DER OPERNFREUND - 51.Jahrgang
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Festspielhaus Baden-Baden, 10. November 2021

MAZEPPA

TSCHAIKOWSKY’S VERKANNTES MEISTERWERK

 

Es war der Abend großer russischer Oper und versetzt zurück in das Jahr 1709, der Herrschaft Zar Peter’s des Großen. Mazeppa, der Ukrainer und Hetman der Kosaken, war auf die Seite Schwedens getreten, um die Ukraine aus dem Machtbereich des Zaren zu lösen. 1709 war die Entscheidungsschlacht bei Poltava, in der Zar Peter I. (1682 bis 1721 Zar von Russland) die schwedischen Truppen unter König Karl XII. (reg. 1697 – 1718) vernichtend schlug. Mazeppa scheiterte mit seinen Plänen, so dass die Zentralgewalt Peter’s gestärkt und gefestigt wurde.

 

 

So das historische Tableau, dessen szenische Darstellung zu Ostern Corona zum Opfer fiel. Muss man sich jetzt auf die konzertante Aufführung einlassen, also „nur“ auf die Musik? Das ist famos! Der Zuhörer ist kein Zuschauer. Er wird festgehalten, sollte nicht ausweichen können vor der Fülle der Musik. Es geht wie oft in der Oper um Liebe, Verrat, Hinrichtung und schlussendlich um Wahnsinn. Grundlage des Librettos von Viktor Burenin ist das historische Versgedicht „Poltava“ von Alexander Puschkin (1799 – 1837), erschienen 1829.Der Stoff des Librettos ließ Peter Tschaikowsky (1840 – 1893) kühl, schließlich vergaß er ihn. Dann nahm er einen neuen Anlauf und arbeitete zwei Jahre an der Oper, die 1884 im Bolschoi-Theater , Moskau uraufgeführt wurde. Erfolg war ihr nicht beschieden und sie lag wie ein verborgener Schatz unter Stapeln verstaubter Partituren.

Tschaikowsky war der große russische Komponist von Weltformat. Er war in geistiger Hinsicht eine schlichte Natur, eher morbid. Das Spirituelle zeigt weniger Wachstum und Entwicklung als vielmehr Verfall. Er war so erfüllt von Musik, dass alles was er anrührte zu Musik wurde. Seine Triebkraft des Ausdrucks ist ein bezaubernder Sinn für Farbenwechsel und ein Instinkt für überwältigende Dynamik, jene beiden Eigenschaften, die ihn zu diesem Opernkomponisten machten und seine unerschöpfliche Kraft der Erfindung zeigten (P. Bekker).

 

 

Die Berliner Philharmoniker unter ihrem neuen Dirigenten Kirill Petrenko beginnen mit der Ouvertüre, und die Musik fängt den Zuhörer magisch ein. Die Harmonik ist üppig und entspringt einem überquellenden Klangsinn. Die Harmonie bereitet in Fülle den Wohlklang des Orchesters, der Mischung aus Blech und Holz bei zumeist führenden Streichern.

Die Berliner klingen einfach meisterlich. Kirill Petrenko macht den Dirigierstab zum „Zauberstab“! Die Streicher sind das Fundament und spielen aus einem Guss und einem Atem die Holz- und Blechbläser. Sie alle sorgen für die dynamischen Akzente, die Kunst der Veränderung der Tonstärke durch innere Kraft. Phänomenal, wenn die Streicher im ppp-Pianissimo beginnen und sich im Crescendo steigern. Diese Meisterleistung zieht sich durch die ganze Oper wie auch die Kunst der Fermaten bis zur Generalpause, um große Spannung aufzubauen. Es steht alles in der Partitur! Man muss sie nur lesen können.

Die Oper beginnt überwältigend durch den großen Chor, der im Ganzen immer wieder den Fortgang der Handlung erzählt. Dem Berliner Rundfunkchor ein Bravo. Maria, ein blutjunges Mädchen, als Tochter von Kotschubei und Ljubov behütet aufgewachsen, verliebt sich in den viel älteren Hetman Mazeppa und verlässt ihm zuliebe das elterliche Haus. Sie muss dann erfahren, dass Mazeppa aus machtpolitischem Kalkül ihren Vater gefoltert und hingerichtet hat.

Alle Sänger kommen aus der russischen Schule, und man hört mit Wonne die wunderbaren Stimmen. Vladimir Sulimsky als Mazeppa ein überzeugender Bariton, Dmitry Ulyanow als sein Gegenspieler Kotschubei ist ein profunder Bass, seine Frau Ljubov (Marias Mutter) in voller Mezzo-Lage Oksana Volkova, Dmitry Golovnin als Marias Jugendfreund Andrei und quasi Verlobter, ein begabter Lirico Spinto Tenor. Und weiter Dimitry Ivashchenko, Anton Rositskiy, Alexander Kravets als betrunkener Kosak, der ein Gustostückerl spielt, das die Handlung weiterbringt.

 

 

Und Olga Peretyatko als Maria, ihr Debut in dieser Rolle. Die Stimme wirkt leider überanstrengt auf dem Weg ins dramatische Fach. Schade, denn sie war so vielversprechend als lyrischer Koloratur-Sopran gestartet. Die Oper ist kein „Psychothriller“, sondern für Maria lyrisch, im Stil der Romantik angelegt. „Am Ende erst hat sie ihren eigenen Ton: wahnsinnig geworden, erkennt sie Mazeppa nicht mehr und wiegt den von diesem verwundeten Andrei, der erfolglos um sie geworben hatte, in den Tod.“ Es gibt über dieses gelungene Kunstwerk Oper noch vieles zu berichten, wie im 3. Akt der Aufmarsch der Trompeten solistisch auf der Bühne, später noch einmal von oben von den Rängen. Welch eine Schlacht bei Poltava! Es gibt immer wieder manche vorahnende Verbindung zu Puccini.

Die Schreiberin bezähmt ihre Freude an diesem Abend. Er würde sonst weitere Seiten füllen. Diese Oper dirigiert von Kirill Petrenko „is a Must!“ Einen Wermutstropfen für Baden-Badener gibt es. Am 10.11. und 12.11., gibt es „Mazeppa“ hier in Baden-Baden. Am 14.11. ist die Premiere in Berlin. Hier hatte die Karte den stolzen Preis von 260,00 €, in Berlin aber nur 101,00 €. Also eine blendend bezahlte Haupt- und Generalprobe? Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Aber bleiben wir zum beglückenden Opernabend bei Tschaikowsky’s Briefen an seine Gönnerin Nadeshda von Meck: „Den Verstand könnte man verlieren, wenn die Musik nicht wäre.“ und „Im Himmel gibt es vielleicht keine Musik. So wollen wir also auf Erden leben, solange es uns vergönnt ist.“

 

Inga Dönges 11.11.2021

Fotos © Monika Rittershaus

 

 

HERBSTFESTSPIELE „UNTER GEIERN“

Festspielhaus Baden-Baden, 30. Oktober 2021

„DER TOD IST EIN MEISTER AUS“ … GRIECHENLAND!

Angekündigt im Programm war Gabriel Fauré, Requiem. Das spielte aber erstmal keine Rolle. Die Ausführenden waren: Teodor Currentzis (Dirigent), Mat Collishaw (Visuelle Gestaltung), Fanie Antonelou (Sopran), Mikhail Timoshenko (Bassbariton), musicAeterna (Chor und Orchester), Cantus Juvenum Karlsruhe (Jugendchor). Dieses Team wollte die Zuhörer, die dann mehr Zuschauer wurden, in die transzendierte Welt zum Requiem einführen.

 

 

Der Dirigent sieht sich dabei als „Führer“, der selbst eine „Mission“ erfüllt. Das ist für Deutsche ziemlich heikel, da die Erfahrungen mit „Führern“ und ihrem Werk in schlechter Erinnerung sind. Dieses dem Tod zugewandte Programm wurde am 30. Oktober gegeben, dem Vorabend des Reformationsfestes. Falls es nicht bekannt ist: am 31. Oktober 1517 nagelte Martin Luther (1483 – 1546) seine 95 Thesen an die Kirchentür in Wittenberg – für die Freiheit eines Christenmenschen. Als ein solcher fühlt man sich hässlich provoziert und nahezu blasphemisch behandelt. Die Leitung des Festspielhauses sollte wissen, wie man solch einem bedeutenden Feiertag Rechnung trägt.

Apropos Rechnung: Die Karte der 1. Kategorie, die einen großen Teil des Platzangebotes ausmacht, kostete 130,00 €, also für einen Abend zu zweit 260,00 €. Gekauft wurden sie für das „Requiem“, das ca. 35 Minuten dauert. Soll man sich den Jux machen, den Minutenpreis auszurechnen? Das Problem wurde wohl von den Veranstaltern erkannt und ein Vor- und Beiprogramm erstellt. Also: ein Vogel, vielleicht ein Geier, stand als Installation im Foyer und war auch außen über dem Eingang ersichtlich.

 

 

Das sollte die „Festspielgäste“ in das Transzendente à la Currentzis einführen. Eigentlich sollten diese im Foyer stehen und wandeln und mit Filmen und Musik berieselt werden. Angeblich sei Fauré sonst nicht zu verstehen. Nun ja – wo liegt denn hier das Unverständnis? Aus Corona-Gründen wurde das Happening in den Konzertsaal verlegt, und man konnte wenigstens sitzen.

Es gab „Music for here“ von Andreas Moustoukis und auf der Leinwand „tanzten“ gelbgoldene Plastikstücke hin und her. Bühne und Zuschauerraum waren derweil stockdunkel. Selbst der Dirigent blieb im Dunkel. Ungewöhnlich für ihn: der Stroboskop-Blitzer machte ihn in Salzburg zur einzigartigen Lichtgestalt. Die Musik von Moustoukis (* 1971) war einschläfernd, nur aus wenigen Tönen bestehend, aber: eine WELT-Uraufführung. Das ganze Spektakel dauerte ca. 20 Minuten und das Publikum sollte nun eingestimmt sein auf Gabriel Fauré und die Transzendenz des Dirigenten auf es übergesprungen sein.

Das Requiem ist ein Oratorium gemischt aus Orchester, Chor und Soli. „Eine der wundervollsten Kunstgattungen, die es gibt.“ … „Das Werk ertönt ohne Kulisse, ohne Szene, ohne Regie, ohne Bewegung, ohne Kostüm, in der Unendlichkeit, in der Absolutheit.“ (Oscar Bie) Hier wird es ganz deutlich: Currentzis glaubt nicht an die Musik, die er aufführt. Er braucht dazu wieder einen Film. Nun wurde es schamlos. Hauptdarsteller des Films sind sterbende alte Menschen, begleitet am Bett von Angehörigen, dazu kurze Naturbilder. Das ist schlicht unziemlicher Voyeurismus! Als Krönung Bilder wie aus einem Italo-Western: Blutige Skelette und Leichen, auf die sich die Geier stürzten. Jugendfrei? Es saßen auch Kinder im Saal! Hier endlich das große Unverständnis der ausführenden Künstler: Ein Requiem ist nicht die musikalische Begleitung des Sterbens, sondern die geistliche Musik nach (!) dem Tode zur Beisetzung. Mit diesem logischen Fehler ist das ganze Drumherum unnötig und verfälscht so die Musik.

Gabriel Fauré (1845 – 1924) schrieb diese Messe als Trauerkantate. Er weicht vom liturgischen Text ab, das „Dies irae“ fehlt. Andererseits zugefügt sind aus dem Beerdigungsritual „Pie Jesus“ und „Libera“. Es ist ein leises Oratorium, die beiden Solisten stehen im dunklen Hintergrund wie auch alle anderen Mitwirkenden Sie werden von der Filmleinwand förmlich erdrückt. Einzelne Instrumentengruppen hört man nicht heraus, nur ab und zu den donnernden Orgelklang.

Fauré ist hier nur die Begleitmusik zum Film und wird so offensichtlich verfälscht und verunglimpft. Fauré wollte die Menschen trösten und änderte deshalb den liturgischen Text. Currentzis aber sieht eine „metaphysische Dimension“ und führt das Requiem szenisch auf. Das ist nicht nur völlig misslungen, sondern ein Affront gegen die Zuhörer. Derartiges sollte das Festspielhaus nicht mehr in sein Programm aufnehmen, denn es ist seiner Grundidee nicht würdig. Selbst dann nicht, wenn Teodor Currentzis und der Intendant so gut miteinander können.

 

Inga Dönges 1.11.2021anton Zavjyalov

Orchesteraufnahme © Andrea Kremper

Installation mit dem Geier © Michael Bode

Großaufnahme Currentzis ©

 

 

„HOSIANNA UND KREUZIGT IHN!“

Festspielhaus Baden-Baden, 25. September 2021

28. BRAHMSTAGE IN BADEN-BADEN: JOHANNES BRAHMS (1833-1897) UND ANTON BRUCKNER (1824–1896)

„Hosianna und kreuzigt ihn!“ - so der Tenor der Wiener Presse dieser Zeit, verkörpert im Namen Eduard Hanslick (1825-1904). Ursprünglich Jurist begann er früh publizistisch über Musik zu schreiben und wurde seit 1864 der einflussreichste Kritiker der Wiener „Neuen Freien Presse“. Er entfachte leidenschaftliche Parteikämpfe u.a. über Brahms und Bruckner. Wagner verewigte ihn als Urbild des Beckmessers: „Hans Lick“.

Johannes Brahms war der „Norddeutsche“, in Hamburg geboren, nach Wien übergesiedelt, wo er rasch bekannt wurde. Er lebte viel auf Reisen, verdiente seinen Lebensunterhalt mit Konzerten. Die Sommermonate verbrachte er gern in Baden-Baden, goutierte den mondänen Trubel, war häufiger Gast im Hause Clara Schumanns, seiner großen unerfüllten Liebe. Er begegnete u.a. Iwan Turgenjew, Rubinstein und auch dem grünen Tisch der Spielbank. Dabei war er immer verliebt, ohne eine feste Beziehung zu finden.

Im Gegensatz zu den „Neudeutschen“, die von der Tonart fort zur Chromatik streben, findet er zurück zu den alten Kirchentönen. Durch rhythmische Verschiebung und Synkope bleibt der Fluss der Musik erhalten. Brahms bringt es zu einzigartiger Vollkommenheit, hier im 1. Klavierkonzert d-Moll op. 15. Igor Levit, Valery Gergiev und die Münchner Philharmoniker musizieren es famos.

Der Pianist Igor Levit, geboren 1987 in Gorki, 1995 mit seiner Familie als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland gekommen, wo er seine Ausbildung bekommt, um dann eine fulminante Karriere zu beginnen. Valery Gergiev, geboren 1953 in Moskau, ist dem Festspielhaus zugetan, rettete es vor mehr als 20 Jahren vor dem Ruin und hat einen festen Platz in den „musikalischen Herzen“ der Festspielhausbesucher. Er ist seit 2015 Chefdirigent der Münchner Philharmoniker, die seit 125 Jahren bestehen, eines der besten deutschen Orchester.

 

 

Die Uraufführung des Konzerts war 1859 in Hannover unter der Leitung Joseph Joachims. Es fiel schlichtweg beim Publikum und der Presse durch und war ein schwerer Rückschlag für Brahms. Die Interpretationsgeschichte hat sich im Laufe der Zeit immer wieder geändert, vor allem das Tempo des 1. Satzes, dem Maestoso. Die originale Metronom-Angabe im Autograph lautet: punktierte Halbe = 58. So gibt es die Ausführung in knapp 17 Minuten, die Künstler am Abend nahmen die Hürde in 21 Minuten, was ein „Wohlfühltempo“ war. Igor Levit ist eins mit seinem Flügel. Die Läufe und Akkorde lassen seine Hände und Finger über die Tastatur fliegen Er macht sparsam Gebrauch von den Pedalen, sein linker Fuß klopft mit. Orchester und Pianist musizieren auf einem Atem und Valery Gergiev führt alles mit seinen Händen – und das ohne Taktstock. Man kann es wie ein Fingerballett sehen!

Der zweite Satz, das Adagio wird häufig als eine Huldigung an Robert Schumann gesehen. Man kann nicht in das Herz von Johannes Brahms sehen, ob dahinter nicht eher tiefe Bitterkeit steckt. Der 3. Satz, ein Sonatenrondo, könnte als Vorbild Beethovens c-Moll-Konzert haben. Aber das sind Spekulationen der Nachgeborenen. Wir kennen die Gedanken und Gefühle des Komponisten nicht wirklich, auch wenn die Tendenz zur großen symphonischen Form unverkennbar ist. Vieles klang heiter und hatte keinen Moll-Charakter.

Natürlich beschenkte Igor Levit das begeisterte Publikum mit einer Zugabe: Robert Schumann, Kinderszenen op. 15. Er spielte das vorletzte Stück der Miniaturen: „Kind im Einschlummern“. Dies war musikalische Poesie, so zart und leise, holte die Zuhörer vom vorherigen „Maestoso“ in eine andere Wirklichkeit und zeigte die außerordentlichen Fähigkeiten dieses so unprätentiösen Pianisten.

Anton Bruckners Kompositionen sind zweigeteilt: zwischen der Faszination durch Richard Wagner, er übernimmt aber auch die „neudeutsche“ Ästhetik. „Musik solle schildern, anstatt aus ihren eigenen Gesetzen zu wachsen.“ Anton Bruckner war ländlicher Herkunft bei Linz und wurde zum Kirchenmusiker, das Orgelspiel stand ihm am nächsten. In Wien wurde er von den Wagnerianern gegen Brahms auf den Schild gehoben. Aber er hatte mit Wagner und den „Neudeutschen“ nichts zu tun, wie auch nicht mit deren Antipoden Brahms. Dieser nannte seine Musik „Symphonische Riesenschlangen“.

 

 

Der große und weise Dirigent Günter Wand setzt den Maßstab für das Verstehen und Fühlen von Anton Bruckner: Sein Werk ist „etwas wie die Widerspiegelung einer kosmischen Ordnung in dieser Musik. Was ich versuche ist … diese Widerspiegelung göttlicher Ordnung … deutlich zu machen. Bruckners untrügliches Gefühl für die Abhängigkeit von Zeit und Raum ist der Mörtel, der das Urgestein, aus dem seine symphonischen Kathedralen errichtet sind, zusammenhält.“

Anton Bruckner, Sinfonie Nr. 6 A-Dur WAB 106. Die 6. Symphonie ist die ruhigste und abgeklärteste. Eine gewisse Heiterkeit durchzieht das ganze Werk. Er selbst nennt sie die „Lyrische“. Er hatte sich wieder einmal (hoffnungslos) verliebt in sein Mariechen, der Braut in Oberammergau. Die Symphonie war sein Brautgeschenk, ausgedrückt mit sehnsüchtigen Hornweisen. Im 1. Satz, dem Maestoso, haben die Bässe die bedeutsame Rolle. Im 2. Satz, dem Adagio, die Streicher und die Oboe. Das Scherzo des 3. Satzes bestimmen die Holzbläser mit klopfenden Bassschlägen. Das Trio des 4. Satzes: Streicherpizzicati, denen die Hörner im gleichartigen Rhythmus antworten. Das Finale enthält das Motiv der Oboe, die Geigen über dem Tremolo der Bratschen.

Hier muss mit höchstem Lob festgestellt werden: die Brillanz der Streicher, die Hörner pianissimo ohne jeden „Kiekser“, die Holzbläser – einfach jede Instrumentengruppe: Chapeau. Und Gergiev dirigierte diese großen Wellen und brachte mit seinen Fermaten immer wieder eine Rhythmusänderung und ließ den Zuhörer in der Spannung. Einfach „überirdisch“! Hier hätte es für Bruckner überschäumendes Lob gegeben. Aber 1886 wurde er von Kaiser Franz Josef in Audienz empfangen, trug die Uniform eines Ritters des Franz-Joseph-Ordens. Hinterher berichtete er einem Freund: „Wia er gesagt hat, es wäre mir eine Freude, Ihnen einen Wusch zu erfüllen … Majestät, verbieten’s allergnädigst dem Hanslick, daß er schlecht über mi schreibt“.

Wir schließen uns an: Für beide, Brahms und Bruckner, ein Hosianna und die Palmen!

 

Inga Dönges, 27.9.2021

Bilder (c) Klein

 

 

„DIE MUSIK IST DAS RÄTSELHAFTESTE, WAS ES AUF DER WELT GIBT“ – SO OSCAR BIE.

Festspielhaus Baden-Baden 20. August 2021

DANIIL TRIFONOV, JOHANN SEBASTIAN BACH UND DAS KLAVIER SIND AUF DEM WEG, ES ZU LÖSEN!

 

Daniil Trifonov, geboren 1991 in Nischni Nowgorod, studierte in Moskau, 2011 Gewinner beim Tschaikowsky- und Rubinstein-Wettbewerb, Beginn einer internationalen Karriere in höchste Höhen. Das Baden-Badener Festspielhaus konnte ihn seitdem begleiten – das Verdienst seines Mentors Valery Gergiev und des Intendanten Andreas Mölich-Zebhauser, beide mit dem Gespür für außerordentlich begabte junge Künstler. Jetzt ein „En-Suite“-Abend zum Abschluss des Sommerfestivals. Daniil Trifonov, längst einer der Großen der jungen Pianisten-Riege, betritt die Bühne, geht hinter dem Flügel zu seinem Platz wie ein schüchterner „Schulbub“ und lässt sich und die Zuhörer auf Johann Sebastian Bach (1685 – 1750) ein. Es ist kein Widerspruch zwischen dem Größten der Musik und dem Pianisten, also dem 18. Jahrhundert und heute.

„Ich glaube, wenn der liebe Gott das, was auf der Welt „Musik“ genannt wurde, ihr dann das Werk Bachs gegeben hätte.“ So lässt diese Musik Kants Ding an sich lebendig werden und die Gegensätze zwischen Begriff und Sein verblassen. Bachs Kompositionsprinzip ist der kontrapunktische Gedanke: er denkt die Stimmen gegeneinander. Beethoven und Chopin sind ungeboren vorhanden und zu hören. Bach und seine Fugen überwinden die Mathematik und fließen in die Seele hinein und wieder aus der Seele.

 

 

Zu hören und zu empfinden ist „Die Kunst der Fuge“ BWV 1080. Ein sanfter Beginn lässt bald ihre erste Zaghaftigkeit überwinden. Die Fuge ist über das übliche Schema der Suiten und Partiten hinausgewachsen. So hört man zu Beginn die Chaconne aus der Partita d-Moll, Variationen über einem gleichbleibenden Bass mit fester Akkordfolge. Es ist ein riesiger Bau: 131 Takte Moll, 76 Takte Dur, 49 Takte Moll. Geschrieben für Violine Solo – ein Paradestück. Das reizte 1877 Johannes Brahms, „Ich wollte mich wie ein Geiger fühlen“ und setzte die Chaconne für Klavier. Brahms gab viele Konzerte und suchte so nach Spezialitäten für Pianisten. Er setzte noch ein Sahnehäubchen darauf: „für die linke Hand zu spielen“.

 

Trifonov gab es furios. Die rechte Hand lag auf dem Knie. Sie wurde auch nicht benötigt. Mit einer Hand, der linken, beherrschte er die gesamte Tastatur, mit flacher Hand gab er den Schlag auf die Tasten, beherrschte die (für den Laien) abenteuerlichsten Fingersätze und ließ denken, man brauche die rechte Hand gar nicht, um Klavier zu spielen. Nun, links ist, wo das Herz schlägt!

Die Chaconne war Anfang und Überleitung zur „Kunst der Fuge“ BWV 1080 von 1752, die durch Krankheit und Tod von Bach unvollendet blieb. Die Reihenfolge der ‘Contrapuncti‘ ist nicht gesichert. ALLE 18 Fugen basieren auf einem einzigen Thema, das variiert wird. Die einzelnen Stimmen nehmen offensichtlich sehr genau auf die Griffweite der Hand Rücksicht. Die abschließende unvollendete Fuge (Contrapunctus XVIII) geht von der Tonfolge b-a-c-h aus. Wie soll im Konzert die „Kunst der Fuge“ enden? Notengetreues Abbrechen in Takt 239 oder mit dem Ende b-a-c-h?

Trifonov spielt ein Ende. Trifonov und Bach sind eine geistige Einheit in Noten und dem Klavierspiel! Er hat die Komposition verinnerlicht, spielt auswendig, was bei diesem „großen Brocken“ eine immense Leistung ist. Gilt es doch, nicht „nur“ die Noten im Kopf zu haben, sondern sie auch interpretierend auf die Klaviertasten zu bringen. Er macht z.B. eine Fermate, um dann den Rhythmus zu ändern. Famos! Spielen und Denken drücken sich auch in seiner Haltung aus. Er sitzt teils gerade, die Hände flach über der Klaviatur, die Finger leisten dann Enormes, teils beugt er sich mit dem Rücken über die Tasten und Kopf, Hände und Klavier sind parallel zueinander. Mathematisch schneiden sich Parallelen im Unendlichen. Trifonov hat Bach so verinnerlicht, dass man dieses Phänomen auch am Flügel erleben kann. Er versinkt in Bach, seine Kunst lässt ihn so zu Bach werden.

Das „neue“ Hammerklavier ist für Pianisten nach der Bach-Zeit eine nicht zu unterschätzende Ausdruckshilfe. Die Saiten werden nicht mehr wie beim Spinett gerissen, sondern mit Klöppeln geschlagen, so dass jede Nuance des Anschlags im Finger ruht. „Die Saiten fortschwingen zu lassen, nachdem sie der Klöppel berührt hat, bis die gehobene Taste wieder den Dämpfer darauflegt – dies war die epochemachende Erfindung … die Bachsche Kunst war vollbracht.“

Das zahlenmäßig geringe Publikum zollte großen Beifall für die große Leistung und bekam noch zwei Zugaben. „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ (BWV 645) eine zärtliche Hochzeitsmusik, melodische Lyrik, die man im Stillen mitsummen konnte. Dann zum Abschluss „Jesu bleibet meine Freude“, entstanden 1716 zum 4. Advent, ein 4-stimmiger Choralsatz mit Orchester, 1934 von der amerikanischen Pianistin Myra Hess für Klavier bearbeitet. Die Choralmelodie selbst ist 1641 vom Geiger Johann Schop geschrieben. Bach komponierte die kammermusikalische Fassung. Der Choral ging so durch mehrere Hände und bleibt einfach als berührend schön im Kopf.

„Es kann keine Auflösungen geben, die das Wunder irdisch machen. Denn das Wunder muss bleiben, wenn die Musik bleiben soll.“ Ein Wunder muss hic et nunc die Intendanz vollbringen. Es ist beschämend, wenn das Festspielhaus mit nur ca. 200 Gästen von möglichen 500 gefüllt ist.

Mit der Hoffnung auf bessere Zeiten: Heute ein Bravo für den außerordentlichen Pianisten Daniil Trifonov!

 

Inga Dönges, 25.8.2021

Foto-Credit: Andrea Kremper

 

OPERNGALA MIT SONYA YONCHEVA

Festspielhaus Baden-Baden 24. Juli 2021

GESANG SOLLTE „ZUM POETISCHEN AUSDRUCK DER SEELE WERDEN“, SO GIUSEPPE VERDI 1875 IN WIEN.

 

Das Vorspiel zu „Aida“ mit seinen „leisesten“ Pianissimi trägt über Massenet zu Verdi zurück. Die Arie der Leonora aus „Il Trovatore“, voll des Glücks, die aber zu einem traurigen Ende führt. Die Oper wurde 1853 in Rom aufgeführt und Leonora mit einem dramatischen Sopran besetzt. Das brachte Sonya Yoncheva mit und ließ die Zuhörer erschauern. Sie sang Verdis Ideal „Menschen im Gesang zu komponieren“. Die „voce verdiana“ verlangt Solisten mit raumgreifender Stimme, der „voce sfogata“, und großer dynamischer Bandbreite, der „voce drammatica“. Sie singen eine gesanglich-stilistisch differenzierte Partie, die dadurch dramatisch wird.

Zurück zu Massenet „Manon“. Die Rolle der Manon ist für einen lyrischen Koloratursopran geschrieben:Koloraturfähigkeit und ein warmes volles Stimmtimbre. Und all das so gegensätzlich Scheinende besitzt Sonya Yoncheva! 1981 als „Weihnachtskind“ geboren im bulgarischen Plowdiw, studierte dort Klavier und Gesang, gewann 2010 den „Operalia-Wettbewerb“, dem eine steile Karriere an den Opernhäusern der Welt folgte.

 

 

2018 gab sie in Baden-Baden einen Verdi-Arienabend, den sie heuer fortsetzt mit einem „gemischten“ Programm.Das ist beileibe kein „Potpourri“. Es führt durch das 19. Jahrhundert, das zweite Drittel, das nicht als das Ende des Belcantos zu verstehen ist, sondern als dessen stimmästhetische neue Richtung.

Danach ein Solo des Orchesters: Antonín Dvořák (1841 – 1904) die bekannte „Dumka aus den Slawischen Tänzen“. Es spielen die Würth Philharmoniker, 2017 von der Würth Musikstiftung gegründet und hat hervorragende Solisten engagiert. Also ähnlich „privat“ wie das Baden-Badener Festspielhaus. Bemerkenswert, dass es quasi in der Nachbarschaft ein solches Orchester gibt, das keinen Vergleich mit den anderen „Großen“ zu scheuen braucht.

Der Dirigent des Abends ist Domingo Hindoyan, in Caracas geboren, Ausbildung und Assistent bei Daniel Barenboim, ab 2022 Chefdirigent der Royal Liverpool Philharmonic. Dazu als wunderschöne Beigabe: Er und Sonya Yoncheva sind ein Ehepaar. Das erklärt auch, dass beide eine Harmonie ausstrahlen, die sie musikalisch gemeinsam atmen lässt.

Es folgt „Jolanthe“ von Peter Tschaikowsky, 1892 in St. Petersburg kurz vor seinem Tod aufgeführt. Jolanthes Arioso voll Kummer und Schmerz führthier zu einem glücklichen Ende.

Als Abschluss vor der Pause noch einmal Antonín Dvořák mit Rusalkas „Lied an den Mond“ aus der gleichnamigen Oper. Die Nixe möchte ins Menschenleben fliehen, was ihr nicht gelingt. Die grüne Abendrobe mit hohem Schlitz war hier passend zum Lied, und für den Zuhörer auch des (Zu-) Schauens wert.

 

 

Es gab eine Pause, das Profane sei zwischen der Kunst erwähnt. Das Festspielhaus hatte unter den erschwerten Umständen alles gut organisiert. Als Zuhörer war man glücklich, große Oper zu hören, auch wenn die gebotene Platzverteilung eine merkwürdigeAtmosphäre ergab. Aber die Musik überspielte diese Gefühle.

Jetzt kommt der musikalische Schnitt: in den Verismo. „Soziologisch gesehen begann mit dem Verismo die musikalische Massenkunst“ (Jürgen Kesting) Also, wie es hieß: Puccini ist der Verdi deskleinen Mannes. Lassen wir es einfach so stehen; denn Musik von Puccini, Mascagni, Leoncavallo, etc. lässt anderes hören und verstehen.

Pietro Mascagni, „Cavalleria rusticana“, 1890 mit dem österlichen Intermezzo sinfonica aufgeführt. Dann schloss sich eine Bearbeitung für Gesang an, ein „Ave Maria“. Yoncheva singt es innig, lyrisch, mit großen Bögen, zu Herzen gehend. Dazu trägt sie nun passend eine weiße, schwingende Robe und die Haare offen aus dem Knoten gelöst. Das gehört wunderbar zum geforderten gestischen Singen zur „parola scenica“.

Das Orchester lässt den „Hexentanz“ folgen mit aller Wucht, mit Pauken, dazwischen schönen Flötensoli. Es ist Puccinis Oper „Le Villi“, 1884 in Turin aufgeführt, die Beschreibung der Seelen unschuldig verlassener Frauen. Es führt weiter zu den tragischen Sujets der „La Bohème“ und „Madama Butterfly“.

Mimi erfordert den dramatisch-lyrischen Sopran, Cio-Cio-San den dramatischen Koloratursopran. Also das Kunststück, verschiedene Stimmfächerin einer Stimme zu haben: das Schwere trotzdem leicht klingen zu lassen, und die Koloraturen leicht und luftig, wie Adorno sie als „Ballett der Stimme“ bezeichnet.

Es war der Abend einer großen Sängerin. Die Zugabe wird erklatscht: Die Habanera aus „Carmen“ von Georges Bizet. Gewöhnt ist man an einen Mezzosopran. Aber Bizet hat auch den Charaktersopran (h – c‘‘) zugelassen. Die Tessitura des Soprans liegt von g – c‘‘‘. Also war es für Sonya Yoncheva eine Kleinigkeit, diese Arie sotto- bis mezza voce zu singen und das Schauspielerische ist ihr auch gegeben.

Dann gab es noch einmal die Arie aus „Manon“ als Ringschluss zum Anfang.Großer Beifall für alle Künstler. Es war ein gelungener Abend für das Festspielhaus und seine musikbegeisterten Gäste.

 

Inga Dönges, 26-7-2021

Fotocredit: Andrea Kremper

 

 

 

 

ES IST SOMMER:

DIE „WINTERREISE“ VON FRANZ SCHUBERT (1797 – 1828) IN WIEN. 2021 IN BADEN-BADEN „À LA MODE“

Festspielhaus Baden-Baden 3. Juli 2021

 

Joyce DiDonato, Mezzosopran und Yannick Nézet-Séguin, Klavier: Eine wundervolle Opernsängerin und ein ausgezeichneter Dirigent gehen gemeinsam auf Schubert‘s „Winterreise“.

 

Der romantische Klassiker Schubert ist der Schöpfer des Liedes. Über 600 Lieder und Gesänge hat er geschrieben und das Problem zwischen Melodie und Begleitung, Gefühl und Schilderung für sich gelöst. Sein Lied ist klassisch und romantisch zugleich: klassisch, weil Gesang und Klavier im Dienst der Dichtung stehen, romantisch durch den Überschwang der Fülle der Musik, die sich trotzdem der Dichtung unterordnet. Goethe nennt es das „Ideal des Liedes“.

Das Klavier hat Farbe, Ausdrucksfähigkeit, reinste und edelste Sinnlichkeit – sein Meister war Schubert. Doch soll man die Rolle des Klaviers nicht orchestral ausdeuten, das hieße es naturalistisch zu vergröbern. „Interpretation auf dieser hohen Ebene ist im Grunde der Kunst des Komponierens gleichzusetzen – ist schöpferische Musik.“ „Den kann ich nichts lehren, der hat gelernt vom lieben Herrgott.“ So einer seiner Lehrer.

 

Die „Winterreise“ vollendet Schubert am Ende seines Lebens (1827/1828). Wir schätzen es heute als höchste Kunst des Liedes. Die literarische Vorlage stammt von Wilhelm Müller. Lassen wir Heinrich Heine in einem Brief vom 7. Juni 1826 sprechen: „Es drängt mich mehr, Ihnen zu sagen, dass ich keinen Liederdichter außer Goethe so sehr liebe wie sie.“

Müller erzählt die Geschichte eines jungen Mannes (sic!) der von einem geliebten Mädchen zurückgewiesen wird. Er begibt sich auf die Wanderung in Schnee und Dunkelheit und wird getragen von seinen Gefühlen: „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus.“ „“Ich träumte von Lieb um Liebe, von einer schönen Maid, von Herzen und von Küssen, von Wonn und Seligkeit.“ “Wann halt ich dich, Liebchen, im Arm?“

Hier stellt sich die Frage nach dem Sinn: warum eine Frauenstimme, wenn Text und Musik für Männerstimme geschrieben sind? Es ist hoffentlich nicht die jetzige Mode der Grund! Im Theater geht man schon länger mit diesen „Geschlechtsumwandlungen“ um. Die Musik erhofft man sich aber frei davon!

So sind die Fußstapfen groß, in die beide Künstler treten. Joyce DiDonato muss sich dem Vergleich stellen mit Dietrich Fischer-Dieskau, Hermann Prey, Peter Schreier; bei den Damen, die das Experiment wagten, Christa Ludwig, Brigitte Fassbaender. Alle sind Muttersprachler und lassen an der Diktion keine Wünsche offen. Gleiches gilt für Nicht-Muttersprachler wie Ian Bostridge und Peter Mattei. Hier, im Festspielhaus, war es ein Segen, dass die Texte in der Anzeige mitliefen. Man hätte kaum etwas verstanden außer den überbetonten Endkonsonanten. Joyce DiDonato hat die „Winterreise“ seit vier Jahren im Repertoire, da sollte ein Lehrer längst „drübergeputzt“ haben. Ihr Begleiter ist gebürtiger Kanadier und somit auch keine korrigierende Hilfe.

Sein Vortrag sollte nicht von den Noten ausgehen, sondern vom Text. Die Melodie ist zwar Träger des Ausdrucks, doch Ausgangspunkt für die Gestaltung ist der Inhalt des Liedes. Sänger und Begleiter haben in der Geschichte des Kunstliedes einen engen Kontakt, über Jahre gewachsen, oft ausschließlich miteinander zu musizieren. Dem Musikfreund bietet sich dafür die „Schubertiade“ in Hohenems.

Am Ende des zutiefst berührenden Liederzyklus: Der Leiermann. „Wunderlicher Alter, soll ich mit dir gehen? Willst zu meinen Liedern Deine Leier drehen?“ Diese Frage an den Bettler ist das letzte Wort. Er erreicht das Wirtshaus nicht. Der Weg nach Innen führt ans Ende, in die Einsamkeit in a-Moll. Der Zuhörer erkennt nicht eine ferne Vergangenheit, sondern seine eigenen authentischen Gefühle wieder; denn Schubert und Müller halten uns einen Spiegel entgegen.

 

 

Wie lässt sich dieser Abend beschreiben? Beide Künstler wollen eine neue Idee bringen und ausführen. Die Sängerin hat stimmliche Probleme, in der Tiefe, bei mancher Intonation, die man von ihr in der Oper nicht kennt. Dazu steht oder sitzt sie direkt in der Rundung des weit geöffneten Flügels. Beide Künstler spielen und singen vom Blatt, wobei sich nicht die Souveränität eines Gerald Moore ergibt. Keine Kleinigkeit: gespielt wurde auf dem hauseigenen Steinway-Flügel, der Bösendorfer ist mit seinem Wiener Klang wärmer.

Nach tosendem Beifall gab es eine charmante Rede von Joyce DiDonato, in der der Begriff “crazy“ für dieses musikalische Experiment erwähnt wurde. Aber auch als Promotion-Tour für die kürzlich eingespielte CD macht es den Zuhörer nachdenklich.

Dann gab es einen versöhnlichen Schluss – wunderbar gesungen, weiche Kantilenen zeigten das Können der Opernsängerin: Franz Schubert, An die Musik: „Du holde Kunst, in wieviel grauen Stunden, wo mich des Lebens wilder Kreis umstrickt, hast du mein Herz zu warmer Lieb entzündet, hast mich in eine beßre Welt entrückt.“ Das wünscht man auch dem Baden-Badener Festspielhaus.

 

Inga Dönges

Foto: Copyright Andra Kremper

 

 

VOŘÍŠEK - MOZART – BEETHOVEN: REVOLUTIONÄRE DER WIENER KLASSI

Hélène Grimaud - Jakub Hrůša - Bamberger Symphoniker

Festspielhaus Baden-Baden 11. Januar 2020

 

Die Musik ist jenes lockende Medium jenseits der Worte, jenseits von Gut und Böse (George Steiner „Warum Denken traurig macht“). Also machen sich die Bamberger Symphoniker wieder einmal auf Tournee, beginnen diese in Baden-Baden gemeinsam mit der Pianistin Hélène Grimaud und eröffnen mit dieser Premiere für sich das sog. Beethoven-Jahr zur Feier des 250. Geburtstages des Komponisten. Sie könnten ausschließlich Beethoven spielen, aber nicht doch: sie zeigen die Entwicklung zu dessen Musik, die ihn zum Außenseiter machte.

Sie selbst sind im Ursprung ein Orchester der Vertriebenen, geflohen 1938 aus der Tschechoslowakei nach dem Anschluss an Nazi-Deutschland, ließen sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Bamberg nieder, gaben dort 1946 ihr erstes Konzert. Das Motto für den Neubeginn war ihr Programm: „Rückkehr und Zuflucht zu den Werken und Werten hoher Menschlichkeit“. Der ihnen zugeschriebene warme „böhmische Klang“, seine dunkel-sonore Tiefe, ist eine musikalische Lebenseinstellung, die der seit 2016 neue Chefdirigent Jakub Hrůša ebenso verinnerlicht hat: „Das Alte zu bewahren und nichts vom Guten zu verlieren, zugleich neue Qualitäten zu kultivieren und neue Horizonte zu eröffnen.“

Den Anfang machte die Symphonie D-Dur von Jan Václav Voříšek, dann führte die D/d-Durmolltonalität durch den Abend bis zur Zugabe. Jan Václav Voříšek wurde 1791 in Ostböhmen geboren, studierte Komposition an der Prager Universität. Er zog nach Wien, studierte Jura, arbeitete aber musikalisch auch in der Gesellschaft der Musikfreunde – selbstverständlich immer ehrenhalber und unentgeltlich. Er starb 1825 an Lungentuberkulose, verarmt und wurde auf dem Währinger Friedhof beigesetzt wie auch 1827 Beethoven und 1791 Mozart im unbekannten Armengrab. „Der Tod muss ein Wiener sein …“. Viele seiner Kompositionen sind verschollen, die D-Dur Symphonie op. 23 von 1821 ist erhalten und der Entdeckung wert.

Die vier Sätze zeigen seine Verehrung für Beethoven, den er persönlich kannte. Erster und vierter Satz ‚Allegro con brio‘ sind festlich und voller Energie, die beiden Mittelsätze ‚Andante‘ und ‚Scherzo‘ werden von den Holzbläsern dominiert, die Streicher klingen oft chromatisch, ‚verfärben‘ die Töne. Manches erinnert an Mozarts Opern.

Dann nach dem Hereinrollen des Flügels betritt Hélène Grimaud die Bühne und nimmt von ihm Besitz. Eine Persönlichkeit, die so Vieles in sich vereint. 1969 in Aix-en-Provence geboren, studierte sie als Kind am dortigen Konservatorium, um mit 13 Jahren am Pariser Concervatoire angenommen zu werden. Ihr pianistischer Weg führte sie dann steil nach oben. Ihre Bücher zu lesen gibt tiefe Einblicke in die Musik, die sie spielt und wie sie diese verstehen lernt. Ihre Liebe zu den Wölfen und deren und die eigene Freiheit lassen sie ein Naturschutzzentrum in New York leiten. Das alles und mehr fließt in ihren Mozart ein: Klavierkonzert d-Moll KV 466.

Am 10. Februar 1785 hatte Wolfgang Amadeus Mozart (1756 – 1791) die Komposition fertiggestellt. Tags darauf am Tag der Aufführung in Wien reiste sein Vater Leopold dorthin und schreibt an seine Tochter Nannerl: „ein vortreffliches Clavierconcert vom Wolfgang, wo der Copist, da wir ankamen, noch daran abschrieb, und Dein Bruder das Rondo noch nicht einmal durchzuspielen Zeit hatte, weil er die Copiatur übersehen mußte.“ Mozart schlägt hier völlig neue Töne an, ist nicht gefällig oder unterhaltsam. Es ist düster und abgründig, sein Pathos kompromisslos. Es sind Don Giovanni, der Komtur, die Finsternis und Tod ausstrahlen. Diese geheimnisvolle Unruhe und Dunkelheit spielte Hélène Grimaud. Das Klavier setzt schlicht ein, greift nach dem Zarten, keine donnernden Oktaven, Himmelsmusik erklingt.

Ihre Hände führen ein Eigenleben. Dieses Kompliment einer adligen Dame an Mozart darf man hier für Hélène Grimaud wiederholen. Sie sitzt aufrecht am Flügel, nach jedem Lauf hebt sie die Arme für den nächsten Anschlag, beide Pedale werden wunderbar (oft gleichzeitig) benutzt, ihre geliebte linke Hand hat viel zu tun und ist oft der rechten im Ausdruck überlegen. Das Leichte ist eben schwer!

Das Hauptthema wird vom Soloklavier vorgestellt, ist eine einfache Liedform. Orchester und Klavier sind gleichberechtigte Partner. Die Streicher spielen wilde Synkopen, die Bässe grollen in einer Auftaktbewegung. Das Konzert endet in D-Dur! Mozart fand hier zur eigenen Freiheit und Kunst. Die Zeit war vorbei, wegen Geldnöten und Schulden „Everybody’s Darling“ zu sein! Er komponierte keine Solo-Kadenzen, die etliche Musiker dazugaben. Hier war es die von Beethoven, der das Klavierkonzert gerne spielte und diese zugefügt hat.

Dann nach der Pause die Fortsetzung der Kadenz: Ludwig van Beethoven (1770 – 1827) Symphonie Nr. 2 D-Dur op. 36. Komponiert 1801/02, dem Fürsten Lichnowsky gewidmet, Uraufführung am 5. April 1803 im Theater an der Wien. Sie entstand zur Zeit des ‚Heiligenstädter Testaments‘, also in Beethovens großer Lebenskrise. Von alledem steht nahezu nichts in der hinreißend frischen Partitur. Manchmal kann man ihr anhören, dass sie kurz vor der „Eroica“ entstand. Das Werk hat einen großen Zug nach vorn, punktierte Sechzehntel fallen wie Blitze und Fortissimo-Achtel funkeln, die die sorgfältige thematische Arbeit des Komponisten sprengen könnten.

Hier war Jakub Hrůša der kompetente Walter des Werks, der sich sein Verständnis erarbeitet hatte. Bestechend war die Anzahl der Musiker: kammermusikalisch! Alles war am Anfang klar zu hören. Die beiden Fortissimo-Schläge der Einleitung zielen auf eine Fermate, die Bläserakkorde erklingen zuerst im Forte, dann im Piano, unmittelbar nacheinander, die Koda hat wilde Sforzato-Vorschriften, acht Fortissimo-Takte während der Synkopen der Zweiten Geigen. Das Larghetto sind melodische Einheiten mit Charakter. Das Scherzo ist ähnlich, wilde Dissoziationen sind möglich. Das Finale ‚Allegro molto‘ ist ein Triumph an Temperament und Schwung, führt zum Teil in eine heroische Landschaft. Die Tempi beinhalten rasende Geigenläufe, die anderen Instrumentengruppen müssen mithalten. Beethovens Vorschrift dazu: die Steigerungen ergeben sich von selbst. Und ihn hatte die Bonner Hofgesellschaft 1792 nach Wien geschickt, um „Mozarts Geist aus Haydens Händen“ zu empfangen.

So wurden aus den drei Komponisten Revolutionäre ihrer musikalischen Zeit, und ihre Meisterstücke führten weiter, auch wenn sie erst vom bestimmenden Adel nicht goutiert und verstanden wurden. So trägt die Symphonie oft Merkmale einer Buffo-Ouvertüre, und es ist gewiss kein Zufall, daß sie mit Mozarts „Figaro“-Ouvertüre auch die Tonart gemeinsam hat. Und sie gab es nach großem Beifall des voll besetzten Festspielhauses als Zugabe des Orchesters und seines sensiblen und kenntnisreichen Dirigenten. Beaumarchais nannte es: „Ein toller Tag!“

 

Inga Dönges, 13.1.2012

Bilder (c) A. Herzau / M. Bode

 

 

 

George Balanchine

JEWELS

Smaragde – Rubine – Diamanten

27. Dezember 2019

„Der Tanz ist eine Frau.“

„Ein Mann hat es gern, Partner zu sein, ein Beistand, ein Chevalier. Das ist’s, warum Ballett existiert.“ Balanchine lebte dieses Motto auch selbst und war mit vier seiner bildschönen, langbeinigen Tänzerinnen verheiratet - nacheinander. Er wurde 1904 als Sohn georgischer Eltern in St. Petersburg geboren, Vater und Bruder waren Komponisten. Im Alter von neun Jahren begann er dort seine Ausbildung an der kaiserlichen Ballettschule und arbeitete gleichzeitig als Choreograph, fiel aber 1923 dem politischen Regime negativ auf durch seine experimentellen Stücke.

1924 kehrt er von einer Westeuropa-Tournee nicht nach Russland zurück. In London fiel er dem Impresario Sergei Diaghilew auf. Balanchine wurde in die ‚Ballets Russes‘ engagiert, später 1933 in Monte Carlo gründete er selbst eine Kompanie. Er lernte Lincoln Kirstein kennen, der weder Tänzer noch Musiker war und in den frühen 30-er Jahren seine Liebe zum Ballett entdeckte. Für ihn war Balanchine bestimmt, das amerikanische Ballett zu begründen und zu revolutionieren. Amerika war zwischen 1939 und 1945 im zweiten Weltkrieg kein Kriegsschauplatz und konnte sich weiterentwickeln, ohne dass im Jahr 1939 eine Zäsur entstand.

1934 wurde Balanchine auf Einladung von Lincoln Kirstein Leiter der „School of American Ballet“ in New York, aus der später das „New York City Ballet“ hervorging. Eine neue Entwicklung: zuerst bestand die Schule, dann die Kompanie. Kirstein förderte Balanchines Kreativität und ließ ihm völlige künstlerische Freiheit. Es entstand ein neuer klassischer Tanzstil, der das russische Erbe „mit dem athletischen Schwung der kühlen amerikanischen Jugend vereint. So schafft man neue Traditionen“. Es entstand der neoklassische Tanz, der den klassischen Tanz durch zusätzliche Stellungen und Bewegungen, eckige und winklige, erweiterte.

Das alles und noch mehr ist in „Jewels“ zu sehen. Es ist abstraktes Ballett, hat keine Handlung und ist doch erfüllt vom prallen Leben und Tanz! „Musik ist der Boden, auf dem wir tanzen.“ Bei allen Tänzern wurden Fähigkeit und Kondition vorausgesetzt: Kraft, Schnelligkeit und Präzision.

Die Idee zur Choreographie hat eine (märchenhafte?) Geschichte: an einem dunklen Wintertag bei einem Spaziergang über die New Yorker 5th Avenue glitzerten die Juwelen in einer Auslage und zogen George Balanchine in ihren Bann. Er hatte nicht die Idee, diese käuflich zu erwerben, sondern sie waren die Initialzündung für „Jewels“, das 1967 von „New York City Ballet“ in New York uraufgeführt wurde. Bühne, Kostüme, Licht wurden vom Mariinsky Ballett liebevoll im Detail aufgefrischt und im Oktober 1999 in St. Petersburg als Premiere aufgeführt.

Die Bühne – ein leerer Raum, der sich füllt mit Ballett, das für Balanchine durch und durch konkret ist, „weil man Männer und Frauen sieht, die sich rascher und besser bewegen und besser aussehen als die meisten Menschen. Gibt es etwas Konkreteres?“ Ob sich George Balanchine und Peter Brook (geb. 1925 in London) im New York der 50-er Jahre des 20. Jahrhunderts begegnet sind? Beide füllen den Bühnenraum, und man schaut durch ein Vergrößerungsglas und sieht, hört die Musik und assoziiert mit aller gegebenen Phantasie. Können Tanz und Musik mehr erreichen?

Der erste Akt „Emeralds“ zu Gabriel Fauré (1845 - 1925) aus „Pelléas et Mélisande“ und „Shylock“, ein klarer Aufbau, verhaltenes Espressivo und transparenter Klang, Neoklassik der französischen Musik. Die Bühne leer, über ihr schwebt ein Collier aus Edelsteinen, smaragdgrün beleuchtet. So auch die Farbe der Kostüme, die Tänzerinnen mit etwas längerem Tutu bis zu den Knien. Der Smaragd repräsentierte im Glauben der alten Ägypter die Fruchtbarkeit und die Wiedergeburt. Die Römer sahen durch ihn Sprache und Körper der Person erhöht. Die Choreographie wechselte im nahtlosen Übergang vom Corps de ballet zu Soli, Pas de deux und Pas de trois. Es waren keine „Nummern“, die getanzt wurden, sondern ein Ineinandergleiten. Auffällig die neue Position des ‚port de bras‘ (Armhaltung und Armführung), sie drückt weitgehend Stil, Eleganz und Gefühl aus. Hier die Paare: Daria Ionova und Maxim Zyusin, Anastasia Kolegova und Roman Belyakov.

Der zweite Akt „Rubies“, die Rubine – die Steine des Bühnencolliers färben sich rot. Die Tänzer nehmen Aufstellung in einer geraden Linie, ihre Kostüme sind rot mit kurzen plissierten Röckchen und geben so eine Variation von Mustern im Vordergrund. Die Tänzer nehmen eine einheitliche Stellung ein. Balanchines Tänzerinnen sind langbeinig und gertenschlank, das Ideal des 20. Jahrhunderts. Er bevorzugt die ausgreifende Bewegung und die große Linie, seine Arabesken (Standbein gestreckt, Spielbein nach hinten) sind erstaunlich hoch. Hier die beiden neuen Positionen des neoklassischen Tanzes. Ein ‚Plié‘ (Beugen eines oder beider Knie) erlaubt nun das Öffnen der Knie, eine Revolution. So entsteht eine gespreizte Bewegung, einfach amerikanisch frech und ‚sexy‘. Renata Shakirova und Kimin Kim tanzen den Pas de deux, Kim dreht im Solo den Sprung wohl zweimal und – linksherum: sensationell! Das alles zum Capriccio für Klavier und Orchester von Igor Strawinsky (1882 – 1971), als Solistin Lyudmila Sveshnikova. Die Tänzer konnten ihrem Spiel vertrauen. Was durfte man sich beim Tanz der „Rubine“ denken? Im Orient wird der Rubin als „Tropfen des Blutes aus dem Herzen von Mutter Erde“ bezeichnet, im Mittelalter als der Stein der Prophezeiungen. Hier also des neuen Tanzes, der nach Serge Lifar sich „zwischen Himmel und Erde“ bewegt.

 

Der dritte Teil krönt das Ganze mit „Diamonds“ zur Musik von Peter Tschaikowsky (1840 – 1893), 3. Symphonie in D-Dur, beginnend mit dem 2. Satz, einer Tanzweise „Alla tedesca“, ein schwerblütiges Andante elegiaco und einem Scherzo - die Steine des Bühnencolliers färben sich strahlend weiß. Man könnte den antiken Römern und Griechen glauben, dass Diamanten Tränen der Götter oder Sternesplitter seien. Sie machen die Musik sichtbar, stellen das ‚Gute, Schöne und Wahre‘ dar, das heutigen Zeiten ins Gedächtnis zurückgerufen werden muss. Es tanzen Viktoria Tereshkina und Xander Parish als Hommage an das ‚alte‘ russische Ballett von Marius Petipas. Die artistischen Soli im gleitenden ‚Legato‘ getanzt, die innigen Pas de deux erinnern an „Schwanensee“, an Odette/Odile. Es entstehen die für Balanchine typischen geometrischen Formen und Linien. Den Schluss ergänzen sechzehn Paare und füllen die ‚leere Bühne‘ zum Raum – eine Hymne an den Tanz. Das alles unterstreicht das Mariinsky Orchester mit seinem amerikanischen Dirigenten Gavriel Heine, der den musikalischen Boden für die Tänzer bereitet, mit ihnen atmet und „tanzt“, so dass einfach alles gelingt.

George Balanchines Auffassung von Tanz weicht von der Tradition ab. Man muss das Neue schätzen und dazu das Alte kennen. Und heute wird dem Publikum längst eine breite Palette von Tanzrichtungen geboten, die es ohne Balanchine, der bis 1983 lebte, nie gegeben hätte.

Großer Applaus für das Funkeln der Ballett-Juwelen.

 

Inga Dönges, 30.12.2019

Bilder (c) Festspielhaus / Stae Academic Marinsky Theatre

 

 

Evgeni Koroliov

Johann Sebastian Bach - Goldberg-Variationen

Festspielhaus Baden-Baden am 14.12.2019

„Kunst und Musik sind für mich das Paradies“

so Evgeni Koroliov, der russische Pianist, geboren am 1. Oktober 1949 in Moskau, studierte dort am Tschaikowsky-Konservatorium Klavier. Es folgten Preise bei Internationalen Wettbewerben, ab 1978 die Professur an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg und ließ die damalige Sowjetunion hinter sich: „Ich habe diese Gesellschaft als nicht gut, nicht gerecht und nicht wahrhaftig empfunden, sondern stark die Freiheit einschränkend … Diese Gesellschaft war überhaupt nicht nach meinem Geschmack.“

Auf der Suche nach Wahrhaftigkeit führte der Weg ihn zwangsläufig zu Johann Sebastian Bach (1685 – 1750). In Eisenach geboren wurde er in einer ständig aufwärts führenden musikalischen Laufbahn 1717 zum Kapellmeister des Fürsten Leopold zu Anhalt-Köthen. Nach dem Tod seiner ersten Frau, mit der er sieben Kinder hatte, heiratete er Anna Magdalena, die ihm dreizehn Kinder schenkte. 1723 wurde er zum Thomas-Kantor in Leipzig gewählt. In seinem reichen Leben für die Musik komponierte Bach 1741 als sogenannte „Klavierübung 4. Teil“ die Goldberg-Variationen.

Die Entstehungsgeschichte ist märchenhaft schön und darf nicht fehlen. Der russische Botschafter am kursächsischen Hof Graf Kayserling litt unter Schlaflosigkeit. Sein junger Cembalist Johann Goldberg musste ihm im Nebenzimmer seines Schlafgemachs die Zeit mit Musik vertreiben. Schon damals glaubte man an Musiktherapie! Hierfür bestellte sich Kayserling bei Bach „einige Musikstücke … sanften und etwas munteren Charakters“. Goldberg musste dann regelmäßig daraus spielen. Der „Erfolg“ ist nicht überliefert: führte die Musik zum Einschlafen oder doch zur „Gemüthsergetzung“? Für Bach gab es einen goldenen Becher mit 100 Louisdor als Anerkennung.

 

Die „Klavierübung“ ist ein Zyklus und beinhaltet die gesamte Cembalotechnik der damaligen Zeit. Sie ist ein Monument und erst wieder viel später mit Beethovens „Diabelli-Variationen“ vergleichbar. Zur Ausführung ist von Bach ein zweimanualiges Cembalo vorgeschrieben, aus spieltechnischen und auch aus klanglichen Gründen. Dadurch sind forte–piano oder Echo-Effekte zwischen den Manualen möglich. Hier ist nun die Kunst des Pianisten gefragt, denn er hat „nur“ eine Tastatur statt der zwei Tastaturebenen des Cembalos zur Verfügung.

 

Evgeni Koroliov ist dafür der Künstler und Zauberer. Die linke Hand fliegt über die rechte und umgekehrt. Man hört die Obertöne, das Echo. Das rechte Pedal ist eine zusätzliche Hilfe. Alles klingt leicht, tänzerisch, singend. Es gibt keine „baröckliche“ Starre in der Tongebung. Oft sind rechte und linke Hand (auch im Takt) gegenläufig. Jeder Ton ist trotzdem für sich hörbar. Es ist phänomenal: Koroliov ist eins mit Bach.

„Die ideale Welt, die möglicherweise dann im Paradies existiert. Oder wenn dort nicht, dann eben auf der Erde, in der Kunst, in ganz großer Musik.“ – „Alles was äußerlich ist, kann eine Täuschung sein.“ Er ist einig mit Immanuel Kant (1724 – 1804): „Es sind uns Dinge … gegeben, allein von dem, was sie an sich selbst sein mögen, wissen wir nichts, sondern erkennen nur ihre Erscheinungen, d.i. die Vorstellungen, die sie in uns wirken …“. Das alles spielt Koroliov, lässt den Geist und das Denken Bachs durch seine Finger auf dem Flügel ausdrücken. Man muss nur Ohren haben zu hören, Augen zu sehen, wie der Pianist spielt, als umgäbe ihn eine Aura.

Er beginnt die Variationen mit einer zarten ‚Aria‘ (G-Dur), von Bach entnommen aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena. Nicht die Melodie wird variiert, sondern der Bass mit seinen Harmonien. Jede weitere Variation bleibt als Individuum für sich bestehen. Das ganze Werk ist übersichtlich konstruiert und gegliedert. Dreißig Variationen von der ‚Aria“ und ihrer Wiederholung an Ende eingefasst.

Nach der 15. Variation beginnt der 2. Teil mit einer Französischen Ouvertüre. Jede dritte Variation ist ein Kanon. Er ist die strengste Form der Imitation, der notengetreuen oder leicht abgewandelten Nachahmung in einander folgenden Stimmen. Er ist jeweils zweistimmig angelegt über einem freien Bass-Kontrapunkt. Das alles lässt uns dieser Meister und Beherrscher des Flügels hören und löst jede spieltechnische Schwierigkeit. Die musikalischen Ideen ändern sich, so auch der Ausdruck, der im Mittelpunkt steht.

So steigert Variation 11 das Spiel der sich kreuzenden Hände in die triolische Beschleunigung, Variation 20 ist einfach (!) das virtuose Spiel, das in Nr. 28 und Nr. 29 in ein Feuerwerk mündet. Die abschließende 30. Variation heißt „Quodlibet“ und enthält zwei Volksmelodien: „Ich bin so lang nicht bei dir gewest – Kraut und Rüben haben mich vertrieben“. So endet das Riesenwerk in einem Scherz, der dann durch die Wiederholung der ‚Aria‘ den Ringschluss zum Anfang herstellt.

„Mich interessierte dann Bach mehr als diese [anderen] pianistischen Kunststücke“. Das sagt ein Meister der russischen Schule. Für ihn besteht diese darin, „dass man keine Schule, kein Dogma hat, sondern aus dem lebendigen Musizieren herauskommt“. Das hat Evgeni Koroliov 90 pausenlose Minuten lang gezeigt. Diese Noten auswendig im Kopf zu haben ist nicht die eigentliche Kunst, sondern diese mit all seinen Gedanken zu spielen. Ob der Graf damals eingeschlafen ist, wissen wir nicht, aber wir sind hellwach und voll des musikalischen Glücks.

Damit erhebt sich eine andere Frage, die für die Gesellschaft, vor allem die junge, wichtig ist. Wie führt man sie an diese Kunst heran? Das heißt praktisch: Wie füllt man wieder die Konzertsäle, die durch den natürlichen Alterungsprozess leerer werden? Dieser Konzertabend war recht schütter besetzt, wie schon vorher andere in dieser Spielzeit auch. Für „Kenner“ war es eine Perle, aber wo waren die „Anfänger“? Es waren viele leere Plätze. Sie hätten mit Evgeni Koroliov und Johann Sebastian Bach einen Impuls für „mehr“ bekommen können.

Das Festspielhaus sollte seinen selbst gesetzten Anspruch in dieser und weiteren Spielzeiten erfüllen,  neue Publikumsschichten zu finden. Die Stars, die nur ihre Selbstdarstellung pflegen und nicht die der Musik, und das reichliche Maß an Entertainment-Vorstellungen entsprechen sicher nicht den Gründungsprinzipien des Festspielhauses, das seinen Förderern und Freunden „Verlässlichkeit, Gemeinschaftssinn und Treue“ verspricht.

Mit Evgeni Koroliov gesprochen: „Keine musikalischen Kunststücke“, sondern die Suche „nach musikalischer Wahrhaftigkeit“.

 

Inga Dönges, 16.12.2019

Bilder (c) Steven Walocha / Gela Meggrelize / Wiki

 

 

 

Budapest Festival Orchestra - Elisabeth Leonskaja - Iván Fischer

1. Dezember 2019

Kongenial: sie spielen, begleiten und singen!

Das Konzertprogramm: Antonin Dvořák (1841 – 1904) und Ludwig van Beethoven (1770 – 1827) – sind sie Antipoden oder verbindet sie die musikalische historische Donaumonarchie?

Ein ungarisches Orchester aus Budapest, 1983 von Iván Fischer und dem Pianisten Zoltán Kocsis gegründet, mit dem Ziel unorthodoxe Ideen zu verwirklichen. Sie spielten für Kinder, Open-Air- Konzerte in Budapest, seit 2014 in ungarischen Synagogen, waren oft in Opposition zur ungarischen Regierung. Ihr Musikdirektor ist Iván Fischer, 1951 in Budapest geboren. Er stammt aus einer Musikerfamilie, die Großeltern wurden Opfer des Holocaust in Ungarn. Klavier-, Geigen- und Cellounterricht führten ihn über ein Kompositionsstudium nach Wien in die Dirigierklasse von Hans Swarowsky, die er absolvierte. Es folgte der Aufstieg zu Gastdirigaten mit Orchestern der Weltklasse.

Und schließlich Elisabeth Leonskaja, am 23. November 1945 (dem Tag der Heiligen Cäcilie, der Schutzherrin der Musik!) im georgischen Tiflis geboren als Tochter russischer Eltern – die Mutter war Jüdin. Mit elf Jahren gab sie ihr erstes Klavierkonzert, studierte ab 1964 am Moskauer Konservatorium bei Jacob Milstein, ihr großer Förderer war Swatoslaw Richter. Sie gewann internationale Wettbewerbe, lebt seit 1978 in Wien und ist Ehrenmitglied des Wiener Konzerthauses.

Diese phänomenale „Musikermischung“ gestaltete den Konzertabend und begann mit dem tschechischen Komponisten Antonin Dvořák, seiner Legende As-Dur op. 59/5. Bei Prag als Sohn eines Metzgers geboren ging er einen unkonventionellen Weg zum Musiker und Komponisten. Ein glücklicher Zufall ließ ihn Johannes Brahms kennenlernen, was zu einer lebenslangen Freundschaft wurde. Dieser vermittelte ihm von 1874 bis 1878 ein österreichisches Staatsstipendium und verhalf Dvořák 1877 zum Durchbruch, indem er sich bei seinem Verleger Fritz Simrock für ihn einsetzte. Brahms über Dvořák: „Der Kerl hat mehr Ideen, als wir alle. Aus seinen Abfällen könnte sich jeder andere die Hauptthemen zusammenklauben.“

Die Legenden für Orchester entstanden 1881, waren erst für Klavier zu vier Händen komponiert und dann orchestriert. Die Legende ‚Allegro giusto‘ ist keine programmatische Musik, sie beschreibt Gefühle, Liebe, Sehnsucht, Begeisterung, musiziert in ihrem besonderen Charakter mit intensivem Ausdruck. Man hört und sieht die Kontrabässe, die ihr Eigenleben haben und positioniert sind in der letzten Reihe des Orchesters. Sie schweben über allem mit ihren dunklen, satten Tönen.

 

Dann legen die Musiker ihre Instrumente beiseite, ergreifen die Chornoten und singen das „Wiegenlied“ op.29/2. Die Erwartungen der Hörer nach dem Gastspiel des vergangenen Jahres werden erfüllt: ein Orchester singt! Und das wunderschön in der weichen tschechischen Sprache, aus voller Kehle und Seele. Was hätte Brahms wohl gesagt? „Ein Teufelskerl dieser Dirigent, der seine Musiker singen lässt.“ Danach aus den „Slawischen Tänzen“ ‚Sousedska‘ As-Dur, op. 72/8, ein Bauerntanz im ¾ Takt, weckt auch Walzer-Assoziationen. So stellt man sich eben Dvořák vor, böhmisches Naturell verbunden mit der Liebe zur Natur. Daraus wird Konzertmusik, ohne die künstlerische Substanz des Volkstümlichen anzutasten.

 

Dann der grandiose Mittelteil des Programms: Ludwig van Beethoven, Konzert für Klavier und Orchester Nr. 5 Es-Dur op. 73. Komponiert 1808/09, dem Erzherzog Rudolph von Österreich gewidmet, Uraufführung im November 1811 in Leipzig. Taubheit hinderte Beethoven daran, auch sein letztes Klavierkonzert als Solist zum ersten Mal zu spielen.

Hier und heute ist es Elisabeth Leonskaja, die russische Pianistin. „Beethoven spielen wir [russischen Pianisten] alle auf russische Weise, aber wir sind überzeugt davon, dass es irgendwie stimmt, weil unser Herz offen ist. Durch die Sprache bekommt man automatisch ein Gespür für lange Phrasen. Man spricht Beethoven.“ So betritt sie die Bühne quer durch das Orchester und beginnt.

Im ersten Satz unthematisch und quasi frei kadenziert – angekündigt durch einen mächtigen Tutti-Akkord des Orchesters, ein konzertantes Prinzip des Mit- und Gegeneinanders von Klavier und Orchester. Es entwickelt sich das charakteristische Doppelschlagmotiv. Dann übernimmt die Klarinette die Führung, es folgt eine verinnerlichte Zwiesprache zwischen den Holzbläsern und dem sie umspielenden Klavier. Um so gewaltiger der dynamische Ausbruch, wenn Solist und Orchester aufeinandertreffen: Punktierte Fortissimo-Blöcke und gehämmerte Klavier-Oktaven. Symphonisches und Virtuosität kommen hier zusammen.

Und Elisabeth Leonskaja, die diese Wunder vollbringt? Sie sitzt aufrecht, ruhig und souverän am Flügel. Swatoslaw Richter korrigierte der jungen Pianistin ihre „Unternehmungslust“, „man solle alles aus dem Notentext entwickeln“. Sie ist eine Meisterin der Tonalität, ihre Anschlagskultur wie Samt und Seide, aber auch der Doppelschlag. Die Geläufigkeit der Finger ist atemberaubend, spiegeln sich im Flügel und doppeln ihre Kunst. „Meine Heimat? Meine Muttersprache und die Musik.“ Das Publikum versteht und steht mit Beifall direkt vor der Bühne. Es gibt eine Zugabe für die Seele: W.A. Mozart, Adagio aus der Sonate F-Dur KV 332.

Elisabeth Leonskaja sagt, Musik ist ihr Leben: „Es ist meine heilige Pflicht, meinen Eltern und dem Leben gegenüber, wenn ich dieses Talent vom lieben Gott bekommen habe. … Wenn ich aufhöre, würde ich sofort krank. Musik ist Heilung.“ Hoffentlich darf ihr Publikum noch lange daran teilhaben.

Nach der Pause schließt sich der Kreis, Antonin Dvořák, Sinfonie Nr. 8 G-Dur op. 88. Die sogenannte „Englische“, die Dvořák in London 1890 selbst dirigierte. Er hatte sich kompositorisch entscheidend weiterentwickelt und so auch deutlich von Brahms entfernt. Dieser blieb sein Förderer und Freund, aber die ‚Achte‘ empfand er ungewohnt kritisch: „Zu viel Fragmentarisches, Nebensächliches treibt sich da herum. Alles fein, musikalisch fesselnd und schön – aber keine Hauptsachen! Besonders im ersten Satz wird nichts Rechtes daraus.“

Hier irrte Brahms. Antonin Dvořák entwickelte seit 1873 seinen eigenen nationalen Stil. Die slawischen Schaffensperioden (1876 – 1881 und 1886 – 1891) waren nicht mehr klassisch, sondern tschechisch-folkloristisch geprägt. Er nähert sich hier dem Charakter einer sinfonischen Dichtung, hält sich aber an die Form der Sinfonie. Celli und Bläser eröffnen feierlich, dann schiebt sich der volkstümliche Frohsinn dazwischen. Der 2. Satz Adagio zeichnet das Bild der Natur, das Scherzo ist eine Walzermelodie, die in der Coda in einen slawischen Tanz übergeht. Das Finale bringt Variationen der tschechischen Volksmusik hin zur Apotheose auf Heimat und Natur. Dvořák ist schon auf dem Weg in die Zukunft, in die Neue Zeit. Iván Fischer dirigierte auswendig, souverän mit allen Einsätzen, es schwingen die großen Bögen, die Solisten Fagott, Klarinette, Flöte, Horn, Trompete leisten das Beste, die Streicher glänzen präzise. Es ist eine Sternstunde!

Und der Hörer hat verstanden, dass dies alles zusammengehört und hofft auf eine Fortsetzung im nächsten Jahr. Dvořák und Beethoven, das Budapest Festival Orchestra mit Iván Fischer und Elisabeth Leonskaja am Flügel haben noch unendlich viel zu bieten!

 

Inga Dönges, 3. Dezember 2019

Bilder (c) Ivan Fische/Ákos Stiller, Elisabeth Leonskaja/Julia Wesely

Budapest Festival Orchestra/Proarte



 

Cecilia Bartoli

Weltpremiere des neuen Tourneeprogramms - Farinelli und seine Zeit

 

24.11.2019

Die Wiedergeburt des Barock aus dem Geiste der Musik

Für Friedrich Nietzsche war es 1872 die „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ und wurde in Tribschen von Richard und Cosima Wagner begeistert aufgenommen. Cosima: „Richard gedenkt der Leute, die jetzt das große Wort in Deutschland führen“. Wie ist es damit in der heutigen Zeit? Wer bestimmt den Geschmack? Warum wird das Barock wiederbelebt, aus der Vergangenheit nach 300 Jahren in unsere Gegenwart transportiert? Wer ergreift das Wort für diese „alte“ Neuheit?

Denn eigentlich ist die Gesellschaft doch modisch in die digitale Zukunft gerichtet. Es ist Cecilia Bartoli, die italienische Opernsängerin, ein Koloratur-Mezzosopran mit dunklem Timbre und einem Stimmumfang von zweieinhalb Oktaven. Sie wurde 1966 in Rom geboren, eine steile Gesangskarriere führte sie 2012 zur Intendanz der Salzburger Pfingstfestspiele. Sie versenkt sich in Originalpartituren vergessener Komponisten des 17. und 18. Jahrhunderts und transponiert diese in ihre Mezzo-Stimmlage. Ob damit der sogenannte „Originalzustand“ erreicht wird, lässt sich nicht belegen. Es gibt keine „Aufnahmen zum Hören“, nur Aussagen von Zeitzeugen. Diese berichten in höchsten Tönen und dem bezeugten Ausruf einer Dame des englischen Hochadels: „One God, one Farinelli“. 

Wer war Farinelli? Carlo Broschi wurde 1705 in der Nähe von Bari, im Königreich Neapel geboren. Die Eltern erkannten früh seine sängerische Begabung, und so wurde das „gebenedeite Messerchen“ angelegt. Er kam in die Schule des Komponisten Nicola Porpora (1686 – 1768) und wurde zum Kastraten ausgebildet, debütierte 1721 in Rom in einer Primadonnen-Rolle. Der junge Farinelli hatte, wie der Komponist Johann Joachim Quantz (1697 – 1773) berichtete, eine durchdringende, füllige und ebenmäßige Sopranstimme, „deren Umfang sich damals vom ungestrichenen a bis zum dreigestrichenen d erstreckte“.

„Seine Intonation war rein, sein Trillo schön, seine Brust im Aushalten des Atems außerordentlich stark und seine Kehle sehr geläufig, so daß er die weitentlegensten Intervalle geschwind und mit der größten Leichtigkeit und Geschwindigkeit herausbrachte … In den willkürlichen Auszierungen des Adagios war er sehr fruchtbar. Das Feuer der Jugend, sein großes Talent, der allgemeine Beifall und die fertige Kehle machten, daß er dann und wann zu verschwenderisch damit umging“.

Wie ging Cecilia Bartoli mit den Noten und Opern von Nicola Porpora, Geminiano Giacomelli (um 1692 – 1740), Johann Adolf Hasse (1699 – 1783), Johann Joachim Quantz, Georg Friedrich Händel (1685 – 1759) und anderen mehr, für Kastraten, also Farinelli, komponiert, um? Sie transponierte die Partien um mindestens eine Oktave. Nur, „zwischen der Männlichkeit der männlichen Stimme und der Weiblichkeit der Frauenstimme gibt es kein Mittelding“ (Jürgen Kesting). Bartoli gibt ihrem Mezzosopran ein androgynes Timbre. Sie setzt das von Kastraten-Arien geforderte ‚Messa di voce‘ ein: Es beginnt wie ein pianissimo-Hauch, schwillt langsam an zu einem ‚Mezzoforte‘ und ‚Forte/Fortissimo‘, ohne an stimmlicher Intensität zu verlieren, zurück ins ‚pianissimo‘. Das sollte mehr als eine Minute dauern, und versetzt das Publikum in grenzenlosen Jubel.

Dazu in Giacomellis 1734 uraufgeführter Oper „Merope“ das Liebesschluchzen einer Nachtigall. Diese wurde auf der Bühne lange von ‚La Bartoli‘ an einem biegsamen Stab bewegt. Der Gesang hätte es auch, wenn nicht besser getan. Mit Kadenzen und Trillern beklagt die Nachtigall die Schicksalsqualen des Epitide, mit den höchsten Mitteln der Naturmalerei.

So begann das Geschehen auf der Bühne: Das Orchester „Les Musiciens du Prince – Monaco“ nahm Platz. Ein kleines Orchester, der Alten Musik und ihren Instrumenten verpflichtet. Es wurde 2016 im Fürstentum Monaco auf Initiative von Cecilia Bartoli gegründet, ihr Chefdirigent ist Gianluca Capuano. In Mailand geboren und dort studiert, spezialisierte er sich auf Alte Musik und pflegt das barocke Repertoire. Heute mit symphonischen Stücken der Zeit mit Soli für Flöte, Klarinette und Trompete.

Der große Vorhang hinter dem Orchester öffnet sich, und man sitzt im Teatro di San Marco in Neapel, so zeigt es das Bild der Bühnenrückwand. Vorne eine Garderobe mit Paravent und Schminktisch, dann betritt Cecilia Bartoli die Bühne, männlich kostümiert im Hosenanzug der Barockzeit mit Kurzhaarperücke. Die Programmfolge ist zu einem Ganzen ohne Unterbrechung zusammengefasst, das Umkleiden für die Frauenrollen etc. geschieht in dem kleinen Garderobenkabinett unter der Assistenz von Garderobier und Friseur.

So erweckt das Arrangement den Anschein eines vollständigen Operngeschehens. Das ist gut so! Denn allein die Oper „Merope“ hat eine Gesamtdauer von fünfeinhalb Stunden. So werden dem geschätzten Publikum kulinarische Häppchen serviert, musikalisches „Fingerfood“ für die heutige Zeit bereitet. Was Nicola Porpora, der Lehrer Farinellis, dazu gesagt hätte? Für ihn galt die Maxime, dass erst dort, wo die Technik endet, die Kunst beginnt. Ob sich so die Musik des Barock wiederbeleben lässt? Gut, damals war das Publikum für diese Musik der wohlhabende Adel. Er konsumierte sie bei Hofe, aß und trank derweil und anderes Amüsement mehr. Das war eigentlich eine Tragödie für die Musik!

Wie ist das heute? „Der Weg zurück zu Farinelli“ ist sehr weit. Das enthusiasmierte Publikum beklatschte sich und Cecilia Bartoli und erhielt die gewünschten Zugaben. Zwei Arien aus Opern von Georg Friedrich Händel und von Riccardo Brosch, dem Bruder Farinellis. Ein stimmungs- und wirkungsvoller Schluss, der zum Thema des Abends zurückführte.

Cecilia Bartoli beendete den offiziellen Konzertteil mit Georg Friedrich Händel, ‚What passion cannot Music raise and quell?‘ aus der Kantate „Ode for St. Cecilia’s Day“. Das war ihr quasi auf den Leib und die Kehle geschrieben. Gesungen hat sie es einen Tag nach dem 22. November, gewidmet der „Heiligen Cecilie“, der Schutzpatronin der Musik. Es war der Beginn einer (Verkaufs-)Tournee ihrer neuen Barock-CD.

Sie sollte klug mit ihrer Stimme umgehen, damit ihre Ideen und ihre Produktivität für die Alte Musik erhalten bleiben.

 

Inga Dönges, 25.11.2019

Bilder (c) Kristian Schuller / Michael Gregonowits

 

 

 

Grigory Sokolov

Klavierabend 10.11.2019

Ich spiele alles, was ich liebe.

„Nicht auftreten, nur kommen“ (Fritz Kortner) – sagte sich Grigory Sokolov auf seinem Weg zum Steinway, der weit geöffnet war. Er setzte sich, begann zu spielen, und der Zuhörer wurde magisch in seinen Bann gezogen. Der Konzertsaal war dunkel, das Licht fiel nur auf die Bühne und den Pianisten. Es gab nur ihn, seinen Flügel und die Musik.

Grigory Sokolov wurde 1950 in Leningrad (St. Petersburg) geboren, begann früh mit dem Klavierspiel und gewann 1966 den 3. Moskauer Tschaikowski-Wettbewerb unter Vorsitz von Emil Gilels, der diese große Begabung erkannte und auch später weiter förderte. Seine Karriere war auf die damalige Sowjetunion begrenzt, dann endlich auch auf das Ausland geöffnet. Sokolov konzertiert ausschließlich auf Steinway-Flügeln, deren Technik und Stimmung seinem Empfinden entsprechen. Er gibt keine Orchesterkonzerte, die Probenzeiten sind ihm zu kurz. So kommt das Publikum zu Klavierabenden, die ein schmückendes Adjektiv in sich verbieten.

Es begann mit Wolfgang Amadeus Mozart (1756 - 1791). „Mozart direkt können Sie nicht hören, niemals. Sie hören, wie diese Musik interpretiert wird. Sie hören nur, was Sie davon verstehen können.“ Der Zuhörer hatte Mozart SO noch nie gehört: Präludium (Fantasie) und Fuge C-Dur KV 394 (383a); Sonate Nr. 11 A-Dur KV 331 (300i); Rondo a-Moll KV 511 – ohne Unterbrechung. Der Anfang langsam und leise, dann crescendo zum fortissimo, wieder diminuendo, eine Dynamik und Klangfarbe, die überirdisch waren, einfach „mozärtlich“.

Präludium und Fuge waren 1782 komponiert, wie im „Wohltemperierten Klavier“ bei Bach. Die Tonarten wechseln, eine Hand markiert starre Achteloktaven, die andere lässt Skalen von Sechzehntel-Triolen abwärts fließen, löst sich dann völlig in Arpeggien auf. Sokolov sitzt aufrecht und ruhig, die Finger hüpfen über die Tasten, das Stück ist weder pianistisch bequem noch einfach gesetzt. Die Übergriffe der Hände sind sensationell – der junge Mozart muss von Armen mit „Überlänge“ ausgegangen sein!

Dann die Sonate, ein heiteres Spielstück, Spiegelbild seiner Zeit, atmet den Mannheimer Geist, die Atmosphäre von künstlerischer Kultur, Leichtsinn und Lebensgenuss. Übrigens sind in der Partitur keine dynamischen Kontraste vorgegeben, die Musik läuft also einfach durch. „Musik ist immer subjektiv“ – so Grigory Sokolov und gestaltet die Sonate in feinsten Differenzierungen der Klangfarbe durch Anschlag und Pedalisierung bis zum 3. Satz, dem Allegretto „Alla Turca“. Man möchte mitsingen, aber das Thema kommt mit leisen Schritten, es ist kein einfaches Divertissement. „Die Kunst ist ein Paralleluniversum zur Wirklichkeit. Kunst ist etwas Freies, das drinnen ist.“ So darf man ohne „political correctness“ an die Türkenkriege der Zeit denken, die dramatischen Kontraste verweisen auf den Prinzen Eugen. Alles ist einfach eine Lust, mit Trillern verziert, die von der linken Hand übernommen werden. Sie erfordern vom Pianisten eine beträchtliche Finesse und Einfühlsamkeit: „Man wohnt in seiner eigenen Welt und seiner eigenen Zeit.“

Das Rondo schließt den musikalischen Mozart-Kreis. Ein schwermütiger Zauber zwischen Moll und Dur, ein Schillern zwischen Hell und Dunkel umfängt das Stück. Die Themen greifen ohne Überleitung ineinander, einzelne Töne werden so ausgekostet, dass die Obertöne im Ohr bleiben. „Der Harmoniker Mozart greift hier weit in die Romantik voraus.“

Sie wird uns nach der Pause mit Johannes Brahms (1833 – 1897) geboten. „Es ist unmöglich, über Musik zu sprechen.“ Ludwig Wittgenstein (1889 – 1951): „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“. Die Musik muss sich nicht mit Begriffen und ihren Worten herumschlagen, sie hat ihre Noten: Und die kann man spielen!

Johannes Brahms Sechs Klavierstücke op. 118 und vier Klavierstücke op. 119. Komponiert und wohl eher zusammengefasst wurden diese 1893. Brahms empfand sein Ende nahen und begann, seine persönlichen Angelegenheiten und die liegengebliebenen kompositorischen Arbeiten systematisch zu ordnen und zu einem Abschluss zu bringen. Wann die Kompositionen tatsächlich entstanden sind, ist bei den meisten ungewiss. Einiges ist sicher Clara Schumann gewidmet, was für die Baden-Badener einen besonderen Bezug hat. Seine letzten Sommer verbrachte Brahms in Bad Ischl, leicht und luftig sind seine Klavierstücke aus der Zeit. Sokolov zur Biographie eines Werkes: „Man sollte diesen Aspekt nicht überschätzen. Die äußere Welt ist interessant, aber auf die innere Welt kommt es an. Eine Widmung ist noch kein Programm.“

Der Pianist „kommt“ nach der Pause, und im Dunkel meint man, es sei Johannes Brahms „himself“! Der Beginn, Anschläge eines „Tastenlöwen“. Das Gefühl sagt, jetzt wird „nachgeschöpft“. Man wird mit- und hin- und hergerissen von der Wucht der Musik. Die Hände fliegen wieder, dieses Mal die rechte Hand nach links. Die Dynamik des Spiels zieht in den Bann. Die Frage: „Lieben Sie Brahms“ kann man nur mit „Ja“ beantworten. Aber eben nur diesen speziellen, von Grigory Sokolov dargebrachten. „Ein Künstler sollte das Publikum in seine Welt mitschleppen.“ Diesen persönlichen Anspruch hat er erfüllt. Die einzelnen Klavierstücke beinhalten alle Stimmungen, Gedanken und Gefühle. Sie kommen aus dem weit offenen Flügel hinunter in das Dunkel des Saales und treffen sicher mitten ins Herz des Zuhörers. Und das alles konnte dieser Ausnahme-Pianist, ruhig am Flügel sitzend und seine Finger zaubern lassen. Und man darf ihn sicher als einen der Größten bezeichnen!

Und dann gab es reichen Lohn für das bereits Genossene: sechs Zugaben, eigentlich ein ganzes Konzertprogramm. Der Beginn mit Franz Schubert „Impromptu op. 142, No. 2“ - als wäre die musikalische Seligkeit noch nicht erreicht. Dann Rameau „Les Sauvages“, Brahms „Intermezzo op.117 No.2“, dann wieder Rameau mit „Le Rappel des oiseaux“. Ein russischer Abschluss, nach dem man auch lechzte: Rachmaninoff „Prélude op. 32 No.12“ und Scriabin, „Prélude op. 11 No.4“.

So durfte man erfüllt gehen und wusste, Grigory Sokolov hat recht: „Interessant ist die Verbindung zur Kunst. Und zum Leben. Sie bekommen diese Energie und verwandeln sich oder nicht.“

Fazit: er hat seine Zuhörer verwandelt!

 

(c) DG / Selpkova

Inga Dönges, 11.11.2019

 

 

 

Orphée et Eurydice

Eine Ballettoper von John Neumeier

 

Eröffnung am 27.09 2019

 

Dmitry Korchak ist Orphée - diesem Tenor gebührt die Palme in Form eines OPERNFREUND-Sterns

 

Christoph Willibald Gluck (1714 – 1787) gilt in der Musikwelt als der Reformer der italienischen Oper. „Ich bemühe mich, mit einer edlen, gefühlvollen und natürlichen Melodie, mit einer genauen, dem Tonfall jeder Sprache und dem Charakter jeden Volkes angepassten Deklamation eine Musik zu schaffen, die allen Nationen eigen sein kann und die lächerliche Unterscheidung von nationalen Musikarten zum Verschwinden bringen muss.“
Seine große Leistung ist, die europäischen Formen der ernsten Oper des 18 Jahrhunderts, die „Opera seria“ und die „Tragédié lyrique“ zusammenzufassen. Also eine Reform als Synthese, wie es Ulrich Schreiber nennt. Ballett-Oper nennt John Neumeier seine Sicht und Interpretation, sein „Gesamtkunstwerk“. Aber wie hält er es mit der grundlegenden Frage, die Oper von altersher bis heute bewegt: „prima la musica e poi le parole - ossia il balletto? Natürlich ist das gesamte Kunstwerk mehr als die Summe seiner Teile.
Er wählt die französische Fassung von 1774, die die Wiener Fassung von 1762 im Wesentlichen enthält. Zugefügt sind lange Ballettszenen. Die mythologische Handlung ist bekannt. Orphée trauert um Eurydice, die nach einem Schlangenbiss starb. Seine Einsamkeit und innere Leere treiben ihn an den Rand des Wahnsinns bis hin zum Wunsch des Selbstmordes. Da erscheint L‘Amour, der Gott reiner Liebe, und verspricht ihm, er könne Eurydice aus dem Hades zurückholen - unter einer Bedingung: Er darf sie nicht anschauen und ihr den Grund dafür nicht sagen.

Das ist John Neumeier nicht genug und er findet eine Rahmenhandlung, um so den Mythos in die Gegenwart zu transportieren. Der Mythos aber ist zeitlos gültig! Es reicht nicht, die „dramatis personae“ in heutige Straßenbekleidung zu stecken - und schon sind sie in der Gegenwart.

Während der heiteren Ouvertüre angesichts des Todes (Toscanini strich diese bei seinem Dirigat) spielt die moderne Geschichte im Ballettsaal. Der Choreograf Orphée, assistiert von L’Amour, probt ein Ballett vor Arnold Böcklins Gemälde „Die Toteninsel“. Die Primaballerina Eurydice verspätet sich, zankt mit dem Choreographen, ohrfeigt ihn schließlich und stürmt von der Bühne. Dann ein großer Knall: sie rast mit ihrem Kleinwagen gegen einen Baum und wird dabei getötet. Das Handy von Orphée übermittelt die Todesnachricht, und er macht sich auf den Weg zur Toteninsel.
Düster das Licht, verspiegelte Wände mit Dreiecksgrundflächen, die von Hand verschoben werden und dazwischen das Corps de ballet, der Tanz der Grazien, der Furien, des Cerberus. der Schatten, der seligen Geister und das tanzende Double von Orphée et Eurydice Anna Laudere und Edvin Revazov. Gehüllt in fließende Gewänder wogen alle über die Bühne – aber der Gesang behält die Oberhand und leuchtet über die ebenmäßige Inszenierung mit ihren schönen Lichteffekten. Eigentlich stellt man sich den Hades chaotischer vor, zumal das Boot umgekippt über dem Bühnenraum schwebt. Es gibt also kein Zurück.
Es gab 1975 schon eine Tanz-Oper „Orpheus und Eurydike“, ein Todesreigen von Pina Bausch in Wuppertal mit ihrem Hausensemble. Sie verzichtete auf die Ouvertüre und stellte die Arie „Ach, ich habe sie verloren“ an den Anfang dieser Totenmesse. 1992 wurde dieses Werk aus dem Wuppertaler Archiv von Gerard Mortier in das Pariser Palais Garnier geholt und ist im Repertoire der Pariser Oper.

Die große Dramatik, wie die einer Todesfuge, liegt hier bei John Neumeiers Deutung in der Darstellung und Sangeskunst von Dmitry Korchak. Solch einen Tenor hat man als Orphée noch nicht gehört. Er verkörpert mit Stimme und Herz Orphée und singt so die eigentliche Reform der Oper.

In Wien gab die Titelpartie 1762 noch ein Kastrat, in Paris ein Tenor mehr männlicher Ausprägung. Dmitry Korchak verfügt über eine umfangreiche Tessitura. Diese Partie liegt sehr hoch, und er singt hell, die Vokale leuchten, die Koloraturen sind im Legato gebunden. Der Kopfstimme gelingt das Piano zur echten Schwellfähigkeit, die den männlichen Klang auch in der sicheren und metallischen Höhe erreicht. Die Farben wechseln, und man hört einen lirico-spinto Tenor. Schon ist es Gluck „at it’s best“! Also eine echte Tenor Premiere des Orphée! Das konnte es 1774 noch nicht geben.
Seine Kraft reichte spielend für die ganze Oper, war er doch auf der Bühne stets präsent. Er wird dem authentischen Gluck-Ausspruch an seinen Tenor gerecht, die dreimaligen Eurydice-Rufe im ersten Chor nicht nur zu singen: „sondern schreien Sie ganz einfach so schmerzvoll, als ob man Ihnen ein Bein absäge, und wenn sie das können, dann gestalten sie diesen Schmerz innerlich, moralisch und von Herzen kommend!“. Korchak musste nicht „sparen“, um die Kraft für die letzte, so berührender Arie „Ach, ich habe sie verloren“ zu halten.
Er wurde 1979 in Moskau geboren, studierte dort Gesang und Dirigieren, gewannen bald erfolgreich Wettbewerbe und sang an internationalen Opernhäusern. Seit 2017/18 ist er erster Gastdirigent an der Oper und dem Ballett-Theater von Nowosibirsk und hat dort sein eigenes Festival. Für Baden-Baden eine große Entdeckung.

Eurydice gab Arianna Vendittelli anrührend mit lyrischem Sopran. L'Amour war Marie-Sophie Pollak mit frischem, leuchtenden Sopran, ihrer Hosenrolle entsprechend. Sie spendet Orphée den Trost, nachdem er Eurydice zum zweiten Mal verloren hat. Es gibt kein „Happy end“, Orphée bleibt die Liebe in seiner Kunst, in seiner Choreographie erhalten. So entgeht die Oper dem Dilemma des „lieto fine“, das Gluck noch dem Geschmack seiner Zeit zugestehen musste.

Der Chor war das Vocalensemble Rastatt, das seine Aufgabe im Graben souverän löste. Das Freiburger Barockorchester begleitete, schob sich nicht übertönend in den Vordergrund, vor allem die Flöte blies ergreifend schöne Soli in bester Legato-Manier. Dirigent war Alessandro De Marchi, der etwas unentschlossen in den eigentlich unterschiedlichen Tempi blieb. So fehlten Elan und Kontraste, was auch die Eindrücke des Corps de ballet betraf. Mehr Dramatik gab es in der Partitur, war aber kaum zu hören. Das Publikum dankte mit stehenden Ovationen, war es doch eine eingefleischte Neumeier-Gemeinde
Ein Dank an John Neumeier, der vor 20 Jahren mit dem Intendanten Andreas Mölich-Zebhauser das Festspielhaus vor dem Untergang gerettet hatte, seine Treue hielt bis zum heutigen Beginn der neuen Intendanz von Benedikt Stampa, der die Meriten dieser Vergangenheit bewahren und neue Glanzlichter hinzufügen möge.

 

Inga Dönges 29.9.2019

Copyrights Kiran West.

 

 

 

 

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