MUSIKTHEATER IM REVIER - BALLETT
Ballettdirektorin: Bridget Breiner
ROMEO UND JULIA
Premiere am 17.2.2017
Neoklassischer Tanz in Eleganz und Schönheit
Das Ballett in der neoklassischen Deutung von Bridget Breiner fängt erst einmal musiklos an. Textfragmente kommen aus allen Lautsprechern im 360 Grad Sound. Man hört höchst unverständlich in unterschiedlichen Sprachen (Versteckter Hinweis auf Deutschlands Asylproblematik ?) Teile des Prologs des original Shakespeare-Textes. Ähnlich beginnt nach der Pause auch der zweite Akt; allerdings bleibt man hier im englischen Original. Ich persönlich fand es weder erbauend noch erhellend, sondern eher als unnötige Verlängerung der Aufführung. Aber was zählt ist ja der Tanz. Und hier muß man eine große Lanze für das kleine nur aus 14 Tänzerinnen und Tänzern bestehende Ballett-Ensemble brechen. Sowohl die größeren Ensembles, auch die grandiosen Pas de Deux haben internationales Niveau.
Die Kostüme (Jürgen Kirner auch für die Bühne verantwortlich) bestehen bei den Jugendlichen anfangs aus Lederanzügen und Kampfmasken, eine Mischung aus Boxer-, Eishockey und Spartaner-Helm; gekämpft wird mit schlichten langen Stöcken. Die Adelsvertreter tragen historisierend Kostüme.
Francesca Berruto (Julia) und Ledian Soto (Romeo) tanzen fast überirdisch gut mit der zu erwartenden Leidenschaft und ausreichend romantischem Aplomp - vor allem im letzten besonders ergreifenden Akt. Louiz Rodrigues (Mercutio) und Valentin Juteau (Tybalt), sowie Tessa Vanheusden (Lady Capulet) überzeugen auf ganzer Linie; nicht zu vergessen Rita Duclos (Zofe). Bridgett Zehr (hinzuerfundenes Schattenwesen aus dem Totenreich) bereichert im Sinne des klassischen Chores die Szenen. Toll Paul Calderone als Pater Lorenzo.
Die geniale Musik von Prokofiev - vorzüglich von Rasmus Baumann und der Neuen Philharmonie Westfalen umgesetzt - liefert die passend mitreißende Atmosphäre für eine gute Gesamtchoreografie, die überwiegend in einer ziemlichen Dunkel- bis Schattenwelt auf sehr reduzierter Bühne, sich abspielt.
Fazit: Ein gut durchdachtes und intelligent gestaltetes Handlungsballett, welches fern aller überflüssiger Kostümorgiastik, die wir sonst an großen Häusern erleben, den Kern der Geschichte schon fast intim kammermusikalisch präsentiert.
Ein bemerkenswerter Abend. Lohnende Anreise auch für Ballettfreunde aus dem weiteren NRW-Umfeld - besonders für die Düsseldorf/Duisburger , die ja immer noch auf jedes Handlungsballett an der heimischen Bühne verzichten müssen. Auf nach Gelsenkirchen ins MIR. Es lohnt sich ;-)
Alviano Salvago 19.2.2018
Bilder (c) Costin Radu
Premiere: 25.November 2017
Besuchte Vorstellung: 2. Dezember 2017
Einen hochkarätigen Ballett-Mix bietet das Programm „Old, New, Borrowed, Blue“, das jetzt an Bridget Breiners Gelsenkirchener „Ballett im Revier“ herauskam. Leider kommt die Musik nur aus der Konserve, doch auf der Bühne ist ein starker Tanzabend zu erleben.
David Dawsons „A Sweet Spell Of Oblivion“ zu Präludien aus Bachs „Wohltemperierten Klavier“ kam hier schon 2016 heraus, ist also das alte Stück. Ganz aus dem Geist der Musik heraus entwickelt Dawson für das siebenköpfige Ensemble eine Fülle von Szenen in wechselnden Besetzungen. Sanft und leicht gleiten die die Tänzerinnen und Tänzer in geschmeidigen Bewegungen dahin.
In gewisser Weise ist dieser Abend auch eine Hommage an das Stuttgarter Ballett, denn in der Biographie der drei weiteren Choreografen des Abends spielt Stuttgart eine wichtige Rolle: Uwe Scholz wurde an der John-Cranko-Schule ausgebildet, Bridget Breiner und Jyri Kilian waren als Tänzer in Stuttgart engagiert und entwickelten dort ebenso wie Scholz ihre ersten Choreografien.
Zu Lebzeiten wurde der 2004 im Alter von 45 Jahren verstorbene Uwe Scholz gerne mit George Balanchine verglichen und brachte über 100 eigene Ballette heraus. Heute haben Aufführungen seiner Werke aber Seltenheitswert, so dass man gespannt auf die Wiederbegegnung mit einer Scholz-Choreografie war. Gezeigt wird in Gelsenkirchen ein Ausschnitt aus „Jeunehomme – Klavierkonzert“, einem Stück das 1986 in der Ausstattung von Karl Lagerfeld in Monte Carlo herauskam.
In Gelsenkirchen ist der 2. Satz in einer späteren Fassung zu sehen, zu der Scholz selbst die Ausstattung entwarf. Die strenge Eleganz und die hohe Musikalität dieses Pas de deux begeistern. Lucia Solari und Carlos Contreras tanzen mit großer Perfektion. Wunderbar wie Scholz hier die Solistin in den Mittelpunkt stellt und ihr Werben um den Mann, die Momente der Annäherung, des Festhaltens und wieder Ausbrechens in Tanz umsetzt. Da kann man als Zuschauer nur den Kopf schütteln, dass das Werk von Uwe Scholz nicht genauso in das Repertoire der großen Compagnien eingegangen ist wie das von Balanchine.
Ist die Scholz-Choreografie das neue Stück für die Gelsenkirchener Compagnie, so ist „In Honour Of“ von Ballettchefin Bridget Breiner das geborgte Werk, denn es wurde 2014 für das lettische Nationalballett in Riga geschaffen. Breiner hat ein faszinierendes Spiel von zwei Tänzern und einer Tänzerin mit einem fahr- und drehbaren Scheinwerfer entworfen. Im Fokus der Männer und der Beleuchtung steht besonders Francesca Berruto in der starken weiblichen Hauptrolle.
Als buntes Finale gibt es „Indigo Rose“ von Jyri Kylian. Kaum zu glauben, dass der tschechische Choreograf dieses Stück aus dem Jahr 1998 im reifen Alter von 51 Jahren kreierte. Die neunköpfige Compagnie tollt hier so sportiv-verspielt über die Bühne, dass man dieses Werk eher für den Geniestreich eines Jungchoreografen halten könnte. Höchst originell ist auch der Umgang mit dem Bühnenraum, der anfangs nur durch einen diagonal gespannten Draht definiert wird, an dem schließlich ein Vorhang hereingezogen wird, hinter dem Kylian Schattenspiele entwickelt.
Ballettchefin Bridget Breiner hat hier einen tollen Tanzabend mit vier tollen Choreografien zusammengestellt: Ein sehr sehenswerter Abend.
Rudolf Hermes 3.12.2017
Bilder (c) MiR
Premiere: 20. Mai 2017
Besuchte Vorstellung: 4. Juni 2017
Ein kurzweiliger und gut gelaunter und schön anzuschauender Abend ist „Der Rest ist Tanz“ geworden, mit dem sich das Gelsenkirchener Ballett im Revier in die Sommerpause verabschiedet. Kleines Manko bei dieser Produktion ist aber, dass die Konzepte, die im Programmheft erläutert werden, auf der Bühne nicht immer so umgesetzt werden.
Bei „Daybreak“ von Pontus Lidberg zu Samuel Barbers berühmten Streichquartett wird angekündigt, man würde „zwei Universen“ erleben: Das alltägliche menschliche Leben, und als Kontrast dazu die Natur. Im Zentrum der klassisch-kraftvollen Choreographie steht dann aber doch der Mensch: Die puppenhaft grazielle Bridgett Zehr tanzt im Wechselspiel mit den Männern der Compagnie. Zum Adagio ist sie mit Alexander Zaitsev in einem innig melancholischen Pas de deux zu sehen.
Die Natur spielt auf der Bühne aber kaum einer Rolle. Neben einem rechteckigen Quadrat, in dem man sich im Wind wiegende Blätter sieht, gibt es erst im Finalsatz einen größeren Auftritt der Tänzer mit Fuchsmasken. Die Körpersprache der Tänzer unterscheidet sich hier gar nicht so groß von den menschliche Szenen, ist nur weniger synchron.
Renato Paroni de Castros „Die Architektur der Liebe“ ist laut Programmheft von den Theorien des Psychoanalytikers C.G. Jung inspiriert. Natürlich ist solch eine vertanzte Psychoanalyse kaum möglich, trotzdem gefällt dieses Stück, in dem das Verhältnis zwischen Soli und Gruppe fein ausbalanciert ist. In Erinnerung bleibt vor allem Francesca Berrutos und Jose Urrutias springlebendiger Tanz zum Thema Freude.
Das abschließende „To The Moon And Back“ von Margurite Donlon deckt sich am ehesten mit den Ausführungen im Programmheft, denn die Choreographin will einen traumwandlerischen Zustand zwischen „Wachen und Schlafen“ beschreiben. Das ist so offen formuliert, dass auf der Bühne viel Spielraum bleibt.
Die Tänzerinnen, wieder angeführt von Bridgett Zehr, tragen weiße Wuschelperücken, wodurch sie wie Afro-Albinos aussehen. Mal tanzen die Frauen auf Spitze zu ausgelassenem Irish Folk, dann die Männer in schwarzen Rücken mit kantigen Bewegungen zu Techno. Stark ist auch die Bühne von Jürgen Kirner, der korrespondierend zu den Perücken einen wuscheligen Bommel-Berg am Ende der Bühne aufgestapelt hat.
Zum Abschluss der aktuellen Tanzsaison an Rhein und Ruhr muss man feststellen das Bridget Breiner den abwechslungsreichsten Spielplan der Region bietet: Bei ihr gibt es Handlungs- und konzertante Ballette, Stücke für das große und kleine Haus sowie Produktionen für Erwachsene und für ein junges Publikum. Zudem zeigt sie neben den eigenen Arbeiten auch immer wieder Stücke von Gastchoreographen.
Rudolf Hermes 12.6.2017
Bilder (c) MiR
Premiere: 26. November 2016
Besuchte Vorstellung: 8. Dezember 2016
Bereits in der vergangen Spielzeit brachte Bridget Breiners Gelsenkirchener Ballett zur Adventszeit ein Kinder- und Jugendstück heraus. Damals war es „Alice im Wunderland“ nun folgt „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ in der Choreografie des ehemaligen Mannheimer Ballettchefs Kevin O´Day.
In 50 Minuten spielt O´Day das gesamte Märchen in konzentrierter Form ab: Gerade einmal sechs Tänzer benötigt er für die Geschichte. Hitomi Kuhara tanzt die Not des Mädchens mit expressiver und anmutiger Körpersprache. Besonders spürt man ihre existenzielle Bedrohung, nachdem sie sich in die Wärme geträumt und sich kühlende Luft zufächelt, und kurz darauf die reale Kälte spürt und zu zittern beginnt.
Wie ein Schutzengel wacht Francesca Berruto im weit-wallenden weißen Kleid als Geist der Großmutter über das Mädchen. Die bösen Straßenjungs, die das Mädchen verspotten, sind Louis Rodriguez und Carlos Contreras. Als Eisenofen und Weihnachtsbaum bringen sie auch eine Portion Komik in die Aufführung. Das teilnahmslose Großstadtpaar sind Tessa Vanheusden und Jose Urrutia.
Thomas Mikas Bühnenbild besteht aus verschiebbaren rechteckigen Säulen, die sich durch wechselnde Projektionen in eine Wand, einen Glutofen oder eine Hochhausfasse verwandeln.
Beim „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ denkt natürlich jeder Opernfan an Helmut Lachenmanns epochales Opernwerk. Natürlich kann man diese Musik nicht für ein Jugendballett verwenden. Stattdessen erklingt David Langs Chorwerk „The Little Match Girl Passion“. Das Stück wird hier von vier jungen Solisten gesungen.
Diese Musik wirkt schlicht und berührend, ist harmonisch orientiert. Gleichzeitig gibt es aber auch Parallelen zu Lachenmann, da das Zittern ebenfalls durch zittrige Silbenwiederholungen ausgedrückt ist. Auch müssen die Sänger Perkussionsinstrumente bedienen, nur eben keine Styroporblöcke, sondern Röhrenglocken, Xylophon oder Zymbeln.
Interessant ist noch zu beobachten, wie das Werk beim Zielpublikum ankommt. Die Schulklassen, die in der von mir besuchten Vorstellung sitzen, scheinen nicht alle optimal vorbereitet. Schon vor der Aufführung gibt es Kommentare wie: „Isch schwöre, Alter, isch wär lieber inner Schule, als hier im Theater!“
Dass zwischendurch immer wieder kleine Tuscheleien im Publikum entstehen, ist bei solch einer Aufführung normal, auch dass diskutiert wird, ob die Reihenfolge der Traumerscheinungen des Mädchens richtig eingehalten ist.
Problematisch ist aber die Szene nach dem Erfrierungstod des Mädchens, in der sich die anderen Personen bis auf die Unterwäsche ausziehen, um die Leiche mit ihrer Kleidung zu wärmen. Dass diese sich ausziehenden Erwachsenen von Kindern sexuell gedeutet werden und schallendes Gelächter auslösen, hätte vorhersehbar sein müssen.
Rudolf Hermes 11.12.2016
Bilder (c) MiR
Anmerkung des Herausgeber
Dinge wie das angesprochene Gelächter - ich sage dazu "dümmliches Gelächter unreifer Menschen" - die so ihre Rat- und Denklosigkeit ausdrücken, begegnet mir heutzutage leider immer öfter im Theater. Da hängt sich jemand auf > Pulikumsreaktion: Gekicher, eine Wahnsinnsszene im Schauspiel endet im Gelächter Spätpubertärer, dümmliche Zwischenrufe sind Usus geworden ohne daß sich jemand aufregt - bei Hänsel und Gretel in Rheydt wurde von Jugendlichen im Rang sogar bei der Premiere telefoniert, geredet, fotografiert und ständig gesimmst.
Ich erlebe Schülergruppen, die (in Anwesenheit des Lehrers!) in der Oper Popcorn bzw. knackende Chips essen und Walkman hören, oder Papier schnippen, weil ihnen die Musik zu langweilig ist. Aber genauso störend ist es, wenn z.B. ältere Herrschaften mitsingen bzw. summen, dämliche Mütter ihre Kleinkinder mitnehmen, die dann natürlich rumhüpfen oder Aufstehen vor Langeweile und Haus-Claqueure bei der Premiere.
Das ist Zeitgeist mittlerweile und ich möchte da niemanden ausnehmen. Was können Jugendliche auch lernen von älteren Menschen, zu spät kommend, sich rüde ihrem A.... zu den bereits Anwesenden gerichtet durch die Reihen pflügen. Wo ist heute das Ordnungspersonal? Stört das, außer dem Schreiber, überhaupt noch jemanden?
ALICE im WONDERLAND des MiR
Exemplarisches Tanztheater als grandios inszenierter, bildgewaltig rastloser Theater(alp)traum
Besuchte Vorstellung am 22.11.15
Premiere am 31.Oktober 2015
VIDEO-Trailer
Ausdrucksvoller und beeindruckender kann man sich diese Alice nicht vorstellen, Francesca Berruto ist die Idealbesetzung, sowohl tänzerisch, als auch darstellerisch. Geschminkt ist sie wie eine kindliche Stummfilmdiva in schwarzer Mädcheninternats-Kleidung mit Rüschenkragen. Allein ihr ständig suchender Blick, in dem sich alles spiegelt, ist ein Kaleidoskop der Gefühle ihrer schon fast an einen psychedelischen Drogentrip erinnernder Empfindungen - Sehnsucht, Ratlosigkeit, Überraschung, Erstaunen, Angst, Verwunderung, Freude... und noch viel mehr. Diese junge Italienerin ist ein absoluter Glücksfall fürs Gelsenkirchener Ballett; Glücksfälle dieser Art haben wir in den bisherigen Jahren unter Ballett-Chefin Bridget Breiner (die es sich auch diesmal nicht nehmen lässt, eine der Hauptrollen, die Herzkönigin, zu tanzen) des Öfteren erlebt.
Luiz Fernando Bongiovanni erzählt die Geschichte der jungen Alice durchaus werktreu nach zentralen Motiven der Wunderland-Erzählung von Lewis Carroll, wobei er gelegentlich wörtliche Buchzitate als quasi Leitmotive für die folgende Szene in ganz wunderbaren Buchstabenverzierungen an die Wand projizieren lässt. Bongiovannis fantastische Tanzsprache enthält bewusst stilistische Elemente aus allen Tanzrichtungen; da gibt es eine augenzwinkernde Hommage an Pina Bausch, aber auch klassischen Spitzentanz. Ein bezaubernder Pas de Deux (mit Valentin Juteau als variantenreiches, omnipräsentes weißen Kaninchen) ist platziert neben Ensemblewitz und Ironie, wie wir ihn pars pro toto von Ek, Kylian oder Forsythe kennen. Mit relativ wenigen Accessoires erleben wir Welten von überbordend phantastischen Traumsequenzen, eine Idee jagt die andere und wenn nach 50 Minuten die Pause angezeigt wird, sind gerade einmal deren fühlbare 15 vergangen.
Auch im zweiten knapp 45-minütigen Teil vergeht die Zeit wie im Flug, besser im Sprung, wobei jede noch so kleine Bewegung, ja Geste Sinn macht und auf die perfekt ausgesuchte Musik-Collage grandios und stimmig zugeschnitten ist. Man tanzt fast wie auf dem klassischen Vulkan - Ruhepunkte haben Seltenheitswert auf dieser fast expressionistisch zu bezeichnenden kafkaesken Reise der kleinen Alice.
Das zentrale Bühnenbild besteht aus rund dreißig Türen, die über eine schon fast bedrohlich wirkende große Rückwand auch mal verquert oder sich drehend präsentieren. Alle lassen sich öffnen und bergen je nach Szene, wie ein Adventskalender-Türchen, zauberhaft Skurriles. Bühnenbildnerin Britta Tönne hat die Szenerie ganz und unmittelbar ins das Gestühl des wandlungsfähigen Kleinen Hauses integriert; man sitzt hautnah dicht am Geschehen und manchmal wird der Zuschauer auch direkt einbezogen.
Manches wirkt schon gruselig, aber nie verstörend, wenn z.B. wie in einem Horrorstreifen Hände und Arme herausragend mitagieren, aber es gibt auch Wunderschönes wie die zauberhaften Seifenblasen oder die herausstürzenden Blechdosen, die dann wie in einem rückwärts gespulten Film auch wieder in den Schrank zurückfliegen. Verstörend wirken auch am Anfang die Eltern (Mutter / Ayako Kikuchi und Vater / Junior Demitre) die sich unter Strumpfmasken nicht identifizierbar am Kaffeetisch streitend und sich schon fast wie Roboter benehmen; Rituale des Streits perfekt in Tanzsprache und Bewegung integriert.
Überragendes hat Kostümbildnerin Ines Alda geleistet. Entsprechend der Szenerie wandeln sich die Kostüme, die in der Tee-Party des verrückten Hutmachers ihre schillernd optische Krönung finden. Überhaupt ist dies ein Szene, die - gäbe es den Tanz-Oscar - dessen würdig wäre.
Sie zählt zum Beeindruckendsten, was man je auf einer Ballettbühne gesehen hat: hier werden Tassen, Teller, Besteck und sogar hochgeworfene Gläser in einen circensischen Reise-nach-Jerusalem-Zirkel mit einbezogen. Was die Akteure da hinkriegen, ist schon kabarettreife Jonglage vom Feinsten.
Das tänzerisch hohe Niveau, wird atemlos gehalten und sie Spannung lässt nie nach. Der rasche Szenenwechsel wird auch durch den gelegentlich sehr schnellen Rhythmus z.B. einer Strauss-Polka noch forciert. Die geniale Musik-Collage des Brasilianers Eduardo Contrera ist, über die vorzügliche Tonanlage des Kleines Hauses präsentiert, ein Kernelement dieses Ballettwunder-Abends. Das tonale Repertoire reicht von Tecno-Disco-Klängen über Barockes, Avantgardistisches, Reggae-Sounds, Rock, Walzer und Opernhaftes bis hin zu vielfältigen Geräuschen und Tönen - stets perfekt passend zur jeweiligen szenischen Choreografie. Es ist fast wie der Gang über eine historisch zeitgeschichtliche Kirmes, wo an jedem Karussell ein anderes Klangbild sich dem Wanderer überstülpt.
Fazit: Was nicht nur die Solisten, sondern auch das hinreißend agierende Ensemble hier leistet, ist mit Sternen gar nicht genug bewertbar. Damit setzt sich das Ballett des Musiktheaters im Revier zumindest im Konkurrenzkampf der NRW Theater unangefochten an die Spitze. Tolleres, lebendigeres und faszinierenderes Tanztheater kann man zurzeit nirgends erleben.
Peter Bilsing 23.11.15
Bilder: Costin Radu
Post Scriptum
Liebe Eltern! Dies ist ein phantastischer Abend des choreographischen Musiktheaters, hat aber mit dem zuckersüßen Weihnachtsquark altbekannt kitschiger Walt Disney Bildwelten nun überhaupt nichts gemein. Dieses Ballett ist große Kunst - kein Kunstgewerbe! Und es ist für Kinder frühestens ab 10 Jahren überhaupt erst verständlich und rezipierbar. Auch ist es für Säuglinge geradezu freakartiger Tanzmütter, die ich letztens in der Essener Nussknacker-Premiere brüllen hörte, nun gar nichts. Aber für ernsthaft ballettinteressierte Jugendliche ist dies ein Must-go-to-Abend. Echt supercool! Bombe! Hoffentlich sieht das die Theaterleitung so und plant auch noch nach dem Januar, wenn der Rock-Horror-Hype vorbei ist, Zusatzvorstellungen ein.
DER TOD UND DIE MALERIN
Überwältigendes Tanztheaterereignis von Bridget Breiner
Wiederaufnahme Samstag 10.10.15
VIDEO
Wider des Vergessens
Selbstbildnis 1941
Am 16.April 1917 wurde Charlotte Salomon (Tochter des Chirurgen Professor Albert Salomon) in einer jüdischen Familie geboren. Sie wuchs in Berlin auf. Nach dem Selbstmord ihrer Mutter 1926, der ihr als Krankheit erklärt wurde, bis zur erneuten Heirat ihres Vaters 1930 mit einer Konzertsängerin (Paula Lindberg), übernahmen im großbürgerlichen Familienhaushalt Kindermädchen ihre Erziehung. Von 1927 an besuchte sie eine Schule für höhere Töchter in Charlottenburg. 1933, ein Jahr vor dem Abitur, brach sie die Schule ab um den antisemitischen Nazi-Terror zu entgehen. Da ihr Vater als Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges anerkannt war, wurde sie 1935 an der heutigen, als "Universität der Künste" bekannten, Hochschule aufgenommen. Zwei Jahre später, nachdem ihr bei einem dortigen Wettbewerb der erste Platz, der ihr eigentlich von der Jury zuerkannt werden sollte, aufgrund ihrer jüdischen Herkunft versagt blieb, verließ sie das Institut.
Im Januar 1939 emigrierte Charlotte Salomon nach Villefranche-sur-Mer zu ihren Großeltern, die dorthin bereits 1934 geflohen waren. Ein Jahr später besetzten deutsche Truppen Frankreich. Am 22. Juni unterschrieb Marschall Pétain einen Waffenstillstand mit Deutschland; er versprach die Auslieferung von 200.000 Juden an die Gestapo. Charlotte Salomon und ihr Großvater (ihre Großmutter hatte sich im März das Leben genommen) wurden vorübergehend interniert, kurze Zeit später jedoch wegen des hohen Alters des Großvaters wieder freigelassen.
Verzweifelt und um die Ereignisse zu verarbeiten, begann sie (auf ärztliches Anraten) erneut zu malen. Im Juni 1943 heiratete sie den österreichischen Emigranten Alexander Nagler. Nach der Besetzung Südfrankreichs durch deutsche Truppen 1943 wurden sie und ihr Mann verraten und zurück nach Deutschland in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Charlotte Salomon, im fünften Monat schwanger, wurde sofort nach ihrer Ankunft in Auschwitz ermordet. Ihr Ehemann starb an den Folgen der Haftbedingungen.
Zwischen 1940 und 1942 entstanden binnen 18 Monaten 1325 Gouachen expressionistischen Stils. Etwa 800 Blätter im Format 32,5 x 25 cm hat Charlotte Salomon ausgewählt und nummeriert. Zusammen mit erläuternden Texten und Hinweisen auf Musikstücke dokumentiert sie unter dem Titel "Leben? Oder Theater?" ihre Memoiren. Das Werk ist in seinem Aufbau einem Theaterstück mit allen seinen Bestandteilen in Akten und Szenen vergleichbar.
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Daß die Ballettdirektorin und Choreografin Bridget Breiner die Hauptrolle in dieser WA nun selber (Premierenbesetzung: Kusha Alexi) tanzt, machte den Abend zum originären Ereignis. Es ist ein Genuss der besonderen Art diese Weltklasse-Tänzerin zu erleben; hier ist jede noch so kleinste Bewegung feinster Tanzausdruck und Ballett-Kunst höchsten Ranges. Ihre tänzerische Präsenz ist geradezu überwältigend. Ob in der Bewegung von Schritten, Sprüngen oder Drehungen oder in teils statuarischer Position des Liegens oder Sitzens - alles ist von höchst ästhetischer Qualität.
Über eine legendären Primadonna des Gesangs sagte einst ein Kritiker "bevor sie den ersten Ton überhaupt gesungen hat, ist sie schon erschütternd beeindruckend". Mir geht es bei dem Tanzgenius Breiner ähnlich; sie braucht eigentlich gar nicht zu tanzen; so wie sie sitzt, liegt, die Arme streckt, anwinkelt, den Kopf dreht, aufsteht oder sich rollt - alles ist ganz großer Ausdruck, ergreifendes mitreißendes Tanztheater auf allerhöchstem Niveau.
Diese Ausnahme-Tänzerin ist ein Juwel stilisierter exemplarisch einnehmender Bewegungssprache. Ihr Ausdruck ist überwältigend in jeder Sekunde. Eine Maria Callas des modernen zeitgenössischen Tanzes - eine Ikone fürs Musiktheater im Revier. Eine Persönlichkeit, die man mit Ehrenpreisen eigentlich überhäufen müsste, und die - nach dem Deutschen Theaterpreis 2013 - nun für dieses ungeheure Stück Deutscher Vergangenheitsbewältigung bzw. Rehabilitierung vergessener Künstler eigentlich das Bundesverdienstkreuz bekommen sollte.
Michelle Dibucci hat für diese Choreografie eine meisterhafte, collagenartige Musik von hoher Qualität komponiert, wobei nicht nur klassische Melodien und Textzitate von Weber (Freischütz), Bizet (Carmen) oder Orpheus und Eurydike (Gluck) einfließen, sondern auch Live-Gesang in Chor und Solopassagen sehr treffend integriert werden. Die Klangeffekte balancieren vom großen Schlagwerk über Clusterhaftes bis hin zu durchaus Melodiösem. Eine aufregende, sich aber voll und kreativ in die Choreografie einfügende, tolle Orchestrierung bei der die Musiker der Neuen Philharmonie Westfalen unter Valtteri Rauhalammi sich glänzend aufgelegt zeigten.
Das gesamte Ensemble hier noch einmal incl. Bühnenbild, Kostümen und Videoprojektionen differenziert zu würdigen, sprengt den Rahmen dieser Nachfolgekritik. Immerhin wurde das Stück auf allen Ebenen (auch bei uns) ja in den Premierenkritiken mehr als ausführlich gewürdigt. Schön zu erleben, daß auch die Wiederaufnahme dieses Tanztheaterabends vom fachkundigen Gelsenkirchener Publikum stürmisch braviert und zurecht enthusiasmisiert bejubelt wurde.
Peter Bilsing 12.10.15
Bilder: MiR / Charlotte Salomon Foundation / Bridgetbreiner.com
P.S.
Mal wieder eine sensationelle Theaterproduktion auf einer unserer großartigen 50 landesweiten NRW-Bühnen, welche video-aufzeichnungswürdig ist, aber von unserem stets ominpräsent Landessender WDR mit all seinen Krakenarmen und Spartenprogrammen in gewohnter Ignoranz und Schlafmützenmanier übersehen wird. Leider finden weiterhin bedeutende Theaterabende unserer Landeskultur im Dunstkreis des alltäglichen lokalen Dümmlings-TVs von Koch-, Talk-, Tier- und Ratesendungen (trotz anderslautender Formulierungen im Landesrundfunkgesetz!) immer noch keinen Freiraum. Ich finde das mehr als beschämend. Vielleicht erbarmen sich ARTE oder 3-SAT ja noch dieses archivierungswürdigen Großereignisses. Die Hoffnung stirbt zuletzt...
Leider nur noch zwei weitere Termine: 18.Oktober / 20.November
Kritiken der Premiere
DER OPERNFREUND
STUTTGARTER NACHRICHTEN
DEUTSCHE BÜHNE
DER WESTEN
Premiere: 9. Mai 2015
im Kleinen Haus des MiR
Ein überzeugender Abend starken Tanztheaters
Einen starken Ballettabend zeigt Bridget Breiners „Ballett im Revier“ mit „Sweet Tragedies“. Die Ballettchefin präsentiert sich hier nicht nur als Choreographin, sondern auch als Tänzerin und hat sich mit Kevin O´Day und Marco Goecke zwei starke Gastchoreographen ans Haus geholt.
Mit der Uraufführung „With the lights“ eröffnet der Mannheimer Ballettchef Kevin O´Day den Abend. Zu dem Perkussionsstück „Dark Full Ride“ von Julia Wolfe entwickelt O´Day eine rasante Bewegungsabfolge. Arme und Beine werden in die Luft geworfen, wenn es darum geht die Energie der Musik in Bewegung umzusetzen. Manchmal hat dieses Stück in seiner Artistik auch eine Hip-Hop-Attitüde. Ayako Kikiuchi und Bridget Breiner dominieren das Geschehen, Hugo Mercier und Junior Demitre assistieren ihnen dabei oder setzen tänzerische Kontrapunkte.
In „The Tragedies Of Othello“ zeigt Bridget Breiner ihre konzentrierte Sicht auf den berühmten Shakespeare-Stoff. Den Rahmen bilden reflektierende Passagen zur Musik von Henryk Micolai Górecki, in denen Valentin Juteau einen düsteren Jago gibt oder Order R. Chacon als Othello und Rita Duclos noch einmal liebevoll ihre Beziehung aufarbeiten. Die reine Nacherzählung der Geschichte beschränkt sich auf den Mittelteil mit Musik von Pablo De Sarasate. Chacon ist ein liebevoller, aber stolzer Othello und Duclos eine anmutig-zarte Desdemona. Nora Brown tanzt eine temperamentvolle Emilia und José Urrutia gibt den Cassio als naiven Jüngling.
Zum Abschluss gibt es mit „Sweet Sweet Sweet“ einen Klassiker von Marco Goecke. Hunderte von schwarzen Luftballons bilden das Bühnenbild, in dem sich zwölf Tänzer tummeln. In seinem Materialcharakter, der dann natürlich auch die Bewegungsabläufe beeinflusst, erinnert dieses Bühnenbild an die Landschaften die Peter Pabst in Wuppertal für Pina Bausch aus Wasser, Erde oder Sand entworfen hat.
Rasante Arm- und Handbewegungen prägen dieses Stück. Viele kleine Szenen folgen hier aufeinander, bleiben ebenso vieldeutig wie faszinierend. Zum Schluss lässt Goecke erst mehrere Paare durch die Ballons tanzen, bevor dann Windmaschine das Bühnenbild aufwirbelt, Wege und Hügel entstehen lassen und die Ballons auch in den Zuschauerraum weht.
Das Publikum im kleinen Haus des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier zeigt sich begeistert von diesem Abend, besonders viel Beifall gibt es für Kevin O´Day und Marco Goecke. Auch wenn nachvollziehbar ist, dass dieser Abend aufgrund der kleinen Besetzung als Kammerballett im kleinen Haus gezeigt wird, dieses Programm könnte mit seiner Energie durchaus das große Haus ausfüllen.
Rudolf Hermes 10.5.15
Bilder: MiR
CHARLOTTE SALOMON
DER TOD UND DIE MALERIN
Uraufführungspremiere am 15.1.15
Blaue Obsessionen im Musiktheater im Revier Gelsenkirchen
Das Musiktheater im Revier Gelsenkirchen hat eine unverwechselbare Signatur: Das Blau der Schwammreliefs von Yves Klein, die Gallionsfigur der Partei der blauen Patrioten. Mit Blau tanzte, malte, sang und assoziierte jetzt das Ballett des Musiktheaters Charlotte Salomon: Der Tod und die Malerin, das am vergangenen Samstag in Gelsenkirchen seine gefeierte Uraufführung erlebte.
Die Inszenierung von Bridget Breiner reflektiert die Blau-Signatur des Musiktheaters im Revier mit einer frappierenden Tiefenschärfe. Der blau changierende Vorhang weckte Assoziation zu den filmischen Eingangsbildern von Blue Velvet von David Lynch. Umhüllt vom Yves-Klein-Blau des Hauses, war es, als ob die Obsessionen von Lynchs Blue Velvet über Kleins Spiritualität des Blaus eine direkte Linie zu den Bildern auf blauen Grund von Charlotte Salomon zögen. Widergespiegelt im taubenblauen Kleid der Charlotte als auch in der blau geränderten Jacke von Daberlohn alias Alfred Wolfsohn, signiert die Farbe Blau Charlotte Salomons Obsessionen in einem Farb-Sing-Spiel zwischen Traum und Traumata.
Es wird die Lebensgeschichte von Charlotte Salomon, einer 1917 in Berlin geborenen jüdischen Künstlerin, erzählt. Grundlage dafür sind 769 Gouachen, die sie 1941/42 in Südfrankreich bei ihren Großeltern in Erinnerung an ihre Berliner Jahre gemalt hat. Dort, wohin sie vor den Nazis emigrierte, malte sie sich mit intensiver Leidenschaftlichkeit durch ihre tragische Familiengeschichte. Es ist eine Geschichte, die von Selbstmorden der Frauen ihrer Familien frühzeitig überschattet wurde. Sie selbst stemmte sich mit lebensbejahendem Mut gegen dieses Menetekel. Allein dem Schicksal konnte sie nicht entgehen. 1943 wurde sie im KZ Auschwitz ermordet.
Es scheint im Rückblick so, als ob sie geahnt hätte, dass ihr nicht viel Zeit bleiben würde, auf eine glückliche Zukunft zu hoffen. Künstlerisch hochsensibel veranlagt, war sie im Bann des Todesschattens von Mutter, Stiefmutter und Großmutter Gefangene ihrer Gefühle und Phantasien. Als sie durch den Großvater erst spät die suizidale Wahrheit erfuhr, war sie dem Wahnsinn nahe. Möglich, dass sie sich auch gerade dann, wenn es ihr besonders schlecht ging, der Worte ihres verehrten und geliebten Gesangspädagogen ihrer Stiefmutter Alfred Wolfsohn erinnerte: Ich halte Sie für berufen, über den Durchschnitt etwas schaffen zu können.
Ihr Gouache-Zyklus „Leben? oder Theater?“ war deshalb mehr als nur ein malerischer Befreiungsakt. Dadurch, dass sie die Blätter mit Texten und Spielanweisungen versah, waren sie per se schon dramaturgisch konnotiert. Eigentlich wartete das Material, das Salomon kurz vor ihrer Verhaftung einen französischen Freund mit den Worten Heben Sie das gut auf, es ist mein ganzes Leben! übergeben konnte, nur darauf, für die Bühne entdeckt zu werden.
Die amerikanischen Komponistin Michelle DiBucci hat diese Entdeckung als Reproduktionen vor Jahren in einem New Yorker Antiquariat gemacht. In Zusammenarbeit mit der Tänzerin und Choreografin Bridget Breiner (seit 2012 auch Direktorin des Balletts am Musiktheater im Revier) ist ein Ballett-Inszenierung entstanden, die vom ersten Moment an eine atmosphärische Dichte und Spannung erzeugt, der man sich nur schwer entziehen kann.
DiBucci hat eine einfühlsame, dem Erzählen verpflichtete Musik komponiert, die sich nicht mit falsch verstandenen, avantgardistischen Ambitionen in eine hochtönende Sackgasse verläuft. Harmonische Linien des Orchesters, sparsam dosierte Text- und Sound-Collagen sowie solistischer und chorischer Gesang, musikalische Zitate wie die Habanera aus Georges Bizets Oper Carmen schaffen einen Klangraum, in dem die Tänzer und Tänzerinnen die Geschichte Charlotte Salomon: Der Tod und die Malerin nonverbal mit der Ausdruckskraft ihrer Körper erzählen.
Die Choreografie von Bridget Breiner exemplifiziert keine hohe Schule des klassischen Balletts mit Spitzentanz und Pose. Ballet-Compagnie und Solisten tanzten mit emotionalem Ausdruck in ungemein physischer Präsenz, der es, wie der in den Zuschauerraum hineinragende Laufsteg schon andeutete, darum geht, eine Brücke zum Alltag der Zuschauer zu schlagen. Kein artifizielles Ausstellungsballett, sondern das Aufblättern eines lebendigen Kaleidoskops. Körperbetonter Tanz mit überzeugender, narrativer Gestik, die sich in phantasievollen, ausdrucksstarken Bildern zu Schönheit in ästhetischer Brillanz vereinigte.
Manche Tanzsequenzen erinnerten an Bilder in der Ausstellung Das nackte Leben. Bacon, Freud, Hockney und andere. Malerei in London 1950 – 80, die noch bis zum 22.Februar 2015 in Münster zu sehen ist (vgl. Kritik Das nackte Leben aus Sicht der London School, zu sehen im neu eröffneten LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster, vom 14.01.2015, veröffentlicht auf Peter E. Rytz Review). Die choreografierten Passagen in Charlotte Salomon: Der Tod und die Malerin hatten eine ästhetische Reflexionstiefe, wie sie auch in der qualvollen Bedrängnis der Bilder Das nackte Leben zu spüren ist.
Die Bühne ist als Projektionsraum gebaut, in dem die malerischen Vorlagen von Salomon in assoziative Raumbilder transformiert werden (Bühne: Jürgen Kirner; Projektionen: Philipp Contag-Lada; Lichtdesign: Bonnie Beecher). Wo sie zusammen mit angedeuteten Fensterrahmen projiziert werden, werden sie zu metaphorischen Albtraumbildern, die Charlotte Salomon ein Leben lang verfolgt haben. In Erinnerung an die frühen Jahren bestimmen wechselnde Bilder, gezoomt oder in Ausschnitten, die Projektionen. Als am Ende nur noch die Erinnerung bleibt, werden sie im Zeitraffertempo in einer Wolke am (Bühnen)Himmel projiziert. Die Bilderfolge eines hoffnungsvoll gestimmten Lebens, trotz alledem. Du musst wissen, ich kann auch küssen.
Die Schweizer Tänzerin Kusha Alexi tanzte Charlottes Todes- und Wahnsinnsfurien in einer berührend sensiblen Balance von Aggressivität, Widerstand und stiller Resignation. Als am Ende andere Emigranten Südfrankreich verließen, stand sie leer und ausgebrannt abseits. Ein Bild, als würde sie sich selbst ungläubig über die tief nach unten gezogenen Schultern beobachten.
Vor der brutalen Übergröße des Großvaters, der Charlotte nicht nur nicht schützen wollte, sondern sie in Verzweiflung allein ließ, wehrte sie sich in einem furios choreografierten Pas de deux gegen den Tod (Jonathan Olivier).
Abschluss des Balletts Charlotte Salomon: Der Tod und die Malerin und neben dem großartig temperierten Großmutter-Solo von Rita Duclos auch gleichzeitig Höhepunkt eines ambitionierten Gesamtkunstwerks. Chapeau, MIR!
Peter E. Rytz 17.2.15