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Händelfestspiele 2013 vom 6. bis 16. Juni 2013
ALCINA
Premiere am 01.06.2012
Fliegende Fische über dem Swimming-Pool
Mit dem Einsatz der fauchenden Windmaschine beginnt diese Neuinsze-nierung der ALCINA im Opernhaus – die traditionelle Gemeinschafts-produktion der Oper Halle mit den Händel-Festspielen der Stadt. Und auch später gibt es noch eine Vielzahl von fremden Klängen, erzeugt vom Tamburin, Donnerblech und Trommelwirbel, sowie außermusikalischen Einwürfen (einschließlich eingefügtem gesprochenem Text) zu hören – und zu überstehen. Da rast mehrfach eine kreischende Kinderschar über die Bühne, was die Musik empfindlich stört, und bekritzelt die Wände, hängt kopfüber vom Schnürboden ein halbnackter exotischer Stammeskrieger und trommelt wild auf den Mond, torkelt ein Mann in Unterhosen mit riesigem Bärenkopf durch die Szene, erschießt ein als Gevatter Tod geschminkter Knabe mit dem Maschinengewehr seine Gefährten, die eben noch andächtig Ruggieros „Verdi prati“ gelauscht hatten. Schamanen schreien und schütteln die Glieder, eine Barbusige beschmiert sich in Trance mit Blut, Tänzer fügen sich zu einem Menuett und stampfen gleich darauf durch das aufspritzende Wasser des Pools. Im klinisch-weiße Raum auf der Drehbühne sieht man phantastische Gestalten mit Tätowierungen, Tiermasken oder seltsamen Pflanzenköpfen und fühlt sich versetzt in eine ferne, fremde Welt, sei es in Südamerika, Afrika oder auf einer Südsee-Insel. Der polnische Regisseur Andrej Woron zeigt Händels 1735 in London uraufgeführte Oper als Konflikt der Kulturen, das Reich der Zauberin als ein Urlaubs-Idyll mit Sternenhimmel, Palmen, üppigen Bambusbüschen und Schwimmbecken, wo man, unbehindert von jeder Zivilisation, frei leben und lieben kann. Seine Sympathie gehört zweifellos der Titelheldin, die er einseitig als Opfer, als Verlassene (ähnlich einer Butterfly) darstellt, ohne ihre (entsprechend der Vorlage von Lodovico Ariosto) unmenschlichen Taten – das Verwandeln ihrer Liebhaber in wilde Tiere – kritisch zu kommentieren. Er hat sich dafür eine phantasievolle Bühne gebaut und die Kostüme zwischen Barock, Folklore und Pop gestaltet. Er lässt aufgeblasene Fische durch die Luft fliegen, die per Fernbedienung gesteuert werden, und mehrfach Mitglieder des Ballett Rossa (Choreografie: Martin Stiefermann) zum Einsatz kommen – ob als kindliche Pflanzenwesen oder als schwimmend tanzendes Pärchen im Pool. Einige effektvolle Bilder prägen sich ein – so der Schluss des 1.Aktes, wenn der Raum in glühendes Rot getaucht ist und der Boden sich mit Alcina in die Höhe hebt, oder nach der Pause das aus der Tiefe herausfahrende gläserne Gewächshaus, in dem die Zauberin im roten Federkleid und hoch getürmter schwarzer Perücke wie gefangen scheint. Am Ende bedient sich Woron der gängigen und abgegriffenen Klischees des Regietheaters, lässt Ruggiero, Bradamante und Melisso mit ihren Koffern abreisen, die Szene von den Bühnenarbeitern leer räumen und Alcina ihre letzte Arie „Mi restano le lagrime“ im schwarzen Kleid als Konzertauftritt singen. Der Schlusschor „Dopo tante amare pene“ erklingt aus dem Zuschauerraum, weil es ein inszeniertes lieto fine heute offenbar nicht geben darf.
Musikalisch stand die Premiere am 1.6. auf hohem Niveau. Bernhard Forck hatte sich zwar auf die eigenwillige Lesart von Andrej Woron (gespielt wird eine zweiaktige, gekürzte Fassung des Regisseurs und des Dramaturgen Roland Quitt) scheinbar ohne Widerspruch eingelassen und das Händelfestspielorchester Halle um diverse fremdartige Instrumente erweitert, um das exotische Kolorit zu erzielen, doch musizierte das Ensemble unter seiner beflügelnden Leitung so straff, akzentuiert und farbig, erklangen die Ballettmusiken so federnd und musikantisch-lustvoll, dass man die orchestrale Seite der Aufführung nur in höchsten Tönen loben kann. Es war der Abend von Romelia Lichtenstein in der Titelrolle. Seit 1996 gehört sie zum festen Stamm der Händel-Interpretinnen in Halle und reüssierte in vielen Rollen, was ihr nach der Vorstellung zu Recht die Auszeichnung als Kammersängerin eintrug. Ihre Alcina ist das ergreifende und überwältigende Porträt einer liebenden, hoffenden, verzweifelten, rasenden und schließlich gebrochenen Frau. Von starker Präsenz sogleich ihr erster Auftritt mit verführerisch-sinnlichem Ton in „Di, cor mio“, bei dem sie den halbnackten Ruggiero massiert, während die nächste Arie „Si, son quella“, zärtlich und schmeichelnd gesungen, bereits die ersten Zweifel an Ruggieros Treue hören lässt. Fulminant ist ihr rasender Zornesausbruch im Rezitativ vor der Arie „Ah, mio cor!“, die sie, von stockenden Akkorden des Orchesters begleitet, als Aufschrei einer verwundeten Seele gestaltet und mit trancehaften Zuckungen in körperlichen Ausdruck umsetzt. Fulminant und mit äußerster Spannung aufgebaut ihre große Szene „Ombre pallide“, bei der sie zwischen Extremhöhe und -tiefe alle Regionen bravourös ausreizt. Von existentieller Dimension schließlich die letzte Arie mit bewegend schmerzlichen Tönen und Klang gewordenen Tränen bis zum völligen Ersterben der Stimme.
Dieses Ausnahmeniveau erreichen die anderen Sänger zwar nicht, aber immerhin gibt Ines Lex die Morgana, hier ein Flower-Girl aus der Hippie- Ära, mit substanzreichem lyrischem Koloratursopran von lieblichem Klang und schöner Geläufigkeit in „Tornami a vagheggiar“. Makellos gerundet und mit feiner Lasur ertönt ihr „Credete al mio dolore“, vom warmen Ton der Celli grundiert. Der Counter Terry Wey singt den Ruggiero mit jugendlich-zärtlicher Stimme; träumerisch-entrückt, mit schwebenden hohen Tönen und interessanten Verzierungen in „Mi lusinga il dolce affetto“ und mit starker, sehnsuchtsvoller Empfindung in „Verdi prati“. Nur der Bravourarie „Sta nell’ircana“ fehlt der durchschlagende Aplomb; und auch bei den ihm auf der Bühne assistierenden Hornisten war nicht jeder Ton so schmuck wie ihre schnittigen Kapitänsuniformen. Aufhorchen lässt der junge Counter Jeffrey Kim als Oberto mit klangvoller, obertonreicher Stimme und empfindsamem Ausdruck in „Chi m’insegna“. Bettina Ranch ist eine attraktive Bradamante mit schlankem Alt von resoluter Tiefe, die sich während ihrer ersten Arie („È gelosia“) sogar einen Kuss vom Dirigenten abholen darf. „Vorrei vendicarmi“ gerät ihr etwas schmal; um den Furor der Szene zu vermitteln, greift sie auch zu außermusikalischen Mitteln. Besser gelingt ihr der getragene Mittelteil, wo sie mit pastosen Tönen imponiert. Energisch-kraftvoll, gelegentlich auch gefährlich-aggressiv klingt der Tenor von Andreas Karasiak als Oronte, eine kontrastierende dunkle Farbe bringt Ki-Hyun Park als Melisso mit seinem Bass von satter Fülle und wunderbar weichem, resonantem Timbre ein. Am Ende geteilte Meinungs-äußerungen für das Regie-Team und Jubel für die Protagonisten auf der Szene, vor allem für die neue Kammersängerin!
Einen ähnlich überwältigenden Eindruck hinterließ einen Tag später Franco Fagioli in einer konzertanten Aufführung des PORO, RE DELL’INDIE in der Georg-Friedrich-Händel HALLE. Die letzte szenische Aufführung des Werkes hatte es 1998 im Opernhaus gegeben (mit Romelia Lichtenstein als Cleofide) – nun bescherte Enrico Onofri am Pult des kammerorchester- basel den Hallensern Händel-Glück mit der Erstaufführung nach der Halli- schen Händel-Ausgabe und einer so exquisiten wie differenzierten Wieder- gabe. 2004 hatte der argentinische Counter in Hercules sein Debüt in Halle gegeben, die Stimme hat sich seither enorm entwickelt, ist inzwischen fast baritonal in der Farbe, männlich-heroisch in der Aura und unvergleichlich in der Bravour. Mit einem „Vedrai“ von flammendem Aplomb und stupenden Spitzentönen im Da capo führte er sich effektvoll ein, ließ das Organ im folgenden „Se mai più“ sonor strömen und sorgte mit „Se possono tanto“, verziert mit Trillern und Schleifen in der Wiederholung, für einen ersten Höhepunkt. Beinahe kokett und fein getupft das „Senza procelle“ und geradezu Atem beraubend sein „Dov’è? s’affretti“ im letzten Akt – eine Szene von höchster Verwirrung und Verzweiflung, geboten mit unglaub-licher gestalterischer Kraft. Reich schattiert werden die immer wieder ertönenden Rufe „sposa infedel“, bis diese schließlich in ersterbender Tonlosigkeit verstummen. Mirakulöse Momente auch seine Duette mit Cleofide, der Veronica Cangemi ihren ausdrucksstarken lyrischen Sopran lieh. Beider Stimmen mischten sich in harmonischem Zusammenklang, gaben das „Se mai turbo“ am Ende des 1.Aktes mit inbrünstiger Zärtlichkeit und am Ende das „Caro, vieni al mio seno“ in höchstem Glücksgefühl, bevor das Werk in machtvollem Jubel endet. Die argentinische Sopranistin gefiel mit klarer Höhe auch in dem verinnerlicht-klagenden „Se mai turbo“, mit schwebenden exponierten Tönen in „Digli, ch’io son“, dem delikat geformten „Se il ciel“ und vor allem mit der überirdisch-entrückten Stim- mung ihrer letzten Arie „Spirto amato“. Die Hosenrolle des Gandarte füllte Kristina Hammarström mit schlankem, kultiviertem Mezzo und flüssiger Koloratur aus – besonders wirkungsvoll ihre Arie „Se viver non poss’io“ durch die klangvolle Tongebung und Virtuosität im Da capo. Einen zwie- spältigen Eindruck hinterließ Sonia Prina als Erissena mit strengem Alt. Zwar imponierte der resolute Nachdruck in der Tiefe, doch irritierten sehr spröde Töne in der Höhe und stimmliche Verfärbungen. Am besten gelang ihr das wiegende „Son confusa pastorella“, weil sie hier die Stimme angenehm verschlankte. James Gilchrist als Alessandro mit kraftvollem Tenor formulierte die Rezitative mit forscher Attacke und seine Arien mit energischer Entschlossenheit, doch verlor die Stimme in den Koloraturläufen an Qualität.
Eine Begegnung mit dem namhaften spanischen Ensemble Al Ayre Español unter seinem Leiter Eduardo López Banzo gab es in der Konzerthalle Ulrichskirche am 3.6. Zur Aufführung gelangte Alessandro Scarlattis Oratorium Il martirio di Santa Teodosia von 1684, das den Leidensweg der heiligen Teodosia beschreibt, die der weltlichen Liebe entsagt, den Werbungen von Prinz Arsenio, Sohn des römischen Statthalters Urbano, widersteht und schließlich den Märtyrertod stirbt. María Espada war dafür eine Idealbesetzung. Ihr heller klarer Sopran von keuschem Klang und leuchtender Höhe entsprach der Partie in allen Anforderungen, war erfüllt von dramatischem Nachdruck und verfügte über ein reiches vokales Spektrum – ergreifend in ihrer Klage, von äußerster Entschlossenheit in ihrem Widerstehen, von bitterer Süße und engelsgleicher Verzückung. Resolut auffahrend der robuste, aufgeraute Bass von Luigi de Donato als Urbano, ohne Gesicht der Tenor von Andrew Tortise als Arsenio und zuverlässig in seinen kurzen Einwürfen als Präfekt Decio der Counter Carlos Mena. Banzo war ein kompetenter Sachwalter für dieses strenge, asketische Werk, ließ die Ritornelle am Ende der Arien von den Streichern mit wunderbarer Klangkultur erklingen und führte am Ende mit dem Tutti der Solisten „Di Teodosia il martir“ das Werk zum himmlisch-verklärten Abschluss.
Bernd Hoppe
P.S.
Die Händel-Festspiele 2013 finden vom 6. bis 16.6. statt und bringen als Premiere im Opernhaus die erste Oper des Komponisten, Almira, in einer Inszenierung des Hausherrn Axel Köhler.