsche Geburtstagskind mit Gießener Couleur daraus zu gewinnen, klingt erst einmal recht gut. Für "das Libretto" des Abends hatte man mit Jürgen Nimptsch und Lajos Wenzel die Schreiber gewonnen, die sonst für den Kölner Männergesangsverein ihr alljährliches Karnevalsspektakel an der Kölner Oper entwerfen. Doch was bei Laien durchaus charmant wirken kann, fand, meines Erachtens, bei den Theaterprofis vom Gießener Stadttheater nicht das nötige Niveau. Zumal, wenn beim sogenannten Kölner Divertissmentchen, ein bunter Strauß von verschiedenartigen Musikstilen das Gebinde bilden, so kann man das bei einer Hommage an Offenbach stilistisch nicht so durchziehen. Dazu kommen sehr ungeschickte Neutextungen mit wirklich schlimmen Herz-Schmerz-Reimen, diese Banalitäten setzen sich auch in den kalauernden Sprechtexten fort. Bei Piafs "Non, je ne regrette rien" dreht sich dann auch das rote Kritikerpferd im Flur peinlich berührt zurück. Der erste Teil mit dem großen Anteil der "Schwätzer" in der Probensituation geht noch ganz ordentlich über die Bühne und läßt über die Qualität des unbekannten Offenbach staunen, doch nach der Pause gerinnt der Abend zu einer Art Wunschkonzert a la "die schönsten Melodien aus Hoffmann und Orpheus" in der Weise wie Peter Frankenfeld sie in den Siebziger Jahren in "Musik ist Trumpf" servierte. Allendhalben die selbstironische Nummer mit dem Gießkannenmuseum läßt schmunzeln..Astrid Jacob als selbstauftretende Regisseurin schlägt da auch keine großen Funken aus dem Abend, es bleibt irgendwie eine sehr bieder und betuliche Abendunterhaltung für unterhaltungswillige Gemüter, davon gibt es eine ganze Menge, so wird der Abend am Ende doch zu einem recht guten Erfolg. Es wäre ja nicht das erste Mal das Publikumsmeinung gegen Kritikergeschmack steht.

 

Musikalisch ist der Abend doch sehr lobenswert, denn Andreas Kowalewitz am Pult des inspirierten Philharmonischen Orchesters trifft den trockenen, federnden Ton für die französische Operettenmusik, den nicht viele Dirigenten können, die romantischen "Hoffmann"-Tempi zelebriert er dann etwas breiter. Die Sänger zeigen ebenfalls gutes Niveau, mir gefielen, unter anderen, besonders die wirklich lustige Karola Pavone als Schwätzerin Mariechen mit munterem Sopran, der stimmgewaltige Christian Tschelebiew als Sarmiento sowie Annette Luig als geschwätzige Ehefrau Beatrix, das lesbische (!) Liebespaar Sofia Pavone und Carla Maffioletti (una vera soubretta!) als Solange und Ines. Auch der Chor mit seinen Solisten durfte seine Gewandheit und Klangfülle zeigen.

 

Dann war da noch die Tanzkompanie des Stadttheaters Gießen, die augenscheinlich sonst eher dem modernen Tanz zugeneigt sind, und nahezu satirisch den klassischen Unterhaltungstanz aufs`Korn nahmen. Was beim Publikum sehr gut ankam und auch wirklich witzige Momente bescherte, trotzdem, jaja meine Meinung, irgendwie auch ein bißchen "fremd" an dem Abend wirkte. Die lichte Bühne und die farbenfrohen Kostüme von Heiko Mönnich hatten sicherlich einen wichtigen Anteil am Erfolg.

 

Fazit: "Wer nichts wagt, der nichts gewinnt!" Ein Erfolg für das Theater Gießen war die Produktion zweifelsohne, was deutlich der begeisterte Schlussapplaus bewies. Man muss als Kritiker nicht immer mit allem übereinstimmen; ich finde , daß man mit mehr stilistischem Fingerspitzengefühl etwas wirklich Besonderes hätte kreieren können. Also ein: ihr könntet noch viel mehr!

 

Martin Freitag, 20.10.2019

 

 

WER, WENN NICHT WIR – Die Schwätzer in Gießen

Bericht von der Premiere am 26.10.2019

Wenn nicht wir, dann auch bitte sonst niemand!

In Gießen stürmen die drei Stadtsymbole, DIE SCHWÄTZER, die Bühne. Eine Operetten-Revue mit der Musik von Jacques Offenbach sollte dem mittelhessischen Stadttheater im regionalen Patriotismus alle Ehre machen. An diesem Abend jagte vom „Elefantenklo“ bis zum „Schwanenteich“ ein Witz mit lokalem Bezug den nächsten.

Die Operette Les Bavards von Jacques Offenbach wurde 1862 in Bad Ems uraufgeführt und spielte im Original in Saragossa. Regisseurin Astrid Jacob, die in Gießen schon für ihre Schmachtigallen-Inszenierung bekannt ist, verlegt ihre Aufführung auf eine „Probebühne“ nach Gießen. Hier zeigt sich ein künstlicher Probenablauf, der von den drei „wahren“ Schwätzern modernisiert werden will. Aus der spanischen Brücke wird kurzer Hand das "Elefantenklo" (für alle Nicht-Gießener: das ist der Spitzname einer überdimensionierten Fußgängerüberführung am Eingang der Gießener Fußgängerzone mit drei sinnfreien Öffnungen über einer Kreuzung, die an ein Plumpsklo erinnern).

Eine inszenierte Einmischung von Außen stört den so „originalgetreu“ wie möglich gehaltenen Szenenablauf. Die Gießener Schwätzer, Mariechen (Karola Pavone), Waldemar (Tomi Wendt) und Justus (Christian Richter), sitzen im Publikum und pöbeln los. Sie sind der Meinung, das Theaterhaus besetzen zu müssen und am besten dem gesamten System mal so richtig neu einzuheizen. Denn wenn es ums „Schwätzen“ geht (frz. bavasser) sind ja wohl sie die Experten. Und sie meinen zu wissen, auch ein Offenbach hätte verstanden, dass dessen Werk für das Publikum modernisiert auf die Bühne gebracht werden muss. Bestätigung erhalten sie sogar ganz symbolträchtig von dem auf einer Wolke herunter schwebenden Jacques Offenbach höchstpersönlich.

Es hätte ein bunter, unterhaltsamer Abend werden können, wenn sich nicht der Klamauk in der Polemik verfangen hätte. Astrid Jacob, die das Bühnengeschehen immer wieder unterbricht, indem sie als Regisseurin sich selbst spielend dazwischen geht, macht ihre Rolle ungeschickter Weise dadurch unbrauchbar. Eine Regisseurin, die ihren eigenen Machtanspruch auf die Schippe nimmt, ist nicht selbstironisch, sondern schlicht zynisch und unglaubwürdig. Und wenn im gespielten Spiel die Theaterhierarchie kritisiert wird (indem behauptet wird, das System sei eine Diktatur), dann ist dies Polemik auf tiefstem Niveau. Wer lacht, hat die Macht!

Wichtige kulturpolitische Themen, wie die Kulturförderung, das Theatersystem und Genderdebatten, setzt sie der Verspottung aus. Das Mariechen muss immer laut das „In“ von Schwätzerin hervorheben. Die Regisseurin betont auf der Bühne, dass es nicht darauf ankomme, dem Publikum zu gefallen, sondern das musikalische Werk in seiner Kunstform zu erhalten. Und Béatrix wird ermahnt, dass sie als Darstellerin zwar mitdenken dürfe, aber dann doch die Klappe zu halten habe. Das sind alles kulturrelevante Probleme, die vielleicht von schwarzem Humor, aber nicht von Flachwitzen getragen werden können.

Dieser Musikantenstadl, der mit einem Potpourri aus Offenbachschen Evergreens beim Publikum punkten kann, verliert den glaubhaften Witz, sobald wieder gespielte Wahrheiten verkündet werden. Die Frauen-gegen-Männer-Gags haben keinen Halt, solange sie nicht nachvollziehbar in das Geschehen eingebettet werden. Inhalts- und zusammenhangslos jagt eine Nummer die nächste. Der rote Faden, wie er im Programmheft von „Schwätz 1 bis 10“ gezogen wird, verliert sich leider durch die ständigen Unterbrechungen der Regisseurin oder der drei Schwätzer. Dabei kommt es an diesem Abend nicht einmal unbedingt auf Inhalt an. Gießener Symbole und hessischer Patriotismus werden mit Gewalt in die Geschichte gepresst. Es wird mit lautem Geschwätz und Schenkelklopfern nach Mario-Barth-Manier hantiert. Schade um die Musik – Jacques Offenbach kann einem schon Leid tun... Die Arrangements von Thomas Guthoff lassen die Musik mitunter selbst etwas dahin „schwätzten“ und die Übergänge von den Sprechtexten zu Offenbachs Musiknummern sind eher holprig. Aber ein paar schöne Musikstücke zum Schunkeln finden sich auch darunter, gespielt vom wohlklingenden Philharmonischen Orchester Gießen unter dem sicheren Dirigat von Andreas Kowalewitz.

Nun darf allerdings die Arbeit der anwesenden Darstellerinnen und Darsteller nicht vergessen werden. Sie sind es, die mit ihrem Talent zum Spiel und ihrer wirklich guten Performance dem Abend sein durchaus vorhandenes künstlerisches Niveau verleihen.

Karola Pavone als Mariechen/Schwätzerin hat einen natürlichen Charme und ein ernstzunehmendes Können für Witz und Humor. Béatrix, gespielt und gesungen von Annette Luig, hat eine frische Stimme, die den holprigen Operettentexten Leichtigkeit verpasst. Ihrem Ehemann Sarmiento gehört die Stimme des Abends. Der volltönende Bassbariton von Christian Tschelebiew ist in dieser Partie leider viel zu selten zu hören. Die musikalischen Nummern von Offenbach bieten so regelmäßig Erholung von der aufgesetzten Rahmenhandlung. Richtige Freude kommt immer auf, sobald mal ein paar Minuten gesungen wird und die schönen Stimmen des Ensembles erklingen.

Die Laune steigert sich noch mit den Auftritten der Tänzer und Tänzerinnen der Tanzcompagnie Gießen. Diese versprüht in der wirklich detailverliebten Choreografie von Tarek Assam viel Witz und gewinnt so die Herzen des Publikums. Auch über den Chor und Extrachor des Stadttheaters Gießen können nur lobende Worte gefunden werden. Die Freude darüber, ihn mal wieder in längeren musikalischen Passagen auf der Bühne zu sehen, wird noch von der Energie und Spielfreude jedes einzelnen Choristen gesteigert.

Was bei der ganzen Pointensuche auf der Bühne völlig unterbelichtet bleibt, ist die Liebesbeziehung von Solange und Inès, eine echte homosexuelle Emanzipationsgeschichte. Diese rührende Liebe geht leider im gesamten Heiterkeitsspektakel unter. Trotzdem waren die beiden Frauen, Sophia Pavone als Solange und Carla Maffioletti als Inès, bezaubernd in ihren Rollen als Spielbälle der Obrigkeit. Sophia Pavones warmer Mezzo unterstreicht dabei Offenbachs lyrische Töne. Im Duett der Baccarole vereint sich ihr Klang mit der leichten Sopranstimme von Carla Maffioletti zu einem Moment großer Kunst.

 

Das Motto des Abends könnte ungefähr so lauten: Ich darf das, denn ich mache Theater!

Das war kein augenzwinkernder Spaß, sondern vielmehr eine blinde Farce.

 

Dominique Suhr, 27.10.2019

 

(c) der Bilder: Rolf K. Wegst

 

 

Il Barbiere di Siviglia

Lügen haben lange Beine!

14.09.2019

 

Schwindeleien, Liebe, Geldgier, Spinnen – Zutaten, die nicht nur Dank Rossinis meisterhafter Opera buffa, sondern auch durch Dominik Wilgenbus' Inszenierung eine dynamische Mischung ergeben. Diese Opernproduktion wird zu einem feuerwerkartigen ersten Triumph der neuen Spielzeit. Lukas Noll verwandelt den Bühnenraum des städtischen Theaters in ein Barbierwunderland mit einem zeichnerisch-exzentrischen Talent à la Tim Burton. Die Karikatur beginnt schon mit Sevilla, das im übergroßen Frisierspiegel als historisches Gießen (mit Türmchen und Stadttheater) dargestellt wird. Überall liegen riesenhaft vergrößerte Arbeitsgegenstände des Barbiers von Sevilla auf der geschwungenen Bühne verstreut.

Für den barockkundigen Taktstock des Generalmusikdirektors Michael Hofstetter, der am Premierenabend das Orchester führte, wird es die letzte Neuproduktion am Hause sein. Ein musikalisch würdevoller Abgang, möchte man da meinen. Schon in der Ouvertüre fließt die Musik mit einem voll-tönenden Orchester bis zum Beginn der Handlung in überraschender Vielfalt dahin.

Fiorello (Alexander Hajek) setzt sich vor dem Vorhang auf einen Barbiersessel und dreht sich zur Bühne, wie in einem Kinosaal, erwartungsvoll um. Er holt den Männerchor für dessen erste Nummer mit einem lauten, pfeifenden PPPPpiano auf die Bühne, und nun beginnen die Haushaltsgegenstände zu tönen. Teppichklopfer und Holzsuppenlöffel dienen Fiorello und dem Graf Almaviva, der als armer Student Lindoro verkleidet ist, als Musikinstrumente für ein leises (pianissimo) Ständchen. Die schöne Rosina soll besungen werden. Graf Almaviva (Enrico Iviglia) drückt im plakativen Wams seine Liebste an (oder besser: auf) die Brust. Diese erhört den jungen Grafen aber nicht - noch nicht. Der Graf braucht erst die klugen und erfindungsreichen Tricks des Barbiers. Für Grga Peroš als Figaro und dessen kräftigen warmen Bariton  gab es nach “Largo al factotum“ die ersten begeisterten Pfiffe und Jubelapplaus aus dem Publikum.

In atemberaubendem Tempo wirbelten Serenaden, Duette, Secco-Recitativi und die facettenreichen Koloraturen des Ensembles von einem Höhepunkt zum nächsten. Der Gesang steht zwar im Zentrum der Komposition Rossinis. Gleichwohl führt er das Orchester über seine traditionelle Begleitfunktion hinaus und macht es zum theatralischen Stimmungserzeuger. Regisseur Wilgenbus setzt immer wieder musikalische Pointen, wenn er etwa Fiorello an der Gitarre heiße spanische Rhythmen spielen oder die "Pink Panther"-Melodie auf dem Cembalo im Recitativo vor der heimlichen Hochzeit von Rosina und Almaviva anklingen lässt.

Auch hat der Regisseur ein besonderes Auge auf die darstellerische Ausgestaltung der Arien. Mit Präzision bauen er und sein Assistent, Oliver Pauli, einzelne Musiknummern choreografisch genauestens aus. Wenn es allerdings um ariose Klangentfaltung ging, lässt er den Solisten und Solistinnen künstlerischen Spielraum.

So begeistert der Gießener Publikumsliebling Naroa Intxausti als Rosina . Sie interpretiert ihre Rolle als adliges Mündel des bürgerlichen Doktors Don Bartolo (Tomi Wendt) mit zarter Lyrik. Oft wird diese Partie mit einem Koloratur-Mezzo oder gar Alt besetzt, hier aber charakterisiert Naroa Intxausti perfekt die scheinbar Naive mit einer sanften lyrischen Sopranstimme. Diese kann nach Herzenlust auch an Kapriziosität gewinnen, vor allem wenn sie mit Figaro und dem Grafen Almaviva gegen ihren Vormund intrigiert. Lammfromm, fast wie eine Heilige kann sie singen, doch wenn man sie reizt, verwandelt sie sich in eine Viper. Ihre Koloraturen lassen daran keinen Zweifel aufkommen. In Rosinas Arie „Una voce poco fa“ schüttet sie ganz keck ihrer Marcelline (Heidrun Kordes) Tee über die Schürze. Auch schmuggelt sie den Brief an ihren Verehrer Lindoro mit einem Wisch ihres Hinterteils aus dem Zimmer.

Die Inszenierung bezieht ihre Energie dabei ganz aus dem Rhythmus der Partitur. Tabak wird im Takt geschnupft, eine Spinne tanzt zur Musik, und die Geschwindigkeit der Koloraturen wird bei der Arie des Bartolo an seinem Arm via Blutdruckmessgerät festgestellt. Alle Figuren werden von wunderbaren Stimmen belebt. Tomi Wendt als alten Doktor, der seinem Mündel wegen dessen Geldes avanciert, überzeugt mit klarer Stimmführung, und auch die beiden kleineren Rollen, Heidrun Kordes als Marcelline und Alexander Hajek als Fiorello verleihen mit klarer Tongebung und sichtlicher Spielfreude dem Abend Glanz.

Debüttanten am Stadttheater sind der lyrische Tenor Enrico Iviglia als Graf Almaviva, der eine sanfte Linie in den Koloraturen aufweist, allerdings in Höhenbrillanz und Piano-Momenten eher den anderen das Feld überlässt, sowie der volle, runde Bass Daniele Macciantelli als Basilio. Letzterer darf als eine Art dunkler Geselle, der das Herz und vor allem den Humor trotzdem am rechten Fleck hat, dem Spaß mit seinen prickelnden tiefen Tönen einen festen Boden verleihen.

Neben der Rosina von Naroa Intxausti glänzt vor allem das Ensemblemitglied Grga Peroš als Figaro mit warmem und jugendlich kraftvollem Bariton.

Die Inszenierung basiert neben der Leidenschaft zur Musik auch auf der zugespitzten Darstellung der teils absurden Handlungen und Verstellungen von Operncharakteren. Dominik Wilgenbus nutzt das Künstliche in der Kunst als Mittel zur Subversion. Slapstick-Nummern werden so zur modernen Fortsetzung der italienischen Volkskomödie „Commedia dell'arte“.

Die Oper, mit der Rossini vor über 200 Jahren berühmt wurde, komponierte dieser innerhalb von drei Wochen. Der Schalk musste ihm dabei im Nacken gesessen haben. Dieses enorme Arbeitstempo scheint den Regisseur inspiriert zu haben, denn seine detailgenaue Inszenierung ist schnell, bunt und hoch musikalisch. Man könnte ihn als Klamaukjäger verstehen, der aber nicht in unbedachte Affekthascherei verfällt. Jede Übersteigerung, jeder Harlekinstreich und jede Pointe sind mit der Liebe zur Musik sowie der Liebe zum Spiel verbunden. Humor mag Ansichtssache sein, die Kreativität und der Facettenreichtum von Wilgenbus' Opernverständnis sind es nicht!

Die Spinne wird am Ende übrigens doch noch mit einer übergroßen Spritze getötet... brrrrr.

 

Dominique Suhr, 16. September 2019

(c) Rolf K. Wegst

 

 

La Resurrezione - Die Auferstehung

Vorstellung vom 12.05.2019

 

Die Uhr in der Parentationshalle zeigt kurz nach drei Uhr Morgens – Dämonenstunde.

Der Satan selbst verkündet seine Freude am Tod des auf dem Obduktionstisch liegenden Verstorbenen, natürlich keinem geringeren als Jesus Christus. Luzifer, als Glanzrolle für den ausdrucksstarken stattlichen Bass-Bariton Grga Peroš, glaubt die Heilsverkündung Gottes Sohn vereitelt zu haben. Doch da tritt auch Angelo, ein Engel Gottes, auf und verstrickt sich mit ihm in ein Streitgespräch und philosophischen Diskurs. Eine gewisse Überheblichkeit legt bereits jetzt das Gute über das Böse an den Tag. Mit fast instrumentalistisch perfekten Kolloraturen singt Samuel Mariño in von Luft geführten Höhen. Es wird um die Bedeutung von Tod und Auferstehung Christi gerungen. Wobei (vielleicht auch nur in dieser Vorstellung vom 12.05) eine unterschwellige Komik zu bestehen schien.

Die um den Mann Jesus trauernden Damen, Maria Magdalena (Francesca Lombardi Mazzulli) und Maria des Kleophas (Marie Seidler) ergreifen das Publikum mit einer echten Verzweiflung, die nichts mit himmlischer Offenbarung oder Opferbereitschaft zu tun hat. Ganz einfach die menschliche Trauer um einen geliebten Menschen, die Verzweiflung durch seine Abwesenheit und die Verlorenheit verkörpern die beiden Frauen nicht nur Dank der klaren Tonsprache Händels.

Der Apostel Giovanni (Aco Bišcevic), als klischeebeladener Pfaffe in Kutte und mit großen menschlichen Schwächen dargestellt, ist wahrscheinlich die klarste Abbildung der heiligen Kirche, während die anderen Figuren über die gewöhnlich Sterblichen zu stehen scheinen.

Die Solisten und Solistinnen im Stadttheater Gießen tragen das Oratorium Händels mit echter Empfindsamkeit 'zu Grabe'. Dass ein geistlicher Stoff doch so gut dramaturgisch als Opernaufführung umgesetzt werden kann, verwundert nicht mehr, wenn die zu weiten Teilen opernhafte Ausstattung betrachtet wird. In Italien hatten Opern zu dieser Zeit keine Chance, da bereits der letzte Papst, Innozenz XII., Aufführungen von Theaterstücken und Opern per Dekret untersagt hatte. Händel bekam deshalb von dem Kunstliebenden Marchese Ruspoli einen Auftrag mit der Komposition des Oratoriums. Doch Händel wusste es, beide Seiten zu befriedigen. Die Musik hatte wenig gemein mit dem Typus des Chor-Oratoriums, wie er ihn später in England entwickelte. Der Chor spielte eine untergeordnete Rolle (er wird von den Solisten/innen übernommen). An der Farbigkeit und dem Empfindungsreichtum der Arien spürt man den Willen zur Oper ganz deutlich. Schon die Tatsache, die Rolle der Maria Magdalena (Francesca Lombardi Mazzulli) so stark herauszustellen, die ja immer eine zwiespältige wegen Lasterhaftigkeit eingenommene Persönlichkeit war, zeigt Händels dramaturgische Intentionen. Regisseur Balázs Kovalik hat diese Punkte feinsinnig erspürt und herausinszeniert. Er verlegt die Auferstehung in unsere Zeit, lässt dabei den Teufel nicht nur testamentarisch bestehen, sondern auch gleich als dunklen Gegenpol zu Gottes Engel aus der Unterwelt auftauchen.

Dabei schafft er es, den Teufel trotz übersteigender Abgrenzung in Gut und Böse, Weiß und Schwarz, nicht als überflüssige Einmischung darzustellen. Luzifer ist kein schlimmes Übel, sondern gehört zur Geschichte dazu und ist ebenso ein tragender Ast in der Heilung der Welt.

In künstlerischer Zusammenarbeit mit Generalmusikdirektor Michael Hofstetter, der schon als Barockspezialist bekannt ist, sitzen neben der üblichen Besetzung noch eine Laute und ein schnarrendes Regal (eine Art Orgel) im Orchestergraben. Wobei der Graben in dieser Inszenierung nicht so tief gesetzt und damit wunderbar einsehbar für das Publikum ist. So gibt es an diesem Abend einiges zu bestaunen, das Orchester und deren Spielweisen, die Sänger/innen und deren Bühneninszenierung und der poetische Text, den es in Übertiteln abzulesen und verstehen galt und deshalb auch leicht überfordert.

Das Oratorium vergeht wie im Flug. Dabei klingt es nicht einmal so düster und schwerbeladen, sondern eher freundlich, erhellend (auferstehend).

„Die Hoffnung weicht nie der Furcht, wenn sie dem Glauben entsprang.“ Einige solcher optimistischen Sätze behalten einen überirdischen Charakter. Und wie die lateinische Predigt noch vor der lutherischen Übersetzung, erreicht dies nur die wenigsten einfachen Menschen, die Schutzsuchenden. Die gute Harmonie zwischen den Darstellern/innen bewirkt dann aber, was das Libretto allein nicht vermochte - eine zufriedene Verkündung der Auferstehung und die Rettung all jener, die seinen Namen kennen. Für die etwas weniger religiösen unter den Zuschauern bietet die Art der Trauerbewältigung ebenfalls etwas Tröstliches.

Noch drei Aufführungen werden vor der Sommerpause im Stadttheater zu sehen sein:

Do 30.05.2019 | 19:30 - 22:00 Uhr

Do 13.06.2019 | 19:30 - 22:00 Uhr

So 23.06.2019 | 15:00 - 17:30 Uhr

 

Dominique Suhr, 12 Mai 2019

Bilder (c) Rolf K. Wegst

 

 

 

Alp Arslan

UA-Premiere am 04.05.2019

Die Stadt ist zu alt, um zu sterben!

Eroberungsversuche, Intrigen, unfähige Herrscher ... das gab es in der Geschichte der Menschheit schon viele Male. Doch prallen bei Alp Arslan, einer Auftragsoper des
Stadttheaters Gießen, gleich mehrere Welten aufeinander. Nicht nur, dass ein Eunuch, in der Tradition kastriert und als Sklave gehalten, zum Rivalen
des jungen, labilen und widerlich grausamen Thronerben des Sultans wird. Sondern auch verschiedenste religiöse und kulturelle Gruppen vereinen sich in der Geschichte und musikalischen Sprache dieser Oper. Im Aleppo des 12. Jahrhunderts stirbt der Sultan und dessen erster Sohn. Der jüngere Alp Arslan, der den letzten Abschied des Vaters verweigert, wird sein Nachfolger. Und so beginnt die Schreckensherrschaft in einer Stadt, die für politische, ethnische und kulturelle Vielfalt stand. Der Untergang Aleppos und somit die Idee zu dieser Oper lieferte Willem Bruls, Librettist und Spezialist für die Kultur des Nahen Ostens.

Mit dessen eigenen Erfahrungen und persönlichen Aufzeichnungen entstand dieses Werk. Die Musik, die ganz im Dienste des Textes steht, stammte aus der Feder Richard van Schoors. Sie stellt eine grausame und liebkosende Umrahmung der Worte dar und schafft es gleichzeitig, mit original aleppischen Melodien das Publikum in eine fernöstliche Welt zu entführen. Eine syrische Band sowie ein syrischer Sänger, der Muezzingesänge anklingen lässt, unterstützen das Ganze.
Der Gießener Hauschor lässt dieses Mal Töne und Klänge verlauten, die selten im
städtischen Theater wahrzunehmen sind. Es ist ein Genuss der höchsten Sorte. Chorleiter Jan Hoffmann bringt seine Sänger und Sängerinnen zu maximaler Präzision in Dynamik, Stil und Klangfarbe.

Bei den Solisten und Solistinnen muss ausgeholt und ebenso zu einem Loblied angesetzt werden, allen voran im Hinblick auf die Stimme des Eunuchen Denis Lakey. Der in Kapstadt geborene Countertenor gibt der Rolle nicht nur stimmlichen Glanz von Extravaganz und Vielfältigkeit einer Vierteltonmusik - von der Schwierigkeit ganz zu schweigen -, sondern trifft emotional und spieltechnisch mitten ins Herz. Den Beweis für seine extreme stimmliche Qualität und Gesangstechnik kann sich jeder in einer der fünf nachfolgenden Vorstellungen am Stadttheater Gießen holen.
Rena Kleifeld, die Großmutter des Alp, lässt mit voller Brust einen tiefen Alto erklingen, dass die Bühne wackelt. Auch die junge Mezzosopranistin und Mutter des Alp, Marie Seidler, zeigt uns einen volltönigen Stimmumfang von zweieinhalb Oktaven mit gewaltiger Tiefe. Die Frauen geben somit in dieser Oper den tiefschwingenden Bass-Ton an.

Daniel Arnaldos, der spanische Tenor, der die Titelrolle in sich hat, lässt das Blut
gefrieren, wenn er mit geschmeidiger und jung agiler Stimme den hitzköpfigen grausamen Alp Arslan singt. Als Sultan ist Tuncay Kurtoglu zu hören. Tomi Wendt gibt den Emir von Damaskus. Keinem dieser Solisten und Solistinnen schien die Schwierigkeit der Tonumfänge etwas auszumachen. Mit hoher Dramatik und schwieriger Polyphonie im Orchester entsteht eine ferne und zugleich intime Atmosphäre.

Sehr überzeugend geriet auch das Bühnenbild von Marc Jungreithmeier.
Dieser brachte unter der Regie von Intendantin Cathérine Miville ein bewegliches
Spektakel auf die Bühne. Im geschichtlichen Thema des syrischen Aleppos im Zwiespalt der Kulturen und Religion erreicht Cathérine Miville das Publikum mit klaren Bildern. Die Sicht der muslimischen Bevölkerung auf die Kreuzzüge in Levante zeigt einen intimen Einblick in die Folgen der Schlacht in Syrien von heute.
Das Miteinander verschiedenster Kulturen und Menschen beherrscht die Stadt Aleppo heute wie damals, und in gewisser Weise tut das auch Gießen.

Das Stadttheater hält uns die Kraft  - und manchmal auch die Brutalität - einer bunten Vielfalt vor Augen. Mit van Schoors Welturaufführung ist nicht nur ein klangliches Meisterwerk geschrieben, sondern vielleicht auch eine neue Opernära angebrochen. Die Oper ist zu alt, um zu sterben, möchte man in Anlehnung an ein Zitat aus dem Libretto ausrufen ("Die Stadt ist zu alt, um zu sterben").
Das war auch dem Publikum des Premiereabends anzumerken. Mit einem
langanhaltenden Applaus gab es nicht nur den Sänger und Sängerinnen ihr Bravo.
Ebenso dem Regieteam, dem Komponisten und Librettisten, die eigens für ihre
Welturaufführung nach Gießen angereist waren, wurde anerkennender Jubel zuteil.
 

Dominique Suhr, 6. Mai 2019

Bilder (c) Rolf K. Wegst

 

 

KÖNIGSKINDER

Bericht von der konzertanten Premiere am 10. Februar 2019

Der Zauber der Urfassung

An der Garderobe sind sich nach der Premiere alle einig: „Das war was Besonderes!“ Geboten wurde zuvor etwas, das man nur aus Fußnoten in Opernführern kennt: die Urfassung von Humperdincks Königskindern. Schon die Endfassung steht nur selten auf den Spielplänen, die Urfassung jedoch war bislang lediglich ein Fall für Musikwissenschaftler. Soweit ersichtlich ist noch nicht einmal eine Einspielung auf Tonträger verfügbar. Humperdinck habe sich seinerzeit zur Umarbeitung in eine „echte“ Oper entschieden, weil die Verwendung der Form des Melodrams einer Verbreitung des Werks im Wege gestanden habe, so liest man es allenthalben in Programmheften. Gerne wird dann betont, daß der Komponist eine besondere Notation des intendierten Sprechgesangs mit präzisem Rhythmus und Vorgabe von Tonhöhen eigens für dieses Stück erfunden habe. Schönberg und andere Neutöner hätten daran angeknüpft. Wie das aber geklungen haben mag, bleibt dem Leser ein Rätsel. Das Stadttheater Gießen führt es nun in zwei konzertanten Vorstellungen vor. Generalmusikdirektor Michael Hofstetter hat sich dafür entschieden, nur die Musikpassagen zu präsentieren und den reichlich vorhandenen reinen Sprechtext zu streichen. Verbindende Zusammenfassungen der Handlung zur Überleitung zwischen den Musikpassagen spricht er höchstselbst und führt so mit Nonchalance durch einen ungemein faszinierenden und musikalisch beglückenden Abend.

Eine auf die auskomponierten Teile reduzierte Aufführung dauert immerhin noch drei Stunden, inklusive Pause, kommt aber wegen des Wegfalls von über einem Dutzend Sprechrollen mit lediglich vier Darstellern aus. Natürlich sticht aus dem Besetzungszettel ein großer Coup heraus: Für die Partie der Hexe hat das kleine mittelhessische Haus die Sängerlegende Anja Silja gewinnen können. Viele Jahrzehnte lang war sie weltweit eine führende Interpretin jugendlich-dramatischer Partien von Wagner bis Strauss. In den letzten Jahren war sie überwiegend in Charakterrollen zu erleben, etwa in Frankfurt als Mumie in Reimanns Gespenstersonate oder als Babuschka in Prokofjews Spieler. Nun reiht sie sich unprätentiös in ein starkes Ensemble ein. Zu singen hat sie nur wenige Töne. Den Sprechgesang im Übrigen gestaltet sie streng und mit scharfer Diktion. Auch wenn sie nur an der Rampe steht und deklamiert, schlägt ihre Bühnenpräsenz in den Bann. Trotzdem stiehlt sie den Protagonisten nicht die Show. Die wunderbare Marie Seidler, die zuletzt als Cherubino in Mozarts Figaro einen starken Eindruck hinterlassen hat, begeistert in der Rolle der Gänsemagd. Wie sie mit ihrem saftigen Mezzo Sprache zum Gesang macht, dann immer wieder bruchlos vom klangvollen Sprechen in blühendes Singen übergeht, fasziniert außerordentlich. Genau das muß Humperdinck im Sinn gehabt haben, als er seine neue Form des singenden Sprechens auf Notenlinien schrieb. Seidler präsentiert diese ungewöhnliche Darbietungsform, als wäre es das Natürlichste auf der Welt. Lediglich an einer Stelle vermißt man die spätere Fassung der Oper: Im Gebet der Gänsemagd („Vater, Mutter, hier will ich knien“) hätte man die junge Sängerin gerne mit durchgängigem Gesang gehört. Die meisten „echten“ Gesangseinsätze hat die Nebenfigur des Spielmanns. Seine volksliedhaften Darbietungen präsentiert Gregor Dalal mit markantem Baßbariton. Abgerundet wird das Ensemble von Daniel Johannsen, der hellstimmig und mit präziser Artikulation einen guten Eindruck als Königssohn hinterläßt.

Getragen wird der Abend aber von der staunenswerten Leistung des Philharmonischen Orchesters Gießen. Bereits bei der im Vergleich zur Endfassung ausgedehnten Ouvertüre zeigen sich die Musiker in Hochform. Michael Hofstetter hat mit ihnen einen ungemein farbigen, gut gestaffelten und ausgezeichnet durchhörbaren Klang erarbeitet. Rhythmisch präzise und schwungvoll in den lebhafteren Passagen, unsentimental klar und doch mit leuchtendem Ton in lyrischen Momenten vermittelt das Orchester ein abwechslungsreiches und plastisches Bild dieser herrlichen Partitur. Trotz reduzierter Streicherbesetzung ist der Klang nicht dünn, stimmt die Balance zu den Holz- und Blechbläsern. Das stark geforderte Solohorn imponiert mit anscheinend anstrengungsloser Sicherheit und rundem Ton. Der Konzertmeister serviert seine Soli mit unsentimentaler Süße. Wo man auch hinhört, es ist eine wahre Freude.

Nur noch eine weitere Aufführung gibt es am 15. Februar. Wer immer die Zeit erübrigen kann, sollte sich diese Aufführung nicht entgehen lassen. Denn: Das ist was Besonderes!

Michael Demel, 12. Februar 2019

 

LE NOZZE DI FIGARO

Bericht von der Premiere am 22. Dezember 2018

Ein toller Abend mit Mozarts „tollem Tag“

Mal im Vertrauen unter uns Opernkennern: Könnten Sie so ohne Weiteres die verwickelte Vorgeschichte von Mozarts Hochzeit des Figaro erzählen? Die Sache mit Bartolo und Rosina, Figaros Vertrag mit Marcellina, wie der Barbier von Sevilla zum Kammerdiener wurde und was das alles mit dem Grafenpaar zu tun hat? Am Stadttheater Gießen machen sie aus dem komplizierten Beziehungsgeflecht eine hübsche Pointe. Die ersten Spielszenen sind locker und schwungvoll bewältigt, da treten Bartolo und seine Haushälterin Marcellina vor den heruntergelassenen Vorhang und spulen Rezitative ab, selbstverständlich auf Italienisch, der Originalsprache dieser Oper. Was aber sagen sie? Die Übertitelanlage scheint defekt zu sein, oder der Inspizient ist eingeschlafen. Na ja, denkt man sich, kann mal passieren. Da bricht Marcellina ab und wendet sich auf Deutsch dem Publikum zu. Das sei ja alles sehr verwickelt und man werde das jetzt mal erklären. Es folgt, immer noch auf Deutsch, ein launiger Dialog zwischen Bartolo und Marcellina, der das Publikum pointenreich ins Bild setzt. Dann geht es auf Italienisch weiter (natürlich mit deutscher Übersetzung in den Übertiteln).

 

Tomi Wendt (Bartolo) und Heidrun Cordes (Marcellina)

 

So etwas könnte aufgesetzt wirken. Ist es aber nicht. Denn der Einschub kam genau zur richtigen Zeit. Derartige überraschende Einfälle gibt es an dem Abend immer wieder. Sie überdecken aber nicht das eigentliche Spielgeschehen, sondern wirken als Salz in der Suppe. Regisseur Thomas Goritzki hat immer ein feines Gespür für die richtige Dosis: die richtige Dosis Slapstick, die richtige Dosis Lockerheit, die richtige Dosis episches Theater und die richtige Dosis Werktreue.

Das von Heiko Mönnich dafür erdachte Bühnenbild präsentiert als Spielfläche eine Holzscheibe, auf der es nur weniger Requisiten bedarf, um mit einem enorm spielfreudigen Ensemble ein turbulentes Treiben zu entwickeln, welches das Publikum ohne Leerlauf über drei Stunden auf das Beste unterhält. Die ebenfalls von Mönnich entworfenen Kostümen orientieren sich an Vorbildern der Mozart-Zeit. Das wirkt erfrischend nach all den Aktualisierungen der vergangenen Jahre, bei denen Darsteller in modernen Straßenanzügen in Designer-Wohnzimmern etwas herbeizwingen mußten, was Opernkritiker mit intellektueller Attitüde gerne „brennende Aktualität“ nennen.

In Gießen behaupten sie dagegen keine „Aktualität“, sondern präsentieren geradezu mustergültig die Zeitlosigkeit eines Meisterwerks. Für die Musik gilt schon lange, daß man Werke des 18. Jahrhunderts „historisch informiert“ aufführen muß. Goritzki und Mönnich zeigen, daß dies auch bei der szenischen Umsetzung keineswegs eine Rückkehr zu Opas verstaubtem Theater mit seinem Ausstattungsplunder bedeuten muß, sondern mit unangestrengter Frische geschehen kann. Allenfalls könnte man kritisieren, daß bei diesem Feuerwerk der guten Laune die der Vorlage von Beaumarchais inhärente und zur Entstehungszeit brisante Kritik am Feudalismus unter die Räder kommt. Daß die Auflehnung des Dieners gegen das Recht der ersten Nacht seines Dienstherrn von den Zeitgenossen als politisch revolutionär wahrgenommen wurde, ist aber für heutige Zuschauer allenfalls eine interessante Hintergrundinformation. Das Wesen seines Erfolgsstückes hatte Beaumarchais mit dessen Titel zum Ausdruck gebracht: La folle journée – ein toller Tag. Und diesem Wesen von Mozarts Opernadaption der berühmten Vorlage wird die Gießener Produktion vollauf gerecht.

„Historisch informiert“ ist auch das, was Michael Hofstetter mit seinen gut aufgelegten Musikern im Orchestergraben erklingen läßt: farbiger und transparenter Orchesterklang mit vibratolosem Spiel der Streicher, beredt phrasierenden Holzbläsern, knackigem Blech und prasselnden Pauken. Die Rezitative bekommen durch phantasievolle Ausgestaltung das ihnen gebührende Gewicht und lassen Orchestergraben und Bühne zu einer organischen Einheit verschmelzen. So genau kalkuliert das alles ist, wirkt es doch selbstverständlich locker und mitunter geradezu improvisiert.

Die Darsteller haben an dieser Inszenierung ersichtlich großen Spaß, der sich unmittelbar auf das Publikum überträgt. Zudem bieten sie ausnahmslos gute, zum Teil sogar bemerkenswerte Gesangsleistungen. Alexander Hajek zeichnet die Titelrolle mit kernigem Bariton. Er verfügt zwar über kein allzu großes Stimmvolumen, macht dies aber durch eine umwerfende Bühnenpräsenz und differenzierte Textbehandlung mehr als wett. Ihm zur Seite steht die quirlige Naroa Intxausti als seine Braut Susanna mit hellem und beweglichem Sopran. Auch das Grafenpaar ist mit Grga Peroš und Francesca Lombardi Mazzulli rollendeckend besetzt. Die Mazzulli irritiert zunächst mit einigen steifen Tönen, kann sich aber schnell frei singen und überzeugt mit einem ergreifenden Porgi, amor. Die sängerische Krone aber gebührt Marie Seidler, die mit ihrem frischen Mezzosopran einen leidenschaftlich glühenden Cherubino gibt.

Naroa Intxausti (Susanna) und Marie Seidler (Cherubino)

Das Publikum bedankt sich für einen unbeschwerten Mozart-Abend aus einem Guß mit begeistertem Beifall.

Weitere Vorstellungen gibt es am 18. Januar, 16. Februar, 10. und 31. März, 18. April, 18. Mai sowie am 1. und 28. Juni.

 

Michael Demel, 12. Januar 2019

© Bilder: Rolf K. Wegst

 

Umberto Giordano 

Mala Vita

Premiere: 15.09.2018

besuchte Vorstellung: 10.11.2018

Giordano trifft Gesualdo

 

Lieber Opernfreund-Freund,

das Stadttheater Gießen erweist sich erneut als regelrechtes Trüffelschwein und hat in der laufenden Spielzeit Umberto Giordanos Mala Vita ausgegraben und das rund einstündige Werk mit Madrigalen Gesualdos ergänzt. Diese Kombination des an sich Gegensätzlichen funktioniert blendend und hat mir einen beeindruckenden Musiktheaterabend beschert.

Umberto Giordanos zweite Oper Mala Vita gilt als radikalster Verismo. 1888 hatte der aus Foggia stammende Komponist am Wettbewerb für Operneinakter des Verlegers Edoardo Sanzogno teilgenommen und zwar nicht gewonnen – das hatte bekanntermaßen Pietro Mascagnis Cavalleria rusticana – jedoch so viel Eindruck auf den Musikverleger gemacht, dass dieser bei Giordano ein Werk in Auftrag gab. Mala Vita – zu Deutsch Das schlechte Leben – wurde 1892 uraufgeführt und erinnert in Aufbau und Handlung sehr an Mascagnis Prototypen, ist allerdings in Neapel angesiedelt und zeigt für damalige Verhältnisse erstaunlich deutlich die Missstände und das deprimierende Milieu der Arbeiterschaft. Der tuberkulöse Färber Vito gelobt als Dank für seine Genesung, eine gefallene Frau zu retten und will die Prostituierte Cristina heiraten, um sie auf den bürgerlichen Pfad zurück zu führen – sehr zum Missfallen seiner Freundin Amalia, die alles daran setzt, Vito zurück zu gewinnen. Sie triumphiert und zieht mit Vito aufs Fest, während Cristina einsam zurück bleibt.

Giordanos Musik ist ein buntes, packendes und bewegendes Konglomerat aus Tänzen und neapolitanischen Kanzonen vollen Lokalkolorit, bewegenden Vorspielen und Instrumentalpassagen und atmosphärisch dichten Klangbögen, die zeitweise voller Schroffheit und instrumentaler Wucht nur so strotzen, um – ganz nach der veristischen Maxime – die Gefühle der Protagonisten auf der Bühne auch wahrhaftig hörbar zu machen. In Gießen nun, hat man dieser intensiven, aus dem vollen schöpfenden Musik den zarten, schlanken Klang von Madrigalen aus der Feder von Carlo Gesualdo gestellt und so mit einem musikalischen Gegenpol gearbeitet. Das Solistenensemble, das Gesualdo singt, steckt in herrlichen Renaissance-Kostümen von Claudia Krull und tritt wie aus einem Setzkasten heraus auf das ansonsten schlichte Bühnenrund von Lars Peter. Regisseur Wolfgang Hofmann hatte die geniale Idee, die Madrigalsänger als Zeremonienmeister der Erfüllung des Gelübdes zu inszenieren, die historisch gewandeten Sängerinnen und Sänger führen die Protagonisten der Giordano'schen Oper, legen Ihnen Requisiten in die Hand und leiten sie zu Handlungen an. Die genau austarierte Personenführung schafft eine zusätzliche Spannungsebene, so dass die Madrigale nicht nur als Füllmaterial für eine zu kurze Oper erscheinen, sondern eine neue Dimension eröffnen.

Auch musikalisch wird allerhand geboten am gestrigen Abend. Angela Davis ist die Königin in einen durch die Bank blendend aufgelegten Solistenensemble, verkörpert die bedauernswerte Cristina zwischen Liebe, Hoffnung und Verzweiflung und zaubert mit ihrem voluminösen Sopran die herrlichsten Farben. Vero Miller als ihre Gegenspielerin Amalia versieht ihren warm strömenden Mezzo mit der notwendigen Schärfe, wenn sie sich von der Geliebten in eine streitbaren Furie verwandelt, so gelingen ihr beeindruckende Ausbrüche. Denis Yilmaz gestaltet den hin- und hergerissenen Vito mit kraftvollem Tenor, solider Höhe und hinreißenden Piani. Die wahrhaften Gefühle, die der türkische Sänger über den Graben schickt, machen ihn zu einem Verismo-Sänger, der Giordano höchst selbst gefallen hätte. Florian Spiess ist nicht nur körperlich überragend und beeindruckt mich als Marco mit samtenem, kultiviert klingendem Bass. Der junge Österreicher singt mit Verve und macht Lust auf mehr. Grga Peroš kann als Annetiello ebenso mit Wohlklang überzeugen wie Marie Seidler als Nunzia.

Das Gesualdo-Solistenensemble aus Ayano Matsui, Shawn Mlynek, Christopher Meisemann und Tomi Wend glänzt durch schlanken, fein aufeinander abgestimmten Klang und wird durch die zarte Höhe des Soprans von Ex-Ensemblemitglied Naroa Intxausti und den fast durchsichtig erscheinenden Counter von Christian Richter gekrönt. Und auch die Damen und Herren des Chores sind bestens disponiert, meistern die umfangreiche Partie mit Bravour. Dass Jan Hoffmann nicht nur als Leiter des Gesualdo-Ensembles und des Chores eine gute Figur macht, beweist er gestern Abend im Graben. Die veristische Wucht und Intensität gelingen ihm und dem Philharmonischen Orchester Gießen ebenso, wie die Reduziertheit und das Zerbrechliche der Musik der Renaissance. Innerhalb von Millisekunden zaubern die Musikerinnen und Musiker unter seiner Ägide eine andere Stimmung und entführen den Zuschauer in eine andere Sphäre.

Das voll besetzte Theater dankt es ihm und allen Mitwirkenden mit begeistertem und lang anhaltendem Applaus. Dass Ihnen nur noch eine weitere Aufführung bleibt, um diese Ausgrabung anzuschauen und meine Begeisterung zu teilen, ist schade – aber zumindest hat Gießen mit dieser Produktion Giordanos Mala Vita dem Vergessen entrissen.

 

Ihr Jochen Rüth 11.11.2018

Die Fotos stammen von Rolf K. Wengst.

 

 

 

 

SCHWANDA DER DUDELSACKPFEIFER

Besuchte Vorstellung am 20.04.18 (Premiere am 24.03.18)

Verkannte Volksoper

"Schwanda, der Dudelsackpfeifer" von Jaromir Weinberger hatte erst bei seiner Deutschen Erstaufführung in Breslau seinen großen Erfolg, immerhin hatte Max Brod, derjenige der sich auch um die Verbreitung der Werke Kafkas und Janaceks verdient machte, für die deutsche Textübertragung gesorgt. Dieser Erfolg sorgte dafür, daß die Märchenoper in den folgenden Jahren zu einem der beliebtesten Stücke wurde, der bis an die MET nach New York führte. Erst die "Kulturpolitik" der Nazis stoppte den Siegeszug der Oper, wie des Komponisten. Die Handlung verquickt zwei böhmische Sagenfiguren, zum einen den begnadeten Dudelsackpfeifer Schwanda, wie den Banditen Babinsky, einer Art tschechischem "Robin Hood" . Schwanda und seine Frau Dorota geniessen das Glück ihrer jungen Ehe, als Babinsky sich auf der Flucht ebenfalls in die schöne Dörflerin verliebt und ihrem Mann Appetit auf die große Welt macht, um das Paar zu entzweien.

Über die Stationen bei der Prinzessin mit dem Eisherzen und ihrem bösen Magier, ja sogar dem Teufel und seinen höllischen Heerscharen, bemerkt Babinsky, das die große Liebe zwischen Schwanda und Dorota nicht zu hintertreiben ist und bringt die beiden wieder zusammen. Also ein rechter naiver Märchenstoff mit bunten Farben für schöne szenische Effekte. Weinbergers Musik dazu ist einfach und raffiniert zugleich und fordert von den Musikern großes Können. Einfach, weil echte Ohrwürmer von schlichtem melodischen Gestus, raffiniert, sich mit grandioser Orchestrierung und einer sehr feinen, filigranen Verarbeitung paaren. Kenner entdecken quasi eine ganze tschechische Musikgeschichte von der Volksmusik über Smetana, Dvorak bis Martinu und Janacek; einfache Gemüter haben Freude an der guten Musik mit ihren schönen Melodien und der farbigen Handlung. Prädikat: unbedingt spielenswert!

Die Gießener Intendantin Catherine Mieville macht die Oper zur Chefsache und hat selbst inszeniert, dabei mit Marc Jungreithmeier (Bühne und Video) eine sehr artifizielle, wie effektvolle Herangehensweise gefunden, denn der zu Zeit sehr strapazierte "Heimatbegriff" erlaubt eine distanzierte Haltung: die verschieden gestufte Drehbühne wird mit kleinteiligen "Bildschirmen" regelrecht verpixelt und die durchgängigen Videos sorgen für einen schönen optischen Fluß und ermöglichen beeindruckende Bilderwechsel, wie szenische Kommentare zum Geschehen. Die Personenführung der Intendantin emfinde ich persönlich als zu schablonenhaft, weil sie die Personen allzu "puppig" wirken läßt. dazu gibt es noch diverse Tänzer/innen, Volkstanzgruppen, eine Spielvereinigung, sowie Kinder des Stadttheater-Juniorclub, die mal vorteilhaft, mal etwas überflüssig eingesetzt werden. Die Szene und Monika Goras Kostüme retten manchen Leerlauf, über die sehr karge Höllenszene lässt sich ästhetisch streiten, die Musik fordert für mich anderes.

Großen Eindruck macht die musikalische Umsetzung, zwar bringt die instrumental große Orchesterbesetzung das Gießener Stadttheater teilweise ordentlich zum Beben, doch Jan Hoffmann am Pult des hervorragenden Philharmonischen Orchesters Gießen hält die musikalischen Fäden sicher in der Hand und ist den Sängern ein guter Partner. Die Sänger haben wahrlich keine kleinen Aufgaben; gerade die drei Hauptpartien mit ihren recht hohen Tessituren fordern extrem ausgebildete Sänger mit "ordentlicher Röhre". Um so erfreulicher, daß das in Gießen der Fall ist: die gesangliche Hauptpartie, meiner Meinung nach, ist der Räuber Babinsky, eine lange Partie bis ins Heldentenorfach, aber sehr lyrischen Anforderungen, Tilmann Unger leistet unermüdlich mit strahlenden Tenor über sämtliche Klippen mehr als Beachtliches. Martin Berner gefällt als Schwanda mit herrlich warm timbriertem Bariton, der dem naiven Charakter und seinen Untiefen sowohl Empathie vermittelt, wie ihn nicht unsympathisch werden lässt. Leichte Höhenschärfen sind der einzige Kritikpunkt an Aleksandra Rybakovas Sopran, die langen Melodiebögen gelingen ihr mit viel Charisma, besonders ihr "Auf unsern Hof daheim" bleibt noch lange im Ohr. Auch die Nebenrollen sind hervorragend besetzt, sei es die schön dunkel timbrierte Eisprinzessin von Dilara Bastar mit verhaltener Erotik, der dramatische Magier vom satten Bass Seungwon Ezio Lee, der herrlich humoristische Teufel von Christian Tschelebiew und der wandlungsfähige Tenor von Clemens Kerschbaumer, der in mehreren Partien einige Kabinettstückchen abliefern kann. Die Chor und Extrachor gefallen nicht nur musikalisch.

Das Stadttheater Gießen hat wieder einmal mit dieser Ausgrabung den richtigen Riecher für spielenswerte Raritäten bewiesen, legt eine wirklich überzeugende Interpretation hin, die eine Anreise in die vermeintliche Provinz lohnt. Zwei gute Nachrichten: erstens wird es den "Schwanda" nächste Saison am MiR in Gelsenkirchen geben, zweitens die Wiedererscheinung der deutschen Fassung in der wirklich schönen Aufnahme unter Heinz Wallberg mit Hermann Prey, Lucia Popp und Siegfried Jerusalem und anderen tollen Sängern.

Martin Freitag 7.5.18

Fotos (c) Rolf K.Wegst

 

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ARIADNE AUF NAXOS

Bericht von der Aufführung am 21. Dezember 2017

(Premiere am 16. Dezember 2017)

Eine maßgeschneiderte Produktion

„Walküre in Detmold“ heißt ein Buchtitel, in dem bei aller Sympathie für das Engagement der deutschen Klein- und Kleinstbühnen auch die Hybris oder zumindest die Chuzpe mitschwingt, die damit verbunden ist, die Riesenwerke der Opernliteratur auch noch im allerkleinsten deutschen Stadttheater herausbringen zu wollen. Man landet so immerhin Achtungserfolge, bei denen der Zuhörer bereits eingepreist hat, daß er Abstriche machen muß – sei es, weil die Partitur wegen des begrenzten Platzes im Orchestergraben angepaßt werden mußte, sei es, weil sich im Ensemble nicht die Riesenstimmen für das schwere Repertoire finden und der Etat nicht den Einkauf teurer Gäste zuläßt.

Das Gegenteil davon ist nun am Stadttheater Gießen zu erleben. Hier hat das Stück zum Haus gefunden. Alles sitzt wie maßgeschneidert, ja man möchte ausrufen: Die „Ariadne“ gehört künftig bitte nur noch an kleinen Häusern gespielt! Alles paßt hier: Die Inszenierung nutzt die räumlichen Gegebenheiten und zeigt insbesondere im ersten Aufzug, wie sich der Witz und der Charme der Vorlage gerade in der Intimität eines kleinen Zuschauerraumes mit großer Nähe des Publikums zur Bühne unmittelbar entfalten können. In der für ein Kammerensemble von knapp 40 Musikern geschriebenen Partitur läuft das Gießener Hausorchester zur großen Form auf. Und die Sängerbesetzung kombiniert geschickt Ensemblemitglieder mit jungen Gastsängern, von denen man auch anderenorts noch hören wird.

Das Bühnenbild von Lukas Noll zeigt im ersten Aufzug genau das, was das Libretto vorgesehen hat: „Ein tiefer, kaum möblierter Raum im Hause eines großen Herrn. Links und rechts je zwei Türen. In der Mitte ein runder Tisch. Im Hintergrund sieht man Zurichtungen zu einem Haustheater. Tapezierer und Arbeiter haben einen Prospekt aufgerichtet, dessen Rückseite sichtbar ist.“ Der österreichische Regisseur Hans Hollmann präsentiert auf dieser Spielwiese eine Boulevardkomödie im ironisch-gehoben Stil. Die Pointen des Librettisten Hugo von Hofmannsthal zünden, was nicht zuletzt daran liegt, daß das spielfreudige Ensemble sich erfolgreich um große Textverständlichkeit bemüht. Ein besonderes Kabinettstück liefert Harald Pfeiffer in der Sprechrolle des Haushofmeisters ab. Der in Wien aufgewachsene Schauspieler versteht es, der blasierten Arroganz seiner Rolle durch Understatement große Wirkung zu verleihen und dabei seinen authentischen Wiener Akzent gerade so stark anzudeuten, daß er die Blasiertheit dezent unterstreicht. Kontrastiert wird diese raffinierte Dezenz durch die Aufwertung der Nebenfigur des Lakaien. Gunnar Frietsch darf ihn als übereifrigen Nachahmer des Haushofmeisters zeigen, mit übertriebener Imitation eines (falschen) Wiener Akzents und einer Devoterie, mit der er schließlich sogar in stummen Lippenbewegungen den Text des Haushofmeisters mitspricht. Ein hübsches Inszenierungsdetail, das gut demonstriert, wie genau die Regie hier gearbeitet hat.

Generalmusikdirektor Michael Hofstetter setzt mit seinem Orchester in den Konversationspassagen des ersten Teils stilsicher trocken-knackige Akzente und sorgt so für eine wunderbare Lockerheit im musikalischen Parlando. Zugleich läßt er immer wieder bereits ahnen, zu welch süffiger Klangfülle das Orchester im zweiten Teil finden wird. Dies gelingt besonders in der Begleitung der phänomenalen Annelie Sophie Müller, die sich in der Rolle des Komponisten schwärmerisch verströmt. Fast möchte man bedauern, daß Strauss für ihren satten Mezzosopran mit den glutvoll-leuchtenden Höhen im zweiten Teil keine Verwendung hatte.

Diesen zweiten Teil, die eigentliche „Oper“, läßt Bühnenbildner Lukas Noll in einem von wallenden Vorhängen gesäumten Raum spielen, in dessen Zentrum sich eine breite Liege befindet. Von oben kommen die drei Nymphen hereingeschwebt. Noll, der auch für die Kostüme verantwortlich zeichnet, hat sie in Anspielung auf ihre mythologische Herkunft eingekleidet, so daß die Wassernymphe Najade mit Fischschwanz und die Baumnymphe Dryade mit Wurzelwerk anstelle der Beine erscheinen.

 

Im Bühnenraum erinnern eine Statue und diverse Bilder an Theseus, von dem Ariadne verlassen wurde und dem sie nachtrauert. Mit Dorothea Maria Marx hat das Stadttheater Gießen auch für die Titelpartie eine rollendeckende Besetzung gefunden. Die junge Sängerin verfügt über die passenden leise-intensiven Töne der Trauer des Beginns ebenso wie über die Möglichkeit zur schwärmerischen Expansion im Finaljubel. Damit setzt sie den idealen Kontrast zur quirligen Diana Tomsche, die für die Zerbinetta ihre Soubrettenstimme wirkungsvoll keck zur Geltung bringt. In einem größeren Haus würde wohl ein Mangel an Durchschlagskraft auffallen. Die Koloraturachterbahn der Bravourarie „Großmächtige Prinzessin“ bewältigt sie geschickt, den gefürchteten Spitzenton am Ende jedoch tippt sie nur kurz an.

Die Herren der Gauklertruppe erscheinen in hellen Showanzügen und trällern ihre Lieder homogen in bester Comedian-Harmonists-Manier. Wie schon im ersten Teil weiß Regisseur Hollmann seine Figuren mit Präzision und Geschick zu führen. Blicke, Gesten, Interaktionen: Alles wirkt locker und in beiläufiger Selbstverständlichkeit stimmig – bis am Ende der Gott Bacchus auftritt und Ariadne aus der Isolation befreit. Dazu läßt der Regisseur die beiden fortwährend um das Bett in der Bühnenmitte kreisen, daß man schon befürchten muß, die Protagonisten könnten sich schwindlig drehen. Das ist dann doch ein bißchen zu wenig. Zu diesem Zeitpunkt hat aber bereits Michael Hofstetter im Orchestergraben die Führung übernommen, so daß die Bühnenaktion zur Nebensache wird. Der Gießener Generalmusikdirektor erzeugt mit seinen Musikern einen farbig schillernden, üppigen Klangrausch, bei dem man kaum glauben möchte, daß es sich bloß um ein Kammerorchester handelt. Und weil neben der stimmlich souveränen Dorothea Marx auch Michael Siemon als Bacchus die komponierten Zumutungen mit gut geführtem, lyrisch grundiertem, aber kernigem Tenor tadellos bewältigt, findet ein bemerkenswerter Abend einen musikalisch glänzenden Abschluß.

„Ariadne in Gießen“: Eine szenisch runde, musikalisch beglückende Produktion, für die sich auch eine längere Anreise lohnt.

Weitere Vorstellungen am 14. Januar, 2. Februar, 29. März, 29. April und 26. Mai.

Michael Demel, 12. Januar 2018

© Bilder: Rolf K. Wegst

 

 

 

EIN HERBSTMANÖVER

Operette von Emmerich Kálmán

Premiere am 28.10.17

Mega-Ausgrabung, die sich mehr als gelohnt hat

 

Emmerich Kalmans Frühwerk „Ein Herbstmanöver“, lange noch von der berühmten „Czardasfürstin“ oder der „Gräfin Mariza“ komponiert, zeigt bereits die kompositorische Raffinesse des Komponisten auf. Musikalische Details kann man zahlreich entdecken, die er in den späteren Werken wieder aufgenommen hat. Die Mittelstimmführung neben dem Melos zum Beispiel oder die kleine Zigeunerbanda mit Primas auf der Bühne. Auch ist das melancholische 1. Aktende ein Vorgriff auf Feri Baci´s Monolog Ende des 1. Akts der Czardasfürstin. Der traurig sinnende Ton beherrscht das Liebespaar, das den Mond besingt. Für Spaß und Schwung sorgen eher die Husaren, die „in Scharen“ die Damen des Hofes der Baronin zum Tanz und mehr auffordern. Die Handlung tritt ein wenig auf der Stelle, da sich die Konstellationen kaum verschieben und die Laune der Protagonisten auch gleich bleibend mäßig bis sorgenvoll ist.

BALASZ KOVALIK bietet dennoch eine ambitionierte und ernst zu nehmende Inszenierung, die aber gerade im Schlussakt mehr Zug und vielleicht eher einige Striche aus Ausweitungen klug sinnierender Schauspieler vertragen könnte. Der Anfangsakt ist märchenhaft opulent von LUKAS NOLL ausgestattet. Warum die Gewänder dann durch die Zeiten reisen und an Charme einbüßen, wird nicht wirklich klar. Bezüge zur Titanic und zu uns heute sollen neben dem sowieso drohenden Ersten Weltkrieg auch noch hergestellt werden. Das ist zu viel. LEO MUJIC liefert witzige und hervorragend gearbeitete Choreografien, die auch den nicht hauptberuflichen Tanzenden Freude machen.

Gesungen wird in Giessen gut bis ordentlich, gespielt sehr engagiert und nicht verzappelt. Schön ist zu erleben, dass Tänzer, Sänger und Schauspieler an einem Dreispartenhaus sich in eine gelungene Melange begeben. Die Hausherrin Baronin Riza wird von CHRISTIANE BOESIGER ernsthaft und ambitioniert gespielt, stimmlich bemüht sie sich- nicht immer glücklich-, die diversen sehr unterschiedlichen Lagen der Partie ins Lot zu bekommen. Überhaupt komponiert Kalman die Stimmen gerne und langanhaltend tief. Und so macht es Sinn, den Helden Lörenthy einem Bariton anzuvertrauen, den GRGA PEROS mit phlegmatischem, runden Ton glaubhaft in Szene setzt. Der Baritonbuffo läuft hier dem Tenorbuffo etwas den Rang ab, was auch an den für die Aufführung aktualisierten Musiknummern liegt. In einem Coming- Out Duett mit dem hervorragend körper- und wortpräsentem Schauspieler RAINER HUSTEDT gibt als Wallerstein TOMI WENDT textklar und pointensicher richtig Gas. Mit gut sitzendem schlanken Tenor kontert CLEMENS KERCHBAUMER als Marosi bei den anderen Buffo- und Tanznummern. Die schönste Stimme hat vielleicht MARIE SEIDLER, die mit Mezzotimbre und attraktiver Bühnenerscheinung der Generalstochter Trezka interessante Seiten abgewinnt.

Die Schauspieler vom alten Schlag HARALD PFEIFFER und RAINER DOMKE sprechen im besten Sinne raumgreifend und deutlich. Und auch besonders der Damenchor kann sich mit vielen kleinen Dialogpassagen sehr gut in Szene setzen.

Es macht richtig Freude zu hören, dass das Philharmonische Orchester der Stadt Operette richtig ernst nimmt. MICHAEL HOFSTETTER gewinnt dem Klangkörper filigrane Seiten ab, läßt es an fetziger Polka- und Marschrhytmik andererseits nicht fehlen. Es überwiegen jedoch im Werk die dunklen, liebeskummernden Farben, die farbenprächtig umgesetzt werden.

Es ist eine lohnende Begegnung mit einem ganz abseitigem Werk, der man noch viele Folgeaufführungen wünschen möchte. Die Giessener haben es genossen und der Premiere kräftig Beifall gezollt.

Bilder (c) Stadtheater Giessen

Christian Konz 5.11.2017

Mit freundlicher Genehmigung unseres Kooperationspartners MERKER-online (Wien)

 

 

LA DAME BLANCHE

Premiere: 06.02.2016

besuchte Aufführung: 18.03.2016

Eine mehr als hinreißende Komödie

Lieber Opernfreund-Freund,

das Stadttheater Giessen hat sich seit einigen Jahren gewissermaßen als Trüffelschwein bei der Ausgrabung vergessener Opern etabliert und bringt mitunter jahrzehntelang unaufgeführte Werke von beachtlicher künstlerischer Qualität auf die Bühne. Zwar ist der in diesem Jahr gehobene Schatz „Die weiße Dame“ des Franzosen François-Adrien Boieldieu nicht ganz so rar wie die Juwelen der vergangenen Jahre wie beispielsweise „Linda di Chamounix“oder „Die Eroberung von Granada“, doch gelingt ein unterhaltsamer Opernabend mit schönen Melodien und vor allem einem umwerfend spielfreudigen Ensemble.

Boieldieus 1825 uraufgeführte Opéra comique war lange ein Renner auf europäischen Bühnen, ehe das Werk ab 1900 fast völlig von den Spielplänen verschwand. Erst 1996 fand die erste Aufführung in der Moderne statt und seither wird das Werk da und dort einmal auf die Bühne gebracht (wie jüngts am Staatstheater Oldenburg). Die Geschichte ist dermaßen konstruiert, dass es kaum möglich ist, eine kurze Zusammenfassung zu geben. Ich versuche es trotzdem: Der Offizier George Brown platzt in die Tauffeierlichkeiten beim schottischen Pächter Dikson und seiner Frau Jenny und erfährt, dass Dikson einst von der „weißen Dame“, die auf dem nahen Schloss von Avenel umhergeistern soll, Geld bekam, um seine Jenny zu freien, und dafür versprochen hat, der „weißen Dame“, wenn die Zeit gekommen ist, zu Diensten zu sein. Als ein Brief eintrifft, der just an dieses Versprechen erinnert, bekommt es der Pächter mit der Angst zu tun und George Brown macht sich an seiner Stelle auf den Weg ins Schloss. Dort hat der Gutsverwalter Gaveston das Anwesen bewusst herunter gewirtschaftet, um es in einer Auktion günstig in seinen Besitz zu bringen. Außerdem möchte er sein Mündel Anna heiraten, die sich aber vor kurzem in George Brown verliebt hat, der aber eigentlich der rechtmäßige Erbe des Schlosses ist, ohne dies zu wissen. Anna tritt als „weiße Dame“ auf und enthüllt Georges Identität. Am Ende siegt das Gute, der gierige Gaveston unterliegt und das Liebespaar sieht einer gemeinsamen Zukunft entgegen.

 

Die abstruse und nichts destoweniger komische Geschichte wurde von Boieldieu mit rossinihaftem Esprit musikalisch umgesetzt. Die Melodien sind gefällig und voller Schwung, doch bleiben sie - anders als bei den Ausgrabungen der Vorjahre - nicht wirklich haften. Am Ende des Abends verlässt man das Theater ohne Ohrwurm, aber ob der wunderbar spritzigen Komödie bestens gelaunt.

 

Das liegt zum einen an der hinreißenden Regiearbeit von Dominik Wilgenbus, der auch für die aktualisierte deutsche Übersetung verantwortlich zeichnet. Behutsam und ohne allzu platt zu werden, präsentiert er die wirre Geschichte mit Augenzwinkern und einem feinen Gespür für Timing und Humor. Dabei helfen ihm die knallbonbonfarbenen Kostüme von Lukas Noll, die schottisches Lokalkolorit vermitteln, ebenso wie das stimmungsvolle Licht von Thomas Hase, dem mitunter allerdings die Wechsel ein wenig grob gelingen. Wilgenbus vermag nicht immer, jede der unzähligen Wendungen unmittelbar zu verdeutlichen (da hätte vielleicht doch die französische Fassung mit deutschen Übertiteln geholfen), doch überzeugt das Konzept durch allerhand wirklich komische Einfälle.

Neben der gelungenen Regie sorgt vor allem die Sängerschar dafür, dass der Abend zum Erfolg wird. Ein solch eingespieltes Komödiantenteam habe ich lange nicht mehr gesehen, was umso verwunderlicher ist, da in Gießen diesmal mit allerhand Gästen gearbeitet wird. Zu denen gehört Ralf Simon, der den Dikson überzeugend und klar spielt und singt, ebenso wie Katharina Göres, die als Jenny mit silbrig schimmerndem Sopran und schier endlosem Atem verblüfft. Stefanie Schaefer als Amme Marguerite überzeugt mit warmem Mezzo und komödiantischen Talent ebenso wie der Rumäne Calin-Valentin Cozma, der mit profundem Bass den Friedensrichter Mac-Irton gibt. Clemens Kerschbaumers Tenor neigt zwar in der Mittellage bisweilen ein wenig zum Flattern, verfügt aber über ein schönes Timbre und eine sichere Höhe, so dass ihm der Offizier George ganz hervorragend gelingt.

 

Zu den Gästen gesellen sich Ensemblemitglied Tomi Wendt , der bedauerlicherweise wenig zu singen hat, als intriganter Gutsverwalter Gaveston aber dennoch brüllend komisch ist. Hauskoloratura

Naroa Intxausti gibt souverän die Titelfigur und begeistert mit ihrem beweglichen Sopran und starker Bühnenpräsenz.

 

Der Chor überzeugt mit ansteckender Spielfreude, ausgefeilter Choreografie und schönem Gesang. Dirigent Jan Hoffman selbst hat auch hier die musikalische Einstudierung übernommen und führt am Pult schmissig und voller Schwung durch den Abend. Das Stadttheater Gießen ist gut besucht, das Publikum freut sich an einer weiteren Ausgrabung und über eine gelungene Komödie, apllaudiert allen Beteiligten begeistert.

Auch wenn mich persönlich Boieldieus Kompoition nicht ganz so vom Stuhl gehauen hat wie die Raritäten der vergangenen Jahre, kann ich Ihnen einen Besuch doch nur empfehlen.

Ihr Jochen Rüth / 20.03.2016

Die Fotos stammen von Rolf K. Wegst.

 

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SAVITRI von Gustav Holst

DEATH KNOCKS von Christian Jost

Vorstellung am 30. 12. 2015

Der englische Komponist Gustav Holst (1874 – 1934), der nach Reclams Opernführer als „der herausragendste englische Komponist des frühen 20. Jahrhunderts“ gilt, schloss sich 1898 der Carl Rosa Company an, leitete Chöre und Orchester und widmete sich ab den späten 20er Jahren seiner Kompositionstätigkeit. Er schrieb mehrere Opern, doch keine seiner Einakter „erreichte die Intensität, die ‚Savitri‘ mit nur drei Stimmen, einem wortlosen Chor und zwölf Instrumenten erzielte“.

Holst komponierte die Oper „Savitri“, die 1916 in London mit großem Erfolg uraufgeführt wurde, bereits im Jahr 1908. Die Handlung, die eine Episode aus dem indischen Heldenepos Mahabharata aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. darstellt: Die junge Savitri lebt mit ihrem Gatten, dem Holzfäller Satyavan, in harmonischer Zweisamkeit. Eines Tages steht unerwartet der Tod vor ihr, um Satyavan wegzuführen.

Obwohl ihre Bitten und ihr Flehen vergeblich scheinen, behandelt Savitri den Tod in stiller Freundlichkeit, sodass der gerührte Gast verspricht, ihr einen Wunsch zu erfüllen, sofern es sich nicht um das Leben Satyavans handle. Daraufhin fordert Savitri das, was für sie das Leben bedeute, und setzt auf diese Weise die Gebote des Todes außer Kraft. Denn Satyavan bedeutet ihr Leben.

Hans Walter Richter arbeitete in seiner Inszenierung den indischen Mythos um Savitri heraus und lässt zu Beginn den todgeweihten Holzfäller Satyavan einen Fiebertraum erleben, während er die Titelfigur anfangs fast am Leben verzweifeln lässt. Savitri ist nahe daran, Selbstmord mit einer Überdosis Tabletten zu begehen. Für die Bühne und für die Kostüme war Lukas Noll zuständig, der für beide Kammeropern einen einheitlichen Bühnenraum schuf, bei den Kostümentwürfen jedoch die humoristische Seite des zweiten Stücks auch in der Kleidung des Todes auf witzige Weise herausarbeitete. Nett die Idee, zwischen den beiden Stücken einen Weihnachtsmann und ein Christkind auftreten zu lassen, die die Bühne mit Präsenten und Weihnachtszierat schmückten.

In der Titelrolle überzeugte die Mezzosopranistin Julia Stein stimmlich und darstellerisch, wobei ihr Mienenspiel besonders eindrucksvoll war. Berührend, wie sie sich um ihren krank im Bett liegenden Mann kümmerte und den Tod mit allen Mitteln umgarnt, um ihren Gatten zu retten. Als schwerkranker Holzfäller überraschte der baumlange österreichische Tenor Clemens Kerschbaumer durch seine kräftige Stimme. Vielleicht mit ein Grund, dass der Tod – vom deutschen Bariton Tomi Wendt nicht weniger überzeugend gespielt – ihn verschonte.

Die zweite Kammeroper „Death Knocks“, die der deutsche Komponist Christian Jost (geb. 1963) im Jahr 2001 nach einem Text von Woody Allen komponierte, hatte ihre Uraufführung im selben Jahr im Rahmen der niedersächsischen Musiktage.

In diesem satirischen Werk schneit eine attraktive junge Dame wie ein Komet durchs Fenster ins Schlafzimmer des New Yorker Textilfabrikanten Nat Ackermann. Sie gibt sich als der Tod zu erkennen, der ihn ins Jenseits mitnehmen will. Doch Ackermann ist keinesfalls dazu bereit und überredet den Tod zu einer Partie Gin Rummy. Es entwickelt sich ein Spiel auf Leben und Tod, das dieser schließlich jämmerlich verliert.

Möglicherweise handelt es sich bei Nat Ackermann um einen „Nachfahren“ des um 1400 geschriebenen Ackermann aus Böhmen von Johannes von Tepl, in dem ein Bauer den Tod anklagt, ihm seine Frau genommen zu haben. Im Programmheftchen wird Woody Allens Text „als lustvolle Aktualisierung von Ingmar Bergmans Filmklassiker ‚Das siebente Siegel‘ – vielleicht sogar als freie Assoziation zur urbayerischen Geschichte vom ‚Brandner Kaspar‘“ gedeutet.

Regisseurin Stephanie Kuhlmann nützte den jüdischen Witz dieses Werks zu einer humorvollen und prickelnden Inszenierung. Ihre Idee, eine stumme männliche Figur der Kammeroper beizufügen, die verschiedene Weihnachtspräsente auspackte, fernsah und sogar im Bett strickte, war jedoch zwiespältig. Handelte es sich bei dem Mann um einen Mitbewohner Ackermanns oder um den Nachbarn der nebenan liegenden Wohnung? Viele Besucher rätselten nach der Vorstellung – meiner Ansicht nach lenkte dieser Regie-Gag doch eher ab.

Die beiden Darsteller dieses grotesken Einakters spielten ihre Rollen auf hohem Kammerspiel-Niveau. Tomi Wendt gab den neurotischer Großstädter Nat Ackermann mit zwingendem Charme, der auch auf den Tod seine Wirkung nicht zu verfehlen schien, war doch der „Sensenmann“ eine junge, verführerische Frau. Sie wurde von Julia Stein – auffallend geschminkt und jugendlich chic (mit Laufmasche!) gekleidet – köstlich erotisch gespielt und gesungen. Dass sie schließlich ihr ganzes Geld verspielte und mit der Sense unverrichteterdinge die Flucht antreten musste, war der gelungene Gag dieser Kammeroper. Die stumme Rolle des „Nachbarn“ spielte Clemens Kerschbaumer mimisch ansprechend.

Das Philharmonische Orchester Gießen – es spielte für das Publikum unsichtbar in einem Nebenraum – wurde von Martin Spahr geleitet, der die Einsätze für das Sängerensemble über zwei Monitore gab. Es gelang den Musikern, die fremdländischen Klänge des ersten Werks ebenso nuancenreich wiederzugeben wie die rhythmische Illustration der Handlung der zweiten Kammeroper, deren Partitur sich durch variantenreichen Einsatz des Schlagwerks auszeichnete.

Das Publikum belohnte am Schluss der etwa 80minütigen Vorstellung das dreiköpfige Sängerensemble und das Orchester mit seinem Dirigenten mit lang anhaltendem Beifall. Dem Stadttheater Gießen muss man zur Produktion dieser beiden thematisch ähnlichen Raritäten gratulieren.

Udo Pacolt 2.1.15

Besonderer Dank an MERKER-online (Wien)

Bilder (c) Stadttheater Giessen

 

 

Zypern liegt im Wilden Westen – gelungene ironische Umsetzung

RICCARDO I

Premiere am 02.04.2015

Oper von Georg Friedrich Händel; fürs Gänsemarkttheater in Hamburg eingerichtet von Georg Philipp Telemann

Das Stadttheater Gießen, nun in der dreizehnten Spielzeit unter  der unprätentiösen Leitung der Schweizer Intendantin Cathérine Miville geht bei der Programmierung der Opernsparte einen Weg, der von vielen anderen kleineren Theatern für zu riskant gehalten wird, und hat damit Erfolg: mindestens die Hälfte der Produktionen sind Raritäten, Ausgrabungen oder moderne Oper.  Es wird Publikum aus nah und fern angezogen, das sich abseits des  Operneinerleis (das genügend vom Fernsehen in Hochglanzaufführungen geboten wird) für Besonderheiten interessiert. In dieser Spielzeit stellte das Theater aus dem Belcanto-Bereich Donizettis „Linda di Chamounix“ wieder vor und wird mit Ernst Kreneks komischer Oper „Kehraus um Sankt Stephan“ auch wieder die moderneren Interessen bedienen. 

An diesem Abend aber wurde ein Barock-Schmankerl geboten: Händels Oper Riccardo I in Telemanns Adaptation für das Gänsemarkttheater in Hamburg.  Während Händel seinem Alterskollegen Bach sein Leben lang aus dem Weg ging, hatte er zu Telemann immer gute Beziehungen unterhalten und war ihm sicher nicht böse, dass dieser einige Händelopern in bearbeiteter Form in Hamburg herausbrachte. Riccardo I kam 1727 in London heraus; dem Werk war nur mäßiger Erfolg beschieden, ob wohl Händel mit der Figur Richard Löwenherz nach den vielen antiken Themen die englische Seele ansprechen wollte.  Auch nach der Händel-Renaissance bleibt Riccardo I eine Seltenheit auf den Spielplänen der Opernhäuser (zuletzt bei den Karlsruher Händelfestspielen 2014, der Opernfreund berichtete) Telemanns Version ist in neuerer Zeit überhaupt nur einmal nachgespielt worden (1996 unter Nicholas McGegan).

Naroa Intxausti, Yannis François

Das Theater am Gänsemarkt in Hamburg wollte mit seinen 2000 Plätzen gefüllt sein. Öffentliche Unterstützung durch den Senat erhielt das Haus nicht, aber eine Reihe von Vorschriften: neben der Unterhaltung wurden Erbauung und Moral ein großer Stellenwert zugewiesen. Daher hatte sich schon in der Blütephase des Hauses unter Reinhard Keiser durchgesetzt, dass - damit das Publikum es verstehe – die Passagen mit dem erhobenen Zeigefinger auf Deutsch dargebracht wurden, während die Arien auf Italienisch gesungen wurden. Als Telemann Händels Riccardo 1929 in Hamburg herausbrachte, befand sich das Theater schon in seiner Spätphase. Aber der alten Tradition folgend übersetzte der Librettist Christoph Gottlieb Wend alle Rezitative ins Deutsche und fügte einige Arien auf Deutsch hinzu; Rezitative und die neuen Arien wurden von Telemann neu vertont. Er hatte damals die musikalische Leitung des Theaters inne. Die beiden fügten auch eine neue Figur ins Libretto ein: die Sprechrolle des „Philosophen“ Gelasius, der aber dem Geschmack der Zeit folgend kein Moralin verbreitete, sondern eher als Hanswurst gemeine Volksweisheiten verkündete und somit das ulkig-komödiantische Element gegenüber dem heroischen aufwertete.

Tomáš Král, Maddin Schneider, Naroa Intxausti

Der Regisseur der Gießener Neuproduktion, Balázs Kovalik (von seiner glänzenden Agrippina-Inszenierung 2013 dem Gießener Publikum noch in bester Erinnerung) trug dem unterhaltsamen Charakter des Stücks auch insofern Rechnung, als er selbst die heroischen Passagen mit einem doppelten Boden von Ironie und Satire unterlegte. 

Die Handlung der Oper basiert auf dem historischen Richard Löwenherz, der nachdem er auf dem dritten Kreuzzug Sizilien verwüstet hatte  - im „Kaiserreich“ Zypern landete, wo er sich mit seiner ihm (noch unbekannten) Braut Berengaria treffen wollte. Diese strandete ebenfalls in Zypern, wurde aber wegen ihrer Schönheit von „Kaiser“ Isaak Komnenos (in der Oper: Isacius) zur Frau erkoren. Den britischen Heerführer Richardus wollte der Kaiser mit seiner Tochter Formosa abspeisen, die aber schon seinem Feldherrn Orontes versprochen war, der aber ebenfalls Berengaria nachsteigt. Verkleidungskomödie, Hin- und Her, schließlich sitzt im lieto fine jeder im richtigen Kästchen.

Maddin Schneider, Francesca Lombardi Mazzulli

Kovalik verlegt die Handlung in den Südwesten der USA in die jüngste Vergangenheit. Dabei gelingt ihm die Adaptation des Personals fast reibungslos, während die geographischen Verhältnisse sich dem logischen Verstand nicht erschließen: hier zieht die Ebene „Scherz, Satire, Ironie und „tiefere“ Bedeutung. Handlungsort ist ein Franchise Coffee Shop in einem amerikanischen Hotel mit roten Kunstledermöbeln und Plastik-Tischen. Der „Philosoph“ Gelasius ist zum Barkeeper mutiert, der mit seinen auf Hessisch vorgetragenen Platitüden und Lebensweisheiten ebenso zu gefallen weiß, wie stimmlich bei einigen Complets, die er zu singen hat. Viel Beifall für Schauspieler und Komiker Martin Rudolf („Maddin“) Schneider, der so die Beziehung zum mittelhessischen Gießen herstellt. (Auch Handkäs ist im Angebot.) Der Kaiser Isacius ist der lokale Gangsterboss in Stiefeln und mit Stetson; sein Adlatus Orontes wird als vom „Boss“ abhängiger Sheriff gezeigt. Richardus tritt zunächst als sein eigener Bote als Autogrammkarten verteilender Schlagersänger auf, dann aber ganz seriös als Löwenherz im eleganten dreiteiligen Zwirn und schließlich als Eroberer per Schiff (mitten in Arizona!)  wie Francesco Schettino in weißer Paradefantasieuniform. Die beiden Damen Berengera und Formosa wetteifern in ihren Kostümen mit Blümchenmuster und Bonbonfarben. 

Angelika Höckner zeichnet für die Ausstattung verantwortlich. Mit viel Liebe zum Detail hat sie die Bar und den Gastraum aufgebaut, durch dessen Fenster man auf Holzhäuser einen ländlichen Siedlung und auf an windschiefen Masten befestigte elektrische Leitungen schauen kann: alles ganz realistisch. Weniger realistisch, weil stark ironisierend sind die Videoproduktionen auf die großen Fensterscheiben.  Als Reminiszenz an heroische mediterrane Landschaften blickt man auf das Bild eines mittelalterlichen Castello vor Gebirgslandschaft.  Just durch dieses Bild kommt Richardus mit seinem Kreuzer auf die Bühne gefahren, bevor die Oper mit einigen Änderungen am Original ihr Ende findet. Vier Statisten beleben die bunte Szene, die fast immer in Bewegung ist; die knapp zweieinhalb Stunden reine Spielzeit der leicht gekürzten Oper werden nicht lang, sondern werden umso vergnüglicher, je länger das Geschehen anhält.

Maddin Schneider,Yannis François, Naroa Intxaust, Jakub Jósef Orliński

 

Bereitete schon die Inszenierung einen amüsanten Abend, so konnte mit man mit der musikalischen Seite des Abends ebenfalls sehr zufrieden sein. Musikalisch dominant bleibt Händel mit seinen Da-capo- und Gleichnisarien. Die haben mehr Schmelz und Swing als der trockenere Telemann. Michael Hofstetter leitete das Ensemble aus dem Philharmonischen Orchester Gießen, das teilweise auf Originalinstrumenten spielte und um eine fünfköpfige Continuogruppe erweitert war. Das Orchester folgte ihm präzise, auch wenn er überwiegend flotte Tempi anschlug. So erklang die Musik aus dem Graben temperamentvoll und inspiriert.

Tomáš Král

Es waren überwiegend Gastsänger eingesetzt, bei denen nichts anbrannte, wenn man sich auch hier und da bei den deutschen Rezitativen eine bessere Textverständlichkeit hätte wünschen können. Ein Glücksgriff war die Besetzung der beiden tiefen Männerstimmen. Yannis François als Isacius glänzte mit seinem hellen, jugendlichen überaus beweglichen Bassbariton und kraftvollen virtuosen Koloraturen. Wie auch Tomáš Král bewies er, dass man auch ohne zu viel Speck auf den Rippen gesanglich Zeichen setzen kann. Letzterer  gestaltete den Richardus - von Telemann als Bariton besetzt – mit weich ansprechender eleganter wohltönender Stimme. Der Gießener Publikumsliebling Naroa Intxausti gab die Berengera, die sie innig und lyrisch mit gestochenen und feinen Höhen anlegte. Ihr Duett T’amo si“ mit Richardus geriet zu einem der lyrischen Höhepunkte des Abends. Francesca Lombardi Mazzulli  kam zunächst mit ihrer Rolle als Formosa nicht so gut zu Recht. Sie hatte mit den Rezitativen zu kämpfen und neigte beim Forcieren zum Pressen. Vielleicht war das premierenbedingt, denn im Verlauf ließ sie ihren warmen, kraftvollen Sopran aufblühen. Der Sudanese Magid El-Bushra bekam als Orontes mehrfach Szenenbeifall für seinen hellen klaren Counter, für seine virtuosen Passagen und saubere Stimmführung. Ein weiterer Counter war mit Jakub Jósef Orliński in der kleinen Rolle des Philippus (Begleiter von Berengera) besetzt. Mit großem Tonumfang und sehr heller Höhe wusste er zu gefallen. Weniger dadurch, dass er sich zum Schluss ein Mädchenkleid anziehen musste; aber begeisternd eine artistische Leistung beim letzten Abgang. 

Das Publikum war sehr zufrieden mit der Vorstellung und spendete einhelligen Beifall für alle Beteiligteninklusive des Regieteams. Puristen erden an der Inszenierung das eine oder andere auszusetzen haben, bei der Unterhaltung und Humor dominieren – vielleicht ganz im Sinne des Premierenpublikums in Hamburg von 1729. Noch am 10., 18., 26.04 und am 10. sowie 21.05.15. 

Manfred Langer,  03.04.2015                     Fotos:         Rolf K. Wegst                

 

 

 

 

Neueste Gießener Opernausgrabung

LINDA DI CHAMOUNIX

eine wahrhaft glänzende Belcanto-Perle

31.01.2015 – Premiere

Lieber Opernfreund-Freund,

das Stadttheater Gießen hat es sich seit ein paar Jahren mindestens einmal pro Spielzeit zur Aufgabe gemacht, in Deutschland selten bis nie gespielte Werke des 19. Jahrhunderts auf die Bühne zu bringen. Dieses Jahr wurde man beim Bergamasken Gaetano Donizetti fündig, der der Nachwelt mehr als 70 Opern hinterlassen hat, von denen die meisten davon mehr oder weniger direkt nach der Uraufführung dem Vergessen anheim fielen – manche sicher zu Recht, bei anderen ist dies hingegen kaum nachvollziehbar. Zu letzterer Kategorie gehört sicher die gestern präsentierte opera semiseriaLinda di Chamounix“, 1842 in Wien uraufgeführt, die einen wahren Strauß wunderbarer Melodien, atemberaubender Koloraturen und beeindruckender Chorszenen enthält und völlig unerklärlicherweise mehr als 100 Jahre in Deutschland nicht mehr zur Aufführung gekommen ist.

Sicher, die Geschichte ist ein wenig verworren – aber auch nicht konstruierter als beim „Trovatore“: Linda, ein Savoyardin aus armen Verhältnissen, liebt den Maler Carlo, der aber eigentlich der Sohn einer Marquise ist. Dessen Onkel möchte sie verführen und bietet deshalb den in finanzieller Not befindlichen Eltern des Mädchens Geld dafür, dass er sie als Dienstmädchen mit nach Paris nehmen darf. Der Präfekt des Ortes erkennt dies und überzeugt den Vater, die Tochter – um sie vor der Entehrung zu retten – stattdessen mit den anderen Kindern des Ortes als „Saisonarbeiter“ in die Großstadt zu schicken. In Paris offenbart Carlo Linda gegenüber seine Herkunft und bringt sie in einer feinen Wohnung unter. Seine Mutter hat in Kenntnis dessen eine Hochzeit mit einer standesgemäßen Braut anberaumt. Lindas Vater erkennt beim Besuch von Carlos Wohnung die Tochter erst nicht – und verstößt sie dann, da er der Ansicht ist, sie habe sich verkauft. Als Linda darüber hinaus von der bevorstehenden Vermählung Carlos erfährt, wird sie wahnsinnig. Im Heimatdorf bedauern alle Lindas Schicksal, von der der Wahn bei Carlos Erscheinen – der natürlich in letzter Sekunde dann doch nicht geheiratet hat – abfällt. Die Verliebten fallen sich in die Arme und träumen von einer sorgenfreien Zukunft. So weit, so operntauglich…

Hans Walter Richter und seinem Regieteam ist es bei der szenischen Umsetzung des Stoffes gelungen, einen kurzweiligen Opernabend auf die Bühne zu bringen, ohne das Stück komplett umzukrempeln oder mit der Brechstange zu modernisieren. Vielmehr gelingt es ihm, durch mehr oder weniger dezente Hinweise und Symbole Themen wie beispielsweise Bigotterie, Unterdrückung der eigenen Sexualität, Kinderarmut oder soziale Standesunterschiede in den Fokus zu rücken, ohne die Handlung in die Zeit des zweiten Weltkriegs, an die Wallstreet unserer Tage oder in den Weltraum des Jahres 2871 verlegen zu müssen. Einem Regietheater-Fan mag das zu wenig sein, ich fand es eine gelungene Gratwanderung.; lediglich bei der Interpretation Lindas als Schwangere, ist Richter ein wenig übers Ziel hinaus geschossen.

Schon ehe sich der Vorhang hebt schwebt ein beleuchtetes Kruzifix über der Szenerie, die windschief angelegt Bühne von Bernhard Niechotz, der auch für die wunderbar variantenreichen und detailverliebten Kostüme verantwortlich zeichnet, zeigt, dass in dieser Gemeinschaft offensichtlich nicht alles so im Lot ist, wie es sein sollte. Das Einheitsbühnenbild, das im zweiten Akt durch einen eingezogenen Samtvorhang zur Pariser Wohnung wird, ist eine Art Gemeindesaal voller Jagdtrophäen samt Orgel - und nach Eintreten der Katastrophe im dritten Akt reichlich derangiert.

Ja, der dritte Akt… Dramaturgisch vielleicht der schwächste der Oper, da wird es hektisch. Alle müssen nochmal auf die Bühne, jeder muss noch mindestens zwei Zeilen Solo singen, da wird’s musikalisch unübersichtlich – und szenisch auch, da die Regie dem ungebremst folgt – da hilft auch das variantenreiche Licht von Kati Moritz nicht – was aber dem Genuss von Werk und Abend keinen Abbruch tut.

Der hängt, bei allem Gewicht von Szenerie und Lesart, doch ohnehin viel mehr von den musikalisch Beteiligten ab – und hier gibt es nichts zu meckern. Ich muss regelrecht aufpassen, dass ich nicht in zu große Lobhudelei verfalle und versuche meine Begeisterung noch einmal zu bremsen:
Die bezaubernde Naroa Intxausti in der Titelpartie meistert mit ihrem hellen Sopran jede Höhe, besticht durch Charme wie durch immense stimmliche Beweglichkeit und hat wesentlichen Anteil an dem nachhaltigen Eindruck, den dieser Abend hinterlässt. An ihrer Seite glänzt Leonardo Ferrando als Carlo nach Koordinationsschwierigkeiten in der Auftrittsarie mit wunderbar metallischem Belcanto-Tenor und beeindruckenden Spitzentönen, bleibt aber darstellerisch im Vergleich zum Rest des Ensembles am farblosesten. Die Figur des Marchese ist bereits im Libretto als eine Art Karikatur des reichen adligen Verführers angelegt; Tomi Wendt setzt dies mit großem Witz und Spielfreude um, serviert bemerkenswerte Parlando-Passagen. Sofia Pavone in der Hosenrolle des Freundes Pierotto verfügt über ein weiches, anrührendes Timbre und meistert die häufigen Lagenwechsel der Partie mühelos. Der junge Rumäne Cozmin Sime verleiht der Figur von Lindas Vater mit facettenreichem Bariton und überzeugendem Spiel Profil. Calin Valentin Cozmas Bass ist wie gemacht für die dunklen Ahnungen und Drohungen des Präfekten. Michaela Wehrum als Lindas Mutter und Vepkhia Tsiklauri als Intendente komplettieren das glänzend disponierte Ensemble. Der von Jan Hoffmann einstudierte Chor agiert koordiniert und harmonisch, singt beeindruckend, der Kinder- und Jugendchor – von Martin Gärtner betreut – setzt tolle Akzente.

Das Philharmonische Orchester Gießen unter der Leitung von Florian Ziemen präsentiert die Partitur herrlich beschwingt, die halsbrecherischen Läufe in allen Stimmen gelingen ebenso imposant wie die anrührenden Momente und bereits am Premierenabend herrscht ein harmonisches Zusammenspiel zwischen Bühne und Graben.

Am Ende gibt’s einhelligen und nicht enden wollenden Applaus für alle Beteiligten – Gießen hat da augenscheinlich nicht nur eine Perle gefunden, sondern diese auch noch trefflich aufpoliert.

Fazit: Eigentlich müsste ich jedem, den ich kenne, empfehlen, nach Gießen zu reisen, um diese wunderbar glänzende Belcanto-Perle zu erleben, die vor allem in musikalische Hinsicht restlos beglückt – hätte dann aber Angst, dass ich selbst kein Ticket mehr bekomme, wenn ich mir noch eine Aufführung anschauen möchte. Oder zwei. Deshalb empfehle ich es nur Ihnen.

Ihr  Jochen Rüth aus Köln 1.2.15

Bilder: Rolf K. Wengst

 

MIRANDOLINA

Besuchte Aufführung: 6. 7. 2014 (Premiere: 30. 3. 2014)

Surrealismus, Freud’sche Zwangshandlungen und Brechungen

Vor gerade mal zwölf Jahren ist im irländischen Wexford ein recht bemerkenswertes Werk reaktiviert worden: Bohuslav Martinus Oper „Mirandolina“, die der Komponist in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts geschrieben und dazu auch das italienische Textbuch selbst verfasst hat. Dieses stellt indes nicht gerade einen Geniestreich dar. Bereits emigriert, war es Martinu verwehrt, die Prager Uraufführung des Werkes im Jahre 1959 mitzuerleben. Nach der Aufführung im Münchner Cuvilliéstheater Ende April konnte man dieses reizvolle Stück der neuren Opernliteratur nun auch am Theater Gießen erleben. Dabei handelte es sich um die erstmalige Präsentation der italienischen Original-Vision.

Martinus Oper zugrunde liegt das 1753 aus der Taufe gehobene Stück „La Locandiera“ - die deutsche Übersetzung lautet „Die Wirtin“ - aus der Feder Carlo Goldonis. Bereits früh haben diverse Tonsetzer die enorme Eignung des Stoffes für eine Vertonung erkannt. Im Laufe der Zeit sind insgesamt sechs Opern entstanden, die auf Goldonis Stück Bezug nehmen. Die jüngste und vom ihrem musikalischen Gehalt her ergiebigste ist die von Martinu. Wenn man seine Vertonung der „Mirandolina“ anhört, kommt man gar nicht auf den Gedanken, es hier mit einem modernen Erzeugnis des Musiktheaters zu tun zu haben. Das musikalische Stilgemisch, mit dem der Komponist hier aufwartet, reicht weit in die Vergangenheit zurück. Hierbei handelt es sich eigentlich um eine typische italienische Belcanto-Oper, bei der der Einfluss so mancher anderer Tonsetzer geradezu ins Auge springt. So schimmert beispielsweise Mozart durch, die groß angelegten Ensembles gemahnen stark an Rossini und sogar die Tonsprache eines Smetana wird merkbar. Eine rudimentär vorhandene Leitmotivtechnik weist auf Richard Wagner hin. Neben solchen klassischen Klängen lässt Martinu aber auch Jazz-Töne in seine Partitur einfließen, womit er der Entstehungszeit der „Mirandolina“ huldigt. Die unterschiedlichen musikalischen Elemente werden zum großen Teil ohne große Übergänge und zudem ziemlich abrupt aneinandergereiht.

In szenischer Hinsicht hatte die Gießener gegenüber der etwas belanglosen und letztlich nicht gerade originellen Produktion am Münchner Cuvilliéstheater eindeutig die Nase vorn. Die Inszenierung von Andriy Zholdak genießt  einen schlechten Ruf.  Was der ukrainische Regisseur hier auf die Bühne des Theaters Gießen gebracht hat, war aber aufregendes, modernes Musiktheater mit  tiefenpsychologischen Elementen. Nicht als Komödie hat Zholdak die „Mirandolina“ auf die Bühne gebracht, sondern unter mannigfaltiger Einbeziehung Brecht’scher Elemente, des politischen und insbesondere des Absurden Theaters sowie interessanter psychoanalytischer Aspekte als bitterböse Gesellschaftssatire.

Es ist keine einheitliche Welt, die der Regisseur zusammen mit Bühnenbildner Lukas Noll, der auch die aus unserer Zeit stammenden Kostüme kreierte, auf die karg und nüchtern anmutende, stets dunkel ausgeleuchtete Bühne bringt, sondern eine in vielerlei Hinsicht gespaltene. Das beginnt schon bei der sich vor dem eisernen Vorhang auf der schmalen Vorderbühne abspielenden Handlung, die ständig durch Video-Projektionen der beiden Seitenbühnen auf seitlich angebrachte Leinwände - auf ihnen sieht man die Darsteller auf ihren Auftritt warten - eine Ergänzung erfährt. Der schöne Schein des Theaters erfährt dadurch gekonnt eine profane Brechung. Die Privatsphäre der Beteiligten und die Bühne fügen sich zu einer Symbiose zusammen, die Shakespeares Postulat „Die ganze Welt ist eine Bühne und alle Männer und Frauen bloße Spieler, sie treten auf und gehen wieder ab“ voll und ganz entspricht. Entsprechend dem streng religiösen Umfeld, dem Zholdak entstammt, frönen die Beteiligten einem überzogen wirkenden Katholozismus. Im Hintergrund sieht man ein Bild der Madonna, das den ganzen Nachmittag über präsent bleibt und im Schlussakt zunehmend größer wird. Immer wieder kommt es zu symbolischen Kreuzungen eines Jesus-Imitators und zweier leicht bekleideter Mädchen, die beide offenbar in einer lesbischen Beziehung zu ihrer Chefin Mirandolina stehen. Eines davon scheint im Vorfeld zudem echten Misshandlungen ausgesetzt gewesen zu sein: es hinkt. Die ständigen Waschungen und das Abknutschen dieser allegorischen Figuren zeugen von einem überbordeten religiösen Eifer der Handlungsträger, der letztlich Sottise bleibt. Dieser aufgezeigte religiöse Wahnwitz erfährt im dritten Akt durch das Hereinbrechen der zeitgenössischen Politik ebenfalls eine heitere ironische Brechung. An einem breiten Konferenztisch werden die privaten Konflikte der Protagonisten kurzerhand zur Weltpolitik erhoben und unter dem Bild von Angela Merkel abgehandelt. Wohl die Jungfrau Maria anbetend, deren neben ihr aufgehängtes Bild jetzt ins Zentrum gerückt ist, scheint die evangelische Kanzlerin hier gerade zum Katholizismus zu konvertieren.

Es ist kein positives Bild, das die Regie hier von den beteiligten Personen zeichnet und das Ganze zu einer recht rigiden Sozial- und Gemeinschaftsstudie umdeutet, wobei mit harscher Kritik nicht gespart wird. Die Männerwelt ist ein ziemlich gewaltbereiter Haufen bornierter Lüstlinge, und anhand der Frauen wird das Prinzip von Heilige und Hure trefflich abgehandelt. Dabei werden durchweg die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Surrealität, Wachen und Träumen überschritten, was sich in auf den ersten Blick reichlich unlogischen Handlungen äußert, so beispielsweise, wenn ein Engelsmädchen mit einer Pistole den Marchese und seinen Diener ohne ersichtlichen Grund gleich mehrfach erschießt, diese aber immer wieder aufstehen. Aber, wie gesagt, nur auf den ersten Blick. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass sich ständig zwei Ebenen überlappen: eine tatsächliche und eine irreale. Derartige Bilder sind keinesfalls als der Realität verhaftet aufzufassen, sondern als Ausgeburten einer überwuchernden Phantasie, wie man sie in ähnlich grotesk zugespitzter Form insbesondere in den Stücken eines Ionesco und eines Beckett beobachten kann, deren Verwerfung der klassischen Theaterstrukturen und Hinwendung zum Absurden Theater Zholdak begierig aufgreift, wenn er derart widersinnige Szenarien entwirft und recht paradoxe Handlungen miteinander verknüpft.

Die innovative Durchdringung des Werkes wird gekrönt durch die Einbeziehung der Lehren eines Sigmund Freud. Anhand des ständig die verschiedensten Requisiten über die Bühne tragenden Hausmeisters, der sich am laufenden Band zuerst die Brille zurechtrückt und anschließend über seinen Oberlippenbart streicht, wird vom Regisseur einfühlsam vorgeführt, was eine Zwangshandlung oder -neurose ist. Die Möglichkeiten des menschlichen Zusammenlebens sind mannigfaltig. Dass die Optionen dazu noch lange nicht ausgeschöpft sind, wird am Ende deutlich, an dem sich die Rückwand endlich öffnet und der Hausmeister den weiblichen Engel in die Weite der Hinterbühne als noch zu ergründender Ort der unbegrenzten Möglichkeiten entführt.

Zholdak hat in dem spielfreudigen Ensemble kollegiale Partner/innen gefunden. An erster Stelle ist hier Gastsängerin Francesca Lombardi Mazzulli zu nennen, die darstellerisch eine hoch erotische, verführerische und leidenschaftliche Mirandolina war. Auch gesanglich vermochte sie mit ihrem sinnlichen, bestens gestützten Sopran voll zu überzeugen. Eine Glanzleistung erbrachte ebenfalls Calin Valentin Cozma, der mit hervorragend fokussiertem, sonorem und klangvollem Bass dem Marchese Forlimpopoli mehr als gerecht wurde. Eric Laporte sang den Conte Albafiorita mit recht variablem Stimmsitz. In der Mittellage über eine gute Stütze verfügend, ging er in der Höhe oft vom Körper weg. Noch nicht völlig ausgereift war der Bariton von Tomi Wendt, der als Cavaliere Ripafratta mit überhaupt nicht italienisch anmutender, flacher und halsiger Tongebung nicht überzeugen konnte. Auch der an sich gefällige Tenor von Ralf Simon hätte besser im Körper verankert sein können. Von den beiden Komödiantinnen war die über einen vollen, runden Mezzosopran verfügende Stine Marie Fischer (Dejanira) ihrer allenfalls solide intonierenden Soprankollegin Naroa Intxausti (Hortensia) überlegen. Die Statisten Myriel Bischoff, Theresa Gehring (Zwei Dienstmädchen), Jemina Coletta (Engel), Klaus Peter Unfried (Alter Mann) und Florian Moll, Glenn Buchholtz (Jünglinge) machten ihre Sache vortrefflich.

Am Pult besann sich GMD Michael Hofstetter ganz auf das Vorbild Rossinis und animierte das beherzt aufspielende Philharmonische Orchester Gießen zu einer mitreißenden, fetzigen und temperamentvollen Wiedergabe von Martinus Partitur. Bemerkenswert war insbesondere, mit welcher Brillanz die Musiker die komplizierte Rhythmik meisterten, obwohl sie es schon wegen der vom Dirigenten angeschlagenen recht rasanten Tempi nicht gerade leicht hatten.

Ludwig Steinbach, 7. 7. 2014               Die Bilder stammen von Rolf K. Wegst.

 

  

 

Deutsche Erstaufführung nach 164 Jahren

DIE EROBERUNG VON GRANADA

La conquista di Granata  -  Emilio Arrieta (1823 – 1894)

Premiere am 24.05.2014

Reconquista verständlich erzählt und geschmackvoll in Szene gesetzt

Als nach den Napoleonischen Kriegen vom spanischen Hof mehr und mehr Dokumente aus der Ära der Reconquista veröffentlicht wurden, kam ein großes Interesse an den Geschehnissen um die Eroberung des Emirats von Granada 1492 auf, der Eroberung des letzten Maurenstaats auf iberischem Boden. Es entstand gar eine ganze Stilrichtung, der „Alhambrismus“, der auch in die Musik eindrang. Emilio Arrieta war ein spanischer Komponist, der sein (Opern)Handwerk in Italien gelernt hatte und dort mit einer ersten Oper Erfolge feierte. Aber später sollte Arrieta sich Geld und Namen mit Zarzuelas machen, die noch heute vielfach aufgeführt werden. „La conquista di Granata“ kam 1850 in italienischer Sprache im Teatro Real Palacio in Madrid heraus. Isabella II. von Spanien, Mäzenin von Arrieta,  hatte sich für das Werk eingesetzt; so wurde es auch eine Huldigungsoper für ihre Vorgängerin Isabella I., unter deren Regentschaft die Oper spielt. Historisches Ergebnis: Die Mauren mussten entweder konvertieren oder das Land verlassen. (Das gleiche geschah übrigens mit den Juden, die der kastilischen Krone zwar den Krieg finanziert hatten, aber zum Dank dafür ebenfalls Iberien verlassen mussten, sollten sie nicht konvertieren wollen.) 

Naroa Intxausti (Zulema)

Temistocle Solera, als Librettist für Verdis Nabucco bekannt, schrieb das Libretto für Arrietas Oper und basierte es auf damals beliebten literarischen Vorlagen für den Stoff. Als historisch verbürgte Personen treten Isabella I. von Kastilien, Muhammad XII. („Boabdil“) und Gonzalo Fernández de Córdoba y Aguilar auf. Die anderen Figuren sind ganz im Stil einer barocken seria-Oper hinzugefügt, so fehlt auch die für die italienische Oper des 19. Jhdts. sonst so typische Dreierkonstellation. Handlung: die Kastilier unter Isabella befinden sich in Stellung vor Granada; ihr Befehlshaber Gonzalo ist aber heimlich in die zum Christentum konvertierte Schwester des Boabdil verliebt;  ihrVater Mulay Hassem lehnt die Verbindung schroff ab und vermaledeit seine Tochter derentwegen sogar. Die Mauren wollen den Konflikt stellvertretend durch ein Duell zwischen zwei Repräsentanten der Regime lösen, wozu ein weiterer Bruder Zulemas die Kastilier durch den maurischen Fürsten Alamar herausfordern lässt. Isabella ernennt Gonzalo zu ihrem Duellanten; der hatte aber Zulema geschworen, nie mit einem  ihrer Familienangehörigen zu kämpfen; somit springt sein Freund Lara im Duell für Gonzalo ein und tötet Zulemas Bruder. Diese weiß zunächst nichts von dem Kombattantentausch und wendet sich von Gonzalo ab. Die Verwicklungen werden leicht gelöst, als sich die Wahrheit herausstellt und zudem noch Muley Hassem nach einem Traum zum Christentum konvertiert. Die Mauren übergeben Granada, Jubelchor, Ende der Oper. Die Handlung erscheint nur im ersten Blick kompliziert, aber es zeigt sich, dass gerade der Mangel an wirklicher Verwicklung die Schwäche des Librettos ausmacht. Inhaltlich ist das tatsächlich noch eine barocke Herrschaftsoper, in der sich alles zur Freude der Königin regelt. 

Leonardo Ferrando (Gonzalo)

Am Stadttheater Gießen stellt nun Intendantin und Regisseurin Cathérine Miville diese Oper zum ersten Mal außerhalb von Spanien als deutsche Erstaufführung vor. Im Sinne des Alhambrismus könnte man das Stück in historisierend prächtiger Szenographie mit Löwenhof präsentieren: Architektur, Kostüme, Aufmärsche. Aber einmal ist das auf der kleinen Gießener Bühne gar nicht so einfach, und die Geschmacksrichtung von heute würde da auch nicht mehr treffen. So steuert Frau Miville mit ihrem Ausstatter Lukas Noll einen Mittelweg. Der stellt eine halb-abstrakte modern kubistische gestaltete und vielfach gegliederte Stahlkonstruktion auf die Drehbühne, wobei sich die einzelnen Spielorte nur wenig konkret präsentieren, aber durch die Drehungen der Bühne immer gut abgehoben werden können. In eine große Blechwand sind die Namen der Reyes Católicos, Fernando und Isabella gestanzt; davor, dahinter und darunter präsentieren sich Protagonisten und Chöre in modern stilisierten Kostümen. Den Bühnenabschluss bilden (in frühbarocker Technik) stehende, drehbare dreikantige Prismen, die von innen beleuchtet sind und orientalisierende Muster zeigen. Von der Alhambra bleibt auf der Bühnenrampe lediglich ein bemaltes Sperrholzmodell in Form eines Throns übrig, auf den sich Isabella besitzergreifend und provozierend zu Beginn der Oper setzt. Während der Text mit heute als diskriminierend empfundenen  Ausdrücken (die Luft „stinkt“ vor Moslems) angereichert ist, werden in der szenischen Darstellung Vorurteile gegen die Muslims natürlich nicht Text-entsprechend instrumentalisiert, keine Pluderhosen oder Fese für die orientalischen Truppen, aber doch genügend deutliche Hinweise auf die Zugehörigkeit zu den Parteien von Einzelpersonen und Chor, der sich mehrere Male umziehen muss. So wird die Handlung leicht verständlich erzählt. Großes Mitempfinden für die eine oder andere Person mag sich handlungsbedingt nicht einzustellen, aber dafür sorgt dann die Musik. 

Michaela Wehrum (Almeraya); Naroa Intxausti (Zulema); Chor

Unter der Leitung von Chorleiter und Kapellmeister Jann Hoffmann musizierte das Philharmonische Orchester Gießen frisch und konzentriert aus dem Graben. Wie auch Verdis Opern aus den späten vierziger Jahren des 19. Jhdts. liegt die Musik stilistisch in der Übergangsphase zwischen Belcantismus und melodamma. Sie ist einfach strukturiert, süffig, wenig filigran, arbeitet mit der für die Zeit typischen formelhaften Begleitfiguren und klingt dabei aber jederzeit recht inspiriert. Mit spanisch alhambrischen Melismen durchsetzt erhält sie einen eigenständigen Charakter. Durch die Ouvertüre wabert auch etwas deutsche Romantik. Große Bedeutung für das Werk haben die Chornummern. Dem tragen der musikalische Leitung, Regie und Ausstattung in beispielhafter Weise Rechnung: klangstark und präzise einstudiert, spannend bewegt und überzeugend kostümiert. Erwähnenswert noch das gekonnt auf der Bühne vorgetragene Flötensolo von Carol Brown, die als hübsches Kopftuchmädchen kostümiert war. 

Giuseppina Punti (Isabella)

Auch bei der Besetzung der Solisten ließ das Theater mit einer Mischung von bewährten Gastsängern und Ensemblemitgliedern nichts anbrennen. Zu den regelmäßigen Gästen in Gießen gehört Giuseppina Piunti. Sie sang die Isabella. Von nobler und zugleich feuriger Bühnenerscheinung, über welche die historische Isabella nach den bekannten Portraits zu urteilen nicht verfügte, gestaltete sie ihre Rolle stimmlich mit sattem Mezzo und schönen leuchtenden Höhen, wenngleich die Stimme etwas eindimensional klang und im Blick auf eine bessere Textverständlichkeit mehr Modulation und Nuancierung gebrauchen könnte. Naroa Intxausti war als Zulema besetzt; sie verfügt über den rollenspezifischen silbrig-hellen Sopran, sang sich im Verlauf immer besser in ihre Rolle und entwickelte schöne Geschmeidigkeit unter dem in der Höhe etwas spitzen Vibrato. Michaela Wehrum aus dem Gießener Opernchor gab in der Nebenrolle der Almeraya, Zulemas Dienerin mit schlankem, gut fokussiertem Mezzo. Der Uruguayer Leonardo Ferrando war als Gonzalo besetzt und setzte mit seinem hellen Belcanto-Tenor positive Akzente setzen: beweglich in den Koloraturen und höhenfest ohne Schärfe bei sehr ordentlicher Textverständlichkeit. Seinen Freund Lara gestaltete Adrian Gans als kräftigen draufgängerischen Haudegen mit durchschlagsstarkem hellem, in der Höhe aber nicht recht fest sitzendem Bariton. Calin Valentin-Cozma überzeugte als Muley-Hassam, Vater der Zulema, mit mächtigem, runden Bass. Tomi Wendt bestritt die kurzen Auftritte des Boabdil mit schön konturiertem, kultivierten Bariton. Aleksey Ivanov, ebenfalls vom Gießener Chor, gefiel als Alamar mit kräftigem Bass. 

Tomi Wendt (Boabdil); Aleksey Ivanov (Alamar)

Gießen hat wieder einmal mit einer Ausgrabung der Belcantozeit Interesse erweckt. Die Aufführung erfreute sich ausgesprochen großer Zustimmung aus dem vollen Gießener Haus. Sie kommt noch sechs Mal in dieser Spielzeit.  www.stadttheater-giessen.de/

Manfred Langer, 25.05.2014                                               Fotos: Rolf K. Wegst

 

 

MIRANDOLINA

Bohuslav Martinů

Vorstellung 4. 5. 2014                 

 

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Mirandolina (Francesca Lombardi Mazzulli) neben

einem Dienstmädchen in Kreuzigungspose (Foto: Rolf. K. Wegst)

 

Das Stadttheater Gießen, das seit Jahren in jeder Spielzeit ein bis zwei Opernraritäten in seinem Programm hat, zeigt zurzeit die Oper „Mirandolina“ des tschechischen Komponisten Bohuslav Martinů, deren Uraufführung 1959 in Prag stattfand. In Gießen wird die italienische Fassung als deutsche Erstaufführung mit deutschen Übertiteln gebracht.

Die Handlung nach Carlo Goldoni in Kurzfassung:

Alle sind verliebt in Mirandolina, die kokette und attraktive Wirtin eines Florentiner Gasthauses. Der verarmte Marchese und der reiche junge Conte möchten sie sogar heiraten – sehr zum Leidwesen des sich vor Eifersucht verzehrenden Dieners Fabrizio. Nur der Cavaliere Ripafratta kann ihr widerstehen, denn lieber wolle er sich einen Jagdhund als eine Ehefrau zulegen. Mirandolina ist empört und setzt sich in den Kopf, keine weibliche List auszulassen, um das Herz des Cavaliere zu gewinnen, heiratet aber schließlich doch den Diener Fabrizio.

Bohuslav Martinů (1890 – 1959) schuf mit „Mirandolina“ eine heitere opera buffa, die stark von mährischer Volksmusik, Jazz und französischem Impressionismus beeinflusst ist und als eine augenzwinkernde Reminiszenz an die Meisterwerke Rossinis gilt. Zum Begriff Koketterie ist im Programmheft auch ein lesenswerter Text von Georg Simmel abgedruckt. Daraus ein Zitat: „Will man die Ausschlagspole der Koketterie begrifflich festlegen, so zeigen sie eine dreifach mögliche Synthese – die schmeichlerische Koketterie: du wärst zwar imstande zu erobern, aber ich will mich nicht erobern lassen; die verächtliche Koketterie: ich würde mich zwar erobern lassen, aber du bist nicht dazu imstande; die provokante Koketterie: vielleicht kannst du mich erobern, vielleicht nicht – versuche es!“

Der ukrainische Regisseur Andriy Zholdak, der vor der Premiere von den Medien Theater-Desperado genannt wurde, machte seinem Ruf alle Ehre. Er inszenierte das Werk als Farce und bissig-böse Satire, in der er die Frauen zwischen Hure und Madonna ansiedelte und die Männer zwischen gewaltbereiten Machos und leidensfähigen Softies. Er war gemeinsam mit Lukas Noll, der die Kostüme entwarf, wobei er den Frauen freizügige Kleidung verpasste, auch für die Bühnengestaltung zuständig. Warum er den ersten Akt ohne Tisch und Stühle ablaufen und die Akteure stets auf dem Boden spielen ließ, blieb unergründlich. Dafür sparte er nicht mit Symbolen – so stand eine der Dienerinnen halbnackt als scheinbar Gekreuzigte an der Wand und wurde später von einem Jüngling in dieser Pose abgelöst. Auch mit Pfeil und Bogen wurde von einem der Dienstmädchen auf Männer geschossen. 

Ein besonderes Faible scheint der Regisseur für Gewaltszenen zu haben. Dass er zwei Darsteller auf Flaschen schießen ließ, kann man noch als „besoffene Tat“ abtun, aber die Szene im dritten Akt, als ein Mädchen in Gestalt eines Engels einen Revolver findet, übertraf jede Farce. Sie tritt schussbereit vor einen Spiegel – und als ein Jüngling die Bühne betritt, schießt sie ihn in den Kopf. Ein Mann folgt ihm und wird gleichfalls getötet. Der „Engel“ tritt ab, kehrt nach kurzer Zeit wieder und versetzt beiden Männern nochmals mehrere Kopfschüsse. Am Schluss kommt ein alter Mann, der während des Stücks wie ein Gärtner unentwegt die Bühne betrat und Blumen auf dem Fußboden abstellte, und zieht das weißgekleidete Mädchen mit sich…

In der Titelrolle faszinierte die italienische Sopranistin Francesca Lombardi Mazzulli sowohl darstellerisch wie stimmlich. Sie gab eine kokette Mirandolina, die unentwegt an ihren Gästen ihre Verführungskünste zu erproben schien, aber auch ihre Dienstmädchen innig küsste. Dass ihr der Cavaliere Ripafratta, der sich als Frauenverächter gab und vom deutschen Bariton Tomi Wendt köstlich gespielt wurde, lange Zeit widerstand, war für sie von besonderem Reiz.

Die beiden Verehrer Mirandolinas, der Conte Albafiorita und der Marchese Forlimpopoli, wurden vom kanadischen Tenor Eric Laporte und vom rumänischen Bassbariton Calin Valentin Cozma als unsympathische Machos dargestellt und sehr ausdrucksstark gesungen. Mirandolinas Diener Fabrizio stellte der deutsche Tenor Ralf Simon mit vielen Gesichtern dar. Einerseits spielte er den seiner Herrin treuen Diener, andererseits einen Frömmling, der sich gleichfalls in Christus-Pose präsentierte. Dass er schließlich Mirandolina eroberte, schien ein Wunder.

Sehr humorvoll agierten die spanische Sopranistin Naroa Intxausti und die deutsche Altistin Stine Marie Fischer als die beiden Komödiantinnen Hortensia und Dejanira, die von Fabrizio als Adelige ausgegeben wurden, aber dann mit den Männern ihre erotischen Späße trieben. In der kleinen Rolle als Diener des Cavaliere war noch der georgische Tenor Vepkhia Tsiklauri im Einsatz.

Dazu gab es noch sechs stumme Rollen, die allesamt komisch angelegt waren. Mit erstaunlich komödiantischer Begabung spielten Myriel Bischoff und Theresa Gehring die beiden Dienstmädchen, Jessica Coletta den Engel, Simon Brombach, Florian Moll und Glenn Buchholtz drei Jünglinge sowie Klaus Peter Unfried den alten Mann mit Schnurrbart, der fortwährend und meist bei unpassenden Gelegenheiten die Bühne betrat und seine Blumen in Vasen oder Töpfen platzierte.

Die oft wunderbar lyrische, oft mitreißend rhythmische Partitur des Komponisten wurde vom Philharmonischen Orchester Gießen unter der Leitung von Michael Hofstetter, der seinem Ruf als Experte für authentische Aufführungen wieder einmal gerecht wurde, exzellent wiedergegeben.

Das bis zum Schluss gebliebene Publikum – nicht wenige der Besucherinnen und Besucher ergriffen zur Pause die Flucht – belohnte die Darbietungen aller Mitwirkenden mit starkem Beifall, Bravorufe gab es für die Darstellerin der Mirandolina.

Udo Pacolt 7.5.14  (Merker-online)                            

Weitere Bilder siehe unten

 

P.S.

Die komplette Oper zum Nach-bzw. Reinhören

 

CD Tipp

 

 

 

 

 

Komödienverweigerung

MIRANDOLINA

(Bohuslav Martinů)

Premiere am 30.03.2014

Nichts zu lachen: Regisseur Zholdak scheitert an Goldonis Komödie und Martinůs schwachem Textbuch

1753 wurde Carlo Goldonis Komödie La locandiera uraufgeführt, eines seiner erfolgreichsten Stücke, das noch heute vielfach auf den Spielplänen vor allem kleinerer Theater anzutreffen und beliebt bei Schulaufführungen ist. In Deutschland wird es unter dem Namen „Die Wirtin“ oder auch unter deren Eigennamen „Mirandolina“ gegeben. Mindestens sechs Veroperungen sind verbürgt unter anderem von Antonio Salieri und Johann Simon Mair. Die Handlung ist einfach, ohne große Verwicklungen; das Stück muss von Situationskomik leben. Mirandolina betreibt mit ihrem Kellner Fabrizio ein Gasthaus. Dort haben sich auch zwei adlige Verehrer der Wirtin einquartiert, weil sie auf ein erotisches Abenteuer mit Mirandolina aus sind. Der reiche Graf Albafiorita will Mirandolina kaufen, der verarmte Marchese Forlimpopoli bietet ihr „Schutz“, Wärme und Nähe an. Der dritte Gast ist der Cavaliere Ripafratta, der die Frauen mit ihren Lügen und Listen (Topos des italienischen settecento!) durchschaut hat und nichts mehr von ihnen wissen will. Gerade den wickelt nun Mirandolina durch besonderen Service und Freundlichkeit um ihren Finger, so dass er sich schlussendlich in sie verliebt und sie als Frau begehrt. Zwei Wanderschauspielerinnen, Hortensia und Dejanira, die sich als vornehme Damen ausgeben, aber alsbald durchschaut werden, vervollständigen ohne besonderen dramaturgischen Impakt das Personaltableau. Schließlich aber findet Mirandolina zu ihrem Kellner, der sich zwischendurch aus Standesgründen verschmäht fühlte. 

Bohislav Martinů (1890 – 1959) kam nach musikalischen Lehr- und Wanderjahren über Frankreich und sein Exil in den USA nach Europa zurück und erhielt von der Guggenheim-Stiftung einen Opernauftrag. Er wählte den Mirandolina-Stoff zur bisher letzten Komposition des Stoffes und schrieb sich sein Libretto selbst, auf Italienisch mit der Beratung entsprechender Muttersprachler, da er selbst nur über unzureichende Kenntnisse dieser Sprache verfügte. 1954 war das Werk, eine seiner letzten Opern, fertig. 1959 wurde es am Nationaltheater in Prag uraufgeführt. Die Oper ist ein Fremdkörper auf den Bühnen geblieben, wenn auch seit ihrer „Wiederentdeckung“ 2002 auf dem Opernausgrabungsfestival in Wexford/Irland wieder Interesse an dem Werk zu beobachten ist. Am 30. April wird Mirandolina in einer kammermusikalischen Bearbeitung vom Opernstudio der Bayerischen Staatsoper im Cuvilliés-Theater (Inszenierung: Christian Stückl) herausgebracht. 

Eric Laporte (Conte Albafiorita); Francesca L. Mazzulli (Mirandolina); Calin Val. Coza (Marchese Forlimpopoli)

Das Stadttheater Gießen programmierte nun als Deutsche Erstaufführung die italienischsprachige Originalversion des Werks vor und verpflichtete als Regisseur den ukrainischen Theaterstückezertrümmerer Andriy Zholdak (Andrij Scholdak) gewonnen, der heute in Berlin arbeitet. Was kann man aus einem solchen Stück nun machen, wenn einem die komödiantische Ader nicht gegeben ist? Zholdak hätte besser die Finger davon gelassen! Sicher hat schon Martinů keine besonders glückliche Hand bei der Straffung des Stoffes zu seinem Libretto gehalten, das nun über eine recht lineare Handlung ohne wirklich interessante Verwicklungen verfügt. Die zwei fahrenden Schauspielerinnen wirken verloren in der Handlung (Die hatte übrigens Salieri durch eine Angestellte der Wirtin ersetzen lassen, was natürlich sofort zu interessanteren Aspekten führt.) Immerhin hat das Originalstück von Goldoni eine Art Botschaft: Schlauheit und List der Frau siegen über Einbildung, Dünkelhaftigkeit und Hartnäckigkeit der vornehmen Herren. 

Francesca Lombardi Mazzulli (Mirandolina); Ralf Simon (Fabrizio)

Die Inszenierung von Zholdak hat indes keine erkennbare Botschaft. Die entwickelt noch nicht mal so viel Vorstellungskraft, dass man die ganz Bühne für seine Inszenierung benötigt hätte; vielmehr spielt sich alles auf einem drei bis vier Meter breiten Streifen der Vorderbühne ab. (Das Bühnenbild hat er selbst entworfen und zusammen mit dem Gießener Ausstattungsleiter Lukas Noll samt den Kostümen im heutigen Schnitt umgesetzt.) Als Extra bietet er stete Videoprojektionen aus den rumpelkammerartigen Nebenräumen der seitlichen Bühnenabgänge und zeigt die Akteure, wie sie dort abgetreten sind oder auftreten werden. Der Bühnenraum verfügt links über eine schön renovierte hohe klassische Tür, rechts ist der Ausgang noch von verfallender Patina. An der Hinterwand ein kleines Kruzifix-Bild. Mangels einer wirklich interessanten Handlung oder einem Feuerwerk komödiantischer Regieeinfälle, die dem Stoff des 18. Jhdts. angemessen wären, sucht der Regisseur ein im Libretto nicht vorhandenen kritischen gesellschaftsanalytischen Gegenwartsbezug, den er vielleicht aus dem Katholizismus der südböhmischen Heimat des Komponisten herleitete. Er fügt sechs stumme Mitstreiter ein (Dienstmädchen der Locanda, Engel, Jünglinge, Alter Mann) die in vielen Szenen in wechselnden Rollen doppelnd zeigen, was die eigentlichen Akteure gerade tun oder gerade liebend gern getan hätten. Wenn es diesbezüglich gerade nichts zu zeigen gibt, dann führen sie christliche Rollenspiele aus, stehen wie gekreuzigte Figuren bewegungslos an der Bühnenrückwand, werden gar mit symbolischen Hammerschlägen an dieser festgenagelt und adoriert. Symbolik, die sich schwerlich mit dem Thema der Oper verbinden lässt und zu der noch andere statische symbolische Zutaten treten, über deren Sinnhaftigkeit man sich erst im Handbuch erkundigen müsste, um dann auch nicht lachen zu können. 

Auch die vielen Regiemätzchen erzeugen keine Heiterkeit. Dass – um im Bilde der christlichen Symbolik zu bleiben – ein „Alter Mann“, der sich unzählige Male über den Schnurrbart streicht in den beiden ersten Akten wie ein Küster einer Kirche aus den Nebenräumen weiße Blumen, Grünzeug, Früchte und andere Lebensmittel hereinträgt und damit die Bühne vollstellt und diese im letzten Akt wieder leerräumt; dass da auch ein Fischaquarium dabei ist, das auf eine Waschmaschine gestellt wird, dann auf den Boden, weil sich der Cavaliere auf die Waschmaschine setzen muss; dass zwischendurch mit Pfeil und Bogen geschossen wird, dann mit Pistolen zwei der Akteure pro forma umgenietet werden (vorübergehend erschossen!); dass eine der Schauspielerinnen einen Fuß nachziehen muss (soziales Gewissen der Mirandolina? sie stellt auch Behinderte ein!); dass eine Beratung unter den Beteiligten als Pressekonferenz gezeigt wird, zu der das Bild der Kanzlerin an die Wand gehängt wird: all das ist unwitzig und ermüdend und trägt nichts zu einer Komödie bei. Kurz: aus dem Geiste Goldonis ist das nicht geboren und nur wenig aus dem Martinůs. Dem beweist Zholdak wenigstens ein gutes Musikverständnis, denn er setzt die Musik gut in Bewegung um. 

hinten: Francesca Lombardi Mazzulli (Mirandolina); Tomi Wendt (Cavaliere Ripafratta)

Der musikalische Teil stellt überhaupt den positiven Teil des Abends dar. Der Gießener GMD Michael Hofstetter führte das Philharmonische Orchester Gießen durch die sorgfältig und aufwändig instrumentierte Partitur der mit weniger als zwei Stunden reiner Spielzeit nicht überlangen Oper. Farbenreich und sehr lebendig waren die Haupteindrücke dieser als „klassizistisch“ eingestuften Musik, die eine Verbindung von musikantischen böhmischen und italienischen Elementen darstellt, einer von mehreren Stilrichtungen des vielschaffenden und wandlungsfähigen Komponisten, dessen Musik sich nicht in ein Fach stecken lässt. Daneben tönt auch Western-Musik durch; alles  spritzig, flott und auch originell, aber letztlich unaufregend. Wegen der durchweg flotten Tempi war das Orchester gefordert, setzte die Motorik der Partitur mit viel Elan und Präzision um - mit nur wenigen Unkonzentriertheiten erst im dritten Akt. Besonders anregend wirkten der dritte Akt mit viel Italianità: einem Saltarello vorab und den beiden quirligen großen Ensemble-Szenen à la Rossini. 

Sextett am Tisch: Eric Laporte (Conte); Calin V. Cozma (Marchese); Francesca L. Mazzulli (Mirandolina); Ralf Simon (Fabrizio); Stine Marie Fischer (Dejanira); Naroa Intxausti (Hortensia)

Das in Gießen aufgebotene Gesangsensemble befleißigte sich durchweg einer sehr ordentlichen Aussprache des Italienischen. Dennoch gewann man den Eindruck von Reibungsverlusten zwischen Sprache und Musik. Vergleicht man das mit dem perlenden Sprachfluss eines anderen großen Klassizisten, des Deutsch-Italieners Wolf-Ferrari, und dessen ebenfalls auf Goldoni fußenden Stoffen, dann ist bei Martinů der Fluss deutlich rauer. Die Titelrolle sang Francesca Lombardi Mazzulli als Gast; sie wusste ihr Publikum mit ihrem raffiniert-erotischen Spiel ebenso zu begeistern wie mit ihrem leuchtkräftigen Sopran und dessen vielfältigen Farbnuancierungen. Tomi Wendt setzte das zweite Glanzlicht des Abends als Cavaliere Ripafratti. Seine jugendliche Erscheinung (warum hat Mirandolina ihm eigentlich den sauertöpfischen Fabrizio vorgezogen?) und recht vornehmes Gebaren korrespondierte mit seinem kräftigen noblen Baritonmaterial. Bronzen und von geschmeidiger Kraft ohne jede Schärfe auch beim Forcieren zeigte sich der mittel-timbrierte Tenor von Eric Laporte als Conte Albafiorita. Seinen „Kollegen“, den Marchese Forlimpopoli, gestaltete Calin-Valentin Coszma mit kräftigem, weichen Bass, der aber besser fundiert sein könnte. Der Sänger des Fabrizio (dauernd traurig dreinschauend), Ralf Simon, war erkältet gemeldet, was man ihm in seinen etwas mühseligen Höhen über einer festen baritonalen Mittellage auch anmerkte. Die beiden „Damen“ Hortensia und Dejanira waren solistisch nicht sehr gefordert. Letztere sang die junge Altistin Stine Marie Fischer mit klarer schlanker Intonation, und als Erstere war Naroa Intxausti besetzt, deren glockenreiner Sopran angenehm auffiel. Vepkhia Tsiklauri hatte als Chortenor mehr zu sprechen als zu singen und legte die Rolle auch gesanglich buffonesk an. 

„Eine komödiantische Wohlgebautheit wie Martinus Mirandolina verdiente ... eine belebte Bühnenkarriere – das Repertoire der Opere buffe ist nicht so riesig, als dass man auf diese Italien-Huldigung eines weltgewandten Tschechen verzichten könnte.“ (Hans-Klaus Jungheinrich).  Was aber, wenn sich der Regisseur dem quasi total verweigert? Wenn bei einer Komödie (komische Oper) niemand lacht, mag das in der Intention des Regisseurs gelegen haben. Wenn aber beim Schlussapplaus der Premiere dafür noch nicht einmal jemand buht, sondern einfach nur der für die Sänger und das Orchester gedachte herzliche Applaus abstirbt, ist das die Höchststrafe eines klugen Publikums für den Regisseur, der fast fluchtartig die Bühne verließ. 

Manfred Langer, 31.03.2014                                    

Fotos: Rolf K. Wegst

 


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