Inmitten der Deutschen Bucht, 60 km vom nächsten Festland entfernt!
Es war keine geringe Überraschung, auf Helgoland plötzlich unter der Überschrift „Helgoland Klassik Open Air“ die Ankündigung einer Richard-Wagner-Aufführung zu lesen. Die einsam mitten in der Deutschen Bucht gelegene Nordseeinsel hatte zwar einst eine beachtliche Theatertradition, die in der Gründung eines kleinen „Königlichen Hoftheaters“ durch den britischen Gouverneur Henry Berkeley Fitzhardinge Maxse (1832-1883) und seine Ehefrau, die Wiener Schauspielerin Auguste Rudloff (1836-1915), gipfelte. Doch davon blieb nach der Totalzerstörung in Folge des Zweiten Weltkriegs wenig übrig. Beim Wiederaufbau entstand kein Theater-Neubau, und der wieder einsetzende Fremdenverkehr setzte vor allem auf Tagestouristen, die nachmittags wieder abreisten. Einheimische und Übernachtungsgäste mussten sich bis vor kurzem mit seltenen Bühnen-Gastspielen zufrieden geben. Gastierende Musikerinnen und Musiker kamen und kommen bislang vor allem aus dem Bereich Rock und Pop.
Nun also, so die Ankündigung, würden „Solisten der Bayreuther Festspiele“ bei freiem Eintritt auf dem Rathausplatz den 1. Akt aus Richard Wagners Musikdrama „Die Walküre“ aufführen – nicht mit Orchester, sondern am Klavier begleitet. Skepsis scheint geboten, zumal nach einer Woche mit Starkregen und stürmischen Böen, und angesichts der kleinen Bühne, die Mikrofone verlangt und mit einem schlichten E-Piano auskommen muss. Eigentlich wäre da trotz ihrer bescheidenen Dimensionen die Nordseehalle der sicherere und angemessenere Schauplatz; leider bleibt diese aber wegen der Corona-Pandemie weiterhin geschlossen. Und, so die Befürchtung, würden wir vielleicht ergrauten Herrschaften begegnen, die mit dem Ruhm einer einstigen Bayreuther Nebenrolle ihre nachlassenden stimmlichen Fähigkeiten zu kompensieren suchen und sich mühsam an einem holprig gespielten Klavierauszug entlang hangeln? Stattdessen erleben wir ein ambitioniertes junges Sängertrio, das von einer versierten Korrepetitorin sicher durch den vielsagenden Tonsatz geleitet wird und 70 Minuten lang zu fesseln weiß.
Mira Teofilova, gelernte Konzertpianistin, kann auf jahrzehntelange Erfahrung als Korrepetitorin zurückblicken. Wichtige Stationen ihrer Tätigkeit waren die Staatsoper Sofia, die Salzburger Festspiele, die Tiroler Festspiele in Erl, das Schleswig Holstein-Festival und ihr Lehrauftrag an der Musikhochschule Lübeck. Aus dem Helgoländer E-Piano holt sie erstaunlich viele Ausdrucksnuancen heraus und beweist gleichzeitig ein eminentes Gespür für den Duktus der Musik. Daniel Schliewa (Jg. 1993), Tenor, ist Absolvent der Musikhochschule Lübeck, und ab der kommenden Spielzeit Ensemblemitglied am Theater Vorpommern. Als Initiator des Programms lässt er es sich nicht nehmen, eine angemessen kurze Einführung zum Verständnis zu geben; ein Programmheft gibt es nicht, und neben eingefleischten Wagnerianern dürften im Publikum ja auch einige Neugierige sitzen. Annika Egert (Jg. 1995), Sopran, kam über den Bayerischen Landesjugendchor und die Berufsfachschule für Musik in Krumbach zur Gesangsausbildung bei Iris Vermillion. Laurence Kalaidjian (Jg. 1995), studierte an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg und gastierte u.a. an den Theatern in Lübeck und Kiel. Alle Drei überzeugen nicht nur mit ihrem stimmlichen Potential, sondern auch durch deutliche Artikulation, bewusste Phrasierung und psychologisch sensible Rollengestaltung, die über die rein konzertante Dimension hinausgeht.
Die schlichte, aber von Veranstaltungs-Manager Andreas Strutz geschickt gestaffelte Bühne erlaubt die szenisch notwendigen Auf- und Abgänge; Trinkhorn und zwei Schwerter reichen als wichtigste Requisiten. Dass Schliewa als Siegmund sein Schwert Nothung mit aller Kraft aus dem vordersten Blumenbouquet zieht, wirkt wie ein sympathisches Augenzwinkern, und auch Kalaidjinas Erscheinen beim Schlussapplaus amüsiert die Zuschauer: Hunding erscheint mit einem echten Hund als Totemtier seiner Sippe im Arm. Entscheidend aber ist die Plausibilität der szenischen Situation. Dass Sieglinde als Frau sofort zwischen zwei Männern steht, wird nicht nur durch die Bühnenposition deutlich, sondern auch durch die passende Mimik und Gestik, die gerade an den Stellen, an denen der Dialog aussetzt und nur noch die Musik spricht, ihre Wirkung entfaltet. Und so fühlt man sich als Zuhörer eingeladen, das zugrundeliegende Drama zu erfassen: Siegmund und Hunding sind gefangen im verhängnisvollen Kreislauf der Rache; in Hundings und Sieglindes Ehe waltet die Gewalt des Patriarchats; Sieglinde und Siegmund wiederum sind traumatisiert durch den Verlust von Eltern und Geschwister. Wer nur einigermaßen aufmerksam in die Welt blickt, weiß, dass derlei Konstellationen alles andere als vorbei sind. Und so freut man sich aufrichtig, dass Siegmund und Sieglinde am Ende des Aktes zusammenfinden – und weiß doch um das Trügerische dieses scheinbar die Wunden heilenden Glückes.
Glücklicherweise hält auch das Wetter. Es bleibt trocken, auch wenn es allmählich kühl wird. Nur wenige Plätze im Publikum sind frei geblieben, nur eine Handvoll Zuschauer gehen während der Vorstellung, die anderen, darunter einige Kinder, folgen dem Geschehen aufmerksam, und selbst vorbeikommende Passanten verstummen in der Regel rücksichtsvoll. Der bei anderen Gelegenheiten eher laute Rathausplatz entpuppt sich als Ort der Konzentration. Richard Wagner wäre wohl zufrieden mit dem fernen Abglanz seiner Festspiele zu Füßen des roten Sandsteinfelsens in der Deutschen Bucht. Nicht notwendig gewesen wären bei der Ernsthaftigkeit der ganzen Veranstaltung der kleine Etikettenschwindel mit den „Bayreuther Solisten“. Von den Beteiligten war einzig Daniel Schliewa Stipendiat der Festspiele, und er wird im Sommer in Bayreuth auch an der Aufführung von Siegfried Wagners „Friedensengel“ auf der Kulturbühne Reichshof mitwirken. Zum zweiten hätte die insgesamt nicht unsensible agierende Tontechnik die Sänger zugunsten des Klaviers stärker dämpfen müssen, denn der sinfonische und zugleich dichterische Anspruch von Wagners Orchestersatz sprengt natürlich das übliche Klischee von Melodie und Begleitung, mit dem man bei Veranstaltungen gewöhnlich auskommt. Insgesamt macht die Aufführung Lust auf eine Fortsetzung: Passen nicht 2. und 3. Akt der „Walküre“ ausgezeichnet an und auf den großen roten Felsen?
Andreas Hauff, 18.8.2021
Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online (Wien)
Foto: Andreas Strutz