LONDON English National Opera
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AIDA
27.10.2017
Koproduktion mit Houston Opera und dem Theâtre de Genève.
Bevor ich überhaupt auf die musikalischen und szenischen Seiten dieser Neuproduktion von Verdis AIDA an der English National Opera eingehen kann, muss ich einen ganz grossen Ärger loswerden. Ich habe immer gedacht, die Briten seien gebildete, noble, wohl erzogene Musikliebhaber. Weit gefehlt an diesem Abend im grössten Opernhaus Europas, dem London Coliseum. Nicht nur, dass es das Management des Theaters offensichtlich duldet, dass Getränke in Plastikflaschen und -bechern mit in den Zuschauersaal genommen werden dürfen, nein auch Chipstüten werden während "Celeste Aida" und der Nilarie geöffnet und Popcorn während des "O terra addio" geknabbert. Zum Triumphmarsch werden auf der Bühne Särge von toten Soldaten beweint - durch den Zuschauersaal wehen Gerüche von Reiswaffeln. Allein in meiner Sitzreihe verfassten 9 Besucher während der Aufführung Nachrichten auf dem Smartphone!!! Ich weiss, Opernhäuser sind längst keine Tempel mehr. Doch eine Rückkehr in die alten Zeiten, als Adlige während Opernaufführungen in ihren Logen tafelten (und sich gar fleischlichen Genüssen hingaben), braucht kein echter Musikliebhaber. Am Ende sah der Boden des imperialen Saals des Coliseum aus wie ein Kino nach einer Vorführung von HANGOVER oder FAST AND FURIOUS 6.
Apropos "FURIOUS": Die Produktion der gefeierten Improbable Gruppe rund um Gründer, Regisseur und künstlerischen Direktor Phelim McDermott konnte einen auch wütend machen. Schöne Bilder zwar (Bühne: Tom Pye), doch nicht eine Spur von Interaktion und Spannung, vom Ausloten der Gefühle und Beziehungen zwischen den Protagonisten, von einer Einbettung in ein politisches Setting. Die Kostüme (Kevin Pollard) nahmen uns mit auf eine überstilisierte und überkandidelte Reise quer durch alle Epochen, von archaischen Tempelriten über den Imperialismus der Entstehungszeit der Oper, die Dreissigerjahre zur Moderne der Truppen mit Schusswesten, Schnellfeuerwaffen, Helmen. Dass solche Stoffe, insbesondere von Verdiopern, oft eine Allgemeingültigkeit haben, wissen wir, das muss uns nicht mehr so vordergründig auf die Nase gebunden werden. Immerhin, wie erwähnt, das Bühnenbild und das Lichtdesign (Bruno Poet) waren streckenweise ganz stark - konnten aber nicht verhindern, dass sich der Abend in die Länge zog. Die Dirigentin, Keri-Lynn Wilson, immerhin spürte Verdis Intentionen sehr genau nach, liess die wunderbar spielenden Streicher im Vorspiel fein und vielschichtig intonieren, baute gekonnt emphatische Steigerungen auf, gewichtete die Emotionen, welche man auf der Bühne vermisste, liess Nebenstimmen herrlich und farbenreich aufblitzen.
Einige Koordinationsprobleme mit den Sängern traten auf, doch das mag auch daran liegen, dass (wie in der ENO üblich) eine etwas holprige englische Übersetzung gesungen wurde, die manchmal wie zu verzögertem Ansetzen von Gesangsphrasen führte. Prächtig sang der Chor (James Henshaw), exzellent die Hohe Priesterin (Eleanor Dennis). Von den Protagonisten muss man klar Latonia Moore in der Titelrolle an erster Stelle hervorheben. Sie ist ja unterdessen (seit ihrem berühmten kurzfristigen Einspringen an der MET) weltweit beinahe die Aida vom Dienst, hat die Rolle über hundertmal auf der Bühne gesungen. Latonia Moore besitzt eine ideale Stimmfarbe für die Rolle, kann, wo geboten, ganz gross auftrumpfen - manchmal, wie im Kulminationspunkt der Nilarie, vielleicht die Resonanzräume etwas zu weit öffnend. Daneben aber auch wunderbare Piani, das finale Duett mit Radamès geriet zu einem berührenden Höhepunkt. Gwyneth Hughes Jones war ein stattlicher Feldherr. Seine Eröffnungsarie gestaltete er sicher, wagte sogar mutig ein Diminuendo auf dem hohen b am Ende (wie von Verdi gefordert), wo andere Tenöre um des Effektes willen weiter auf der Fermate brüllen.
Intonationsmässig klang einiges an gewissen Stellen bei ihm etwas gewöhnungsbedürftig, doch das mag auch am englischen Text liegen, dass man vieles etwas anders im Ohr hat von der italienischen Originalversion her. Makellos sauber hingegen Michelle DeYoung als Amneris. Sie drang zwar nicht immer voll durch, dafür pflegte sie einen Gesangsstil ohne Forcieren oder Rumwühlen in brustigen Registern. Fantastisch und packend gelang ihr die Gerichtsszene. Sehr gut und mit Prägnanz sangen Musa Ngqungwana als Amonasro und Brindley Sherratt als Ramfis. Ronald Nairne (kurzfristig eingesprungen) gab einen soliden König.
Bilder (c) Tristram Kenton, mit freundlicher Genehmigung ENO
Kaspar Sannemann 2.11.2017
DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG
am 25.2.2015
Deutsche Meister zwischen Tradition und künstlerischem Wandel
Die Meistersinger im 1. Aufzug.
Allein der Blick in den eklektisch gestalteten Zuschauerraum des London Coliseum, dem Haus der ENO, in dem konsequent Englisch gesungen wird, ist schon einen Besuch dieses zweitbedeutendsten Londoner Opernhauses wert. Zudem sind die Ränge sehr steil angeordnet, sodass man ständig die Wände seitlich und über der Bühne mit ihrem prunkvollen Ornat im Blick hat – bisweilen wirken sie wie ein Teil der Aufführung. Diesmal, bei der ersten „Meistersinger“-Aufführung am Coliseum seit 30 Jahren in einer Inszenierung von Richard Jones, die vor fünf Jahren an der Welsh National Opera heraus kam – gab es schon lange vor Einsetzen des Vorspiels einen starken Kontrast zu dieser opulenten Optik: Ein riesiger Bühnenparavant zeigt eine große Zahl von Künstlern und solchen, deren professionelle Aktivität Kunststatus erreicht hatte, aller Sparten, aus dem deutschsprachigen Raum, etwa vom 18. Jahrhundert bis heute! Da sind unter vielen anderen in buntem Durcheinander W. A. Mozart, H. von Karajan, S. Freud, A. Schnitzler, G. Grass, L. van Beethoven, M. Hanecke, B. Brecht, Th. Mann, H. Weigel, A. Silja, W. Wenders, M. Dietrich und J. Beuys zu sehen. So divers alle diese Persönlichkeiten waren und teilweise heute noch sind, für Richard Jones haben sie alle eines gemeinsam: In ihrem jeweiligen künstlerischen Umfeld waren sie entweder Agenten des Neuen oder haben wenigstens am Establishment althergebrachter Normen gekratzt und somit Neuem den Weg gebahnt, bzw. die Sicht auf ihre jeweilige Kunstform verändert. Und genau damit will der Regisseur – äußerst trefflich – in das Thema seiner „Meistersinger“- einführen. Auch Walther von Stolzing war jemand, der durch seinen neuartigen Gesang im 16. Jahrhundert das überkommene Traditions- und Regelwerk der Meistersinger ins Wanken brachte und auf ungewohnt unkonventionelle Weise ein signifikantes Umdenken in ihrer Gesangskunst ermöglichte.
Den übersteigerten Traditionalismus macht Jones auf bisweilen grotesk anmutende Art und Weise im 1. Aufzug deutlich. Er setzt das Stück zwar im Nürnberg zur Entstehungszeit um 1868 an, zeigt aber die Verfangenheit der Meisterzunft in den Regeln und Bräuchen, die noch aus dem 16. Jahrhundert stammen. Sie sind allesamt mit Blindheit geschlagen, dass und wie man diese Regeln eventuell ändern könnte. Die Regeln, die die Kunst bestimmen, sind völlig festgefahren. So ist für den Regisseur der Chor in der Katharinenkriche „a faux Bach chorale from two centuries later“…
Was uns Bühnenbildner Paul Steinberg und die Kostümbildnerin Buki Schiff aber dann im 1. Aufzug vor Augen führen, ist an Traditionalismus und Steifheit kaum noch zu überbieten. Die bis auf die Lage des letzten Fadens übereinstimmenden purpurroten Roben der Meister, die güldene Kunststatue wie Ausdruck eines individuellen künstlerischen Unfehlbarkeitsanspruchs hinter jeder Kathedra, an der sie mechanisch Platz nehmen und das stereotype Herunterrasseln der Tabulatur durch Kothner vernehmen, dann die Vorführung der verschiedenen Weisen durch David, die alle in einer kleinen Box eingeschachtelt daher kommen, dass es Walther nur Angst und Bange werden kann angesichts solcher künstlerischer Klaustrophobie und Beschränktheit. Das alles in der noch akzentuierenden Lichtregie von Mimi Jordan Sherrin machte doch einigen Eindruck.
Andrew Shore als “Beckmesser”
Allein der großartige Iain Patersen als Hans Sachs sorgt hier für starke dramaturgische Kontrapunkte – er steht im Zentrum dieses Abends, nicht nur mit einer intensiven und die ganze Persönlichkeit, aber auch die Zerrissenheit des Sachs im Spannungsverhältnis mit Beckmesser und Eva zeigenden Darstellung, sondern auch mit seinem klangvollen und bei bester Wortdeutlichkeit total höhensicheren Bassbariton. Mit dem Bayreuther Alberich aus dem T. Dorst-„Ring“ Andrew Shore hat er einen stimmlich ebenso eloquenten wie farbigen, mit hoher Phrasierungskunst und darstellerisch auf Augenhöhe operierenden Edel-Beckmesser vor sich. Shore entfaltet hier ein bemerkenswertes Spieltalent. Er ist im 2. Aufzug bei seinem Ständchen einfach nur zu bemitleiden, bevor er sich in dieser Inszenierung nach der bewusst ebenfalls traditionell gehaltenen Prügelszene mit Schlafmützen und allem, was damals bei Nacht dazu gehörte, mit einem einzigen Kleidungsstück, der zertrümmerten Laute, von der Bühne schleichen muss… Der 2. Aufzug ist von den klassischen Nürnberger Fachwerkhäusern des 19. Jahrhunderts bestimmt. Was die Spannung dieses Aufzugs ausmacht, ist die gute Personenregie von Richard Jones und die ebenso lebhafte wie überzeugenden Choreographie von Lucy Burge.
Auch im 3. Aufzug lässt uns die romantische Optik nicht los. Die Schusterstube quillt über mit allen möglichen und unmöglichen Klischees und Utensilien aus der Zeit, wie Jagdtrophäen, Schmuckteller, alle möglichen Erinnerungsbilder, dicke Folianten – darin erst einmal Sachs noch im Nachthemd. Im Wahnmonolog glänzt Iain Patersen einmal mehr mit wunderbarer Phrasierung und Farbgebung seines expressiven Bassbaritons – der Monolog wird gerade vor der allzu detailverliebten Ästhetik der Schusterstube zum Dreh- und Angelpunkt dieses Aufzugs, wenn nicht des ganzen Abends. David legt sich zur Traumdeutung wie bei S. Freud auf die Couch, und Andrew Shore sorgt für einige gekonnte komödiantische, aber im Grunde tragische Spezialeffekte. Gwyn Hughes Jones hat als Walther von Stolzing einen gut geführten und durchaus kräftigen Tenor, er singt auch alle Höhen – allein das Timbre ist nicht sehr schön, und die Stimme hat relativ wenig Resonanz, sodass es an der wünschenswerten Klangentwicklung und auch an Emotionalität mangelt. Darstellerisch wirkt er eher verhalten. Rachel Nicholls beginnt als Eva im 2. Aufzug mit einem zwar kräftigen, aber noch etwas unruhigen Sopran, bei dessen Höhen sich auch ein leichtes Vibrato andeutet. In der Schusterstube und als Stimmführerin im sehr guten Quintett wartet sie nach diesem vielleicht auf Anfangsnervosiät zurück gehenden Manko dann mit ein einem klangvoll leuchtenden Sopran auf – am Ende eine auch darstellerisch sehr gute Leistung.
Ian Patersen (Sachs), Nicky Spence (David), Madeleine Shaw (Magdalene) und Rachel Nicholls (Eva).
Nicky Spence singt als David ebenfalls mit einem kräftigen, lyrisch timbrierten Tenor, aber nicht durchgehend mit bester Klangentfaltung und bleibt in der Höhe bisweilen etwas dünn. Dafür ist er schauspielerisch sehr gut. Madeleine Shaw singt mit ihrem farbigem Mezzo eine sehr gute Magdalene. James Creswell spielt einen leicht eitlen Veit Pogner und singt ihm mit markantem Bass. David Stout hat farbige Töne für den Kothner, und die übrigen Meister passen sich perfekt in das Ensemble ein (Peter Van Hulle als Kunz Vogelgesang, Quentin Hayes als Konrad Nachtigall, Timothy Robinson als Ulrich Eisslinger, Nicholas Folwell als Hermann Ortel, Richard Roberts als Balthasar Zorn, Stephen Rooke als Augustin Moser, Roderick Earle als Hans Folz und Jonathan Lemalu als Hans Schwarz). Den Nachtwächter gibt dunkel prägnant Nicholas Crawley. Der großartige Chor war von Martin Fitzpatrick einstudiert. Beim „Wacht auf!“ bebte fast die Bühne. Besonders gut gelang die musikalische Harmonie zwischen Chor und dem Ende des Preislieds auf der Festwiese.
Das Stück endet völlig schlüssig und überzeugend wie es begann: Zu „Ehrt Eure deutschen Meister!“ zeigen die Meistersinger nach und nach die Konterfeis einiger jener Künstler und Kunstbeflissenen, die auf dem Bühnenparavant zu Beginn zu sehen waren. Hans Sachs hingegen das Bild von Sachs – besonders groß. Man hat den nötigen Wandel erkannt und damit das Neue angenommen – von hier aus kann und sollte es so weitergehen…
Der Musikdirektor der ENO, Edward Gardner, dirigierte das Orchester der ENO mit viel Verve und offenbar großer Kenntnis der „Meistersinger“-Partitur, denn er legte gekonnt viel Wert auf die psychologische Feinzeichnung der großen verinnerlichten musikalischen Momente. Das Vorspiel nahm er relativ leicht und beschwingt, ohne jedes Pathos, welches sich ja ohnehin gleich darauf bei den Meistersingern auf der Bühne sehen ließ. Musikalisch äußerst geschlossen und dynamisch gelang die Prügelszene im 2. Aufzug. Die großen musikalischen Höhepunkte waren aber das kontemplativ-melancholisch musizierte Vorspiel zum 3. Aufzug, der Wahn-Monolog des Sachs, wobei auch die hervorragenden Hörner des ENO zu leuchtend romantischen Klängen fanden. Gardner konnte auch dem Quintett im 3. Aufzug schöne Nuancen entlocken und war sichtlich stets um gute Sängerführung bemüht. Großer Jubel für alle Beteiligtem, insbesondere aber für Iain Patersen als überragendem Sachs und Edward Gardner mit dem Orchester. Eindrucksvolle „Meistersinger“ am London Coliseum!
Klaus Billand 21.3.15
Fotos: Catherine Ashmore/ ENO