EKATERINBURG
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LA BOHÈME
29.9. (Premiere am 4.3.2010)
Eine klassische Inszenierung
Jekaterinburg, das ehemalige Swerdlowsk, benannt nach dem wichtigen sowjetischen Staatsmann Jakow Swerdlow (1885-1919), liegt in Ural (Sibirien) und ist nach Moskau, St. Petersburg und Nowosibirsk die viertgrößte Stadt Russlands. Zar Peter der Große hatte die Stadt 1723 gegründet und nach der zukünftigen Frau des Zaren, Katharina I., benannt. Aus Gründen der besseren Aussprache aber wurde der Vokal „E“ dem Namen „Katerinburg“ vorangestellt. Unweit der Stadt verläuft die imaginäre Grenze zwischen Europa und Asien. Weltbekannt wurde die Stadt durch das tragische Ereignis der Ermordung des letzten russischen Zaren Nikolaus II. und seiner ganzen Familie in der Nacht vom 17. auf den 18. Juli 1918 durch die Bolschewiken. Das seit 1912 in Betrieb befindliche Jekaterinburg staatliche akademische Opern- und Balletttheater zählt zu den ältesten in Russland.
Der Dirigent Alexey Bogorad am Pult des routiniert spielenden Orchesters setzte bewusst auf Tempo, sodass es anfänglich manchmal zu leichteren Unstimmigkeiten zwischen Bühne und Graben kam, die sich aber im Lauf des Abends einstellten. Auch die Sängerin der Mimi, Victoria Novikova, die anfänglich für sein Empfinden um einen Halbton zu tief sang, wies er durch deutliche Zeichen darauf hin, die Stimme anzuheben. Regisseur Alexander Lebedew könnte man stilistisch in etwa mit Otto Schenk vergleichen. Besonders gut gelungen war ihm das zweite Bild vor dem Café Momus in Paris mit seinen zahlreichen kleineren Genreszenen, wo auch zwei Nonnen vorbei defilieren und sich ersichtlich über den Verfall der Sitten empören. Leider konnte er den Sängern das oftmalige Rampensingen offenbar nicht ganz austreiben oder aber das Publikum von Jekaterinburg erwartet dieses von seinen Lieblingen? Die historisierenden Bühnenbilder und Kostüme von Igor Ivanov verlegten die Handlung in die Mitte des 19. Jhd.
Vladimir Cheberyak als Dichter Rodolfo fehlte leider jeglicher tenoraler Schmelz und es war bisweilen eine Qual ihm zuzuhören, wiewohl er die Spitzentöne durch merkliches Pressen dennoch irgendwie erreichte. Victoria Novikova, seine großgewachsene schlanke Mimi, überragte ihn sowohl gesanglich als auch an Körpergröße um einen halben Kopf. Mag sie auch für des Dirigenten Ohr offenbar zu Beginn etwas zu niedrig gesungen haben, gefiel mir ihre Stimme dennoch in allen Registern ganz gut. Ihr großes Manko aber war ihr anteilnahmsloses Spiel, das sich auf typische Bühnengesten reduzieren ließ. Was ihr fehlte, das übertrieb wiederum Alexander Kolesnikov als Philosoph Colline, der zunächst noch mit einem gut geführten Bass aufhorchen ließ, in der Darstellung aber zu zweideutigen Anzüglichkeiten neigte, misslang leider seine große Arie „Vecchia zimarra, senti,…“ im vierten Akt. Schade!
Dmitry Starodubov gab einen ganz respektablen Marcello mit angenehmem Timbre seines mit einigen Abstrichen doch recht gut geführten Baritons und gefiel auch im häuslichen Streit mit Musette, seiner Geliebten. Diese wurde rollengerecht dargestellt von Nadezhda Babintseva mit polterndem Mezzosopran. Alexey Semenishchev gab an diesem Abend als Musiker Schaunard die beste gesangliche Leistung unter den vier Bohemiens ab. Sein profunder Bariton erstrahlte in allen Registern. In der Doppelrolle des Haushälters Benoit und des reichen Galans Alicindor gefiel gleichermaßen Vladislav Troshin. Als Parpignol ergänzte noch spielfreudig und ausgelassen Vladimir Voroshinin. Der Chor und Kinderchor waren beide gleichermaßen gut von Valery Kopanev einstudiert und sang im zweiten Bild bisweilen aus der linken Proszeniumsloge. Ich selber saß in der vierten Reihe Parkett und hatte ein Karte an der Abendkasse um 1200 Rubel, etwa 17 Euro erstanden. Für einen solchen Preis nimmt man gerne auch manche Unzulänglichkeiten in Kauf, wurde man doch durch eine kurzweilige und in künstlerischer Hinsicht halbwegs befriedigende Aufführung von Puccinis unverwüstlicher Oper entlohnt. Für mich gab es für Mimi jedenfalls ein lautes „Brava!“ bei der Verbeugung im Anschluss an die Vorstellung.
Das Haus war zu etwa 70 Prozent ausgelastet und erfreulicher Weise war auch vieljunges Publikum zu sehen, die dem Text auf Russisch an den zu beiden Seiten der Bühne befindlichen Monitoren leicht folgen konnten.
Harald Lacina, 1.10.17
Fotocredits: Uralopera