OPÉRA DE MONTRÉAL
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TURANDOT
Premiere in Montréal am 17.05.2014
Rundum gelungen
Mit Giacomo Puccinis letztem Werk beschließt auch die Oper in Montréal die laufende Spielzeit. 2012 inszenierte Graeme Murphy, erfolgreicher Tänzer und langjähriger Direktor der Sydney Dance Company, die Turandot erstmals für die Oper in Melbourne. Assistiert und beraten von seiner Frau Janet Vernon und Kim Walker (beide ebenfalls ehemals Tänzer und Choreografen der Sydney Dance Company), erweckte Murphy nun in Montréal seine Inszenierung erneut zum Leben. Er entführt uns mit seiner Sicht in ein bilderreiches Abenteuer, das uns Puccinis Oper über die unnahbare und mordlüsterne Prinzessin der langatmigen statischen Aufführungspraxis entreißt, und eine Geschichte erzählt, fast wie in der dem Libretto zugrunde liegenden Quelle des persischen Märchens aus Tausendundein Tag (sehr opulente Kostüme und Ausstattung Kristian Fredrikson), doch gepaart mit ernüchternder Grausamkeit in bester Tradition der Gebrüder Grimm.
Die Bühne wird in den einzelnen Szenen von überdimensionalen Symbolik und Aufbauten beherrscht. Der alte Kaiser singt von oben, eingemeißelt in ein 7 Meter hohes goldenes Gewand, aus dessen Schoß seine Tochter Turandot auf einem 2 Meter großen Rollwagen stehend, respektive schwebend Ihr Volk beherrscht. Vom Wagen sieht man nichts, denn die übergroßen Kleiderschichten reichen bis zum Boden. Eine gewaltige Erscheinung, die bei jedem gelösten Rätsel ein wenig mehr entblößt wird, quasi die optische Freilegung Ihres Inneren. Nach dieser Niederlage entsteigt sie, die eine Göttin zu sein glaubt, ihrem rollenden Podest und beginnt scheinbar erstmals in Ihrem Leben zu laufen, ist genötigt Calaf und Volk als Mensch auf Augenhöhe gegenübertreten.
Begleitet von diversen Tanzeinlagen und nahezu perfekt getimten Massenauftritten von Chor, Kinderchor und Statisterie pulsiert das Bühnengeschehen und lässt den Zuschauer erst nach Liùs Tod zu Atem kommen, dann wenn Murphy der Prinzesssin und Calaf die Bühne überlässt, und sich erstmals eine kammermusikalische Opernszenerie entwickelt. Ganz behutsam vollzieht sich nunmehr die Metamorphose einer machtbesessenen Mör
derin hin zur liebenden Frau. Die Choreografien sind für alle Beteiligten anspruchsvoll, umso mehr überrascht die Tatsache, dass sie (meistens jedenfalls) die Sänger unterstützen, auf die Gesangspausen und die Atmung Rücksicht nehmen, und sowohl die Musik, als auch das Libretto durch jede Bewegung der Protagonisten noch verstärkt wird.
Hier begegnet uns eine Personenregie, die (erfolgreich) versucht Musik und Wort tatsächlich gleichberechtigt in der Szene miteinander zu vereinen. Bravo! Dennoch, gibt es auch Mängel, festgezurrt auf einem hohen beweglichen Podest müssen Turandot und Mandarin stets um den Verlust des Sichtkontaktes zum Dirigenten fürchten, und Ping, Pang, Pong haben diverse (Kostüm)-Umzüge und tänzerisches Geschick aufzubieten. Das ist echter Bühnenstress, und so blickt man beim Applaus in die erleichterten und erschöpften Gesichter von Sportlern (Operngesang ist in vielerlei Hinsicht durchaus Leistungssport), die gerade die Ziellinie überquert haben.
Widmen wir uns nun dem musikalischen Teil des Abends, sowie dem internationalen Ensemble. In der Titelrolle hören und sehen wir zugleich den gesanglichen und szenischen Star des Abends. Die russische Sopranistin Galina Shesterneva ist von kleiner, zärtlicher Statur, doch welch eine kraftvolle Stimme und technisch exzellent geführter Spinto-Sopran eröffnet uns als Zuhörer mit "In questa reggia" neue Dimensionen dieser Partie. Ihr Timbre ist warm und farbenreich. Die Übergänge in die voluminöse Mittel- und dunkel gefärbte untere Lage bewältigt sie mit Leichtigkeit fließend. Die Höhen sind klar und mit durchschlagender Brillanz intoniert. Doch selbst ein fast gehauchtes in perfektem sotto vocce vorgetragenes "da questa febre..." erfüllt den großen Saal problemlos, und verführt nicht nur Calaf. Welch ein Stimmumfang, und was für eine feine, stets akkurate Phrasierung.
Regisseur Graeme Murphy entgegnet begeistert "Ich habe bereits mit vielen "Prinzessinnen" gearbeitet, doch Galina hat die Turandot neu erfunden, das ist beeindruckend einzigartig. Ein Erlebnis, und der Beginn einer neuen Interpretation dieser anspuchsvollen Partie und Rolle". Denn auch szenisch hat Galina Shesterneva die Inszenierung und Ihr Bühnenvolk fest im Griff, sie gibt im wahrsten Sinne des Wortes den Ton an. Jede Ihrer Bewegungen, jede Gestik, jeder Blick sind geprägt von präziser, tödlicher Eleganz. Sie verleihen der Figur die notwendige Kälte und Skrupellosigkeit, bis am Ende, in Entdeckung der Liebe sich Ihre Haltung in Liebreiz auflöst und ihre Seele sich doch noch hingebungsvoll zu öffnen vermag. Von ihr, die hier in Montréal ihr Nordamerika-Debut feiert, und in Deutschland längst einer der führenden Soprane Ihres Fachs ist, wird zukünftig international noch viel zu hören sein. Brava!
Dem kann auch Calaf, gesungen vom Bulgaren Kamen Chanev nicht widerstehen. Sein wohl geformter Tenor ist ausdruckstark und von guter Struktur, wenngleich er bei "In questa reggia" gegen Shesterneva nicht mitzuhalten vermag. Er interpretiert uns den unerschrockenen Sohn des Timur mit Verve und Hingabe, vor allem im ersten Akt überzeugen auch seine lyrischen Qualitäten. Sein "Nessun dorma" meistert er bravourös und ohne Makel, selten so gehört und Zurecht mit Zwischenapplaus bedacht. Danach hingegen verliert seine Stimme etwas an Kraft und Wohlklang.
Hiromi Omura als Liù verzaubert mit Ihrem geschmeidigen Sopran bereits zu Beginn ihrer Arie "Signore, ascolta". Die Mittellage ist ausbalanciert, in den Höhen klingt ihre Stimme jedoch sehr dünn, lässt Substanz vermissen. Zwei leichte Intonationen irritieren ebenfalls, doch dem Tode nah, beweißt die Japanerin nochmals lyrischen Qualitäten in dieser dankbaren Partie. Grigori Soloviov ist ein profunder Bassbariton und gestaltet den blinden Timur sehr überzeugend, sowohl stimmlich wie auch szenisch führt er uns den gebrechlichen Greis authentisch vor Augen. Ping (Jonathan Beyer), Pang (Jean-Michel Richer) und Pong (Aaron Sheppard) haben in Murphys Inszenierung viel zu tun. Anfängliche mangelnde Synchronisation der Einsätze sind der fehlenden Abstimmung mit dem Orchester geschuldet, und nicht den choreografischen Ansprüchen der Personenregie. Vor allem Jonathan Beyer klingt sehr kultiviert und nuancenreich.
In den weiteren Partien Guy Bélanger als alter Kaiser mit guter Phrasierung und lyrischem Tenor, sowie Josh Whelan als Mandarin mit makelloser Stimmführung ohne Fehl und Tadel, sind sehr gut besetzt. Der von Claude Webster einstudierte Chor verleiht der Aufführung das entsprechende Volumen und gestaltet gemeinsam mit Kinderchor (sehr überzeugend, harmonisch eloquent ), dem Tanzensemble und der Statisterie den prächtigen Rahmen dieses personell sehr aufwendigen Puccini-Abends.
Unter der Leitung von Dirigent Paul Nadler, dessen musikalische Heimat die MET in New York ist, erklingt das Métropolitain Orchester de Montréal farbenreich und kraftvoll zugleich, jedoch niemals zu laut. Der Maestro setzt im ersten Akt und im Finale gute Akzente. Dazwischen bringen seine ungeahnten Tempiwechsel die Solisten hin und wieder in Verlegenheit und erfordern schärfste Konzentration aller Beteiligten, vor allem während der drei Rätsel. Das Premierenpublikum feiert die Protagonisten, im mit 2.900 Zuschauern vollbesetzen Opernhaus, mit stehenden Ovationen. Bravis für die Solisten und die Regie. Die weiteren Vorstellungen sind bereits jetzt restlos ausverkauft.
Der künstlerische Direktor Michel Beaulac, unter anderem verantwortlich für die Zusammenstellung der internationalen Besetzung, strahlt denn auch vor Freude und Glück, und gesteht "so eine fantastische, rundum gelungene Produktion erlebt man selten. Ein Glanzlicht zum Abschluß der Saison".
Maria Sullivan 20.5.14
Bilder: Opera Montreal / Yves Renaud, Alain Labonté Communications