Wolfsburg MOVIMENTOS
HOMEWARD / ORPHEUS HIGHWAY / BACH STUDIES (PART 1)
Deutschlandpremieren am 08. August 2019
Besuchte Vorstellung am 09. 8. 2019
Abwechslungsreiche Tanzkunst
Im Jahr 2012 gründete der Choreograf und künstlerische Leiter Benjamin Millepied in Los Angeles die zwölf Mitglieder umfassende Company L.A. Dance Project, die bereits weltweit sehr erfolgreich gastierte. Aber erst jetzt kam es zur ersten Präsentation seiner Truppe in Deutschland.
Der im Senegal geborene Franzose Benjamin Millepied wuchs als Sohn einer Tänzerin fünf Jahre mit dortiger Musik und Rhythmus auf. In Bordeaux und Lyon begann er im Alter von acht Jahren seine tänzerische Ausbildung, bevor er mit 14 Jahren bereits an der School of American Ballet in New York angenommen wurde. 1995 wurde er Mitglied des New York City Ballet als Erster Tänzer, wo er alle großen Rollen seines Fachs tanzte. Von Beginn an lag ihm aber auch die Choreografie sehr am Herzen. Er arbeitete mit vielen bekannten Ensembles in aller Welt, u.a. mit dem San Francisco Ballet, der Berliner Staatsoper und dem Ballet der Pariser Oper, wo er 2013 zum Ballettdirektor ernannt wurde. Drei Jahre später trat der sensible Choreograf von dieser Aufgabe zurück, um sich wieder verstärkt auf die Entwicklung des L.A. Dance Projects zu konzentrieren, bei dem er seine Kreativität freier einsetzen kann.
Im kreativen Zentrum des L.A. Dance Project führt Millepied Künstler verschiedener Richtungen zusammen und nutzt es für seine Company als Grundlage für die Entwicklung, Unterstützung und Aufführung von höchst anspruchsvollem Tanz.
Für die Movimentos Festwochen hat Millepied drei kürzere Choreografien zusammengestellt, die Einblick über die Bandbreite seiner Arbeit und seines Ensembles geben.
Der Abend wurde mit seiner jüngsten 10-minütigen Arbeit „Homeward“ („Heimwärts“) nach dem jiddischen Lied „Aheym“ (Musik: Bryce Dessner) eröffnet. Drei Paare starteten – nach der Präsentation der leeren Bühne mit rasch wechselnden Videos zu stark hämmernden Akkordfolgen – zu einer gemäßigten Melodie mit weichen und Aufbruch suggerierenden Bewegungen in einen fröhlichen Tanz, der sich bis zum großen Wirbel der Anfangsmusik steigerte. Da fehlte mir ein wenig von der sehnsuchtsvollen Seite mit fast hoffnungslosem Touch, da es laut Programm „gespielt und getanzt für alle, denen ihre Heimat genommen wurde“ sein sollte.
Intensiver war die 2017 uraufgeführte Kreation „Orpheus Highway“, eine moderne Version der bekannten mythologischen Legende. Da passten Film und Tanz zu Steve Reichs Minimal Music „Triple Quartet“ bestens zusammen. Die Figuren auf der Bühne wurden durch den begleitenden Film gedoppelt. Nur an wenigen Stellen wichen Bühne und Film voneinander ab und ermöglichten damit, gedanklich einen anderen Schluss für das liebende Paar nach dem tödlichen Unfall zuzulassen. Aber der Tod auf dem Highway ist unumkehrbar; beide können sich nicht an das Gebot halten, sich nicht anzusehen, und drehen sich praktisch beide zueinander. Die Akteure lieferten mitreißende Szenen à la West-Side-Story, und das Solo-Paar gestaltete die herzzerreißenden Momente nach dem Unfall besonders eindrucksvoll, u.a. mit im Wechsel erschlaffenden und wieder erstarkten Gliedern der Eurydike. Das war der erste Höhepunkt des Abends.
Der zweite folgte mit „Bach Studios (Part 1)“ ohne jegliche Video-Einspielungen auf der nackten Bühne. Millepied ist offenbar ein besonderer Bach-Liebhaber, der die klaren Formen und musikalischen Strukturen tänzerisch umzusetzen weiß. Zu „Komm, süßer Tod“, hier anstelle von Gesang mit Cello gespielt, wurde ein herrlicher Pas-de-deux mit Spitzentanz-Elementen gezeigt.
Jede noch so kleine Bewegung war – wie bei den übrigen Stücken auch – besonders auf die Musik zugeschnitten, so dass jede musikalische Linie exakt nachvollzogen wurde. Bei „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen“ aus der Matthäuspassion störte leider die viel zu laute Toneinstellung die Konzentration auf das Geschehen, aber die mehrmals auftauchenden, eindringlichen Figuren verschiedener „Pietàs“ sind mir haften geblieben. Das große Finale kam mit der Partita für Violine solo in d-Moll, das mit der berühmten Chaconne abschloss. Da zogen neun Tänzer mit viel verspielten Figuren und Hebungen noch einmal alle Register ihres Könnens und machten damit ihrem Choreografen große Ehre.
Das Publikum bedankte sich bei allen Mitwirkenden für einen besonders abwechslungsreichen, interessanten Abend mit begeistertem Applaus.
Marion Eckels, 10.08.2019
Fotos: © Matthias Leitzke
Weitere Vorstellungen der Movimentos Festwochen:
Russell Maliphant & Vangelis (London)
15. - 17.08.2019
Dog Without Feathers
Deutschlandpremiere: 01. August 2019
Besuchte Vorstellung am 03. August 2019
Beeindruckendes in neuer Spielstätte
Innerhalb von 9 Monaten ist es der Volkswagen AG gelungen, den Movimentos Festwochen 2019 vom 19. Juli bis 25. August einen passenden neuen Rahmen zu schaffen, nachdem das Kraftwerk wieder seiner ursprünglichen Bestimmung zugeführt wurde. Das neue Gebäude „Hafen 1“ mit der Veranstaltungshalle (1650 qm), Schnürboden/Bühne (308 qm) und bis zu 1.400 Sitzplätzen umfasst außerdem mehrere Seminarräume variabler Größe. Der schlicht schwarz ausgeschlagene Saal und das graue, bequeme Gestühl sind praktikabel; etwas bedrückend sind die schwarzen Wände sowie graue Treppen und Böden im Foyer-Bereich. Da fehlen noch ein paar belebende Farbtupfer. Von der guten Ton- und Lichttechnik konnte man sich beim Besuch der brasilianischen Companhia de Danca von Deborah Colker überzeugen.
Zum dritten Mal nach 2005 und 2009 ist Deborah Colker, eine der bekanntesten brasilianischen Choreografen, mit ihrer 1994 gegründeten Companhia de Danca nach Wolfsburg gekommen. Sie hatte ihre neueste Arbeit „Dog Without Feathers“ (Uraufführung: 3. Juni 2017 in Recife) im Gepäck, mit der sie den Prix Benois gewann, einen der wichtigsten Preise der Tanzwelt überhaupt. Die vielseitige Choreografin inszeniert außerdem für Modepräsentationen, Musikvideos, Zirkus (u.a. Cirque de Soleil), Film und Shows. In den 80er Jahren lernte Colker den Lyriker João Cabral kennen, dessen Gedicht „O cão sem plumas“ (Hund ohne Federn) sie sehr beeindruckte; aber erst 2014 bei einem erneuten Blick darauf, kam die Initialzündung zu der neuen Choreografie. 1950 „entstand das Gedicht, das sich auf den Fluss Capibaribe in Pernambuco bezieht, aber von allen Flüssen auf der Erde spricht, von Flussbettbewohnern, von allen Ausgestoßenen, Vergessenen, den Randfiguren, von all jenen, die „anders“ sind. Ein universelles und zeitloses Gedicht, das leider auch heute noch seine Gültigkeit hat“ (aus einem Interview von Bernd Kauffmann mit Deborah Colker). Zur Interpretation hat Deborah Colker vier Sprachen eingesetzt: Tanz, Kino, Poesie und Musik, was an einigen Stellen zu viel gleichzeitig war, als z.B. die deutsche Übersetzung seitlich auf einem Bildschirm erschien und man dadurch zu sehr vom Tanz abgelenkt wurde.
Die 14 Tänzerinnen und Tänzer der Companhia leisteten Außergewöhnliches an Geschmeidigkeit, aber auch kräftezehrenden, akrobatischen Aktionen. In acht Szenen wurde das Leben in karger Landschaft bei Trockenheit und üppigem Wuchs bei großer Strömung des Flusses gezeigt, wobei die Übergänge nicht immer deutlich erkennbar waren. Vor Filmsequenzen im Hintergrund rollten sich die Akteure wie Lemuren auf die Bühne; schlammverschmiert ging es in katzenhafte, reptilien- und affenartige Bewegungsabläufe über, bis es nach einem fantastischen Solo fast zu einem rituellen Stammestanz mit rhythmischem Stampfen kam. Optisch fügten sich die realen Tänzer bestens in das Hintergrund-Video ein, unterstützt durch fabelhafte Lichtregie. Bald fügten sich die Körper zu einer häufig wiederkehrenden Figur, einem Krebs, der für das Leben im Fluss, aber auch für den Fluss des Lebens steht.
Wie Lianen herabhängende Bänder veränderten die Landschaft und führten zu lebendigem Wasser mit Mangrovenwäldern und -wurzeln. Letzteren ideal nachempfunden waren die körperlichen Verschlingungen und Bewegungen, die man gar nicht alle gleichzeitig erfassen konnte, bis sich der Krebs wieder bildete und ein weißer Reiher aus der Menschengruppe herausragte; später verdeutlichten drei Reiher mit zauberhaft eleganten Bewegungen Hoffnung auf besseres Leben der Wesen des Flusses. Höhepunkt des Abends war für mich die Szene mit Gehhilfen und Stöcken, die akustisch mit vorwärts drängendem Puls unterlegt war und den Tänzern zwischen den Bändern Höchstschwierigkeiten an Akrobatik und Exaktheit abverlangte.
Zum atemberaubenden Abschluss des Abends bildeten die Käfige (= Hütten am Fluss) die Ausgangslage für schlangengleiche Bewegungen und ausbalancierte Drehungen auf schräg gestellten Käfigecken. So aufeinander Rücksicht nehmend sollten Mensch und Natur immer miteinander umgehen.
Begeisterter Applaus des nahezu ausverkauften Hauses dankte den hervorragenden Künstlern und ihrer Choreografin
Marion Eckels, 04. August 2019
Fotos: © Matthias Leitzke
Zero Visibility Corp. (Oslo)
Besuchte Vorstellung am 02. Mai 2018
(Deutschland-Premiere am 01. Mai 2018)
Frozen Songs
Unter der künstlerischen Leitung der Choreographin Ina Christel Johannessen hat sich die 1996 von ihr gegründete, 2011 erstmals in Wolfsburg gastierende Compagnie „zero visibility corp.“ kontinuierlich weiter entwickelt. In Johannessens Choreographien geht es oft um Themen der aus den Fugen geratenen Welt, wie z.B. in dem Stück „Wasteland“ für das Göteborg Ballet, das 2015 in Wolfsburg erfolgreich war. Sie zeigt gerne Missstände auf oder versucht bedrohliches Weltgeschehen und höchst unterschiedliches, menschliches Verhalten auf unterhaltsame Art nahe zu bringen, nicht ohne dabei auch verstörende Assoziationen zuzulassen.
Die Anregung zur Choreographie Frozen Songs geht auf den „Svalbard Global Seed Vault“ („Weltweiter Saatgut-Tresor“) zurück, eine riesige Anlage, die 2008 auf Spitzbergen eröffnet wurde und von den Vereinten Nationen betrieben wird. Tief in einem Berg inmitten des Permafrost werden dort derzeit 80.000 Samen von über 5.200 Nutzpflanzen aufbewahrt. Es sollen Samen von bis zu 4,5 Millionen Pflanzen werden, die nach einem totalen Zusammenbruch von Natur und Menschheit durch Klima- und andere Katastrophen zur Quelle neuen Lebens werden könnten. (Wobei sich die Frage aufdrängte, ob auch tiefgefrorene, befruchtete Eizellen dort gesammelt werden zur Fortpflanzung der Menschheit.) Durch die Verbindung von Tanz mit Lichtdesign, Sound und Multimedia-Einspielungen sollte neben düsteren Visionen die Hoffnung auf das Überleben der Menschheit angesprochen werden, ein in unseren Tagen wieder hochaktuelles Thema.
Zwei Tänzerinnen und fünf Tänzer des hoch gewachsenen norwegischen Ensembles boten 90 Minuten lang körperlich Beachtliches. Besonders eindrucksvoll waren die punktgenauen Übereinstimmungen zwischen Tanzaktion und Sound. Johannessen arbeitete wieder mit den Stray Dogs zusammen (wie schon bei „Wasteland“), die mit viel Elektronik eine breite Geräuschskala von Samenrieseln bis zu wenig einprägsamen Melodien aufboten. Der Abend begann mit einer Sequenz, die tief im frostigen Berg spielte; vor einem Eiskristalle suggerierenden Plastik-Vorhang bewegten sich die Tänzer zu klirrenden Geräuschen eher torkelnd. Man hatte den Eindruck, dass nur Minimalberührungen mit anderen ihnen neue Kraft für unerwartete Bewegungen und Reaktionen einhauchten und sie vor dem Erfrieren bewahrten. Erster Höhepunkt war im Folgenden ein Pas-de-quatre (1 Dame, 3 Herren), der mit hoch artifiziellen Hebungen und Verschlingungen fast artistisch anmutete, aber kalt ließ.
Eine atemberaubende Gewitterszene zum Puls elektronischer Musik vor blitzezuckender Kulisse war ein weiterer Höhepunkt, wobei man durch das gewaltige Medienspektakel zu sehr von den Tänzern abgelenkt wurde. Ein Pas-de-deux bei Sonnenuntergang vor beweglichen, mannshohen Wellpappe-Wänden hatte da ganz andere Intensität. Als starken Kontrast gab es einen Video-Schneesturm, bei dem die Tänzer mit raumgreifenden Bewegungen eindrucksvoll über die Bühne fegten, dick vermummt gegen die Kälte, passend zu heulenden Wölfen im Sound. Vom Tanz her intensiver gelang daher eine Szene vor Hochhaussiedlungen im Abendlicht à la „West Side Story“.
Als Zwischenstopp fand per Mikrofon eine kurze Unterhaltung der Tänzer untereinander über die Problematik der Artenerhaltung per Samen oder Plastik statt mit Hintergrundbildern aus dem „Samen-Tresor“, wobei die Notwendigkeit des Projektes auf Spitzbergen untermauert wurde mit dem Fazit „Die Saat ist absolut sicher, was auch passiert.“ Was nun folgte, ließ mich ratlos zurück: Aus Silo-Trichtern strömte das Saatgut herab, Kisten wurden gebracht und ausgeleert; man tanzte auf den Samen, eine Tänzerin wurde unaufhörlich gefüttert, bis sie nicht mehr konnte; Magenkrämpfe waren offensichtlich die späteren Folgen. Ein sichtlich kranker Junge sang im Film ein ergreifendes Lied (übrigens sehr intonationsrein!), in dem er seine Mutter bat, ihn frei zu geben für den Tod. Nachdem hektisch gesät und der Erde das Gesammelte zurückgegeben wurde, dankten die Truppe mit empor gestreckten Armen; alles wurde schnell von aufschießenden Pflanzen aller Art überwuchert – ein eindringliches, versöhnliches Bild zum Schluss.
Insgesamt kam der Tanz gegenüber Medienvielfalt, Sound und Lichtdesign zu kurz. Ähnlich schien es dem Publikum zu gehen, das entgegen sonstiger Gepflogenheiten bei den „Movimentos“ eher nur höflich applaudierte.
Marion Eckels, 03. Mai 2018
Fotos: © Antero Hein (1), Zero visibility corp. (3)
Über die Insel Formosa
Besuchte Vorstellung am 27.April 2018 (Europapremiere: 26.April 2018)
Vermächtnis
1973 gründete der Taiwanese Lin Hwai-min das Cloud Gate Dance Theatre in Taipeh, die erste Compagnie für zeitgenössischen Tanz im chinesischsprachigen Raum, die er als künstlerischer Leiter bereits 45 Jahre durch Höhen und Tiefen geführt hat. Mit seiner neuen, voraussichtlich letzten Choreographie kündigte er seinen Rückzug für 2019 an.
Erst nach einem Literatur- und Journalistikstudium in seiner Heimat und den USA, begann er in New York, sich ernsthaft dem Tanz zu widmen. Lin Hwai-min gilt heute als einer der bedeutendsten Choreographen, der asiatische Tanzkunst mit westlichem Ausdruckstanz verbindet. So führte er die Tanz-Traditionen seiner Heimat, der Peking-Oper sowie japanischer und koreanischer Hoftänze mit modernen Formen und einer Art des Qigong zusammen.
Mit dieser reichen Stilpalette schuf Lin Hwai-min mit „Formosa“ eine Eloge auf sein Heimatland, die Landschaft, die Menschen und ihr Leben. Dabei ist ihm, wie schon bei anderen Choreographien, stets das Wort ganz wichtig. So wurden mit sonor einschmeichelnder Stimme melancholische Gedichte (aus seiner Feder?) zu den Jahreszeiten sowie Fauna und Flora der Insel vorgetragen und passend von den Tänzerinnen und Tänzern interpretiert. Musik stand weniger im Vordergrund: Nur einige Trommeln, Flöten und Glöckchen untermalten streckenweise das Geschehen, während die Worte den Rhythmus vorgaben. Dass die Kalligraphie für ihn ebenfalls ein wichtiger Baustein ist, erkannte man an den Projektionen im leeren, schwarz-weißen Raum: Die an Rückwand und Boden projizierten Schriftzeichen und Texte zerfielen allmählich und unterstrichen damit auch den Zerfall allen Lebens und Wirkens.
Die Tänzerinnen und Tänzer leisteten Erstaunliches an diesem Abend. Die Bühne wurde 70 Minuten pausenlos betanzt; großstädtisches Nebeneinander wurde ländlichem Miteinander gegenübergestellt. Wie schon bei früheren Auftritten zu den „Movimentos“ begeisterten sie durch ihre unglaublich geschmeidige Beweglichkeit und Ausdruckskraft der Körper. Mit sanftem Schreiten sammelten sich zunächst einige Tänzer auf der Insel, die „wie ein Blatt am Rande des Pazifiks treibend“ geformt ist. Sie schienen die Freude über den Frühling und die Blumen aus sich herauszutanzen. Zur Beschreibung eines weißen Reihers im Reisfeld wurde ein zauberhafter Pas-de-deux getanzt; während alle Tänzer grau-verwaschene Shirts und Hosen trugen, war der „Reiher“ in ein weißes, langes und schmales Kleid gehüllt und bewegte sich sehr elegant. Zur Abwechslung folgte ein „Dialog“ zweier Gruppen, der sich teilweise zeitlupenartig aufbaute. Zu Gedichten über Libellen und Farnbüschel in den sommerlichen Bergen konnte man Schulkinder bei Morgenübungen erkennen. Zum Monsunregen im Herbst hetzten die Tänzer atemberaubend über die Bühne und trippelten zum Regen; stilisierte Kämpfe begannen, die in einem weiteren wunderbaren Pas-de-deux gipfelten.
Im Winter wechselten sich dann weiche und gleichmäßige Bewegungen mit kräftigem Stampfen ab, das in einen faszinierenden Kampf „jeder gegen jeden“ führte. Während die Schriftzeichen in Trümmer gingen, fielen alle Menschen zu Boden. Einige Momente hörte man nur Geräusche von Bomben und Beschuss; das totale Chaos war da. Ganz allmählich ließen die Geräusche nach, neues Leben erwachte, erste Schriftzeichen kehrten zurück, taumelnd und schwankend lebte die Menschheit wieder auf, ein Art Wiedergeburt. Schließlich versanken alle Worte im nun aufschäumenden Meer und die Menschen fanden sich wie zu ritualen Tänzen, bevor sie die hoffnungsvolle Szene nacheinander verließen. Das war ein spannendes Schlussbild, bevor man in die Anfangssituation zurückversetzt wurde.
Dass die Thematik schwieriger war als an anderen Abenden der Movimentos, merkte man an dem erst zögerlich einsetzenden Applaus, der dafür umso anhaltender den Tänzerinnen und Tänzern sowie dem Choreographen für den faszinierenden Abend dankte.
Marion Eckels, 28.04.2018
Fotos: © Chen-hsiang Liu (2), Matthias Leitzke (2)
Weitere Vorstellungen: 28. + 29.4.2018
Compagnie DCA/Philippe Decouflé
Deutschlandpremiere: 14. April 2018
Besuchte Vorstellung am 15. April 2018
Stilvielfalt
Mit dem aktuellen Programm „Nouvelles Pièces Courtes“ ist dem Choreographen und Tänzer Philippe Decouflé mit seiner Compagnie DCA wieder ein starker Kontrast gegenüber dem reinen Modern Dance gelungen. Decouflé, der an der École des Cirque de Paris und u.a. bei dem Pantomimen Marcel Marceau ausgebildet wurde, entdeckte darüber hinaus in New York für sich die Videokunst. Das alles fließt in seine Choreographien ein, die er mit seiner Compagnie als Werkstattkollektiv erarbeitet. Dabei lässt er es sich nicht nehmen, in kleineren Sequenzen auch noch selbst aufzutreten. Diese abwechslungsreiche Form der „Kleinen Stücke“ ist durch bekannte Choreographen wie George Balanchine und Martha Graham eine Tradition zeitgenössischen Tanzes geworden. So ist es möglich, an einem Abend eine stilistische Bandbreite zu präsentieren, die bei Decouflé noch durch Artistik, Slapstick, Akrobatik und Videoeinspielungen, bzw. filmische Vervielfachung und Überblendung angereichert wird. Daher sind die Mitglieder seiner Compagnie nicht nur Tänzerinnen und Tänzer, sondern gleichzeitig Musiker (hier an Klavier, Cajón und Flöte), Sänger, Schriftsteller, Komponisten, Artisten und Akrobaten.
Die pausenlos ineinander übergehenden kleinen Stücke begannen mit „Evolution“: Wie aus dem Nichts wuchsen mit aufziehendem Licht zwei Figuren aus dem Boden, die durch leichtes Anstupsen mit Ellenbogen oder Füßen Impulse auslösten, die zu artistischen Bodenkür-Übungen führten. Ein Dritter gesellte sich dazu und allmählich entstand durch lautes Atmen, Zischen, Schnalzen und ähnliche Geräusche ein pulsierender Rhythmus, zu dem sich die Bewegungsabläufe von überraschenden Verschlingungen bis zu kunstvollem Radschlagen und zu Salti steigerten. Als ein Klavier mit Hocker auf einem kleinen Podest auf die Bühne gerollt wurde, entpuppte sich die Tänzerin als Flötistin, ein Tänzer als guter Pianist, der andere als Spezialist der Akrobatik, die in einem fulminanten Salto rückwärts auf dem schmalen Klavierdeckel gipfelte. Nun wechselte die Szene (Bühne: Alban Ho Van) zu einer Rückwand mit Lamellentüren, durch die sich viele Auftrittsmöglichkeiten ergaben.
Als Hommage an seine verstorbene Mutter schuf Decouflé eine eindringliche Choreographie für drei Paare zu Ausschnitten aus Vivaldis „Stabat mater“. In dem reinen Tanzstück zelebrierten sie elegante Hebungen und gelungene Pirouetten in knallbunten Kostümen und pfiffigem Kopfputz. Zu Vivaldis Mandolinenkonzert arbeitete er aparte Schattenbilder für zwei zwillingsähnliche Tänzerinnen heraus, die fast ganz miteinander verschmolzen; da gelangen ihm passend zur Musik interessante symmetrische Bilder.
Heiter wurde es wieder, als an der Stange gedehnt und geturnt wurde; mit leichter Hand entworfen, verlangte es den Tänzern doch unheimliche Körperbeherrschung und Agilität ab. In der Folge gab es Tanz auf zwei Ebenen, d.h. unten wurde echt getanzt, oben gab es zuerst einfache Videos, dann vervielfachende und über Kreuz getanzte. Das waren eindrucksvolle Bilder zu Musik mit Cajón-Rhythmisierung und Geräuschen, bzw. Gesang. Ein weiterer Höhepunkt war die atemberaubende Luftakrobatik-Nummer “R“: Die Tänzerin hob an einem Art Bungee-Trapez vom Boden ab, während ihr Partner am Boden versuchte, sie wieder einzufangen. Immer wieder löste sie sich jedoch aus seinen Armen und entschwebte in höhere Sphären, während ihr Partner dabei wild hin und her geschleudert wurde. Das Ganze spielte hinter einem halbtransparenten Vorhang, auf den Schleier-Videos projiziert wurden; das war ein spannendes Zusammenspiel von Realität und Illusion, ein unglaublicher Effekt!
Zum Schluss hatte sich Decouflé mit der Reise nach Japan etwas Besonderes ausgedacht: Schon die ersten Sequenzen aus dem Flughafen und während des Fluges hatten die Lacher auf ihrer Seite. Darstellung und Mimik einer solchen Unternehmung waren einfach sehenswert. In Tokio angekommen gab es den e-mail-Kontakt aus dem Hotelzimmer, wo nebenbei ‘zig Fernsehprogramme mit Video-Clips liefen, einige in live-Aufnahmen nachgestellt und gefilmt; köstlich war die kleine Naive mit ihrem geträllerten Liedchen. Reine Ironie schien mir die jodelähnliche Musik zu einer Tanzsequenz in hübschen Kimonos zu sein. Die endlose Einkaufsliste von kleinen und großen Andenken in einem Kaufhaus hielt das Publikum bei bester Stimmung.
Entsprechend lang und anhaltend fiel der Applaus aus. Es war ein äußerst unterhaltsamer Abend mit vielen Nuancen und wunderbar passenden zirzensischen Einflüssen.
Marion Eckels, 16. April 2018
Fotos: © Matthias Leitzke
Ballet BC (Vancouver)
Besuchte Vorstellung am 06. April 2018
Premiere am 05. April 2018
Bewegliche Präsenz
Zum letzten Mal finden die diesjährigen Tanzabende der Movimentos der Autostadt im VW-Kraftwerk Wolfsburg statt, denn das zur Zeit nur teilweise als Energieerzeuger genutzte Werk soll wieder voll in Betrieb genommen werden. So ist man auf der Suche nach einem neuen originellen Raum für diese ganz besonderen Aufführungen des Tanztheaters, die das gesamte Programm der Festwochen in den vergangenen 16 Jahren entscheidend geprägt haben. Als Sparten übergreifendes Motto hat man nach „Liebe“ (2016) und „Freiheit“ (2017) diesmal „Würde“ gewählt. Nach der Eröffnung des Festivals mit der Movimentos Akademie stand mit dem Ballet BC aus Vancouver gleich eine ganz besondere Company im Mittelpunkt, die 1986 gegründet wurde und zunächst noch vorwiegend im neoklassischen Stil tanzte. 2009 übernahm Emily Molnar die Leitung des Ensembles und formte die Tänzerinnen und Tänzer zu einer höchst inspirierten Gruppe für progressiven Modern Dance mit klassischen Elementen, übrigens die Einzige in ganz British Columbia. Molnars Ziel war es, die Tänzer und Tänzerinnen mit unterschiedlichen Stilen und Arbeitsweisen bekannter Choreographen vertraut zu machen. So hatte das Ballet BC zum ersten Deutschland-Auftritt ein dreiteiliges Programm unterschiedlicher Choreographen im Gepäck.
Eröffnet wurde der Abend mit „16+ a Room“ (Deutschlandpremiere), einer Choreographie, die Emily Molnar gemeinsam mit den Tänzerinnen und Tänzern 2013 erarbeitet hat. Für 16 Tänzer konzipiert, traten hier nur 13 auf (obwohl im letzten Stück sogar 18 Tänzer aktiv dabei waren). Zu elektronischer, fast durchgehend pulsierender „Musik“ des deutschen Komponisten Dirk P.Haubrich leisteten die Tänzer Erstaunliches an Beweglichkeit und Präsenz. Wie Gummipuppen konnten sie sich nahezu übergangslos verrenken, blitzartig fallen lassen, zu Gruppen ordnen oder wieder vereinzeln. Besonders im etwas ruhigeren Mittelteil entstanden immer wieder verflochtene Menschengebilde, die – durch gute Lichtregie unterstützt – starke Bilder hinterließen, die sicher noch länger in den Zuschauerköpfen abrufbar sind. Dennoch vermochten die im Vordergrund stehenden ästhetischen Elemente nicht so recht unter die Haut zu gehen. Vielleicht lag es auch an der zu häufigen Wiederholung einzelner oder auch mehrerer, im Fallen weit über die Bühne Schlitternder, was sich zu sehr abnutzte. So blieb es hier bei freundlichem Beifall.
Es folgte „Solo Echo“, eine kürzere Choreographie (20 Min.) für 3 Tänzerinnen und 4 Tänzer von der Kanadierin Crystal Pite, das 2012 in den Niederlanden uraufgeführt wurde. Zu romantischen Teilen aus zwei Cello-Sonaten von Johannes Brahms tanzten die Protagonisten mit starkem Ausdruck vor kühler Kulisse, bei durchgehend leichtem Schneefall. Der Konflikt zwischen rauer, rücksichtloser Jugend und späterer Nachdenklichkeit entwickelte sich durch Kämpfe und abrupt ausbrechende Soli allmählich zu einer gewissen Übereinstimmung. Der Bewegungskanon passte ausgezeichnet zur Musik und überzeugte das Publikum vollauf.
Den Abschluss des Abends bildete „Bill“, d.h. eine auf 30 Min. gekürzte Fassung der 2010 in Tel Aviv uraufgeführten einstündigen Choreographie von Sharon Eyal & Gai Behar nach dem Soundtrack von Ori Lichtik. Hier wurde die gefühlsarme Vereinzelung der Menschen trotz äußerlicher Angleichung (hautfarbige Ganzkörperanzüge) aufs Korn genommen; Berührungen fanden nicht statt. Große ausdrucksstarke Soli von vier Tänzern und einer Tänzerin mit vielen klassischen Anteilen wurden der roboterhaft agierenden Menge gegenübergestellt. Erst ganz zum Schluss besann man sich auf „Würde“. Wie bei den anderen Werken passte auch hier jede Bewegung, jeder Stillstand oder Veränderung optimal zur Musik.
Begeisterter Applaus dankte nun allen Beteiligten für einen gelungenen Abend mit herausragenden Momenten.
Marion Eckels, 07. April 2018
Fotos: © Michael Slobodian (16+ a Room); Wendy D. (Solo Echo); Chris Randle (Bill)
Weitere “Movimentos”-Ballettabende:
10./11. April: Company Wayne McGregor (London)
14./15. April: Compagnie DCA/Philippe Decouflé (Paris)
19. – 22. April: Sydney Dance Company
26. – 29. April: Cloud Gate Dance Theatre of Taiwan
1./2. Mai: Zero Visibility Corp (Oslo)
5./6. Mai: Grupo Corpo (Brasilien)