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LE PRÈ AUX CLERCS
von Ferdinand Hérold
am 26.10. 2015
Der Wald passt: Am Tage fährt man durch die herbstlich flammende Parklandschaft Irlands, am Abend stehen bunt belaubte Bäume auf der Bühne des National Opera House in Wexford. Wieder ist Festivalzeit im Südosten der Insel, und der seit zehn Jahren amtierende künstlerische Leiter des Wexford Opera Festivals, David Agler, hat in diesem Jahr Ferdinand Hérolds „Le Pré aux clercs“ auf den Spielplan gesetzt. Die Inszenierung des französischen Regisseurs Éric Ruf war bereits im April an der Pariser Opéra comique zu sehen – eine Zusammenarbeit mit der äußerst verdienstvollen Stiftung Palazzetto Bru Zane Venezia, die sich der Entdeckung vergessener französischer Musik widmet, und zwar der „musique romantique“. Drei Millionen Euro jährlich stellt Madame Nicole Bru, angeblich eine der zehn reichsten Frauen Frankreichs, für Forschung und Praxis zur Verfügung.
Wexford profitiert davon: Im nächsten Jahr wird Felicièn Davids völlig vergessene Oper „Herculanum“ aufgeführt – die bereits in einer CD der Stiftung Bru Zane vorliegt. „Le Pré aux clercs“ war eine der Opern, die Festivalgründer Tom Walsh noch auf seiner Wunschliste hatte, als er 1988 starb. Bis zum Zweiten Weltkrieg mit über 1600 Aufführungen eines der erfolgreichsten seiner Gattung, verschwand das auch in Deutschland („Die Schreiberwiese“) beliebte Werk komplett von den Bühnen.
Ob von der Pariser und Wexforder Wiederbelebung eine nachhaltige Wirkung ausgeht, bleibt dahingestellt: Die engen Finanzkorsetts der Opernhäuser schnüren die Luft für solche exotischen Produktionen immer dramatischer ab. Und im Lande des musikalischen Tiefsinns kennt die „heitere Muse“ nur wenige Lobbyisten. Dabei zeichnet Hérolds größten Erfolg, uraufgeführt am 15. Dezember 1832 wenigen Wochen vor seinem Tod, eher eine von mildem Lächeln begleitete Melancholie aus: Die Liebe des „hohen“ Paares – Isabelle, Dame am Hof der Königin Marguerite de Valois, und Baron de Mergy, Gesandter des Königs von Navarra – ist gestört durch den Willen des Königs: Isabelle, eine Hugenottin, soll den Comte des Comminges, einen Katholiken, heiraten, um den Frieden zwischen den Konfessionen zu fördern.
Das „niedere“ Paar hat es einfacher: Girot, Wirt der für alle möglichen Zwecke dienenden Restauration „Le Pré aux clercs“, und die junge Nicette steuern unverdrossen auf ihre Vermählung zu, nur behelligt durch die Kabalen der Herrschaften. Als Strippenzieherin im Hintergrund greift Königin Marguerite durch: Sie lässt die Liebesleute heimlich heiraten. Mergy tötet den aufbrausenden Comminges im Duell. Für komische Szenen sorgt der italienische Tausendsassa Cantarelli.
Was die unterhaltungsbedürftige Pariser Mittelschicht der Zeit des „Bürgerkönigs“ Louis-Philippe begeisterte, wirkt heute kaum mehr erhellend oder faszinierend – wenn man nicht zwischen den Zeilen des zur Harmlosigkeit verdammten Librettos François-Antoine-Eugène de Planards zu lesen versteht. Behutsam angedeutet kommen da die Probleme der Zeit in historischem Gewand zum Ausdruck: Der nur mühevoll unterdrückte Gegensatz der Glaubensrichtungen – das Stück spielt wie Meyerbeer „Les Huguenots“ zur Zeit der französischen Glaubenskriege –, das erstarkende Selbstbewusstsein der Frauen, die Willkür der Träger staatlicher Gewalt, repräsentiert durch die rüden Soldaten, deren Chorauftritt Hérold mit einem wunderbar melodiösen, aber auch höhnisch lesbaren Galopp unterlegt.
Vielleicht hätte Hérolds Oper eine Chance, wenn ein Regisseur die Nadeln aus dem Samtkissen ziehen würde. Éric Ruf dagegen verlässt sich auf bewährtes und damit eben nur biederes Handwerk. Nett bewegte Chorauftritte, die überdrüssigen Übertreibungen bei den „komischen“ Figuren wie Cantarelli, den überzogenen Tonfall der „komischen Alten“ für die eigentlich kluge, zupackende Königin. So wird das Stück zu einer schal gewordenen Unterhaltung für die Mittelklasse des 21. Jahrhunderts. Eine nette Turbulenz, mehr nicht. Ruf schuf auch die Bühne, stimmungsvoll, aber nicht bedeutsam. Kostümbildner Renato Bianchi steckt die Landleute in gedeckte Farben, schneidert in Weiß für den Guten, in Schwarz für den Bösen und lässt die komischen Figuren reichlich bunt auftreten. Auch hier wohlfeiler Vordergrund für eine feinsinnige Komödie.
Immerhin hat Hérold mit Jean-Luc Tingaud einen engagierten Anwalt. Der französische Dirigent, der mit Aubers „Manon Lescaut“ 2002 in Wexford debütiert hatte, hält die Musik transparent und lichtvoll, kann aber auch fröhlich-beherzt zugreifen. Er entdeckt die unverkennbaren Spuren Rossinis, aber auch die sanften Lyrismen eines Adolphe Adam. Er hat das Händchen für den elastischen Rhythmus, aber auch für die wohldosierten dramatisch-chromatischen Eintrübungen, die Hérold raffiniert einsetzt, ohne seine Zuhörer emotional zu sehr anzugehen – das war im unterhaltenden Genre (allzu) verpönt. Die Musik ist elegant und einfach, auf schwebende Weise raffiniert, mit sanft-diskreter Melancholie verschleiert: Wer die Ohren von den drastischen Mitteln der Spätromantik reinigt, wird sein Vergnügen finden. Der Beginn der Ouvertüre zum Beispiel vermittelt energische Dynamik, das zweite Thema ist eine lyrische Klarinetten-Elegie. Dann kommt der Rhythmus zu seinem Recht – und ein fulminantes Crescendo stattet Meister Rossini Reverenz ab.
Vokal fordert Hérold von den Solisten Anspruchsvolles: Leichte Beweglichkeit und lyrische Intensität, federleichte Staccati und grazile Bögen. Am schönsten profiliert sich im Wexforder Ensemble Magali Simard-Galdès als Nicette mit leichtfüßigen Koloraturen, einem hellen, aber nie engen Timbre und einer unverstellt luftigen, aber nie dünnen Tonemission. Marie Lenormand hat als Marguerite de Valois schon in Paris bewundernde Kritiken erhalten. Wenn sie von der Regie nicht gerade zum Forcieren angehalten wird, zeigt sie einen substanzvollen, schlanken Mezzo, der ansprechend und gewandt kolorieren kann.
Marie-Ève Munger, in der Pariser Aufführungsserie hochgelobt, wiederholt ihren Erfolg als Isabelle de Montal in Wexford; allerdings könnten die metallisch-dünnen Töne ihres Sopran in der einst berühmten Romance „Souvenirs du jeune âge“ im ersten Akt geschmeidigere Fülle vertragen; auch die für die Psychologe der Figur wichtige Arie „Jours de mon enfance“ im zweiten Akt wäre mit kontrollierterem Vibrato überzeugender. Im Piano und in der messa di voce zeigt Munger, dass sie die stilistischen Mittel für die Partie durchaus beherrscht.
Als Mergy hat der maltesische Tenor Nico Darmanin eine heikle Aufgabe: In seiner Auftrittsarie „O ma tendre amie“ muss er nicht nur zwei Mal bis zum c und mehrfach zum b aufsteigen, sondern hat legati in der Höhe zu singen, in denen ihm die apart-einfache Orchesterbegleitung keine Deckung bietet. Darmanin, der 2014 in Pesaro in „Il Viaggio a Reims“ zu hören war, überzeugt mit einer kernigen Mittellage, muss aber in der Höhe zu viel Druck einsetzen, um die Linie zu halten.Dominique Cȏté soll den aufbrausenden Charakter des „bösen“ Comminges mit möglichst viel Übertreibung darstellen: klar, dass dieses Konzept der Figur auf die Stimme nicht ohne Nebenwirkungen bleibt. Ein chevaleresker Fiesling mit düsteren Zwischentönen wäre überzeugender als ein grell polternder Schurke. Das satte Timbre des kanadischen Baritons gäbe diese Differenzierungen durchaus her.
Tomislav Lavoie (Girot) und Eric Huchet (Cantarelli) sind auf die üblichen Typisierung festgelegt und entledigen sich ihrer Aufgabe mit Charme und rhetorischem Geschick. Errol Girdlestones Chor ist präzise und präsent; das Orchester des Wexford Festival reaktionsschnell und mit dem französischen Idiom vertraut. Dass es zum Beginn des zweiten Akts mit dem wenig inspirierten Violinsolo Unstimmigkeiten gab, blieb eine verunglückte Ausnahme. Bleibt jetzt zu wünschen, dass „Le Pré aux clercs“ einen entdeckungsfreudigen Regisseur fände – so wie etwa Helmut Polixa vor zehn Jahren in Gießen die Naivität von Hérolds „Zampa oder die Marmorbraut“ mit aparter Ironie gebrochen hat, ohne sich durch szenische Gewalt an der fragilen Konstruktion zu versündigen.
Werner Häußner 28.10.15
Besonderer Dank an MERKER-online (Wien)
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