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Theater Carré am 11.6.2016
TRAILER
Bühnenbildentwurf
Das Theater Carré liegt direkt an der Amstel und wird seit seiner Gründung 1887 als festes Zirkusgebäude genutzt. Heute kann man hier Musicals wie Kabarett und Popkonzerte wie Opernaufführungen erleben. In diesem wunderschönen, ganz im Neorenaissance-Stil gehaltenen Theater fand am 11. Juni (nur 5 Wochen nach der Uraufführung in der Walt Disney Concert Hall in Los Angeles) die Europäische Erstaufführung der fünften Oper des niederländischen Komponisten Louis Andriessen mit dem Titel „Theatre of the World“ statt. Er handelt sich um eine Ko-Produktion der Niederländischen Oper, des Holland Festivals und des Los Angeles Philharmonic Orchestra.
Louis Andriessen (Jahrgang 1939) stammt aus einer Musikerfamilie. Sein Vater Hendrik Andriessen (1892-1981) war ebenso Komponist wie sein älterer Bruder Jurriaan (1925-1996), der u.a. für die Krönung der vormaligen Prinzessin Beatrix zur Königin der Niederlande die „Entrada della Regina für Blechbläser, Pauken und Orgel“ komponiert hat. Louis Andriessen ist ein Künstler, dessen Entwicklung entscheidend von den politischen Umbrüchen der Sechziger Jahre beeinflusst wurde, und gehört somit einer revoltierenden Komponistengeneration an. Während sein Zeitgenosse Pierre Boulez forderte, man möge „die Opernhäuser in die Luft sprengen“, war Andriessen Teil einer Gruppe, die in der sogenannten „Notenkrakersactie“ („Notenknackeraktion“) in den Sechziger Jahren lautstark (mit Rasseln, Pfeifen, Knallfröschen und Megafonen) Konzerte des Concertgebouw Orkest unter Bernard Haitink störten. Junge Komponisten und ausübende Musiker wollten damit ihren Protest gegen den geringen Anteil von zeitgenössischer Musik in den Programmen des Orchesters zum Ausdruck bringen. Nun hat der inzwischen sicher etwas ruhiger gewordene 77-jährige Komponist seine bereits fünfte Oper für die Niederländische Oper geschrieben. (Seine Oper „De Materie“ aus den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts gelangte übrigens erst vor zwei Jahren bei der Ruhr Triennale zur Wiederaufführung.)
In seinem neuesten Bühnenwerk „Theatre of the World“ („Welttheater“) befasst sich der Komponist mit dem deutschen Jesuiten und Universalgelehrten Athanasius Kircher (1602-1680), der die meiste Zeit seines Lebens in Rom lehrte und forschte. Dieser beschäftigte sich unter anderem mit Mathematik, Physik, Chemie, Geographie, Geologie, Astronomie, Biologie, Medizin, Musik, Sprachen, Philologie und Geschichte. Kircher veröffentlichte eine große Zahl von Büchern über ein weites Spektrum von Themen, unter anderem der Ägyptologie, Sinologie, Geologie, Medizin, Mathematik und Musiktheorie. Seine Arbeit über die ägyptischen Hieroglyphen ebnete den Weg zur Entzifferung derselben. Er erkannte auch als erster Mensch den Einfluss von „kleinen Wesen“ auf die Verbreitung der Pest und schuf erste Regeln zu ihrer erfolgreichen Bekämpfung. Aber er war und blieb während seines gesamten Lebens ein Mann der katholischen Kirche. Stets suchte er in allen Dingen nach Gottes ewiger Präsenz. (Eigentlich hätte Kircher nach Wien kommen und dort lehren sollen. Kaiser Ferdinand II. berief ihn 1633 als Nachfolger Johannes Keplers als Mathematiker an den Wiener Hof. Diese Berufung wurde allerdings auf Betreiben des französischen Gelehrten Nicholas-Claude Fabri de Peiresc, der sich für die Entzifferung der Hieroglyphen interessierte und Teile seiner ägyptischen Sammlung Kircher schenkte, widerrufen. So ging Kircher nach Rom an das Collegium Romanum und ging dort im Vatikan ein und aus.)
In seiner „Groteske in 9 Szenen“ schickt Andriessen nun Kircher am Ende seines Lebens auf eine Reise durch Zeit und Raum, begleitet von einem 12-jährigen Jungen. Ist es sein Schüler oder ist es der junge Kircher selbst? Im Laufe der Handlung stellt sich jedoch heraus, dass es der Teufel ist, der Kircher in Versuchung führen will. (Aber wer genau hingehört hat, hat dies bereits beim Auftritt des Jungen erkannt, zitiert Andriessen hier doch Nick Shadows Auftrittsmusik aus Strawinskys „The Rake’s Progress“.) Weitere Begleiter auf seinen Reisen sind Papst Innozenz XI. und Janssonius, der niederländische Herausgeber Kirchers Werke. Sowohl der Papst als auch Janssonius zeigt an Kircher nicht nur wissenschaftliches Interesse, zwischen den Dreien kommt es auch zu einer ziemlich erotischen Begegnung. Drei Hexen kreuzen ebenso Kirchers Weg wie Carnifex, der römische Scharfrichter. In Babylon belauscht er, wie ein Liebespaar ein Duett singt. In einem Epilog treten Voltaire, Descartes, Goethe und Leibnitz als Repräsentanten der Nachwelt auf und stellen fest: „Er verstand von nichts etwas.“, aber auch: „Er hat der Sehnsucht der Menschen nach Wissen Flügel verliehen. … Man wird sich an seinen Namen erinnern.“ Der deutsche Schriftsteller Helmut Krausser, der u.a. auch schon mehrere Bücher über Giacomo Puccini geschrieben hat, verfasste das Libretto in sieben (!) Sprachen (Englisch, Deutsch, Französisch, Holländisch, Latein, Spanisch und Italienisch). Auf seiner Reise überquert Kircher den Fluss Lethe, er sieht den Turm zu Babel, er reist nach Ägypten und China (wo er in Wirklichkeit nie war). Auf seiner Reise erinnert er sich an alles, was er erlebt bzw. erforscht hat. Lehren und Lernen, Weisheit und Verirrung verschränken sich hier in dieser 110-minütigen Zeitreise. Am Ende fragt er sich, ob er in der Hölle oder im Himmel ist, er will seinen Frieden mit Gott machen. Als der Teufel nach Kirchers Tod sein Herz isst, muss der Teufel enttäuscht feststellen, dass Kirchers Seele bereits im Himmel ist. An seinem Grab besingt die mexikanische Nonne und Dichterin Sor Juana Inés de la Cruz, die mit Kircher in Briefkontakt stand und von seinen Werken stark beeinflusst wurde, die Pracht dieser Welt.
Die Musik, für ein kleines Kammerorchester (Streicher, Holz- und Blechbläser, Schlagzeug, Saxophon, Elektrogitarre und Synthesizer) geschrieben, ist stilistisch nicht eindeutig einzuordnen. Die ersten Töne werden von der Posaune gespielt und erinnern an Renaissancemusik. Später begegnet man Minimal Music genauso wie Jazz-Elementen und mexikanischer Tanzmusik. Die Musik wechselt ständig ihren Stil. Das Duett der beiden Liebenden ist wie ein großes Liebesduett der romantischen Oper angelegt, wogegen den Hexen Jazzmusik zugeordnet ist und in der Musik für den 12-jährigen Jungen die große Verehrung des Komponisten zu Strawinsky zum Ausdruck kommt. Man vermeint auch Anklänge an Gustav Mahler und Kurt Weill herauszuhören. Hart klingende Cluster folgen auf tonale Passagen während Sor Juana Inés de la Cruz sich in der Sprache der World Music ausdrückt. Bei der Uraufführung in Los Angeles spielte das Los Angeles Philharmonic Orchestra. Hier in Amsterdam stand nun das auf moderne Musik spezialisierte Ensemble AskoISchönberg zur Verfügung. Reinbert de Leeuw, der auch schon alle bisherigen Opern von Louis Andriessen zur Uraufführung gebracht hatte, leitete sowohl die Uraufführung als auch die Europäische Erstaufführung dieses neuen Werkes und er war der richtige Mann, um all diese verschiedenen Musikstile zu einem Ganzen zu formen.
Ein ausgezeichnetes Sängerensemble führte diese neue Oper zu einem großen Erfolg. Leigh Melrosesang mit virilem Bariton einen energischen und unermüdlichen Kircher, Lindsay Kesselman mit strahlendem Sopran den Jungen, Marcel Beekman mit lyrischem Tenor den Papst und Cristina Zavalloni, Andriessens Muse, besonders eindrucksvoll Sor Juana (größtenteils als flammenumrahmtes Bild auf der Bühne vorbeiziehend). Auf der Besetzungsliste fanden sich nochSteven van Watermeulen als Janssonius, Martijn Cornet und Nora Fischer als Liebespaar sowieMattijs van de Woerd als Henker.
Die Zwillingsbrüder Stephen und Timothy Quay, besser bekannt unter dem Namen Quay Brothers,waren nicht nur für den Animationsfilm verantwortlich, der die ganze Zeit im Bühnenhintergrund eingeblendet wurde, sondern auch für die phantasievolle Ausstattung. Als Bühne diente die Zirkusarena (das Orchester war auf der Seite des Parterres und des Balkons untergebracht. In der Mitte ragte der Hut eines Zauberers (oder soll es der Turm zu Babel sein?) bis in die Sonne des Bühnenhimmels. Pierre Audi, Intendant der Niederländischen Oper, führte selbst Regie und lieferte wieder einmal eine jener opulenten, farbenprächtigen Inszenierungen ab, die man von ihm kennt und liebt. (Seine leider nunmehr abgespielte Inszenierung von Wagners „Ring des Nibelungen“ ist ja inzwischen schon legendär. Warum hat er ausgerechnet in Wien bei „Rigoletto“ so versagt?) Großen Anteil an dem optischen Rausch, dem das Publikum ausgesetzt wurde, hatten da natürlich auch Jean Kalman, der für die phänomenale Lichtregie verantwortlich war, und Florence von Gerkan, die die prachtvollen Kostüme entworfen hat.
Starker Applaus und Standing Ovations für die möglicherweise letzte Oper dieses Komponisten, der versucht hat dem Publikum des 21. Jahrhunderts eine Mischung aus „Faust“ und „Parsifal“ zu schenken.
Walter Nowotny 16.6.16
Bilder (c) Theater Carré / Ruth Waltz
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