ENSCHEDE
Eugen Onegin als „pocketopera“
Premiere in Zwolle: 01.11.2019
besuchte Vorstellung in Enschede: 15.11.2019
Im Glashaus der Erinnerungen
Lieber Opernfreund-Freund,
die Nederlandse Reisopera präsentiert derzeit eine ungewöhnliche „pocket version“ von Tschaikowskys Eugen Onegin, die nach ihrer Premiere in Zwolle und Stationen in Nijmegen und Tilburg am vergangenen Wochenende am Wilminktheater in Enschede zu sehen war, ehe sie weiter nach Maastricht, Amstelveen, Amsterdam und Deventer zieht. Die instrumentale Reduktion auf Kammerorchesterstärke und die geistreiche Lesart der jungen Regisseurin Kai Anne Schuhmacher machen den Abend besonders erlebenswert, das junge Ensemble begeistert durch höchste Sangeskunst und darstellerische Intensität.
Wie eine Essenz von Tschaikowskys bühnenpräsentestem Werk erscheint einem die auf 90 Minuten gekürzte Version des Eugen Onegin, sämtliche Chorszenen sind gestrichen, wenn auch teilweise rein instrumental zumindest angespielt – und diese Essenz stellt nicht nur, wie so viele Produktionen, auf Tatjanas Blickwinkel auf das Geschehen ab. Vielmehr rückt sie das Schicksal der Titelfigur ins Zentrum. Die originelle Idee von Kai Anne Schuhmacher, die Geschichte als Rückblick anzulegen, erschließt sich nach und nach über die einzelnen Szenen und manchem wird erst im Laufe des Abends klar, dass die anfangs gezeigten alten Frauen eben nicht Larina und Filippjevna darstellen, sondern die gereifte Tatjana und ihre Schwester Olga, die sich nach Lenskis Tod schwarz verschleiert und bis zu ihrem Lebensende kein anderes Gewand mehr anlegen wird. Und auch Larinas Outfit kommt wie einer Trauerversion der Robe daher, die Tatjana im 3. Akt trägt. Die so sinnfälligen, wie bis auf den einen oder anderen Pelzkragen nicht unbedingt russisches Lokalkolorit versprühenden Kostüme hat Dominique Wiesbauer entworfen, die gleichermaßen für den gelungenen Bühnenaufbau verantwortlich zeichnet. Das kleine Orchester von kaum zehn Musikern ist am rechten hinteren Rand positioniert, links dominiert ein großes Glashaus, in dem sich die Erinnerungen und Träume der Protagonisten abspielen, die dann auf die Vorderbühne heraustreten. Dabei kommt es immer wieder zu Dopplungen einzelner Charaktere, die die Erzählung auf verschiedenen Ebenen ermöglichen. Die Sängerriege wird durch eine Art Minnesänger durch den Abend geleitet, einen hervorragenden Violinisten – Walter de Kok, der durch die Geschichte führt und immer wieder inmitten der Protagonisten Teile der Partitur mitspielt. So entsteht ein Gesamtkunstwerk, das die Zuschauer zu Recht begeistert.
Die Kammermusikversion stammt von Lee Reynolds, der den Abend auch musikalisch leitet und die durch die Kleinstbesetzung wie Solisten erscheinenden Musiker behände durch den Partiturextrakt führt. Der kammermusikalische Klang lässt zwar das durchaus Wuchtige an Tschaikowskys Musik mitunter vermissen, entwickelt aber einen ganz eigenen, fast intimen Charme, eine neue Klangwelt und gibt den Sängerinnen und Sängern viel mehr klanglichen Raum. Allein das „normal“ große Theater verhindert eine wirkliche Intimität – hier hätte eine kleinere Spielstätte den Effekt sicher noch verstärkt. Denn wenn sich beispielsweise die Flötistin Eliska Horehledova zu Beginn seiner großen Arie neben den verzweifelten Lenski setzt und zu spielen beginnt, macht das schon gehörig Gänsehaut.
Alle Rollen außer Larina und Filippjevna, die in Annelies Lamm und Ingrid van Ree zwei einfühlsame Gestalterinnen finden, sind durch junge Sänger besetzt, was dieser verjüngten Opernversion zusätzlich enorme jugendliche Frische verleiht; zudem zeichnet sich der Besetzungszettel durch eine bemerkenswerte Internationalität aus. Die in sich gekehrte Tatjana der aus Moskau stammenden Anna Emelianova überzeugt durch viel russische Seele sowie enorm viel Ausdruck und Kraft. Ihre lebenslustige Schwester Olga wird von der Niederländerin Leonie van Rheden mit sattem Mezzo ausgestattet; dem Fürsten Gremin verleiht der polnische Bass Rafał Pawnuk mit ausdrucksstarker Tiefe Profil und ergänzt das Gespann der männlichen Partien perfekt. Das besteht ansonsten aus dem Russen Yaroslav Abaimov, der einen idealen Lenski abgibt mit seinem lyrischen, emotionsschwangeren Tenor und seinem intensiven Spiel. Dank seiner facettenreichen Stimme nimmt man ihm Lebensfreude, Liebe, Leid, Enttäuschung, Kränkung und Wut gleichermaßen ab. Übertroffen wird sein Farbenreichtum und seine darstellerische Qualität nur noch vom Halbitaliener Vincenzo Neri, dessen wandlungsfähiger Bariton über einprägsame Eleganz, gehaltvolle Tiefe und beinahe hypnotisierende Höhen verfügt, so dass sein pocketversions-Eugen Onegin Lust auf mehr macht und ich gespannt darauf warte, ihn einmal mit großer Orchesterbesetzung als diese vielschichtige Figur zu erleben.
Das Publikum ist, wie ich, dem eigenen Charme dieser Eugen Onegin-Version erlegen und applaudiert nach rund eineinhalb Stunden frenetisch allen Beteiligten. Dem frischen Esprit der Lesart des Regieteams um Kai Anne Schuhmacher, der Intensität der intimen Partiturversion von Lee Reynolds und dem engagierten und auch musikalisch überzeugenden Sängerensemble kann man sich nicht entziehen.
Ihr
Jochen Rüth
17.11.2019
Fotos © Nederlandse Reisopera
Zusätzliche Eindrücke von der Probenarbeit gibt es hier
Die tote Stadt
Premiere: 08.12.2018
Korngold goes Hollywood
Lieber Opernfreund-Freund,
Willem Wilmink ist ein niederländischer Autor, Dichter und Sänger und hat unter anderem für seinen auch hierzulande berühmten Landsmann Hermann van Veen zahlreiche Liedtexte verfasst. Er wurde in Enschede geboren und die Stadt hat ihrem bekannten Sohn zum Namensgeber des Theaters im örtlichen Musiekcenter gemacht. Das Wilminktheater ist eine der Spielstätten der Nederlandse Reisopera, einer Theaterkompanie unter der Leitung von Nicolas Mansfield, die ihre Produktionen unter anderem auch in Utrecht, Breda und Maastricht zeigt. Hier hatte gestern nun Erich Wolfgang Korngolds Die tote Stadt Premiere und zwar in einer intelligenten und packenden Lesart von Jakob Peters-Messer, die in Kooperation mit dem Theater Magdeburg entstanden ist und dort in der Spielzeit 2015/6 zu sehen war.
Der erst 23jährige Korngold hatte das Werk 1920 nach einem Libretto komponiert, das er zusammen mit seinem Vater unter Pesudonym nach der Vorlage Das tote Brügge von Georges Rodenbach verfasst hatte. Der Witwer Paul hat sich in seinem Haus in Brügge abgeschottet und lebt ganz in Trauer über seine verstorbene Frau Marie. Da begegnet er der jungen Marietta, die ihr bis aufs Haar gleicht, und steigert sich in einen Wahn hinein, an dessen Ende er Marietta erwürgt, als sie sich über seine tote Frau lustig macht. In der Oper jedoch entspringen das Entspinnen einer Liebesgeschichte und die Ermordung lediglich der Phantasie Pauls. Jakob Peters-Messer allerdings orientiert sich bei seiner Interpretation eher am Romanende, der Tod Mariettas ist real, ihre letzten Sätze ertönen nur in Pauls Kopf und aus dem Off, Polizei und Irrenarzt stehen bereits bereit, um sich um Paul zu kümmern. Damit setzt der Regisseur einen interessanten Schlusspunkt unter eine faszinierende Arbeit.
Korngold war von den Nazis nach Hollywood vertrieben worden, verdingte sich als Komponist von Filmmusik. Geradezu als Hommage dazu gestaltet Bühnenbildner Guido Petzold die Szene, blendet immer wieder überdimensionale Portraits von Hitchcock-Diven ein: Kim Novak in Vertigo darf sich zeigen, als Frank von der Ähnlichkeit Mariettas mit der toten Marie berichtet, Grace Kelly aus Bei Anruf Mord, als Paul seine Angebetete eifersüchtig aus dem Reigen der Theatertruppe wegführt, und die tote Janet Leigh aus Psycho kommt rechtzeitig zur Mordszene ins Bild. Mehr oder weniger einziges Requisit auf der Bühne ist ein gläserner Schrein, in dem Paul die Reliquien seiner verstorbenen Frau ausstellt, um ihr in einer Art Ersatzreligion zu huldigen. In blutrot, sattem Gelb oder klerikalem Violett angestrahlten Gazevorhänge erinnern an eine Szene aus Vertigo, wie Die tote Stadt gleichsam ein Thriller um die Doppelgängerin einer verstorbenen Liebe ist. Diese starke Symbolik wird durch Petzolds verstörende, fast psychodelisch wirkende Einblendungen verstärkt, die aufwändigen Kostüme von Sven Bindseil faszinieren. Die durchdachte Personenführung Peters-Messers schließlich macht das Psychodrama perfekt. Sexueller Missbrauch – gerne auch durch den Klerus – muss auf der Opernbühne ja immer wieder als Erklärung für allerhand herhalten. Dass Peters-Messer ebenfalls in diese recht abgedroschene Kerbe schlägt, um Pauls Wahn zu ergründen, ist zwar schade, allerdings höchstens ein schwacher Wermutstropfen und schmälert den Genuss an dieser rundum gelungenen Interpretation nicht nachdrücklich.
Musikalisch wird einiges geboten in Enschede. Allen voran ist da Antony Hermus am Pult, der mit Korngolds facettenreicher Partitur regelrecht zaubert, so detailliert präsentiert er das Stück und bietet die komplette Bandbreite von beinahe Wagnerischer Wucht bis hin zu fast sphärisch klingenden Pianopassagen, die an Richard Strauss erinnern. Der gebürtige Niederländer, der bis 2015 GMD an Anhaltischen Theater in Dessau war, bietet so gewissermaßen den Soundrack zu Pauls kompliziertem und verworrenen Seelenleben und macht den Abend zusammen mit den Damen und Herren des Noord Nederland Orkest zu einem wahren Klangerlebnis. Künstlerisches Personal aus Dessau ist auch auf der Bühne erleben. Iordanka Derilova kann als dortige Hausdiva im besten Wortsinne bezeichnet werden, hat in zahllosen Rollen geglänzt und fügt am gestrigen Abend ihrem umfangreichen Repertoire eine weitere Facette hinzu.
Schon ihre ersten Töne als Marietta versprechen einen großen Abend – und dieses Versprechen löst die attraktive Bulgarin voll umfänglich ein. Energisch-kraftvolle Ausbrüche wechseln sich mit fast hypnotisierenden Piani ab und auch darstellerisch zeigt Derilova, was für eine Vollblutkünstlerin sie ist. Aus dem Dessauer Ensemble mitgebracht hat sie Rita Kapfhammer, die Brigitta mit ausdrucksstarkem, sattem Mezzo Profil verleiht. Daniel Frank ist ein intensiv singender und spielender Paul, der die Zerrissenheit seiner Figur in zahlreichen klanglichen Facetten mit nicht enden wollender Kraft überzeugend präsentiert. Dagegen fällt Marian Pops Frank besonders deutlich ab. Der an sich klangschöne Bariton des Rumänen mag am gestrigen Abend so gar nicht ansprechen. Das kann er leider auch nicht mit seiner starken Bühnenpräsenz kompensieren. Da macht Modestas Sedlevičius als Fritz wesentlich mehr Eindruck, der das weltberühmte Mein Sehnen, mein Wähnen mit erfreulich wenig Schmalz und deshalb um so überzeugender über den Graben schickt.
Irma Mihelič, Samantha Price und Eric Stokloßa sind ein klangschönes Tänzergespann voller Spielfreude, zu dem Nathan Haller als Graf Albert seinen samtenen Tenor beisteuert. Die Damen und Herren des Consens Vocalis sind bestens disponiert, die Stimmen sind fein aufeinander abgestimmt und so leisten sie einen wesentlichen Beitrag zum Erfolg des Abends. Das Publikum im nahezu voll besetzten Wilminktheater ist außer sich und zu Recht begeistert und bringt allen Beteiligten wahre Jubelstürme entgegen. Und auch ich bin tief bewegt – vor allem von Peters-Messers Lesart, von Iordanka Derilovas intensiver Darstellung und von Antony Hermus fulminanter Interpretation.
Ihr Jochen Rüth / 9.12.18
Die Fotos stammen von Marco Borggreve.
TRISTAN UND ISOLDE
Premiere: 22. September
besuchte Vorstellung: 1. Oktober 2013
Einen echten Kraftakt leistet die niederländische Reiseoper in Enschede mit Richard Wagners „Tristan und Isolde“. An der Aufführung sind viele Künstler beteiligt, die man von deutschen Bühnen kennt.
Regisseur Jakob Peters-Messer hat in der vergangenen Spielzeit mit Meyerbeers „Vasco da Gama“ in Chemnitz für Aufsehen gesorgt. Besonders häufig arbeitet er an den Wuppertaler Bühnen, denen er mit „Der fliegende Holländer“ einen großen Kassenerfolg beschert hat. Seine „Tristan“-Inszenierung erzählt die Geschichte verständlich und übersichtlich. Die rechteckige Holzspielfäche von Guido Petzold ist sängerfreundlich und tourneetauglich, denn diese Produktion ist bis Ende Oktober noch in acht niederländischen Städten zu sehen, darunter auch in grenznahen Orten wie Heerlen (4. Oktober), Maastricht (20.Oktober) und Assen (31. Oktober).
Eine zweite rechteckige Fäche, die über der Bühne schwebt, symbolisiert im ersten Akt ein Segel und ist im zweiten Akt mit Blumen versehen. Im dritten Akt senkt sie sich hinab und wird zu Tristans Krankenlager. Wenn sich die obere Fläche während der Akte bewegt und so den Raum verengt, erinnert das an Willy Deckers Ruhrtriennalen-„Tristan“ von 2011.
Die Inszenierung, in der die Sänger plausible Charaktere spielen, braucht etwas Zeit, um sich warm zu laufen. Ab Isoldes Entschluss, sich mit gemeinsam mit Tristan umzubringen, gewinnt die Aufführung aber eine große Intensität. Peters-Messer folgt Wagners Geschichte und setzt nur wenige eigene Akzente, so wenn Melot am Beginn des zweiten Aktes das Gespräch zwischen Isolde und Brangäne kriechend belauscht. Im Liebesduett gönnt die Regie dem Paar auch Küsse und Umarmungen zur Begrüßung. Wenn im Finale Isoldes Gesang den toten Tristan zum Leben erweckt und er Isoldes Worte stumm mitsingt, dann erinnert das an Peter Konwitschnys Münchener Inszenierung, in der das Paar zu einem Glück jenseits der Wirklichkeit findet. Bei Peters-Messer verschmelzen Tristan und Isolde schließlich im grellen Gegenlicht mit der Rückwand.
Am Dirigentenpult ist der Dessauer Generalmusikdirektor Antony Hermus zu erleben, der gebürtiger Niederländer ist und am Theater Hagen einen rasanten Aufstieg vom Korrepetitor über den Kapellmeister bis zum GMD erlebt hat. Er leitet eine Aufführung, in der das Orchester großflächig und sinfonisch aufspielt, wobei er aber auch den Sängern viel Raum lässt.
Die Instrumental- und Farbschattierungen der Partitur könnten noch feiner und magischer gestaltet werden, doch die Leistung des Noord Nederlands Orkest ist beachtlich, wenn man bedenkt, dass dieses Ensemble nicht die Wagner-Tradition eines deutschen Orchesters besitzt. Ärgerlich ist freilich, dass der Strich des Tag-Gespäches im 2. Akt hier noch über die Kürzungen hinaus geht, die in Deutschland üblich sind.
Auch die Sänger können sich hören lassen. Die Schweizerin Claudia Iten hat die Isolde schon in Aachen und Nürnberg gesungen. Ihre Stimme besitzt eine mädchenhafte Anmut. Das „Frau Minne kenntest du nicht?“ singt sie geradezu betörend. Eine echte Hochdramatische ist sie aber nicht, was im Duett des 2. Akt zu einigen unschön herausgeschrienen Tönen führt. Packend gestaltet sie aber den Schlussgesang.
Robert Künzli ist der Haus-Heldentenor der Staatsoper Hannover und besitzt eine beachtliche Kondition. Von einem Kampf mit der Rolle, die andere Interpreten ausfechten, ist bei ihm nichts zu hören. Er singt den Tristangeschmeidig und wo nötig, besitzt er auch den richtigen Nachdruck. Bietet er bereits in den ersten beiden Akten eine starke Leistung, so steigert er sich noch im mörderischen dritten Akt.
Wenn Yorck Felix Speer mit seinem Marke-Monolog beginnt, ist man erstaunt von so viel Wohlklang und bassiger Wärme. Dass dieser Sänger in Oldenburg engagiert ist und nicht in einer der großen Metropolen erscheint unverständlich. Doch gegen Ende des Monologs wird klar, dass er keinen der tiefen Töne wirklich singen kann und nur in der Höhe glänzt. Wahrscheinlich wäre er besser als Kurwernal eingesetzt, denn Sebastian Noack bietet nur eine solide Leistung mit blasser Höhe. Ann Marie-Owens ist eine etwas biestige Brangäne, die ihre Rolle aber stimmlich und darstellerisch gut ausfüllte.
Die Niederländische Reiseoper bietet mit „Tristan und Isolde“ eine dem Werk dienende Aufführung, die aber auch erfahrenen Wagnerianern den einen oder anderen Gänsehautmoment bescheren kann
Rudolf Hermes
Bilder: http://www.reisopera.nl/
Marco Borggreve