
Foto (c) MuK / Malzahn
Neujahrskonzert in der Lübecker Musik- und Kongreßhalle
am 1. Januar 2020
„Klassisches Wiener Programm“ – Stücke von Johann Strauss (Sohn), Josef Strauss und Franz von Suppé sowie Zugaben (Johann Strauss Vater und Sohn)
Sieben Türme im Dreivierteltakt
Wenn 2020 damit beginnt, daß Erwartungen übertroffen werden, kann es kein wirklich schlechtes Jahr werden. Zumindest musikalisch dürfen die Lübecker sicher sein, daß GMD Stefan Vladar und das Philharmonische Orchester das erste der neuen, hoffentlich goldenen Zwanziger Jahre auf höchstem Niveau zum Leuchten bringen werden.
Nachdem in der Silvesternacht binnen weniger Minuten die Türme der Hansestadt im Pulverqualm nahezu unsichtbar wurden und man im Böllerlärm nicht mehr hörte, ob denn überhaupt die Glocken läuteten, war der Appetit auf eine klangliche Katervesper groß.
So war denn die Tafel aus vielen bewährten Krachern und zwei eher selten gehörten Stücken schon programmatisch angemessen angerichtet. Die Mischung aus schwungvoller Frische und pfeffriger Dynamik mit humorvollen Einlagen machte dieses Neujahrskonzert aber zu weit mehr als nur einem Schmankerl. Wenn daher des Rezensenten Neffe, der eigentlich eher zu schwermetallischer Kost neigt, nach dem Konzert von großartiger Unterhaltung schwärmte, dann waren Wunderkerzenfunken übergesprungen.
Seien wir ehrlich – die meisten der Strauss-Walzer und Polkas hat man gefühlt 3.000mal gehört, aber Vladar und das Lübecker Orchester haben an diesem Abend immer wieder ein „Frisch-wie-beim-ersten-Mal“-Gefühl geschaffen. Der erste Abend des jungen Jahres durfte selbstverständlich unterhaltsam sein und einfach Freude machen, aber es war doch eine Überraschung für das Lübecker Publikum, den Wiener Dirigenten nach den emotional schwerbeladenen Schostakowitsch- und Tschaikowski-Aufführungen einmal als charmanten Spaßvogel zu erleben.
Suppés Ouvertüre zum dahinter völlig vergessenen Lustspiel „Dichter und Bauer“ ist einer der angesprochenen bewährten und beliebten Kracher. Eigentlich schreibt sich der Name wegen der italienischen Herkunft der Familie mit einem Gravis auf dem „e“ und eine schwelgerische Italianità klang daher auch in der „MuK“ klar heraus. Gerade bei den Passagen im ¾-Takt ist eine Nähe zu Verdi auch qualitativ nicht zu leugnen. Auf die ersten Bravo-Rufe nach der fein akzentuiert und an den entsprechenden Stellen zackig gespielten Ouvertüre folgte der weniger häufig gespielte Strauss-Walzer „Tausend und eine Nacht“. Der Titel verheißt zwar Orientalismus, aber die erste Operette von Johann Strauss, „Indigo und die 40 Räuber“, geht eindeutig wienerische Wege. In Lübeck war es das Stück einer musikalischen Sachertorte mit zart schmelzendem Schokoladenüberzug. Saftig orientalistisch geht es natürlich im „Egyptischen Marsch“ zur Sache. Über diesen Exotismus mit dem Schlagobers-Häuberl muß und darf man grinsen, weshalb auch die ersten Publikums-Lacher zu hören waren, als die Orchestermitglieder an bekannter Stelle mit feierlichem Ernst mitsangen. „Unter Donner und Blitz“ wurde der erste Teil des Konzerts beschlossen. Wer dieses Strauss´sche Gute-Laune-Gewitter mit so vielen albernen Faxen in den Saal entläßt, dabei aber in jeder Sekunde das Orchester exakt im Griff hat, ist ein echter Maestro.
Die „Sphären-Klänge“ nach der Pause waren solche, in die man sich ganz irdisch hineinlegen mochte, so nuanciert und glanzvoll wurden sie gespielt. Vladar streichelte mit seinen geschmeidigen Bewegungen eher das Orchester als daß er es führte. Schade, daß man nicht einfach seine Frau an der Hand fassen konnte, um mit ihr dann diese Musik tanzend zu hören. Mit der „Fledermaus“-Ouvertüre als Programmpunkt kann man zwar wenig falsch machen, aber die Gefahr der Langeweile liegt bei einem Stück, das wirklich jeder kennt, nicht fern. Die perlende Dynamik hier war hingegen akustischer Champagner. Ein Prosit zwischendurch!
„Aus der Ferne“ grüßte dann der Bruder Josef, dessen Kompositionen meist einen melancholischen Unterton durchklingen lassen; ihr Duktus ist weniger leicht als der seiner Brüder und eine sanfte Wehmut trug folglich diese Polka Masur (eigentlich Polka-Mazurka), zumal Moll-Tonarten sowohl für die Strauss-Familie als auch für ein Neujahrskonzert eher ungewöhnlich sind. Gerade das machte aber den Reiz dieser vielfältigen Veranstaltung aus – es ist halt nicht alles nur leichte Walzerseligkeit, was von der Donau dahertanzt. Um so witziger war wiederum die Idee, die Triangel für die „Pizzicato-Polka“ der Brüder Johann und Josef an den Dirigenten zu übergeben, da der Schlagwerker offenbar mal dringend raus mußte. Zart und meisterhaft synchron zupften die Streicher, Vladar und das Publikum hatten ihren Spaß.
Die schillernden Libellen, die Josef Strauss gemeinsam mit seiner Frau über dem Traunsee fliegen sah, inspirierten ihn zu seiner Polka-Mazurka „Die Libelle“. Dem leichten Schweben der Insekten mit den zarten Flügeln entsprach der Orchesterklang, mit einer Messerspitze Schwermut. Wieder sehr leichtfüßig tänzelte Bruder Johann anschließend mit seiner „Tritsch-Tratsch-Polka“ durch die „MuK“ und erneut durften Orchester und Dirigent ihre Wandlungsfähigkeit von einem Moment zum anderen unter Beweis stellen. Bevor das laut Programm letzte Stück, der Walzer „Frühlingsstimmen“, die kühle Neujahrsnacht vergessen ließ, wußte das Publikum bereits von den geahnten und erhofften Zugaben; Vladar hatte die Ansage mit dem traditionellen Neujahrsgruß verbunden.
Die Bezeichnung des quirligen „Perpetuum mobile“ von Johann Strauss (Sohn) rührt von einem Motto, das die Strauss-Brüder für einige ihrer Bälle gewählt haben, „Carnevals-Perpetuum mobile oder Tanz ohne Ende“. Dieser musikalische Scherz scheint gar nicht aufhören zu wollen, was Vladar denn auch mit einem „und so weiter, und so weiter…“ beschloß. Die ersten Takte der zweiten Zugabe, des „Donauwalzers“, begrüßte das Publikum mit einem schwärmerischen „Aaah!“ und Beifall. Das war zu dankbar, als daß man den begeisterten Lübeckern hätte bös sein können und so fing das Orchester noch einmal von vorne an. Schließlich kam, was kommen mußte, anders hätte man den Wiener Dirigenten nicht aus dem Saal gelassen: natürlich der „Radetzky-Marsch“ von Vater Johann Strauss. Ähnlich wie Daniel Barenboim 2014 in Wien verfuhr Vladar, damit das zackige Stück nicht totgeklatscht wird, indem er nun auch das Mitklatschen dirigierte.
Das Fazit dieses glanzvollen Neujahrskonzerts: jahrelang hat man sehnsuchtsvoll die Übertragung aus Wien gehört, gesehen und sich an die Donau gewünscht. Das ist nun nicht mehr notwendig, denn: Tu felix Lubeca…hast ja nun den Vladar!
Prosit Neujahr!
Wünscht Ihr Andreas Ströbl, 3.1.2019
4. Sinfoniekonzert
Gioacchino Rossini: Ouvertüre zu „Die Italienerin in Algier“
Dmitri Schostakowitsch: Konzert für Klavier, Trompete und Streichorchester c-Moll op. 35
Alfredo Casella: Symphonie Nr. 1 h-Moll op. 5
Leitung: Francesco Pasqualetti
Klavier: Sofja Gülbadamova
Trompete: Joachim Pfeiffer
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck
Besuchtes Konzert am 15. Dezember 2019
Doppelte Advents-Überraschung
Die drei musikalischen Kerzen, die am 3. Advent in der Lübecker MuK (Musik- und Kongreßhalle) angezündet wurden, hatten auf den ersten Blick wenig miteinander gemein. Allerdings sind es alles Frühwerke der jeweiligen Komponisten und das Lübecker Publikum durfte auf eine entsprechend erfrischende Matinée gespannt sein.
Rossini mit seiner quirligen Italianità schien als Wachmacher da bestens geeignet und so exakt und leicht die Streicher die eröffnenden Pizzicati zupften, der Funke wollte nicht recht überspringen, auch wenn der Gastdirigent Francesco Pasqualetti heißt. Man hat diese wohlbekannte Ouvertüre schon pfeffriger gehört, wobei der Dirigent alles andere als unleidenschaftlich wirkte. Die für den Komponisten so typische Dynamik hatte hier einen gezähmten, fast braven Duktus, zudem war der Klang der Oboen- und Streicher zwischenzeitlich etwas verwaschen. Was so leichtfüßig dahertanzen soll, muß ebenso exakt wie schmissig gespielt werden, gemäß dem Wort des Dichters Stendhal, der die Oper eine “organisierte und vollkommene Verrücktheit“ nannte. Das hätte einen Espresso mehr vertragen.

Dafür war gleich bei den ersten Tastenanschlägen in Schostakowitsch´ eigenwilligem Konzert für Klavier, Trompete und Streichorchester klar, wer auf einmal das Ganze im Griff hatte. Die ungemein jugendlich wirkende russische Pianistin Sofja Gülbadamova (andere Schreibweise: Gjulbadamowa) bediente souverän die ganze Bandbreite des fatal anspruchsvollen Stücks und spielte so exakt, sensibel und mitreißend organisch mit dem Orchester, daß der nun hinter dem Flügel stehende Dirigent scheinbar nicht mehr viel zu tun hatte. Zuweilen fast kokett und voller Aufmerksamkeit blieb sie ständig in Verbindung mit dem Orchester. Winzige Synkopen akzentuierte sie lässig, ohne daß sie gekünstelt wirkten, womit sie eine wunderbare, feine Spannung erzeugte.
Spannung ist bei diesem Konzert durch die zahlreichen Zitate und Stimmungswechsel, aber auch durch den Wechsel von fast albernen Trompeteneinsätzen und lyrischen Momenten ohnehin der oszillierende Motor. Vielleicht müssen wir uns auch einmal bewußt machen, daß die großen Tragiker des späten 19. und des 20. Jahrhunderts, die musikalischen Cousins Gustav Mahler und Dmitri Schostakowitsch, auch jede Menge Humor hatten und daß nicht alles aus der Feder solch großer Leidenden zwangsläufig schwer und dramatisch sein muß. Der Komponist bezeichnete das während der Arbeit immer wieder veränderte Werk als "spöttische Herausforderung an den konservativ-seriösen Charakter des klassischen Konzert-Gestus". Da darf es dann auch mal krachen und parodistisch sein und das Publikum soll sich gerne amüsieren. Der Pianist Yefim Bronfman ließ keinen Zweifel an ebendieser Darstellung: "Besonders in diesem Konzert erfand er sehr viel Komisches und Unterhaltsames. Manchmal scheint es mir, wir wären im Zirkus." Gerade die Nähe zu Mahler, der die durcheinanderscheppernde Musik auf einem Rummelplatz als „seine Musik“ beschrieb, eröffnet hier das Verständnis für einen Schostakowitsch, der im Entstehungsjahr 1933 zwar schon reichlich von des Lebens Bitternis gekostet hatte, aber auf den der ganze Stalin-Terror erst noch einstürzen sollte.

Den Reiz des eigentümlichen Dialoges zwischen Klavier und Trompete, der viele Passagen des Konzerts prägt, machen nicht nur Stimmungs-, sondern auch Rhythmuswechsel aus, die von geradezu scharfkantigen Einsätzen leben. Das ist nicht einfach für beide Solisten und Joachim Pfeiffer an der Trompete hatte nicht nur damit vor allem im ersten Satz zu kämpfen. Die Strahlkraft der Trompete hätte man durch eine andere Positionierung dieses Solisten hervorheben können; er hätte ruhig stehen dürfen. Um so sicherer und kraftvoller beherrschte die Pianistin die Lage – einen kleinen Höhepunkt setzte sie zu Beginn des 4. Satzes mit einem wuchtigen Akkord, schallend wie die Ohrfeige eines zornigen Mädchens, das hinterher lachend den Kopf in den Nacken wirft. Ganz großer Auftritt und völlig unprätentiös.
Dann, nach der Pause Alfredo Casella, seine 1. Symphonie. Man fragt sich, weshalb dieser in Italien so bekannte Komponist, Pianist, Dirigent und Musikschriftsteller bei uns so gut wie nicht gespielt wird. Geboren 1883, befand er sich, ähnlich wie seine fast gleichaltrigen Kollegen Malipiero und Respighi in einer Umbruchszeit zwischen Spätromantik und Moderne, was mit der Suche nach einer italienischen Nationalmusik und der Beschäftigung mit entsprechender, mitunter sehr alter Musiktradition einherging. Casella hatte bei Fauré studiert und sein Freundes- und Bekanntenkreis war ein „Who´s who“ der erstrangigen europäischen Komponisten des frühen 20. Jahrhunderts. Die Rezeption hat ihm nicht verziehen, daß er sich mit seiner Oper „Il deserto tentato“ (1937) freiwillig vor den faschistischen Karren spannte, indem er den Abessinienfeldzug in Form eines Mysterienspiels feierte. Für eine Jugendsünde war er da schon zu alt, aber Casella hat bis zu seinem Tod 1947 weder seine jüdische Frau noch die musikalische Avantgarde und seine progressiven Kollegen verraten. Das hat tatsächlich Aufführungen seiner Musik in Nazi-Deutschland erschwert.

Casella selbst hat als reifer Tonsetzer vielmehr seine 1. Symphonie für eine eklektizistische Jugendsünde gehalten. In der Tat grüßen sie alle mal herein, Mahler, Mussorgsky, Wagner, Strauss, zuweilen denkt man auch an Franz Schmidt. Das wirkt aber alles andere als uneigenständig, Casella entwickelt eine durchaus authentische Tonsprache, aus der sich in geradezu symbolistischer Farbigkeit wunderbare Klangblüten erheben. Die kleinen Glissando-Schnitzereien im ersten Satz erweichen mögliche harte Tonsprünge und da war auch das Orchester sehr nuanciert und klar bei der Sache. Das Finale des ersten Satzes ist so wuchtig, daß dieser Satz auch der beschließende hätte sein können. Die ungewöhnliche Dreisätzigkeit des Werks erklärt sich beim Hören: Die Symphonie ist wie ein Triptychon aufgebaut, denn der Mittelsatz wird von den beiden anderen umarmt und gerahmt. Der düstere Trommelrhythmus zu Beginn des zweiten Satzes erinnert etwas an die Ruderschläge Charons in Rachmaninoffs „Toteninsel“, wird dann aber zugunsten eines fließend-elegischen Themas aufgegeben, das einen weiten Horizont erahnen läßt und eben nicht mit dem Endpunkt der Unterwelt droht.
Der dritte Satz beginnt ähnlich wie der erste mit den dunklen Streicherfarben und dann zeigt Casella, daß er ein Meister der Verzögerung ist. Er spielt mit einem Thema, das der Filmkomponist John Williams gut gekannt haben dürfte, als er an der Partitur zu „Jurassic Park“ saß, aber auch der junge Casella weiß genau, wann die Trivialität nahe ist und setzt dann einfach eine Fuge ein, die das Finale spielerisch-leicht einleitet. In diesem Finale hätte er versuchen können, das Ende des ersten Satzes zu übertreffen, aber er überrascht mit einem zarten, fast verhaltenen und sehr optimistischem H-Dur-Ausklang.
Im Lübecker Adventskalender glänzten also zwei Überraschungen: eine Pianistin und ein Komponist, die man beide hier gerne wieder herzlich willkommen heißen möchte. Und, molto seriamente, Signor Casella – Ihre „Erste“ ist nicht schlechter als die anderen zwei. Ganz im Gegenteil.
Bilder (c) Evgeny Evtyukhof, Olaf Mahlzahn
Andreas Ströbl, 16.12.2019
3. Sinfoniekonzert
Dmitri Schostakowitsch: Violoncellokonzert Nr. 1 Es-Dur op. 107
Peter Tschaikowsky: Symphonie Nr. 5 e-Moll op. 64
Leitung: Stefan Vladar
Violoncello: Mischa Maisky
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck
Besuchtes Konzert am 25. November 2019 Kongresshalle
…und dann vergißt der Rezensent seine Notizen und merkt, daß er kaum mehr atmet
Das 3. Konzert in der Saison 2019/20 als ein Ereignis zu bezeichnen, ist in jeder Hinsicht angemessen. Zugleich ist in der Retrospektive klar, daß sich vor allem das Spiel Mischa Maiskys kaum beschreiben läßt.
Auf den mittlerweile 71-jährigen Künstler haben sich nicht nur diejenigen gefreut, die ihn bereits in den 80er Jahren in Lübeck erlebt haben. Daß er gerade jetzt, zum Beginn der (hoffentlich langewährenden!) Ära des neuen GMD Stefan Vladar mit den Lübeckern in die Hansestadt kam, verhieß doppeltes Glück. Bereits die ersten Takte ließen keinen Zweifel an der Einlösung der Verheißung.
Es ist viel geschrieben worden über Schostakowitsch als sensibler unterdrückter Antipode des Monsters Stalin. Julian Barnes hat mit „Der Lärm der Zeit“ 2017 ein ungeheuer eindrückliches Stimmungsbild gemalt, in der er die blanke Angst hochdekorierter Künstler vor dem Staats-Terror greifbar macht. Jeden Tag konnte jeder in Ungnade fallen und gestandene Mannsbilder sackten in sich zusammen, wenn man ihnen die Frage „weiß Stalin davon?“ stellte, die nur noch durch die Bemerkung übertroffen wurde: „Stalin weiß davon“.
So gesehen könnte im 1959 komponierten Cellokonzert Nr. 1 der Geist des Aufatmens wehen, aber wer weiß, was psychische Traumata sind, kann darüber nur bitter das Gesicht verziehen. Die Schatten von Diktatoren sind lang und schwarz, noch tot können die Despoten und der Nachhall ihrer Taten das Leben ihrer Opfer verderben.
Das Motiv D-Es-C-H, Schostakowitschs melancholisches musikalisches Monogramm, ist in diesem Konzert teils umgekehrt und die letzten beiden Töne sind vertauscht. Stefan Schickhaus bezeichnet das veränderte Gesicht dieses Motivs, mit dem das Konzert beginnt und das immer darin wieder zitiert wird, im Programmheft als Maskerade mit klagendem Ton. Dennoch ist darin, zumal mit Maiskys entschiedenem und kräftigem Strich, auch aufgebehrender Trotz zu hören und das Selbstbewußtsein eines Komponisten, der einmal gesagt hat: „Selbst wenn sie mir beide Hände abhacken, werde ich weiterhin Musik schreiben, mit einem Stift im Mund.“
Das Bild des Musikers, der eins mit seinem Instrument wird, ist zwar entsetzlich abgelutscht, aber Maisky und sein fast exakt 300 Jahre altes Montagnana-Cello waren zu einem einzigen Klangorgan verwachsen. Daß Schostakowitsch dieses Konzert dem Cellisten Mstislaw Rostropowitsch, dem späteren Lehrer Maiskys widmete, machte eine fast persönliche Anwesenheit des Komponisten ahnbar.
Fast schien das fehlerlos gespielte Horn (dessen Solo-Einsatz im ersten Satz ist hochanspruchsvoll!) von Emanuel Jean-Petit-Matile etwas zu laut zu sein, aber es entspann sich hier eine eigene Korrespondenz auf Augenhöhe zwischen ihm und dem Cellisten. Dieses Miteinander funktionierte deswegen so harmonisch, weil das ganze Orchester wieder großartig war. In den Tutti und Fortissimi spielte es glasklar und kräftig, weitab von jeder Nähe zu einem Klangbrei, in dem Einzelstimmen untergehen könnten, exakt und doch mit viel Wärme und bei Schostakowitsch besonders geforderter Sensibilität.
Ja, und dann ist der erste Satz zu Ende und keiner hustet. Das Publikum verharrte sekundenlang in solch ernsthaftem Respekt, daß man kaum glauben konnte, die übliche Abordnung des Lübecker Lungensanatoriums habe sich endlich einmal zusammengerissen.
Maisky hat zu Konzentration gezwungen und zwar völlig unprätentiös. Mit der von ihm sehr persönlich gestalteten, minutenlangen Kadenz am Ende des zweiten Satzes schaffte er einen wahrhaft soghaften optischen und klanglichen Fokus auf die Intimität dieses Soloparts, der schon ein eigenständiges Stück Musik ist. Die beiden kurzen Zitate aus dem Trauermarsch in Beethovens Dritter paßten sich in den melancholisch-klagenden Duktus. Um jetzt gar nicht erst versuchen zu wollen, all den Schmerz, die Sehnsucht, die Liebe und immer wieder Verwundung beschreiben zu wollen, die Maisky aus seinem Instrument hart herauskratzte, sanft schmiegend mit ihm wob oder spielerisch leicht aus dem uralten Corpus streichelte, sei auf jemanden verwiesen, der das besser konnte. Als Heinrich Heine 1830 Paganini in Hamburg hörte, verewigte er seine Eindrücke in den „Florentinischen Nächten“. Wenn ihn sein Sitznachbar, der nur für den Schein kulturbeflissene Pelzmakler, nicht durch sein Gequassel nervte, konnte der Dichter sich der Musik hingeben und Paganini wahrnehmen als „Mensch-Planet, um den sich das Weltall bewegte“.
Genauso durften die Lübecker einen der größten Cellisten der Welt erleben, der zwischen den intensivsten Einsätzen störende gerissene Roßhaare aus dem Bogen zupfte, als hätte er minutenlang dazu Zeit. Seelenruhe in Sekundenbruchteilen – in solchen Details offenbaren sich die Größten.
Nach dem dynamischen Schlußsatz mit seinem musikalischen Seitenhieb auf Stalins spießiges Lieblingslied tobte der Saal und der Meister gab drei Zugaben. Wann hat man sowas in Lübeck gehabt? Nach Tschaikowskys Nocturne spielte er zweimal Bach, wobei Maisky demonstrierte, daß man durch einen Cello-Suitensatz sogar galoppieren kann, ohne zu straucheln.
In der Pause hatte man sich gerade an eine der langen Schlangen zur Getränkeversorgung angestellt, als schon die erste Klingel ertönte. Es war klar, daß die „MuK“ voll würde und man wunderte sich darüber, daß die üblichen großen Theken vom zuständigen Unternehmen nicht bespielt wurden.
Aber man war ja nicht zum Trinken gekommen, sondern zum Hören und Sehen. Tschaikowsky mochte seine Fünfte nicht besonders, „zu bunt, zu massiv, zu künstlich, zu lang, überhaupt unsympathisch“ empfand er sie, aber was kümmert das die liebende Nachwelt? Sicher, man kann diese Symphonie verkitschen und ihr ein schmieriges Pathos geben, aber nicht, wenn man Stefan Vladar heißt. Um jetzt mal die Distanz der kühlen Beschreibung fahrenzulassen: Man möchte den neuen GMD küssen und herzen dafür, wie er mit tänzerischer Leidenschaft das Orchester mitreißt in seine Begeisterung und sofort wieder in die ernste Konzentration zurückfindet, von einem Moment zum anderen. Wenn da eine Fermate steht, dann herrscht wirklich Ruhe, und zwar lange genug, um Struktur zu geben.
Die oft beschworene Schicksalsmotivik der Symphonie gesellt sich so schön zum Klischee der russischen Seele. Da sind Pathos und Schmäh nicht fern. Aber der liegt dem Wiener Maestro, der in seinen dynamischen Bewegungen immer wieder an den großen Gustav denken läßt, so gar nicht. Vielleicht wäre Mahler tatsächlich ähnlich an das Werk gegangen wie Vladar: Vergeßt die jahrhundertelange Rezeption – wir spielen das Ding jetzt mal so, als wäre es zum ersten Mal! Diese Rechnung ging auf und so war ein Stück, das man gefühlt mindestens 580mal gehört hat, zu erleben, als sei es etwas völlig Neues. Das ungemein transparente Spiel des Orchesters und zwar aller Instrumente bzw. Gruppen erlaubte die Wahrnehmung jeder Stimme und man ertappte sich bei der Bemerkung, daß man eigentlich gedacht hatte, gerade diese Symphonie wirklich zu kennen. Toll, wenn da immer noch Überraschungen möglich sind.
Und so geriet jeder der vier Sätze in der differenzierten Wiedergabe zu einer eigenen kleinen Symphonie, mit Passion und Leichtigkeit, sofern das Leichte bei Tschaikowsky überhaupt jemals ungebrochen daherkommen kann. Natürlich dominiert das Schicksalsmotiv, aber es wird doch immer wieder relativiert wie zum Beispiel durch das dritte Motiv des ersten Satzes, die abfallende Quinte A-D, A-D, A-D, die an den Ruf einer Meise erinnert und möglicherweise ein „Adé!“ eher kindlich intoniert. Mag dies ein Gedankenspiel sein – der dritte, der Walzersatz läßt zumindest etwas Licht scheinen in das Dunkel von Tschaikowskys verzweifelter Seele und entsprechend haben die Lübecker mit Vladar diesen Satz in den Saal getanzt.
In der Final-Coda reißt Tschaikowsky gleichsam einer Beschwörung das musikalische und damit emotionale Ruder herum, in der Zuversicht, dem beständig drohenden Schicksal doch etwas entgegensetzen zu können. Hier verschafft sich die Hoffnung Gehör und die brach sich am 25. November triumphierend Bahn in die Halle.
Tosender, langanhaltender Applaus. Zu Recht.
Andreas Ströbl, 26.11.2019
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