Mainfranken Theater Würzburg
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Mal nicht von Shakespeare…
I Capuleti e i Montecchi
Premiere: 10.10.2021
besuchte Vorstellung: 13.11.2021
Lieber Opernfreund-Freund,
Vincenzo Bellini hat neun Opern komponiert, ist hierzulande auf der Opernbühne regelmäßig jedoch nur mit seiner Norma vertreten; ab und an verirren sich noch Sonnambula oder die Puritani an deutsche Theater. Deshalb allein lohnt es sich, sich die Würzburger Produktion seiner von Shakespeare unabhängigen Version des Romeo-und-Julia-Stoffes anzusehen. I Capuleti e i Montecchi wird zudem Dank der Interpretinnen der beiden Hauptfiguren zum echten Erlebnis.
Eigentlich hätte Giovanni Pacini 1830 das Libretto von Felice Romani für das Teatro La Fenice in Venedig vertonen sollen, hatte aber kurzfristig abgesagt. Um den Kompositionsauftrag in kurzer Zeit erfüllen zu können, verwertete Bellini große Teile seiner glücklosen, im Jahr zuvor durchgefallen Zaira und recycelte zudem die große Arie Dopo l’oscuro nembo aus seinem Erstling Adelson e Salvini, die bis heute als verschlanktes O quante volte zur wohl bekanntesten Melodie von I Capuleti e i Montecchi zählt, zu knapp zwei Stunden voll eingängiger, zu Herzen rührender Musik. Dass das Werk trotz seiner bekannten Geschichte keinen Eingang ins Repertoire gefunden hat, mag, wie so oft, am vergleichsweise schwachen Libretto liegen. Romani bezieht sich auf mehrere italienische Vorlagen, die auch Shakespeare als Inspiration dienten, erreicht aber nicht die emotionale Wucht des englischen Dramas, da er, wie der Operntitel schon vermuten lässt, den Fokus eher auf den Familienzwist als auf die Liebesgeschichte der beiden Sprösslinge legt. Und dennoch ist die Story nahezu gleich: Romeo aus dem Hause der Montagues hat ein Mitglied des Hauses Montague getötet, in diesem Falle den Sohn von Familienoberhaupt Capellio. Julia (hier Giulietta) soll mit Tebaldo zwangsverheiratet werden, Romeo versucht wiederholt vergeblich, sie zur Flucht zu bewegen. Erst die List des Vertrauten Lorenzo überzeugt Giulietta, mit einem Trank ihren Tod vorzutäuschen – und das bekannte Drama nimmt seinen Lauf.
Mario Pavle del Monacos Inszenierung, die nun coronabedingt mit Verspätung in der Ausweichspielstätte des Mainfrankentheaters Würzburg, der Theaterfabrik Blaue Halle zu sehen ist, vermag die dramaturgischen Schwächen der Vorlage nicht zu heilen; eigene Ideen verstärken sie sogar, da die Einfälle des jungen serbisch-italienischen Regisseurs mit begnadetem Tenorgroßvater, berühmten Regisseuronkel und zumindest nicht unbekannter Mezzosopranistin als Mutter mitunter unerklärt bleiben. So zeichnet er den Vater Capellio als brutalen, seine Tochter prügelnden Despoten, das macht aber Julias Zögern bei Romeos Fluchtgedanken noch weniger plausibel. Und warum am Ende Tybalt Julia erschießt, anstatt dass sie sich selbst tötet, ob aus Notwehr, aus Rache oder, weil er sie vor dem Schicksal der Hölle bewahren will, das ihr als Selbstmörderin droht, bleibt sein Geheimnis. Dafür besticht er mit gekonnter Personenführung, lässt die Bühne raumgreifend bespielen und setzt hervorragende Licht- und Schatteneffekte ein. Die unbestimmt in der Gegenwart verorteten Kostüme von Julia Katharina Berndt sind ebenso nüchtern wie die Bühnenaufbauten von Catharina Bornemann, was zumindest gut zur kalten Atmosphäre passt, die del Monaco im Hause Capulet zeichnet. Wärme entsteht in dieser Romeo-und-Julia-Version nur durch die hervorragenden Stimmen.
Akiho Tsujii als Giulietta betört mit zartem Sopran, scheinbar mühelos perlenden Koloraturen und hinreißender Geläufigkeit. Anna Pennisi setzt in der Hosenrolle des Romeo ihre satte Mittellage und in den Ausbrüchen auch klangliche Wucht dagegen. Beide glänzen mit Farbenreichtum und schauspielerischem Talent gleichermaßen. Gerade in den Duetten verschmelzen die Stimmen der beiden derart zu einer scheinbaren Einheit, dass man eigentlich nie mehr weghören mag, und so machen sie den Abend zu dem ihren. Roberto Ortiz gefällt mir gut im Belcantofach. Sein in den Höhen metallisch schimmernder, leichter Tenor ist wie gemacht für den Tebaldo, während Ipča Ramanović einen prachtvollen Lorenzo gibt und dabei seinen facettenreichen Bariton zeigt. Lediglich Igor Tsarkov scheint einen schlechten Abend erwischt zu haben; sein an sich voluminöser Bass kommt über weite Teile kaum über den Graben und so überzeugt mich der aus der Ukraine stammende Sänger am Samstag nur darstellerisch.
Das Orchester präsentiert sich unter der Leitung von David Todd in Bestform. Der junge Brite ist seit Jahresbeginn Kapellmeister am Mainfrankentheater und überrascht mich mit einem Dirigat voller Farben und Esprit, scheint jeden Takt, jede Note auszukosten und steckt mit seiner Freude an der Partitur das Orchester ebenso an wie die Sänger auf der Bühne. Er legt sportliche Tempi vor, ohne zu übereilen, und findet an den richtigen Stellen den nötigen Belcantoschmelz, ohne die Zuhörer zuzukleistern. Das gefällt dem Publikum, das seine Leistung am Ende des Abends mit ebenso viel Beifall goutiert, wie das Sängerpersonal auf der Bühne.
Ihr
Jochen Rüth
16.11.2021
Die Fotos stammen von Nik Schölzel.
RIGOLETTO
Premiere: 12.10.2019
besuchte Vorstellung: 02.11.2019
Lieber Opernfreund-Freund,
als Eröffnungsproduktion in der letzten Spielzeit im alten großen Haus ist derzeit ein so sehens- wie hörenswerter Rigoletto zu erleben. Bevor das Mainfrankentheater in der kommenden Spielzeit in die Fabrikhalle umzieht, um in der Spielzeit 2022/23 ins erweiterte und sanierte Haus zurück zu kehren – dann mit dem Status eines Staatstheaters, zeigt Hauschef Markus Trabusch eine packende Umsetzung des Verdi-Bestsellers, den ich mir gestern im ausverkauften Haus gerne für Sie angesehen habe.
Allzu oft beschäftigt sich Intendant Markus Trabusch als Regisseur nicht mit dem Genre Oper, erst einmal inszenierte er am Haus, dem er seit der Spielzeit 2016/17 vorsteht, in dieser Sparte – und zwar Rossinis Barbier. Nun hat er sich mit einem weiteren Dauerbrenner der Oper beschäftigt und zeigt einen psychologisch durchdachten, packend erzählten und vor allem durch hervorragende Personenführung bestechenden Rigoletto, den er an unbestimmten Ort in der Gegenwart ansiedelt. So obskur wie die Machenschaften des Herzogs sind die Bühnenaufbauten von Susanne Hiller, Fadenvorhänge und halbdurchsichtige Schiebetüren schirmen das, was in den Privatgemächern des Regenten passiert, der gewohnt ist, sich zu nehmen, wen und was er will, vor den Blicken der Zuschauer ab. Rigolettos Make-Up erinnert an das Dauergrinsen des Jokers aus Batman und wird zur Vorlage der Maskerade der Entführer im zweiten Akt der Oper, ehe der vom Leben bösartig gewordene Narr in Monterones Parka und Strickkappe die Rache am Herzog vollzieht und damit gleichsam die Schändung von Monterones Tochter sühnt, dessen Fluch er sein Schicksal er am Ende zuschreibt. Trabusch führt die stumme Rolle von Rigolettos verstorbenen Frau ein, einer Asiatin – so dass es nur schlüssig ist, dass der als Student getarnte Herzog bei der unschuldigen Gilda mit Kirschblüten und Kimono als Mitbringsel auf ganzer Linie punkten kann. Derlei Kleinigkeiten sind äußerst durchdacht und machen die Produktion für den Opernkenner ebenso interessant, wie sie sie für den Opernneuling verständlich lassen – und so zu einer gewissermaßen idealen Rigoletto-Adaption werden. Die zu Beginn wandelbar gezeigte Drehbühne öffnet sich im letzten Bild zu einem wolkigen Gewitterhorizont hin; in dieser Kulisse hält Rigoletto zum Schluss dann als gebrochene Persönlichkeit seine verstorbene Frau im Arm – der letzte von vielen Gänsehautmomenten, die Trabusch mit seiner Ausstatterin Susanne Hiller und dem durchdachten Licht von Mariella von Vequel-Westernach dem Zuschauer beschert.
Dass sich die vom Regieteam erdachten Bilder so schlüssig präsentieren können, liegt sicher auch am durch die Bank überzeugenden musikalischen Seite des Abends. Allen voran wartet das Mainfrankentheater im eigenen Ensemble mit einer Gilda von Weltklasseniveau auf: Die Japanerin Akiho Tsujii besticht am gestrigen Abend mit einem facettenreichen Rollenportrait und rührt mit wie aus seidenen Fäden gesponnen Tönen zu Tränen, ehe sie im nächsten Moment farbenreiche Koloraturen oder durchs Mark gehende Gefühlsausbrüche zeigt. Dazu spielt sie hinreißend, so dass das Zuschauen- und Zuhören zur reinen Wonne wird. Der Herzog von Roberto Ortiz gefällt mit Klarheit, zartem Schmelz und viel Emotion, doch hätte ich mir vom aus Mexiko stammenden Tenor ein wenig mehr Strahlkraft erhofft. Der aus Schweden stammende Kosma Ranuer legt die Titelfigur von Beginn an als gebrochene Gestalt an, mischt seinem durchaus imposanten Bariton viel Gefühl bei und rührt deshalb bereits im dritten Akt. Seine Ausbrüche geraten überzeugend, ohne je grob zu werden, sein Spiel ist makellos und bewegend. Igor Tsarkov ist ein imposanter Sparafucile mit schwarz gefärbtem Bass, Katharina von Bühlow eine betörende Maddalena mit sattem Mezzo. Der Monterone von Daniel Fiolko strotzt nur so vor Kraft und Rachedurst.
Die Herren des Opernchores leisten unter der Leitung von Anton Tremmel Großes, die eigentliche musikalische Sensation passiert allerdings gestern im Graben. GMD Enrico Calesso präsentiert ein durchdachtes, transparentes Dirigat und gibt Verdis oft gehörter Partitur neuen Esprit. Seine Interpretation lässt viel italienische Seele mitschwingen, begeistert mich mit einem bunten Strauß an Tempi und musikalischen Farben; die höchste Musikalität, ja die Liebe zu dieser Musik, ist der Arbeit des aus Treviso stammenden Dirigenten in jeder Sekunde anzumerken – und so wird es musikalisch ein perfekter Abend. Das Publikum im ausverkauften Haus ist ebenso begeistert wie ich, applaudiert frenetisch allen Beteiligten. Noch bis Ende des Jahres ist diese wunderbare Produktion in Würzburg zu erleben – mir bleibt allerdings die Hoffnung, dass sie als Wiederaufnahme auch den Weg ins Interim findet.
Ihr Jochen Rüth, 03.11.2019
Fotos © Nik Schölzel / Mainfranken Theater Würzburg
La Bohéme
Premiere: 13.10.2018
besuchte Vorstellung: 21.10.2018
Eine Liebe fürs ganze Leben
Lieber Opernfreund-Freund,
eine Liebe, die einen Winter lange hält, hat Puccinis vierte Oper La Bohéme zum Inhalt. Sie beginnt am Weihnachtsabend in der Mansarde von Rudolfo und endet im Frühjahr darauf mit dem Tod der geliebten Mimi. Gerade deshalb wird sie gerne als eine Art Weihnachtsoper auf Spielpläne gesetzt. Von Weihnachtsstimmung jedoch ist in der ersten Musiktheaterproduktion der laufenden Spielzeit am Mainfrankentheater Würzburg wenig zu spüren, vielmehr begibt sich Regisseurin Martina Veh zusammen mit dem Zuschauer auf eine 50 Jahre dauernde Zeitreise.
In die wilden 68ern verlegt die Regisseurin die Handlung des 1. Aktes, die Künstler-WG wird zur Kommune, die freie Liebe predigt und lebt und ihren eigenen Idealen nachhängt. Dass die sich im Laufe der Jahre relativieren, zeigt sich im dritten Akt, in dem zur Jahrtausendwende Trostlosigkeit und Ernüchterung in das Leben der Protagonisten getreten ist, ehe die Schicksals-WG im Schlussbild im Altenheim im Hier und Jetzt zusammen hockt, Musiker Schaunard nach wie vor Schallplatten poliert und Mimi nach langem Leiden an der Seite von Rudolfo – man mag sich hier eine komplizierte On/Off-Beziehung vorstellen – stirbt. Damit geht ein Riss durch den eingeschworenen Freundeskreis, den Veh zusammen mit Bühnenbildnerin Émilie Delanne recht holzhammerartig visualisiert. Die eindrucksvolle Produktion lebt von durchdachter und so klarer wie spannender Personenführung, lediglich der zweite Akt gerät ein wenig zum Wuselbild, begeistert aber durch die ideen- und variantenreichen Kostüme aus den 1980er Jahren, die die Berlinerin Magali Gerberon entworfen hat. Martina Veh macht aus der Geschichte um Mimi und Rudolfo eine Liebe für ein ganzes Leben, gleichermaßen aber auch eine Parabel über Freundschaft, verschiebt dadurch gekonnt und stimmig den Fokus und präsentiert eine gelungene und unterhaltsame Lesart des Stoffes von Henri Murger.
Der Sopran von Silke Evers verfügt über enorme Ausdruckskraft und warme Farben und überzeugt mich deshalb vor allem in der zweiten Hälfte, als Mimi zwischen Hoffen und Verzweiflung bangt oder ihr Leben aushaucht. Ihr intensives Spiel lässt einen in Akt drei regelrecht frösteln und im Schlussbild zutiefst mitfühlen, wenn eine alte Frau im verklärten Rückblick auf ihr Leben stirbt. Roberto Ortiz zeigt als Rudolfo sichere Höhe und viel Gefühl, da und dort hätte ich mir allerdings ein wenig mehr Kraft gewünscht. Auch der Bariton von Taiyu Uchiyama, der Schaunard als Alt-68er mimen darf, geht in den Ensembels gerne einmal unter. Dieses Problem hat Daniel Fiolka nicht, der ein stimmgewaltiger Marcello ist, der aber in den leisen Momenten auch mitfühlende und zarte Töne anschlägt. Igor Tsarkov ist ein wunderbar präsenter Colline, dem nicht nur die szenenapplauswürdige Mantelarie bravourös gelingt. Eine wahre Erscheinung schließlich ist die Musetta von Akiho Tsujii, die nicht nur mit strahlender Höhe und hinreißender stimmlicher Beweglichkeit glänzt. Auch sonst ist die junge Japanerin ein regelrechter Wirbelwind von fesselnder Bühnenpräsenz, die überdies durch gekonnt einfühlsame Darstellung ihrer Figur überzeugt.
Aus dem Graben strömt purer Puccini. GMD Enrico Calesso lässt die Partitur des Lucchesers in allen Farben glühen, wählt da und dort interessante Tempi – Musettas Lied im zweiten Akt habe ich nie intensiver musiziert gehört – und spornt die Musikerinnen und Musiker des Philharmonischen Orchesters Würzburg zu Höchstleistungen an. Und auch die Damen und Herren des Chores glänzen im zweiten und dritten Akt, so dass der Nachmittag auch musikalisch ein Hochgenuss wird.
Das voll besetzte Theater ist begeistert, bewegt vom intensiven Spiel der exzellenten Sängerdarsteller und überzeugt von der originellen Lesart. Und auch ich kann Ihnen diese Bohéme sehr ans Herz legen – da lohnt sogar für ein Stück aus dem Standardrepertoire der Weg nach Würzburg.
Ihr Jochen Rüth / 24.10.2018
Die Fotos stammen von Nik Schölzel.
DER STEPPENWOLF
Oper von Viktor Åslund
Uraufführung am 8.5.2016
Daniel Fiolka (Harry Haller) und Bryan Boyce (Steppenwolf)
„Es hätte schon lange geschehen sollen“, konstatiert der Chor am Ende des ersten Aktes, als sich der Protagonist der Oper, Harry Haller, endlich auf die geheimnisvolle Zwischenwelt des „Magischen Theaters“ einlässt. Das ließe sich auch über die Musik zu dieser Hermann-Hesse-Oper sagen, die am Mainfrankentheater Würzburg mit viel Jubel und Beifall ihre Uraufführung erlebte. Denn die Idee, Hermann Hesses „Der Steppenwolf“ zu vertonen, aus den Figuren Musiktheater-Charaktere zu formen, aus Hesses Musik-Affinität frische Töne zu schlagen, liegt so ferne eigentlich nicht.
Aber auch auf die Musik von Viktor Åslund lässt sich der Satz beziehen: Der schwedische Tonschöpfer schreibt in der Tradition komponierender Dirigenten – Åslund war von 2007 bis 2010 Erster Kapellmeister am Würzburger Theater – eine Musik mit hörbaren Wurzeln in den Aufbrüchen der zwanziger Jahre, weniger in den Verästelungen der ratlosen Avantgarde des 21. Jahrhunderts. Da grüßen die Polystilistik eines Ernst Krenek, der melodische Schwung und der Satz-Ehrgeiz eines Kurt Weill, aber auch die sinnlichen Klanglabyrinthe Franz Schrekers. Eine Combo (unter Leitung vonJoachim Werner) beschwört die Atmosphäre von „Jonny spielt auf“ mit seinen schmeichelnd-erotischen Saxofon-Innovationen, auf das Stichwort „Shimmy“ zitiert Åslund zeitgenössisch verschrägt den Modetanz von damals. Und wenn der Chor den Zuhörern – etwas sehr penetrant wiederholt – einschärft, wie man sich doch amüsiert, meint man, die Rhythmen entführten einen in die Sphäre der „Jazz“-Operette Paul Abrahams oder seines Vorgängers Gustav Adolph Kerker.
Da Åslund die Melodie nicht verschmäht, wirken die gut zweieinhalb Stunden Musik sehr eklektisch, manchmal bewusst rückwärtsgewandt, manchmal sogar rührend nostalgisch. Wer in den Kategorien der Moderne denkt, wird damit nicht warm: Alles schon mal dagewesen. Wer die Postmoderne hofiert, wird da schon anders denken: Rückgriff auf traditionelle Techniken, unbekümmerte Mischung von Stil und Formen. Was beliebt, ist erlaubt; die Dogmen des „Fortschritts“ gelten nicht mehr. So schreiben heutige Komponisten in den USA, die dort – in Europa folgenlos – ihre jungen Opern uraufführen und mit gelingender Theatermusik beeindrucken. Erinnert sei etwa an Kevin Puts‘ “Silent Night“, 2011 uraufgeführt, 2012 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet und 2014 beim irischen Wexford Opera Festival nach Europa geholt.
Nach allem, was in Würzburg unter der souveränen Leitung des scheidenden Ersten KapellmeistersSebastian Beckedorf aus dem Orchestergraben klingt, muss sich der Komponist Åslund nicht verstecken. Die ersten exponierenden Takte machen mit den Schichten seiner Musik vertraut: repetierte „patterns“, drohend tiefe Einwürfe der Bläser, eine opalisierende Lasur aus flächigem Streicherklang wie eine Hintergrundfarbe. Dazu prägnante melodische Elemente; keine „Leitmotive“, aber doch markante Tonfolgen mit Wiedererkennungswert.
Foto: Daniel Fiolka (Harry Haller) und Silke Evers (Hermine).
Åslund ist kein Mann der Extreme, auf Reimann’sche Exaltationen muss man nicht warten. So farbig der Einsatz der Klangpalette des Orchesters ist, so sparsam dosiert Åslund diese Fülle. Das tut gut und kommt – die Hand des erfahrenen Operndirigenten ist spürbar – den Sängern entgegen. Die werden wie im Musical verstärkt; ob das nötig ist, mag man bezweifeln. Åslund tut, was lange verpönt war: Er schreibt gediegen gearbeitete, wirksame Theatermusik, die gefällt, ohne zu bedienen oder in wohlfeilen Effekt abzurutschen. Und was ist mit der persönlichen Sprache, der kantigen Individualität? Die prägt sich nicht aus – ein Tribut an die stilistische Vielfalt, die eine persönliche Farbe schwer durchdringen lässt. Vielleicht aber auch notwendige Konsequenz einer Musik, die sich bis hin zu „Don Giovanni“- und „Meistersinger“-Zitaten im Strom der Geschichte tummelt, ohne ein bestimmtes Ufer anzusteuern.
Das Libretto stammt von dem erfolgreichen Autor Rainer Lewandowski („Heute weder Hamlet“). Dem langjährigen Intendanten des E.T.A.-Hoffmann-Theaters Bamberg merkt man die intensive Beschäftigung mit Hermann Hesse, aber auch den Einfluss des Bamberger romantischen Geistes an. Der Konflikt Harry Hallers mit der bürgerlichen Gesellschaft um ihn herum und der Kampf mit dem gierigen, unheimlichen „Steppenwolf“ in ihm hat Parallelen in den dunklen, visionären und bedrohlichen romantischen Über- und Gegenwelten Hoffmanns.
Lewandowski folgt der Struktur des Romans, reichert sie mit geliebter Hesse-Lyrik an – und erliegt damit der typischen Problematik der momentan überstrapazierten Roman-Vertheaterungen: Das Libretto ist sprachverliebt, schweift aus, krankt am Mangel an innerer Dramatik. Die Ansprachen Hermines etwa sind inhaltlich unverzichtbar, aber im Musiktheater kaum zu realisieren, ohne die Spannung zu brechen. Dazu bräuchte es eines Wort-Ton-Genies wie Wagner. Und die Schilderung der Welt jenseits der Normalität, in Würzburg angesiedelt zwischen den Polen der mit Operettenschaum beflockten Vergnügungsetablissements der Zwanziger und geheimnisvoll dunkel-offener Räume, ufert aus und verliert ihre Wirkung.
Das Ende bringt zwar einen spektakulären Mord, relativiert aber auch jegliche Realität. Der innere Weg Harry Hallers mündet in einen Erkenntnisprozess, der sich als Heilung beschreiben ließe. Aber auch als radikale Weltdistanzierung im Zeichen weisen – oder verzweifelten? – Gelächters. Er fordert theatralische Mittel heraus, die in Würzburg schnell erschöpft sind. Anna Vita, die erfolgreiche Ballettdirektorin des Mainfrankentheaters, setzt auf ihre kraftvolle, bewährte Art des Erzählens, bringt in ihr Debüt als Opernregisseurin eine von ihrem Tanzstil geprägte Körperlichkeit, stößt aber an die Grenzen einer schildernden Regie, weil sie sich von radikaler Stilisierung fern hält.
Wenn am Ende die Figuren in blauem Licht kreisen, denkt man an die „Figuren des Lebensspiels“ aus Hesses „Magischem Theater“ – aber die Magie bleibt bei diesem Bild sehr begrenzt. Das Wunderbare, Irrationale, auch Unheimliche dieses Orts findet in der Varieté-Atmosphäre zwar eine Chiffre, aber keine Brechung oder Erweiterung ins Phantastische. Und wenn Anna Vita zu einem Stichwort wie „Don Quichotte“ den Ritter von der traurigen Gestalt durch einen Spot kurz aus dem Dunkel des Hintergrunds treten lässt, wirken solche Fingerzeige bemüht und ziemlich geheimnislos.
Dabei bringt die Bühne von Verena Hemmerlein und ihre fantasievoll gestalteten Kostüme Potenzial mit, den schwankenden Boden der Realität und ihr stets latentes Kippen in innere Abgründe erschauen zu lassen. Die „bürgerliche“ Welt des Professoren-Ehepaars mit Bücherwand und schweren Möbeln steht wie eine Insel im dunkel-offenen Raum; das Zimmer Harry Hallers schwebt in Versatzstücken – biedere Tapete, Waschtisch, Regulator – herbei, als entbehre es einer materiell verfestigten Dreidimensionalität. Für das „Magische Theater“ arbeitet Hemmerlein mit dem probaten Mittel von Stoffhängern, Vorhängen und Licht (Walter Wiedmaier) – einfache Elemente, aus denen sich brillante Wirkungen schlagen lassen.
Aus Harry Haller und seinem Steppenwolf macht das Konzept des Stücks ein Paar nach Art von Jekyll and Hyde. Für Daniel Fiolka und Bryan Boyce eine darstellerische Herausforderung, die beide Sänger beeindruckend umsetzen. Die bewegungsintensive Regie Anna Vitas erfasst die Aspekte einer gespaltenen Persönlichkeit ebenso wie die innere Durchdringung der unterschiedlichen Lebenskonzepte, für die Wolf und Mensch stehen. Silke Evers hat als Hermine eine tragende Rolle in Hesses Kosmos: Sie ist so etwas wie dieser Welt weisestes Weib – und die Musik schmiegt sich in die Stimme und lässt sie leuchten und blühen: In ihren großen Momenten wird deutlich, was es heißt, wenn ein Komponist einer Sängerin, die er genau kennt, Linien, Phrasen, Melodien schreibt.
Auch die Frau ist in Hesses „Steppenwolf“ in gewisser Weise aufgespalten: auf der einen Seite die Leben und Psyche durchschauende, verstehende, tiefgründige Hermine – die erotisch nur latent begehrte Gefährtin. Auf der anderen Seite, in Polina Artsis‘ lebensvoller Verkörperung, das sinnlich-sexuell attraktive „Weib“. Mehr Rollen im imaginären Theater des Lebens als greifbare Menschen bleiben Joshua Whitener (Professor/Louis/Partymann) mit seiner schönen, demnächst in Dortmund im Ensemble erklingenden Tenorstimme oder Anja Gutgesell als Frau von Hallers Freund Louis mit einer treffenden Mini-Charakterstudie. Barbara Schöller mit ihrem zündenden Talent für schräge Typen schwebt in rokokoweiß als Goethe und Mozart über und in die Szene; Rupert Markthaler fügt sich mit geradliniger Mikro-Stimme nicht in die Reihe der Opernsänger ein, so wie sich die Gestalt des „Spielmachers“ Pablo von seinen Figuren abhebt.
Der Chor des Mainfrankentheaters (Leitung Michael Clark) zeigt ein weiteres Mal, dass er mit neuen Klängen ohne erkennbare Mühe umgehen kann. Auch das Philharmonische Orchester Würzburg findet in der differenzierten Partitur mit ihren unaufgeregt leisen Momenten, ihren Soli und ihren Klangflächen und -mischungen stets den passenden Ausdruck, die sichere Linie, die rhythmische Präzision. Sebastian Beckedorf stellt sich mit diesen Musikern für seine künftige Laufbahn eine glänzende Visitenkarte aus.
Die Uraufführung ist noch ein Erbe von Hermann Schneider, der bereits die Spielzeit 2016/17 an seinem künftigen Haus Linz vorbereitet. Nachdem die Stadt Würzburg bisher nicht für nötig befunden hat, Schneider nach zwölfjähriger Tätigkeit als Intendant mit Anstand zu verabschieden, ist der „Steppenwolf“ sein künstlerisches Abschiedsgeschenk an das Würzburger Publikum, das er in der Oper mit einer Reihe verdienter Wiederentdeckungen und einigen ehrgeizigen Uraufführungen aus dem Dämmer eines eingefahrenen Repertoires geweckt hat – für den künftigen Würzburger Intendant Markus Trabusch und seinem neuer Operndirektor Berthold Warnecke eine Herausforderung, der sie sich 2016/17 zunächst mit dem ambitionierten Projekt einer Inszenierung von Giacomo Meyerbeers „Les Huguenots“ stellen.
Weitere Aufführungstermine: 11., 21., 31.05.; 02., 15., 17.06.; 01.07.2016.
Werner Häußner 10.5.16
Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online (Wien)
Foto: Falk von Traubenberg