MARKGRÄFLICHES OPERNHAUS
(c) Bayreuth.de
Zweite Kritik hier: Pionteks Bayreuth
Carlo il Calvo
Eröffnung des neuen Festivals Bayreuth Baroque
Premiere: 03.09.2020
200 Besucherinnen und Besucher durften sich freuen, im Vorfeld die Schlacht um die wenigen Karten der Eröffnungspremiere des neuen Barockfestivals in Bayreuth gewonnen zu haben. Auch der Rezensent hatte das Vergnügen, mit seiner Frau in einer Seitenloge allein Platz nehmen zu dürfen, die eigentlich für fünf Barockenthusiasten vorgesehen war. Im Parkett waren die Reihen aufgrund der Coronapandemie ebenfalls nur spärlich besetzt. Das trübte allerdings die erwartungsvolle Stimmung des maskengeschützten Publikums kaum. Der barocke Glanz des in den letzten Jahren aufwändig restaurierten Markgräflichen Opernhauses, das Wilhelmine von Bayreuth zur Hochzeit ihrer Tochter im Jahr 1748 errichten ließ und das 2012 mit der Ernennung zum Unesco-Weltkulturerbe geadelt wurde, war allein dazu angetan, das Premierenpublikum in ehrfürchtiges Staunen zu versetzen.
Wenn dann auch noch zum ersten Mal seit langer Zeit wieder in diesem Juwel barocker Illusionskunst musiziert werden durfte, dann war die Freude über diese Wiedergeburt einer einzigartigen Spielstätte allgemein und ungeteilt.
Die Renaissance eines barocken Musikfestivals in Bayreuth ist dem Countertenor Max Emanuel Cencic zu verdanken, der sich nicht nur als gefeierter Gesangsvirtuose, sondern auch als Regisseur unbekannter Barockopern in der Fachwelt einen Namen gemacht hat. Und Porporas Oper „Carlo il Calvo“, die der Komponist 1738 für das Teatro delle Dame in Rom schrieb, gehört zu jenen Raritäten, die seit dem 18. Jahrhundert auf eine Wiederentdeckung gewartet haben. Porpora war ein bekannter Gesangspädagoge in seiner Zeit. Zu seinen Schülern gehörte u.a. der seinerzeit weltberühmte Kastrat Farinelli, dessen Stimmkünste und Tonumfang die Zeitgenossen in Erstaunen versetzte. Porpora schneiderte seine mehr als 60 Opern auf seine Gesangsschüler zu. Und so enthält auch seine Oper „Carlo il Calvo“ zwar wunderschöne, aber auch horrend schwierige Gesangspartien, die selbst für so großartige Sänger wie Franco Fagioli und Max Emanuel Cencic eine ungeheure Herausforderung bedeuten.
Wenn sich dann die Handlung in immerhin 35 Szenen in über fünf Stunden vor dem erstaunten Publikum entfaltet, dann kann man ermessen, welche Leistung hier den Sängerinnen und Sängern, dem Dirigenten und dem Orchester abverlangt wird. „Carlo il Calvo“ ist eine opera seria in Reinkultur. Die in Bayreuth leicht gekürzten Rezitative spinnen den Handlungsfaden, in den endlosen Arien entfalten die Protagonisten ihre Stimmungen und Befindlichkeiten, ermahnen sentenzartig zu einer tugendhaften Lebensführung, die angesichts des herrschenden barocken Bewusstseins der Vergänglichkeit und vanitas allen irdischen Lebens eine ganz besondere Bedeutung gewinnt.
Auch in Porporas Oper siegt zum Schluss die Tugend über das Laster, triumphieren Beständigkeit, sittliches Verhalten, Gerechtigkeit und Edelmut über Niedertracht und verbrecherisches Tun. Die sittliche Weltordnung wird wieder hergestellt. Wenn sich dieser moralische Exkurs über mehr als fünf Stunden hinzieht und damit mühelos mit den zeitlichen Dimensionen eines „Tristan“ konkurrieren kann, so könnte sich beim Hörer schon leicht ein Gefühl der Ermüdung einstellen, zumal die Sitzposition in den Seitenlogen den Besuchern, auch dem Rezensenten akrobatische Halsverrenkungen abfordern, um das Geschehen zu verfolgen. Doch Langeweile ergibt sich nicht, da die sängerischen Leistungen überragend sind und Cencics Regiekonzept aufgeht.
Porporas Oper fußt auf einem venezianischen Libretto von 1689 und handelt von den Erbstreitigkeiten im Haus der Karolinger nach dem Tod Ludwigs des Frommen. Dessen Sohn Lothar will dem sechsjährigen Sohn Ludwigs aus zweiter Ehe, Karl dem Kahlen, sein Erbe entreißen. Ludwigs Witwe Guiditta hofft durch eine Heirat ihrer Tochter Gildippe mit dem Sohn Lothars (Lottario), nämlich Adalgiso, den Familienzwist zu kitten. Doch Lottario und sein Vertrauter Asprando, der in Wahrheit Karls Vater ist, lassen keine Gemeinheit und Intrige aus, schrecken sogar vor Entführung und Morddrohung nicht zurück, um Karl sein Erbe zu entreißen. Nur der standhaften Gegenwehr Adalgisos ist es zu verdanken, dass Lottario sein verbrecherisches Handeln einsieht und seine Pläne aufgibt. Überglücklich kann Adalgiso seine geliebte Gildippe in die Arme schließen.
Cencic verlegt die mittelalterliche Handlung in das Südamerika, vielleicht Kuba der 20er Jahre und präsentiert eine feudalistische, mafiöse Großfamilie, in der Liebe, Hass, Intrige, Aufrichtigkeit und Lüge, Tugend und Verbrechen schillernde Blüten treiben. Giorgina Germanou entwirft für diese Familiensoap stimmungsvolle Bilder. Ganz zu Anfang sieht man ein Speisezimmer mit einer riesigen Tafel, an der sich die Familienmitglieder zum Schmaus versammelt haben (Kostüme: Maria Zorba). Der Patrone überlebt dieses Festmahl nicht und stürzt rücklings von seinem Stuhl. Während alle bestürzt auseinanderstieben, bricht die Witwe in ihrem Rollstuhl in gellendes Gelächter aus, da sie schon ahnt, was der Erbstreit nun anrichten wird. Im Schlussbild versammeln sich alle nach einer fetzigen Tanzeinlage wieder an dieser üppigen Familientafel. Nun scheint alles im Lot zu sein, wäre da nicht die Alte, die sich mit gellendem Gelächter über den Scheinfrieden lustig macht. In den Szenen dazwischen spielt die Handlung in einer illustren Bibliothek oder in einem Palmen-Patio, in dessen schwüler Atmosphäre (Licht: David Debrinay) bezeichnenderweise Lottarios Entführungs- und Mordanschlag auf seinen Stiefbruder Karl stattfindet, aber auch ein Kurzzeit-Outing Asprandos, der Lottario verführt, um machtpolitisch auf der Siegerseite zu sein.
Musikalisch konnte man an diesem Abend eine Sternstunde der Barockmusik erleben. George Petrou, der Leiter der Göttinger Händelfestspiele, spielte selbst den Cembalopart und trieb sein Orchester Armonia Atenea zu einem ungemein temperamentvollen, drängenden Spiel an. Max Emanuel Cencic gibt mit Schnauzer, Weißhaar und Stock eine herrlich überzeichnete Charakterstudie Lottarios. Vor allem in der Mittellage singt er mit wunderbar weicher, melodischer Stimme, schreckt aber auch nicht vor grellen Tönen zurück, wenn es darum geht, die Rücksichtslosigkeit des Clan-Paten darzustellen.
Als Stimmwunder unter den Countertenören präsentiert sich Franco Fagioli auch in der Rolle des Adalgiso. Seine Arie „Spesso di nubi cinto“ im 5. Bild des zweiten Aktes ist einer der beiden Höhepunkte an diesem denkwürdigen Opernabend. Wie Fagioli die halsbrecherischen Koloraturkaskaden dieser irrsinnig schweren Arie meistert, ohne auch nur einmal einen Ton nicht genau zu treffen, das ist wirklich Gesangsmagie in Vollendung. Im zweiten Höhepunkt dieses Abends, dem herrlichen Liebesduett zwischen Gildippe und Adalgiso in der vierten Szene des 3. Akts („Dimmi, che m’ami“) zeigt Fagioli, dass er auch ein Meister der leisen Töne ist, die einen fast schmerzhaften Wohlklang erzeugen.
Der dritte Countertenor Bruno de Sá verkörpert den spanischen Fürsten und Freund des Hauses Bernardo und besticht mit leuchtenden Spitzentönen und makellosem Sopran. Julia Lezhneva als Gildippe berührt vor allem im Liebesduett mit ihrer in der Mittellage warmen Sopranstimme, während sie in den Koloraturarien doch öfter gezwungen ist, die Höhen zu forcieren.
Suzanne Jerosme als Gildippes Mutter Guiditta, Nian Wang als Guidittas Tochter Eduige und Petr Nekoranec als Asprando komplettierten eine Sängerriege, die neben Dirigent, Orchester und Regieteam von dem enthusiasmierten Premierenpublikum auch nach fünf Stunden begeistert und minutenlang gefeiert wurde.
Fazit: Dieses Barockfestival hat einen fulminanten Start hingelegt und man darf sich jetzt schon auf das Jahr 2021 freuen, wenn Porporas Oper „Carlo il Calvo“ in derselben Besetzung erneut auf dem Spielplan stehen wird.
Norbert Pabelick
(06.09.2020)
WAGNER, SIEGFRIED
AN ALLEM IST HÜTCHEN SCHULD
Premiere: 9.8. 2019
Grauen und Gemütlichkeit
Er habe, so heißt es in der Werbeankündigung der Siegfried-Wagner-Gesellschaft e.V., „mehr Opern komponiert als sein Vater!“ Das Ausrufezeichen stammt nicht von mir, aber es ist seltsam: als ob die bloße Quantität etwas Relevantes über einen Komponisten aussagen könnte. Wäre man ehrlich, dann könnte man sagen: Siegfried Wagner hat nicht nur eine Oper mehr vollendet als sein Vater – er hat auch so viele ungespielte geschrieben, wobei diese in umgekehrter Relation zu den 13 gespielten seines Vaters stehen. Denn selbst „Die Feen“ wurden in den letzten 20 Jahren öfter aufgeführt und inszeniert als nur eine einzige Oper des Sohnes. Man kommt übrigens auf eine weit höhere Ziffer als 13, wenn man Jung-Richards Schauspiel „Leubald“ und die Opernfragmente „Die Hochzeit“ und „Die glückliche Bärenfamilie“ sowie das von Friedrich Kittl vertonte Textbuch der „Hohen Braut“ und die Fragmente „Jesus von Nazareth“ und „Die Sarazenin“ hinzuzählt, die gleichfalls, völlig unabhängig von einer Privatgesellschaft, in den letzten Jahren und/oder noch 2019 in Bayreuth gespielt wurden und werden… Es ist andererseits bemerkenswert und sollte nicht unterschlagen werden, dass in den letzten 30 Jahren ohne die Siegfried-Wagner-Gesellschaft und die Initiative eines einzigen Regisseurs, also P.P.P.s, keine Siegfried-Wagner-Aufführung stattgefunden hätte. Auch in der nächsten Spielzeit wird – man mag es bedauern oder achselzuckend zur Kenntnis nehmen – keine einzige Oper Siegfried Wagners in irgendeinem Opernhaus der Welt auf die Bühne kommen. Verraten der unsinnige numerische Vergleich und das Satzzeichen also nicht einen unbewussten, aber umso deutlicheren Minderwertigkeitskomplex?
Dabei hätten die Statthalter Siegfried Wagners auf Erden, also Achim Bahr und der Regisseur Peter Paul Pachl, die seit vielen Jahren mit nicht genug zu bewundernder Zähigkeit an der noch nicht gelungenen Durchsetzung der Werke Siegfried Wagners arbeiten, trotz der in 40 Jahren ausgebliebenen Siegfried-Wagner-Renaissance genügend Gründe, um stolz zu sein. Fast alle Opera des Meisters – nicht des „Genies“, wie man gelegentlich behauptet – wurden auf CD eingespielt, ein (freilich naturgemäß panegyrisch orientiertes), aufwendiges Periodikum informiert regelmäßig über Aktivitäten der Siegfried-Wagner-Gemeinde – und, dies vor allem, die jüngste Aufführung des op. 11 des „Sohns“, wie die Biographie Zdenko von Krafts ihn 1969, sicher nicht zu dessen posthumer Freude, den Komponisten titelmäßig nannte, zeigte in großen Teilen, dass es sich lohnen würde, die Opern auch einmal außerhalb des Kreises der unmittelbaren Siegfriedwagnerianer auf die Bühne zu bringen. „An allem ist Hütchen schuld“ enthält nämlich eine über weite Strecken interessante und bannende, durchaus nicht so konservative Musik, wie es sich diejenigen vorstellen, die wieder einmal nicht da waren. Die erste der zwei Aufführungen im Markgräflichen Opernhaus, die anlässlich des 150. Geburtstags über die Bühne ging, zog nur wenige Besucher und noch weniger Bayreuther an. Völlig unabhängig davon, ob Siegfried Wagner nun angeblich ein „Genie“, nach Schönbergs Diktum besser als manch bekannter Zeitgenosse, oder „nur“ ein wirklich guter Musiker war, woran zu zweifeln es aufgrund fehlender Ökonomie der Mittel und einer überbetont launigen Tonsprache manchmal gute Gründe gibt, ist es immer wieder peinlich zu sehen, wie sich das Bayreuther Publikum dem trotz reizvoller Richard-Wagner-Anklänge durchaus eigenständigen Komponisten verweigert. Es dürfte nicht allein an den Münchner Eintrittspreisen im Opernhaus gelegen haben. Es dürfte vor allem daran liegen, dass die Bayreuther altgierig, nicht neugierig sind.
Selber schuld, denkt sich der Opernfreund, der nach einem schönen ersten Akt plötzlich einen zweiten Akt hört, in dem der Komponist von 1914/15 gezeigt hat, dass er ein Zeitgenosse Schönbergs und Schrekers war. Der Fall ist interessant: Die im wahrsten Sinn des Wortes schräge Harmonisierung der Charaktere von Tod und Teufel und Menschenfresser dient zunächst einer äußerlichen Figurenzeichnung, die eben nicht so sacharinsüß ins Ohr klingen kann wie die Liebesgeständnisse des herzensreinen Katherlies'chen und des treuen Frieder oder so aufgeräumt launig wie einer der vielen, in der Müllerinnenszene ungewöhnlich stark wienerisch gefärbten Walzer und komischen Sequenzen, die Siegfried Wagner besonders gern komponierte. Dahinter aber scheint wesentlich mehr zu stecken. Scheint es nicht so, als habe sich Siegfried Wagner hier – in bewusster Auflehnung gegen das ästhetische Diktat der Umwelt seiner „Bayreuther“ und der Wahnfriedfamilie - nicht gegen die Zumutung aufgelehnt, immer nur „gemütlich“ und „gemütvoll“, im Sinne der „Bayreuther Blätter“ also „deutsch“ zu komponieren? Siegfried Wagners Musik ist immer „wohltönend“ und, versehen mit den Mitteln der modernen Instrumentationskunst, unkompliziert und bisweilen nervig „lustig“. Interessant aber wird sie erst dort, wo sie sich aufs Dunkle, Schroffe und leicht Bizarre, plötzlich nicht mehr Aufgeregte oder betont Lyrische, wenn auch betörend Einschmeichelnde (die Solo-Violine!) konzentriert: so wie in der großartigen Königssohnszene (Tristan-und Parsifal-Töne klingen reizvoll und diskret genug an), so wie in der Hölle. Es changieren plötzlich Grauen und Gemütlichkeit. Plötzlich gelingen Siegfried Wagner auch in den volkstümlich sein wollenden Sequenzen hinreißende, weil rhythmisch gespannte und melodisch einigermaßen originelle Passagen, deren Nähe zu Dvořák und Smetana den Hörer eher beglückt als befremdet. Wunderbar auch die Szene mit des Teufels „Ellermutter“: ein ins Gemütliche aufgelöster Strawinsky. Die Liebesgesänge und das Erlösungsende, dem der balsamische Beginn des wie immer bei Siegfried Wagner kaum unter 20 Minuten langen Vorspiels mit seinem naiven Katherlies'chen-Thema die Weisung gibt, werden schließlich ein wenig anders gehört, wenn man sie als Umrahmungen der harmonisch avancierten Musik der Anderswelt begreift.
Glücklicherweise beweist die Aufführung mit einem erstklassigen Orchester (das Karlsbader Symphonieorchester unter David Robert Coleman), einem stimmigen Solisten-Ensemble und den Choristen des Philharmonischen Chors Nürnberg die These, dass diese Siegfried-Wagner-Oper nicht zur berühmt-berüchtigten Reihe „Opern, die die Welt nicht braucht“ gehört. Mag sein, dass dem Komponisten, der sein eigener Textdichter war, ein guter, musikalisch objektiver Dramaturg fehlte, der ihm hätte beibringen können, wie aus dem Guten das Bessere zu machen ist, Stichwort: Differenziertheit der Tonsprache zwischen bewegten und unbewegteren Sequenzen, Ökonomie der Mittel. Ich vermute, dass die Absenz der Opern Siegfried Wagners auf den Bühnen dieser Welt von dieser Unökonomie, weniger von den Stoffen (pointiert: Stoffe sind nichts, der Stil ist alles) oder mangelnden „großen“ Einfällen abhängt, wie sie die Opern Strauss' bis zuletzt und noch und nöcher aufweisen. Die Tatsache, dass Wagner im „Hütchen“ weit über 40, vielleicht an die 80 Märchenmotive verarbeitet und zitiert hat, beweist ja noch nicht, dass Quantität über Qualität geht (siehe oben). Insgesamt aber ist es ihm gut gelungen, die verschiedensten Motive, den Knüppel aus dem Sack und den Goldesel, die Zaubernuss und die Kröte, den Hans im Glück und das Sternenkind, zu einer Prüfungs- und Erlösungsoper zu bündeln. Das bildliche Zitat der „Zauberflöte“ (Frieder ist, wie Siegfrieds Verwandter „Gil“ Gravina, ein Flötist) ist ein doppelter Wink mit dem Zaunpfahl – und es ist ein interessanter Zufall, dass just gleichzeitig Strauss und Hofmannsthal ihre „Zauberflöte“ in Gestalt der/des FroSch komponierten.
Worum aber geht’s? Um typische Märchenprüfungen in fantastischen Welten, nach deren Bestehen die beiden füreinander bestimmten Liebenden zueinander kommen und die scheinbare Naivität und Güte des Mädchens wie der Mut und die Listigkeit ihres Geliebten letzten Endes die Welt aus den Klauen des Bösen, also des Todes, des Teufels, aber auch des titelgebenden „Hütchens“ retten. Dieses (rote) Hütchen ist ein böser Kobold, gar nicht lustig, ein feixender Puck, nach dem Regisseur P.P. Pachl eine Allegorie des Unbewussten zumal des Katherlies'chens. Das Unbewusste: das ist das Unbezähmte, die Wildheit, die Widerborstigkeit. Mag sein, dass die Theorie stimmt, auf der Bühne wird sie nicht belegt: der Kobold (eine stumme Hauptrolle: Niklas Mix macht das mit Verve und betätigt sich schon im Vorspiel als Märchenbuchseitenausreißer) bleibt ein Störenfried, dem das Katherlies'chen vor den erregten Dörflern das Leben rettet, bevor er sich bei ihnen mit dem Zusammensturz des Hauses bedankt. Psychologisch wurde es schon im Vorspiel: das Katherlies'chen wird von einer schwarzen Männergang vergewaltigt – doch reicht diese Sequenz aus, um das „reale“ wie „märchenhafte“ Geschehen der drei Akte zu begründen? Ebenso absurd mutet das Szenarium an: die per Handkameras live gefilmten Videos, die, abgesehen von Detailaufnahmen ansonsten ungesehener Einzelheiten und Kleinigkeiten wie einer Kröte, nur selten einen Mehrwert bringen und an Frank Castorfs Videomanie erinnern, zeigen über der meist nur mit wenigen kleinen Tischen besetzten Vorderbühne eine Käserei. Kein Wunder: die Oper beginnt damit, dass die Heldin mehrere Käselaibe ins Rollen bringt, bevor sie in einer Betriebsversammlung vom „Dorfrichter“ vertraglich gezwungen wird, auf ihren Frieder ehelich zu verzichten. Grenzen der „Aktualisierung“, nun ja… Je länger aber der Abend dauert und die Musik spannender wird, desto weniger muss sich der Zuschauer über die Stimmigkeit oder den Unsinn dieser Verortung Gedanken machen. Sie wird angesichts der Märchenhandlung schlicht und einfach unwichtig, könnte auch, wem's gefällt, als surreal gedeutet werden. Der Zuschauer ist bei Pachl ja schon froh, wenn er nicht allzu ungelenke Gesten sieht; auch in dieser Hinsicht ist diese Inszenierung, bei allen peinlichen Einfällen, die nicht einmal durch die Annahme einer überwirklichen Märchenwelt legitimiert werden (eine Käsecreme als Lebenssalbe, nun ja...), ein Kompromiß zwischen dem Gewollten und dem technisch Machbaren. Denn der Tod mit seinen blutroten Stöckelschuhen, der gehörnte augenschwarzumrandete Bock von Teufel und der Menschenfresser, nicht zuletzt das sexy springende Löweneckerchen, sehen am Ende doch hinschauprovozierend aus (Kostüme: Christian Bruns).
Zur Hauptsache: den Sängern. Friedelind Wagner hat einmal gesagt, dass die Opern ihres Vaters nur mit erstklassigen Sängern gemacht werden sollten. Es ist Pachl, Bahr und ihren Mitstreitern gelungen, ein Ensemble zusammenzustellen, das nur als homogen bezeichnet werden kann. Wieder, wie schon bei der Bochumer Vorproduktion von 2015, steht Rebecca Broberg auf der Bühne, die die sozusagen echt wagnersche Monsterpartie des Katherlies'chens mit nicht nachlassender Vokalsicherheit und -eleganz ausfüllt. Ihr zur Seite: Hans-Georg Priese als Frieder, der die gleichfalls schwere Partie mit großem stimmsicherem Einsatz, dabei ohne Forcieren bewältigt. Frieders Mutter ist Alessandra di Giorgio, die aufgestatzte Trude wird von der elegant artikulierenden Maarja Purga gebracht, Axel Wolloschek ist ein guter Teufel (und anderes wie der Mond), Ulf Dirk Mädler glänzt vokal und schauspielerisch als Tod und Menschenfresser, Antonia Schuchardt spielt das bezaubernde Löweneckerchen, Sarah Marguerite Ring die freche Müllerin – und Joa Helgesson ist der Königssohn, der vom Katherlies'chen vom Tod befreit wird, und er ist der typisch gegürtete Siegfried Wagner, der sich nach der Prügelfuge plötzlich mit Jacob Grimm über die Frage zu streiten beginnt, ob es erlaubt sei, 40 Märchen zusammenzubrauen.
Es ist erlaubt – und dies nicht nur, weil der Regisseur selbst dem skulptierten Märchensammler und -forscher die Stimme in den videoanimierten Mund gelegt hat. Vorausgesetzt, die Partitur ist, alles in allem, so interessant wie diese – und die Umsetzung, unterm Strich und unter Abzug aller Beckmessereien, so musikalisch gut und so szenisch, nun ja: erträglich wie diese. Denn eine regielich nicht ganz so überzeugende und hässlich-grässlich plastiktütenversehene, wenn auch en detail im Schauspielerischen bewegende und gut gemimte Aufführung einer guten Siegfried-Wagner-Oper ist immer noch besser als keine.
Fotos: © Martin Modes (mit herzlichem Dankeschön)
Frank Piontek, 10.8. 2019