DER OPERNFREUND - 51.Jahrgang
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(c) Martina Pipprich                                                 www.staatstheater-mainz.com

 

 

Machtspiele in Mainz
Nabucco

Premiere: 23.01.2022
besuchte Vorstellung: 29.03.2022

 

Lieber Opernfreund-Freund,

va pensiero, sull’ali dorate ist wirklich jedem im Ohr; dass es in der dazugehörigen Oper um Machtgier und Machtmissbrauch geht, zeigt Marcos Darbyshire in seiner so intelligenten wie schonungslosen Inszenierung am Staatstheater Mainz. Vortrefflich musiziert wird noch dazu.

 

 

Im Kleinen fängt es an. Diese Familie ist nicht von Liebe geprägt, sondern von Angst, Neid und Machthunger. Der an Selbstüberschätzung leidende Vater verfällt zusehends dem (Macht-)Wahn – und ob er am Ende davon wirklich geheilt ist, darf dahingestellt sein. Eine seiner Töchter neidet ihm den Thron und ist dafür bereit, über Leichen zu gehen – auch über seine. Ihr Machtdurst wird genährt aus einem Minderwertigkeitsgefühl ob ihrer niederen Herkunft. Sie ist ein Emporkömmling ohne Ansprüche auf den Thron. Doch umso mehr begehrt sie ihn, verletzt sich in ihrem Machthunger gar selbst. Die andere Tochter wendet sich gleich ganz vom Vater und seiner Welt ab, zuerst aus romantischen Gründen, doch auch, weil sie erkennt, dass sie in diesem Familienkonstrukt kein Glück wird finden können. Diese ungesunde Konstellation setzt sich bei dem aus Argentinien stammenden Regisseur Marcos Darbyshire im Staatengebilde fort, Hebräer wie Babylonier wollen sich im Glanz eines Gottes sonnen. Oder eines Herrschers. Wer das ist und wie er heißt, ist letztendlich zweitrangig, so dass Darbyshire die beiden Völker in seiner Inszenierung verschmilzt. Der Tempel, den Martin Hickmann auf die Bühne des Mainzer Staatstheaters gestellt hat, erinnert an eine Industrieruine. Auch dort finden die Menschen weder Trost noch Geborgenheit, denn die Religion lebt von ihren Gläubigen, Menschenopfer stehen an der Tagesordnung. Zeit und Ort sind unbestimmt, auch wenn die Kostüme von Annemarie Bulla an die Alltagskleidung der 1970er Jahre erinnern. Es könnte überall sein. Es könnte jedem so gehen. Das macht Darbyshire gekonnt deutlich, regelrecht fühlbar, bemüht dafür auch drastische Bilder. Das mag nicht jedem gefallen, doch unbewegt verlässt am gestrigen Abend niemand das Theater.

 

 

Das liegt sicher auch an den beteiligten Künstlerinnen und Künstlern. Ernesto Petti als despotischer Nabucco beherrscht vom ersten Ton an die Bühne, imponiert mir mit seinem gewaltigen Stimmvolumen und findet in den beiden letzten Akten doch immer wieder Mut zu Gefühl und feinem Piano. So zeigt der aus Salerno stammende Bariton nicht nur die zahlreichen Facetten seiner Stimme, sondern auch die Vielschichtigkeit seiner Figur. Marta Torbidonis Abigaille strotzt ebenso vor Kraft, die halsbrecherischen Koloraturen, die die Italienierin dem Publikum entgegen schleudert, lassen ihm den Mund offenstehen – auch mir. Dazu ist Torbidoni eine Sängerdarstellerin par excellence. Mehr Druck als Kraft setzt leider Vincenzo Costanzo als Ismaele ein, den er im Dauerforte über den Graben schickt. Da vermögen die anrührenden Farben in Aya Wakizonos warm timbriertem Mezzo weit mehr zu überzeugen und machen sie zur idealen Fenena. Derrick Ballard zeigt als Nabuccos Gegenspieler Zaccaria seinen imposanten Bass voll satter Tiefe, während Stephan Bootz als Hohepriester die Gier von Abigaille ein ums andere Mal eindrucksvoll anfeuert.

 

 

Nachhaltig Eindruck macht auch der Chor unter der Leitung von Sebastian Hernandez-Laverny. Nahezu ständig im Einsatz geben die Damen und Herren alles, formen eine voluminöse Einheit und werden so beinahe der heimliche Star des Abends. Dass der dann doch im Graben steht, wird spätestens beim begeisterten Schlussapplaus deutlich. Kurzfristig ist Gianluca Marcianò für den erkrankten Daniel Montané eingesprungen, präsentiert einen saftigen Verdi voll feinster Nuancen, reiche Farben und hat bei all der klanglichen Pracht doch immer auch ein Ohr für die Sänger. So wird es ein perfekter Abend mit einer Inszenierung, die nachhallt, und bewegend dargebotener Musik, auch jenseits des weltberühmten Va pensiero…

 

Ihr
Jochen Rüth

30.03.2022

 

Die Bilder stammen von Andreas Etter.

 

 

 

Norma Desmond trifft die große Oper
Adriana Lecouvreur

Premiere: 12.09.2021

 

Lieber Opernfreund,

Adriana Lecouvreur ist seit gestern am Staatstheater Mainz zu sehen. Dass Cileas Oper, die nördlich der Alpen noch immer eine Rarität auf den Spielplänen darstellt, szenisch gegeben wird, ist allein schon fast einen Bericht wert. Dabei gelingt dem jungen italienische Gianluca Falaschi dabei gleichzeitig ein gelungenes Regiedebüt

.

 

 

„Norma Desmond trifft die große Oper“ könnte man den gestrigen Abend treffend zusammenfassen, verlegt Falaschi doch die wenn nicht wahre, dann doch gut erfundene Geschichte um die französische Schauspielerin Adrienne Lecouvreur in die Glanzzeit des Hollywood der 1930er Jahre. Dass er von Haus aus Kostümbildner ist, ist ein Trumpf, den er bei dieser Lesart aufs Exzellenteste ausspielen kann: funkelnde Pailletten, Straußenfedern und ausufernde Kopfputze bilden einen Rahmen aus Opulenz und Glamour, in dem die Schauspielerin gegen den Verlust ihrer Lieben ebenso verzweifelt kämpft, wie gegen das Sinken des eigenen Sterns am Filmstarhimmel. Spätestens wenn sich die Gaze hebt, hinter der – coronabedingt ist der Abstand zwischen den Musikern sonst nicht einzuhalten – das komplette Orchester auf der Bühne platziert ist, fühlt man sich in eine frühe Musikrevue versetzt. Das liegt nicht nur an den wenigen filmischen Requisiten wie Kamera und Scheinwerfer, die Tausendsassa Gianluca Falaschi, der neben Regie und Kostümen auch das Bühnenbild verantwortet, auf die Bühne stellt, sondern auch an den Morgenmänteln mit Trompetenärmeln, den Turbanen und Fracks, die alle Protagonisten tragen. Lediglich der alte Theaterleiter Michonnet, unglücklich in Adriana verliebt, ist die kostümtechnisch die graue Maus und bleibt, während die Titelheldin von einem Wahnsinnskostüm ins nächste wechselt – in einen tristen Pollunder gehüllt und erinnert so an eine farblose Version von Olaf Schubert. Ein Fremdkörper bleibt diese Figur auch im Schlussbild, in der es fast scheint, als hätte Falasachi vergessen, einen Abgang für ihn vorzusehen, ehe sich die Liebenden zur Versöhnung und dem baldigen Ableben von Adriana ein letztes Mal in die Arme fallen.

Die visuelle Opulenz ist sicher eine Stärke des Jungregisseurs, der schon Kostüme für zahlreiche Produktionen an großen Bühnen wie der Scala oder dem Fenice geschaffen hat, die Personenregie ist sicher (noch) keine. Gerade während des so oft gestrichenen Balletts im dritten Akt, bei dem der Chor unter der Leitung von Sebastian Hernandez-Laverny dem optischen Glanz der Kostüme gesanglich in nichts nachsteht, wird es diesbezüglich wuselig und unkoordiniert und auch die Sterbeszene, in der Adriana alle Wegbegleiter wie vor einem inneren Auge sieht, ließe sich klarer und einprägsamer darstellen. Aber das ist Jammern auf hohem Niveau und schmälert meine Begeisterung kaum. Denn schließlich macht die musikalische Seite des Abends derlei Kleinigkeiten um Längen wett.

Daniel Montané am Pult entlässt beinahe filmreife Klänge in den Zuschauerraum am Gutenbergplatz. Cileas melodienreiches Schwelgen ist beim 1. Dirigenten am Staatstheater Mainz in besten Händen. Der Spanier findet einfühlsame Tempi und zeichnet nicht enden wollende Melodienbögen, die eine Oscarnominierung verdienten.

Das Sängerpersonal entstammt gestern zu 100% dem hauseigenen Ensemble: Myungin Lee ist ein aufgeweckter Abbé, der seinen klangschönen Tenor scheinbar mühelos fließen lässt. Stephan Bootz gibt als Principe di Bouillon gekonnt eine Mischung aus alterndem Lüstling und selbstverliebtem Mäzen. Michael Dahmens wundervoller Bariton braucht wenige Minuten, um warm zu werden. Doch schon zur großen Szene im 1. Akt verleiht Dahmen dem alten Theaterleiter gekonnt Profil; sein Gesang geht unter die Haut, sein Spiel bewegt. Die eifersüchtige und letztendlich mordende Fürstin findet in Sanja Anastasia eine ideale Interpretin, die mit glutvoll-sattem Mezzo auftrumpft und deren Darstellung bis ins Mark trifft. Die Slowenin kehrt nach acht Jahren ab dieser Spielzeit ins Mainzer Ensemble zurück; ganz neu am Haus ist

Vincenzo Costanzo, dem ein eindrucksvoller Maurizio gelingt. Ohne sich zu schonen, wirft er sich der Mörderpartie kraftvoll entgegen und rührt mich im zweiten Akt mein seinem gefühlvollen Gesang doch zu Tränen.

 

 

Nadja Stefanoff ist eine Adriana wie aus dem Bilderbuch. Im grandiosen Spiel an eine Mischung aus Joan Crawford und Gloria Swanson erinnernd, meistert sie die umfangreiche Partie leidenschaftlich und voller Finesse. Dabei rezitiert sie wie eine große Tragödin, leidet wie eine zu Tode Betrübte und stirbt wie eine echte Filmdiva. Das macht Gänsehaut!

Sie merken, lieber Opernfreund-Freund, ich kann kaum ein Haar in der Suppe finden und Ihnen diesen Augen- und Ohrenschmaus nur ans Herz legen. Die Kartenkontingente sind pandemiebedingt dezimiert – also nichts wie hin!

Ihr
Jochen Rüth

13.09.2021

 

Die Fotos stammen von Andreas Etter.


Manon Lescaut

Premiere: 25.01.2020
besuchte Vorstellung: 31.01.2020

It-Girl mit Herz oder Hochmut kommt vor dem Fall

Lieber Opernfreund-Freund,

am Staatstheater Mainz haben die Gewinner des 10. Europäischen Opernregie-Preises 2018 ihr Konzept zu Giacomo Puccinis Manon Lescaut umgesetzt. Auch wenn die Inszenierung mich nicht in allen Belangen überzeugen kann, ist der Abend musikalisch doch außerordentlich gelungen und nicht zuletzt dank der beherzten Darstellung der Manon durch Nadja Stefanoff eine Empfehlung wert.

Das Prägnanteste am Einheitsbühnenraum von Cécile Trémolières ist das Laufband, das sich parallel zur Rampe fortwährend bewegt, Protagonisten, Requisiten oder Erinnerungen ins Bild und wieder hinaus fährt und die Geschichte der Manon als eine Reise einer jungen Frau zum verwöhnten Luxusweibchen und dann den Abstieg bis zum einsamen Tod erzählt. Zu Beginn ein naives Mädchen, das sich über die Aufmerksamkeit des anderen Geschlechtes freut, ist die Titelfigur beim jungen britischen Regisseur Gerard Jones vor allem ein berechnende, auf ihren Vorteil bedachte Frau, die sich und ihren Körper vor Geronte und seinen Freunden, die ihr dabei wie aus einer Theaterloge zusehen, gerne zur Schau stellt, wenn es dafür nur einen Pelzmantel oder ein juwelenbesetztes Armband gibt. Und doch sehnt sich die junge Frau im Innersten nach Liebe, erkennt zu spät, dass sie ihr Herz an des Grieux verloren hat; so spät erst, als der – wie sie in der ersten Hälfte der Geschichte – keine Nähe mehr zulassen kann und ihre nach Berührung und Zuwendung heischende Hand ignoriert. Jones glänzt nicht gerade durch agile Personenführung, spickt seine Version aber mit allerhand originellen und witzigen Ideen. Dabei hat er nicht immer ein Gespür für die Emotionen, die seine Bilder beim Publikum auslösen. Nur so sind die Lacher am Ende des an sich höchst tragischen dritten Aktes zu erklären – Manon wird schon während des Vorspiels vom Vamp zur kopfgeschorenen Gefangenen, als ein an Nylonschnüren gezogenes Flugzeug Manons Abreise in die Verbannung zeigen soll und, dass die verordnete körperliche Distanz des Liebespaares die Innigkeit im letzten Bild verhindert, die die Musik erzählt und die Worte des Librettos verstärken, ist einfach schade. Da kann allenfalls das Licht von Peter Meier ein wenig Stimmung erzeugen und anrühren – und das umwerfende Spiel der Titelheldin.

Nadja Stefanoff formt die Manon mit all ihren Facetten gekonnt und spielt mit Inbrunst, singt die sanften Bögen und liedartigen Melodien in den ersten beiden Akten genau so überzeugend, wie sie sich in der zweiten Hälfte des Abends mit vollem Körpereinsatz und zu Herzen gehendem Gesang dem Verismo nähert. Das trifft nicht nur akustisch bis ins Mark – auch darstellerisch zeigt die Sängerin, was für eine brillante Künstlerin sie ist. Ihr zur Seite steht Eric Laporte als des Grieux mit klangschönem Timbre, sicherer Höhe und enormem Ausdruck. Der kanadische Tenor darf allerdings das, was er da singt, zumindest in der zweiten Hälfte so gar nicht zeigen und wird von der Regie deshalb nur recht blass gezeichnet. Als Retter in der Not darf Marian Müller gelten. Der junge Sänger aus dem Ensemble des schleswig-holsteinischen Landestheaters springt kurzfristig als Lescaut ein und überrascht mit präsentem Bariton und ansteckender Spielfreude. Ensemblemitglied Stephan Bootz ist gar nicht wieder zu erkennen - hier gebühren einmal Maske und Kostümabteilung ein Extralob, die die Geschichte irgendwo in den 1980er Jahren verorten und den schmierigen Alten wie einen Kinderschänderprototypen ausstatten. Der junge Bass ist ein ausnehmend einprägsamer Geronte de Ravoir und überzeugt darüber hinaus mit hinreißender Komik.

Zudem zeigt das Staatstheater am gestrigen Abend, welche Talente da im Jungen Ensemble schlummern: Sissi Qi Wang, Doheon Kim und Daniel Tilch singen und spielen so bühnenpräsent und ausdrucksstark wie die Kollegen, die seit Jahren auf der Bühne stehen und von denen mir der Chorsolist Dennis Sörös als stimmgewaltiger Sergeant am besten gefällt.

Klanggewaltig kommt auch das Dirigat von Daniel Montané daher. Geraten die beiden ersten Akte noch wuchtig, gelingen dem Spanier nach der Pause zutiefst berührende Pucciniwogen, ohne die Partitur dabei mit Schmalz zu überfrachten. Präzise legt er die musikalischen Motive frei und so wird es zusammen mit den Damen und Herren des gut aufgelegten Chores, der für eine Puccinioper überdurchschnittlich gut beschäftigt ist und von Sebastian Hernandez-Laverny geleitet wird, ein musikalisch exzellenter Abend. Das goutiert auch das Publikum im nahezu ausverkauften Haus mit begeistertem und langanhaltendem Applaus.

 

Ihr
Jochen Rüth

01.02.2020

 

Die Fotos stammen von Andreas J. Etter.

 

Rued Langgaard

ANTIKRIST

Deutsche Erstauffühung am Staatstheater Mainz

Premiere am 03. Juni 2018

Entdeckung des Jahres!

In der zu Ende gehenden Spielzeit 2017/2018 präsentierte das Staatstheater Mainz vielleicht den Höhepunkt aller deutschen Opernhäuser mit einer deutschen Erstaufführung. Zu erleben war die allegorische Oper „Antikrist“ des dänischen Komponisten Rued Langgaard.

Geboren im Jahr 1893 in Kopenhagen (gestorben 1952 in Ribe) wirkte Langgaard vor allem als Organist. Als Komponist hinterließ er ein Werk von mehr als 400 Kompositionen. Zahlreiche Orgelwerke, drei Opern und 16 Symphonien, manche davon nur wenige Minuten lang.

Langgaard litt während seiner Lebenszeit stark unter dem Erfolg seines Kollegen Carl Nielsen. Bitter konstatierte er „Nielsen ist Humbug“.

Langgaard war religiös stark geprägt und trug die Spiritualität deutlich in seine Musik hinein. Erst nach seinem Tod gab es ein wachsendes Interesse an seiner Musik. So gibt es mittlerweile zahlreiche Einspielungen auf CD und diverse Festivals.

Seine Musiksprache ist sehr farbenreich, intensiv, ekstatisch, immer wieder auch auf große Klangerruptionen abzielend, dabei überwiegend tonal, eingängig. Natürlich klingen viele Komponisten in Langgaards Oevre weiter: Wagner, Liszt, vor allem Richard Strauss, aber auch spätromantischer Schönberg, Schreker grüßen aus den besonderen Harmonien Langgaards. Langgaards Oper kam in ihrer finalen Version nach einer Überarbeitung 1930 zum Abschluss.

Erst 1999(!) erfolgte die szenische Welt-Uraufführung in Insbruck.

Nun also wagte sich das Mainzer Staatstheater an Langgaards Bühnen-Hauptwerk „Antikrist“. Eine in jeglicher Hinsicht ungewöhnliche Oper mit einem ungewöhnlich hohen Anteil an reiner Instrumentalmusik. Zu Grunde liegt ihr die biblische Apokalypse. Sehr aktuell und zeitlos erscheint dabei die Ausgangssituation: eine selbstsüchtig agierende Welt, in welcher die Menschen sich zum Maß aller Dinge erklären. Kein Glaube, kein Wertebezug, nur das eigene Ego, der Materialismus und Konsumismus bilden die Lebensbasis. Gott und Luzifer beschließen dem ein Ende zu bereiten und berufen den Antikristen in die Welt. In den unterschiedlichsten Figuren erscheint er nun, so als Missmut, Hure, Rätselstimmung, Lüge oder Hass. Der Antikrist verursacht große Zerstörungen, so dass die Menschen sich bekriegen. Die Sterne fallen und der Welt droht die totale Vernichtung. Doch am Ende steht der Sieg Gottes, der Luzifer vernichtet. Der Glaube wird zur Rettung. Das Finale also ein eindeutiges Bekenntnis zur Spiritualität. Getragen wird das von einem hymnisch-ekstatischen Chorfinale, welches den Zuhörer völlig in seinen Bann schlägt.

Langgaards Tonsprache ist enorm vielfältig und voller Überraschungen. Anklänge aus der Kirchenmusik, eine trotzig geratene Fuge, schräge Walzer-Melodik und dann immer wieder das tonale Aufrauschen des gesamten Orchesters. Nicht nur verschiedene Leitmotive lassen gelegentlich an Wagner denken. Auch der Text stammt, wie bei Wagner, von Langgaard selbst. Er wirkt nicht selten überladen und abstrakt. Dazu hatte Langgaard große Freude an eigenen Wort-Schöpfungen. So ist das zentrale und häufig zitierte Leitmotiv mit „Kirchen-öden-Lärmens“ betitelt.

Regisseur Anselm Dalferth inszenierte dieses besondere Werk als Handlung, in welcher die Menschen die Kontrolle verlieren. Die einzelnen Figuren sind in ihrer Charakterisierung gut von einander abgesetzt und klar gezeichnet. Gott und Luzifer agieren hier wie ein symbiotisches Paar, Ying und Yang lassen grüssen. Im Schluß-Hymnus ist es Gott, der Luzifer ans Kreuz schlägt. Die totale Vernichtung des Bösen und.....und doch ist damit die Geschichte nicht auserzählt. Denn der Regisseur hat sich eine feine Pointe für den Schluss aufgehoben, die hier nicht verraten wird. Ein überzeugende szenische Arbeit also, die besonders viel Anklang beim Publikum fand.

Bühnenbildner Ralph Zeger hat ihm dazu stilisierte Räume gebaut. Immer wieder fahren große Turmelemente herein, aus welchen die Protagonisten herausklettern oder in ihnen verschwinden. Diese sind zudem mit Papier bespannt, so dass darauf verblüffend auch die sehr dezent genutzte Videotechnik zum Einsatz kommt. Eindrucksreiche Lichtwirkungen schufen Stefan Bauer und Ernst Schießl. Auch kommen die farbfrohen Kostüme Mareile Kretek gut zur Geltung.

Langgaards Oper ist vor allem ein Ensemble-Stück und das Mainzer Sänger-Ensemble kann sich wahrlich hören und sehen lassen. Als Luzifer war der vielseitige Bariton Peter Felix Bauer zu erleben. Er gab seiner Rolle eine prägnante Gestalt und kultivierten Baritonklang. Als Gottes Stimme (eine Sprechrolle) ertönte sehr prägnant Ivica Novakovic. Besonders hervorzuheben aus der Vielzahl der allegorischen Gestalten sind vor allem: wie immer, die großartige Vida Mikneviciute. Perfekte Intonation, leuchtende Spitzentöne und alles mit beispielgebender Textverständlichkeit. Aufhorchen ließ Geneviève King als Missmut, die einen satt und ausladenden Mezzosopran zum klingen brachte. Tenor Lars-Oliver Rühl zeigte als Tier in Scharlach eine markante Tenorstimme. Diese könnte er zu wesentlich mehr Wirkung bringen, würde er verständlicher und farbiger artikulieren. Sein Fachkollege Alexander Spemann als Lüge zeigte, wie es geht: sehr gut verständlich, scharf in den Akzenten und stimmsicher führte er die Herrenriege der Solisten mit seiner herausragenden Leistung an. Aufhorchen ließ als Hass der sinistre Bariton von Michael Mrosek.

Der Chor des Staatstheaters in der Einstudierung von Sebastian Hernandez-Laverny hatte seine großen Momente im Finale. Einem der eindrüchklichsten Momente des gesamten Abens. Die Klangpracht war überaus eindrucksvoll.

Wesentlicher Impulsgeber für das Zustandekommen dieser Erstaufführung war GMD Herman Bäumer. Seine Überzeugung für den Komponisten Langgaard war ihm jederzeit anzumerken. Das Philharmonische Staatsorchester war von ihm sehr gut vorbereitet worden. Es war begeisternd zu erleben, mit welcher Überzeugung und Sicherheit das Orchester dieser ungewohnten Musik begegnete! Das Philharmonische Staatsorchester präsentierte sich als staunenswert soueveräner Klangkörper, der die schwierigsten Anforderungen derart mühelos, fehlerfrei bewältigte, als habe es nie etwas anderes gespielt. Bäumer kostete die dynamischen Extreme weitlich aus und das Orchester überzeugte in allen Stimmgruppen ausnahmslos. Verblüffend in der Genauigkeit der Intonation und Artikulationsschärfe ertönten die viel geforderten Blechbläser. Auf den Punkt das viel genutzte Schlagzeug. Gerade bei dieser Instrumentalgruppe können sich die Orchesterkollegen des Wiesbadener Staatsorchesters ein Beispiel nehmen....

Ein ganz besonderer Abend in der deutschen Bühnen-Landschaft. Es bleibt zu hoffen, dass andere Theater auf Langgaard ebenso aufmerksam werden.

Lange, einhellige Begeisterung beim Publikum, besonders für GMD Bäumer und das Regie-Team.

Hoch erfreulich, dass der Deutschlandfunk die Premiere mitgeschnitten hat.

Zu hören ist die Premiere dann am 09. Juni 2018, um 19.05 Uhr, im Deutschlandfunk.

Dirk Schauß 4.6.2018

Bilder (c) Theater Mainz

Weitere Vorstellungen im Juni und in der Wiederaufnahme ab 06. Oktober 2018.

 

 

La Cage aux Folles

Premiere: 14.10.2017

Unterhaltsam-schrilles Kostümfest in bester Revue-Manier

Lieber Opernfreund-Freund,

das Broadway-Musical „Ein Käfig voller Narren“ von Jerry Hermann wurde 1983 uraufgeführt und fußt auf einem Theaterstück des Franzosen Jean Poiret aus dem Jahr 1973. Das Stück diente zudem als Vorlage für die gleichnamige französische Verfilmung von 1978 und die vielleicht weniger gelungene, in Deutschland aber umso erfolgreicher US-Komödie „The Birdcage“ mit Robin Williams und Gene Hackman aus dem Jahr 1996. Bei derart prominent besetzter filmischer Umsetzung ist die Erwartungshaltung naturgemäß recht groß. Dass es keine Hollywoodgrößen braucht, um einen Volltreffer zu landen, ist seit dem Wochenende am Staatstheater Mainz zu sehen.

Nahezu 45 Jahre also ist die literarische Vorlage alt, eine Komödie um ein schwules Paar, das in St. Tropez einen Travestie-Club betreibt. Als der Spross des einen ausgerechnet die Tochter eines erzkonservativen Politikers heiraten will, kommt es bei dem Versuch, den freizügigen Männerhaushalt als Hochburg des Bürgerlich-Konservativen zu präsentieren, zu allerlei Wirrungen, bis sich am Ende doch alles zum Guten wendet, der Nachwuchs mit dem Segen aller Elternteile in eine gemeinsame Zukunft starten darf und der Traditionalist höchst selbst im Fummel endet. 45 Jahre also – und dennoch höchst aktuell, ist doch erst zu Beginn dieses Monats hierzulande die Gesetzesänderung, die auch gleichgeschlechtlichen Paaren die Ehe ermöglicht, in Kraft getreten. Doch das Produktionsteam um Christopher Tölle erliegt nicht der Versuchung einer Politisierung des Boulevardstoffes. Mit viel Herz und Augenzwinkern bedient Tölle so manches Klischee, Heike Seidler hat in der Kostümabteilung nicht an Federn, Pailletten, Lack und Leder gespart, um farbenfroh-schrille Roben für die Travestie-Girls zu zaubern.

Lena Brexdorff nimmt den Titel wörtlich und präsentiert den Nachtclub auf einer Drehbühne als halboffenen Löwenkäfig, wie man ihn aus dem Zirkus kennt. Sie nutzt die technischen Möglichkeiten der Bühne im Staatstheater voll aus, um bald hier einen Aufzug, bald da ein Wohnzimmer entstehen zu lassen. Das tolle Licht von Pia Virolainen zaubert wunderbar bunte Effekte, gemeinsam mit Christopher Tölle, der auch für die freche Choreographie verantwortlich zeichnet, lässt sie aber auch Raum für Tiefgang und stille Momente, so dass nicht nur „Ich bin, was ich bin“, die wohl berühmteste Nummer, zum eindrucksvollen Appell an Respekt und Toleranz wird. Dem in Belgien geborenen Tölle gelingt die Gratwanderung zwischen lauter, spaßiger Revue und Tiefsinnigkeit – und das ganz ohne erhobenen Zeigefinger in die eine oder andere Richtung oder schlüpfrigen Altherren-Witz. Toll!

Jerry Herman hat fast 20 Jahre nach seinem Welterfolg „Hello Dolly!“ hinreißend eingängige Melodien für diese Boulevardkomödie ersonnen, die in Mainz komplett auf Deutsch gegeben wird. Und die bieten dem talentierten Mainzer Ensemble genug Gelegenheit, sein Können unter Beweis zu stellen.

Stephan Bootz erweckt den Clubbetreiber Georges mit feinem Gespür zum Leben, mischt seinem vollen Bass einen samtenen Schmelz a la Engelbert bei – und das meine ich als großes Kompliment, gelingt es doch vielen Sängern, deren Zuhause eigentlich die Opernbühne nicht, den Pathos und die große Geste auszuschalten, wenn es um die etwas leichtere Muse geht. Pathos und Drama gehören zur Rolle des Albin, der als Zaza der Star auf der Travestiebühne ist, und den Alin Deleanu gekonnt dennoch so sympathisch gestaltet, dass er nicht der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Dazu singt und tanzt er fesselnd und mit starker Bühnenpräsenz – ganz wie man es von der Diva, die er verkörpert, erwartet. Im direkten Vergleich zu seinen Eltern sackt die Sangesleistung des Sohnes Jean-Michel zu Beginn des Abends noch ein wenig ab. Nach der Pause scheint der junge Tenor Johannes Mayer jedoch die Premierennervosität abgelegt zu haben und singt und spielt überzeugend.

Alexandra Samouilidous Anne ist ebenso sehenswert wie Armin Dillenberger, der den erzkonservativen Vater gibt. Dass die Figur von Annes Mutter Marie in Mainz keine Entwicklung vom unterdrückten Weibchen zur aufbegehrenden Frau durchläuft, ist sicher nicht Ellen Kärcher anzulasten, die die von Christopher Tölle von Beginn an als Alkoholikerin im Chanel-Kostümchen gezeichnete Figur überzeugend spielt, sondern mein einziger Kritikpunkt an der ansonsten vollendeten Regiearbeit. Heimlicher Star der Produktion ist der Brasilianer Fausto Israel, der die „Zofe“ Jacob so herzlich, schrill und witzig zeichnet, dass es eine wahre Freude ist.

Paul-Johannes Kirchner lässt es aus dem Graben toll nach Filmmusik klingen und die ausgezeichneten Tänzer, die unter der Führung von Patrick Stauf die Travestiekünstler mimen, sind schlicht eine Wucht, stecken mit ihrer Spielfreude das Publikum dermaßen an, dass der Funke sofort überspringt und es die Zuschauer im ausverkauften Haus am Ende von den Sitzen reißt. Ein toller Musical-Abend ist da am Rhein zu erleben, viel Tanz, viel Farbe, viel Schrillness – aber noch mehr Gefühl.

Ihr Jochen Rüth / 16.10.17

Die Fotos stammen von Andreas Etter.

 

 

"Dialogues des Carmélites"

Premiere: 11.06.2016

Besuchte Vorstellung: 04.12.2016

Packender Poulenc

Lieber Opernfreund-Freund,

die Inszenierung der Hausregisseurin Elisabeth Stöppler hatte bereits im Juni dieses Jahres Premiere, doch gestern war Francis Poulencs musikdramatisches Hauptwerk "Dialogues des Carmélites" im Rahmen einer Repertoire-Vorstellung am Staatstheater Mainz erneut zu erleben. Das trotz seiner musikalischen Gefälligkeit und des wirkungsvollen Finales recht selten auf die Bühne gebrachte Werk nach einem Libretto des Komponisten orientiert sich an einem historischen Ereignis: Am 17. Juli 1794 wurden während der Französischen Revolution 16 Nonnen aus dem Karmeliterinnenkloster von Compiègne mit der Guillotine hingerichtet, weil sie nicht bereit waren, ihr Gelübde zu brechen. Sie gingen angeblich singend in den Tod und wurden 1906 von Papst Pius X. selig gesprochen. 1931 veröffentlichte Gertrud von Le Fort ihre Novelle "Die letzte am Schafott", in der sie um diese Begebenheit die Geschichte der jungen Adeligen Blanche de la Force ersann, deren Leben von Angst geprägt ist und die sich ins Kloster flüchtet. Doch auch dort fühlt sie sich nicht sicher, findet hinter den Klostermauern keinen Frieden und wird vom Mut verlassen, als die Nonnen, von Revolutionären zur Aufgabe ihrer Gemeinschaft gezwungen, das Gelübde ablegen, gemeinsam in den Tod zu gehen. Bei der Hinrichtung der Glaubensschwestern nimmt Blanche dann furchtlos deren Gesang auf und wird in der literarischen Vorlage vom aufgebrachten Pöbel erschlagen, bei Poulenc dann ebenfalls geköpft.

Elisabeth Stöppler entscheidet sich dazu, nicht Blanche als Letzte sterben zu lassen, sondern an ihrer statt das Neugeborene einer in Mainz schwangeren Novizin, Schwester Constance. Das bringt dem Werk nicht wirklich einen Mehrgewinn, ist aber der einzige Wermutstropfen in einer ansonsten schlüssigen und packenden Inszenierung, die die Regisseurin in die 1980er Jahre verlegt hat. Die Mitglieder des Konvents tragen keine in unseren Breitengraden übliche Nonnentracht, Frank Lichtenberg hat ihnen Kleider und Anzüge entworfen, die sinnfällig mit zunehmender Hierarchie und Gottesnähe immer heller werden. Erst im Schlussbild auf dem Weg zur Hinrichtung scheint jede der Frauen im weißen Unterhemd Gott gleichsam nah. Stefan Bauer illuminiert die Szenerie stimmungsvoll, nicht nur das gespenstisch anmutende Finale gelingt ihm ganz hervorragend. Das Kloster befindet sich hinter den dicken Mauern eines Backsteinkubus, den Annika Haller gebaut hat.

Dieser öffnet sich und zeigt den geschlossenen Kosmos des Konvents, in den zum Ende des zweiten Aktes grob die Außenwelt eindringt. Doch auch unter den Frauen ist nicht alles Einigkeit und Sanftmut. Offen zeigt Stöppler den Konflikt, ja das Machtgerangel zwischen Mutter Marie, die der alten Priorin versprochen hat, auf Blanche zu achten, obwohl sie in Mainz von deren Panikattacken und Ungeschicktheit zunehmend genervt ist, und der neuen Priorin Madame Lidoine, die von außerhalb kommt, um die Nachfolge der verstorbenen, äußerst beliebten Madame de Croissy anzutreten und augenscheinlich an der Flasche hängt. Behutsam, aber deutlich wagt sich die Regisseurin so an die eine oder andere Umdeutung. Marie, eigentlich Sympathieträgerin, wird zum Gegenteil - nicht nur, weil sie als einzige aus offensichtlich sehr fleischlichen Gründen nicht mit den Schwestern in den Tod geht. So gelingt Elisabeth Stöppler eine aufwühlende und bewegende Deutung des auch musikalisch dramatisch auf den Schluss zusteuernden Werkes.

Das wurde zwar erst 1957 an der Mailänder Scala als Auftragswerk uraufgeführt, klingt aber bisweilen beinahe historisch. Poulenc orientiert sich an Bach'scher Themenarbeit, scheint fast eine Fuge mit Gesang komponiert zu haben. Die läßt Kapellmeister Samuel Hogarth am Pult auch farbenreich erklingen, läuft vor allem in den barock anmutenden Intermezzi und dem fulminanten Finale zu Höchstform auf und präsentiert an diesem Nachmittag von extrem wackligen Blech und an der einen oder anderen Stelle allzu wuchtigem Klang, der die Sänger übertönt, ein lupenreines Dirigat dieser eindrucksvollen Partitur. Im letzten Bild des ersten Aktes, der Gänsehaut erzeugenden Szene, in der die alte Priorin im Moment des Todes mit Gott hadert, kam es aufgrund einer technischen Panne zur Einspielung von Klaviermusik aus dem Off und die Aufführung musste unterbrochen werden. Dass es Gudrun Pelker in der Rolle der Madame de Croissy dennoch gelingt, dass sich einem die Nackenhaare hoch stellten, liegt nicht nur am charaktervollen Mezzo, sondern auch an der packenden Darstellung dieser Vollblutkünstlerin. Nadja Stefanoff, erneut Gast am Haus, glänzt als ihre Nachfolgerin Madame Lidoine mit ebenso intensivem Spiel, facettenreichem Sopran und schier endlosem Atem.

Ihre Konkurrentin um dieses Amt, Mere Marie, erweckt Linda Sommerhage mit ausdrucksstarkem Sopran zum Leben, der allerdings in der Höhe nicht immer frei von Schärfe ist. Peter Felix Bauer zeigt sich solide im kurzen Auftritt des Marquis de la Force, Steven Ebel, der Blanches Bruder singt, verfügt über einen hellen Tenor, bemüht allerdings ein wenig oft das Kopfregister. Johannes Mayer leiht dem Beichtvater des Karmel seinen geschmeidigen und weichen Tenor und Dorin Rahardja gibt szenisch wie stimmlich engagiert und gekonnt die bald vor Lebensfreude übersprühende, bald todessehnsüchtige Constance. Visa Mikneviciute ist eine mitreißende Blanche, verfügt über die nötige Kraft in der Höhe, um die panischen Ausbrüche zu meistern, findet aber auch immer wieder betörende, beinahe entrückte Höhenpiani. Wunderbar!

Aus der Unzahl der durchweg solide besetzten kleineren Rollen sei der diabloisch klingende und wahrlich Angst einflößende Bass von Georg Lickleder als Offizier ebenso hervorgehoben wie die Altistin Katja Ladentin, die die Mere Jeanne stimmlich und darstellerisch dermaßen intensiv und überzeugend verkörpert, dass sie die an sich recht übersichtliche Partie deutlich aufwertet. Chorchef Sebastian Hernandez-Laverny hat die omnipräsenten, überzeugend und fesselnd spielenden und singenden Karmeliterinnen ebenso einstudiert wie den kurz auftretenden Herrenchor. Beide tragen durch ihre stimmige Interpretation wesentlich zum bewegenden Gesamteindruck dieses Nachmittags bei, der lange nachhallt. Da wünscht man sich dieses Werk doch wesentlich öfter auf deutschen Bühnen.

Ihr Jochen Rüth / 5.12.2016

Die Fotos stammen von Andreas Etter.

 

 

RIGOLETTO

Besuchte Aufführung: 13.3.2016 (Premiere: 15.1.2016I

Im Theater der Grausamkeit

Ungewöhnlich, aber nichtsdestotrotz sehr spannend gestaltete sich die Aufführung von Verdis „Rigoletto“ am Staatstheater Mainz. Das war eine Vorstellung, die man nicht so schnell wieder vergisst. Ohne Zweifel wird die denkwürdige Inszenierung von Lorenzo Fioroni, für die Paul Zoller das gelungene Bühnenbild und Katharina Gault die Kostüme beisteuerten, einmal in die Annalen des Staatstheaters Mainz eingehen. Zum behaglichen Zurücklehnen ist Fioronis hervorragende Regiearbeit nicht geeignet, vielmehr verlangt sie volle Konzentration sowie die Bereitschaft, sich auf neue Sichtweisen einzulassen. Nichts anderes war von diesem Regisseur, der Mainz schon so manche eindringliche Produktion bescherte, aber zu erwarten. Dass er sich nicht in konventionellen Bahnen bewegen, sondern einen Ansatz ganz eigener Art wählen würde, war von vornherein klar.

Wenn im Folgenden ein wenig auf die Vorlage der Oper und die Historie eingegangen wird, ist das zum Verständnis der Inszenierung erforderlich. Den Stoff für seine 1851 in Venedig uraufgeführte Oper entnahm Verdi Victor Hugos Stück „Le roi s’amuse“ - zu Deutsch: „Der König amüsiert sich“ -, das bereits einen Tag nach seiner erstmaligen Präsentation im Jahre 1830 für Jahrzehnte verboten wurde, weil es den „Ritter-König“ Franz I zu stark ins Negative zog. Diesen angesehenen Herrscher, der mit gerade mal zwanzig Jahren den französischen Thron bestieg, sich auf dem Schlachtfeld bewährte und Kunst und Kultur förderte, zu einem fragwürdigen Lebemann und Weiberhelden zu machen, erschien den Kritikern damals unakzeptabel. Auch Verdi hatte mit der Zensur zu kämpfen, die mehrmals eine Umarbeitung verlangte und insbesondere forderte, aus dem König den Duca von Mantua zu machen. Die Ehre von Franz I war somit gerettet.

Marie-Christine Haase (Gilda), Rigoletto

Hier setzt Fioroni mit seiner Interpretation an. Gekonnt identifiziert er den Duca mit Franz I und verlegt die Handlung in die Zeit der Renaissance, wartet aber auch mit modernen Zitaten auf. Kriegerisch und blutig geht es bereits zu Beginn zu, als eine Anzahl blutverschmierter Frauen mit Puppengesichtern von Fahnen schwenkenden, phallusbetonte Gewänder tragenden Lanzenträgern gejagt und zu guter Letzt aufgespießt und an zeitgenössische Laternenpfähle gehängt werden. Der einen eleganten Anzug tragende Sparafucile wird die Leichen später wieder abnehmen. Auch die Tochter Monterones fällt den Schergen zum Opfer. Später wird der Vater den Leichnam seiner Tochter anklagend dem die Schuld an ihrem Tod tragenden Duca präsentieren. Nebel und diffuses Licht bestimmen dabei die Szene. Es ist ein sehr frauenfeindliches Bild, das dem Zuschauer hier in äußerst radikaler Weise vorgeführt wird. Grauen und Gewalt regieren die Welt. Sie sind auch Gilda nicht fremd, die bereits während der Ouvertüre ihre Puppen misshandelt. Wenn man sich diese Szenen betrachtet, fühlt man sich stark an die Untaten von Vlad dem Pfähler erinnert, dem Vorbild von Bram Stokers Romanfigur Dracula. Die von Fioroni entworfenen Bilder gemahnen manchmal an das Bild der Schlacht bei Marignano, die Franz I für sich entschied und damit die Expansionsbestrebungen der Schweizer nachhaltig beendete. Mit Geschichte kennt sich Fioroni aus. Er hat sie gut recherchiert und beeindruckend in seine Deutung einbezogen.

Paul O’Neill (Duca), Alexandra Samoulidou (Gräfin Ceprano), Borsa

Diese reichlich krassen visuellen Impressionen weisen indes noch in eine andere, theatertheoretische Richtung. Die Bezüge zum Theater der Grausamkeit eines Artaud werden offenkundig. Mehr noch als Artaud ist das Ganze aber dem 1897 gegründeten Pariser Grand Guignol verpflichtet, einem grausamen Puppenspiel-Theater, das auf oft sehr groteske Weise Horroreffekte auf die Bühne brachte und damit die Besucher nachhaltig schockte. Hier ist auch Fioroni ganz in seinem Element und klammert konventionelle Sehgewohnheiten gänzlich aus. Am Ende beherrschen zahlreiche kleine Brände die fleißig eingesetzte und von zahlreichen mobilen Wänden mit Schwarz-Weiß-Photos dominierte Drehbühne des Mainzer Staatstheaters. Rigoletto hat sie zwischen Müll und ausgedienten Reifen mit Hilfe eines Benzinkanisters gelegt. Auf den Sack, in dem sich am Ende traditionell die tödlich verwundete Gilda befindet, verzichtet Fioroni, was kein Fehler ist.

Paul O’Neill (Duca)

Trotz der Anknüpfung an die Renaissance lässt der Regisseur aber keinen Zweifel daran aufkommen, dass die aufgezeigten privaten Probleme auch in unserer heutigen Zeit vorkommen können. So treten die Protagonisten auch mal in moderner Alltagskleidung auf, die zu den übrigen, der Renaissance zuzuordnenden Kostümen einen extremen Gegenpol bilden. Und eine seelische Deformation, die bei Rigoletto an die Stelle seines herkömmlichen Buckels tritt, weist ganz in Richtung Sigmund Freud. Hier lässt Fioroni auch einen gehörigen Schuss Psychologie in seine Inszenierung mit einfließen. Dabei sind die Grenzen zwischen Realität und Spiel fließend. Es ist eine eindrucksvolle Gratwanderung, die die Regie hier in einem ausgemachten Gruselkabinett vollführt und die Rigoletto mit seiner großen Trommel stets aufs Neue anfacht. Wenn im Zuschauerraum mal das Licht angeht, ist das ein echter Coup de théatre, der nachhaltig beeindruckt. Dem Publikum wird hier wahrlich viel abverlangt. Wer sich aber auf Fioronis spektakuläre Sichtweise einlässt, wird mit einem grandiosen Opernabend belohnt.

Tamta Tarieli (Maddalena), Ks Hans-Otto Weiß (Sparafucile), Rigoletto

Zu dem trugen auch die großenteils ausgezeichneten Sänger ihren Teil bei. Leider hatte an diesem Abend der Krankheitsteufel zugeschlagen. Der für den Rigoletto vorgesehene Werner van Mechelen war erkrankt und wurde kurzfristig durch Jaco Venter vom Badischen Staatstheater Karlsruhe ersetzt - eine gute Wahl, wie sich schnell herausstellte. Venter hatte sich in kurzer Zeit das Regiekonzept trefflich zu Eigen gemacht und mit großer darstellerischer Intensität eindringlich umgesetzt. Auch gesanglich vermochte er mit seinem robusten, gut gestützten und eine große Ausdrucksintensität aufweisenden Bariton sehr für sich einzunehmen. Als Gilda, die vom Regieteam bewusst in nicht sehr ansehnliche Kleider gesteckt wurde - auf diese Weise will ihr Vater sie für die Außenwelt nicht gerade anziehend machen - bewährte sich Marie-Christine Haase. Sie gestaltete ihre Rolle mit delikatem Spiel und einer großen stimmlichen Bandbreite. Dabei beglückte sie gleichermaßen mit feinen lyrischen Momenten als auch mit trefflichen Koloraturen und einer ausgezeichneten Pianokultur. Ihren bestens fokussierten Sopran setzte sie recht differenziert und nuancenreich ein. Bestens präsentierte sich Paul O’ Neill mit in allen Lagen ausgeglichenem, sauber geführtem, prägnantem und höhensicherem Tenor, der die Arien des Duca zu Höhepunkten des Abends werden ließ. Nichts auszusetzen gab es an dem sonor singenden Sparafucile von Ks. Hans-Otto Weiß, während es dem in der Mittellage solide singenden Grafen von Monterone Georg Lickleders beim Fluch etwas an Dämonie mangelte. Volltönendes Baritonmaterial zeichnete den Marullo von Kyung Jae Moon aus. Stimmlich etwas unauffällig war Scott Ingham als Borsa. Tadellose Mezzosopranstimmen brachten Tamta Tarieli und Ruth Katharina Peeck für die wenig attraktiv vorgeführte Maddalena und die Giovanna mit. Mit einer perfekt gesungenen Gräfin Ceprano empfahl sich Alexandra Samoulidou für künftige Zeiten als Gilda. Solide gab Stefan Keylwerth den Grafen Ceprano. Ein zufriedenstellender Page war Alin Deleanu. Wenig zu bieten hatte Ion Dimierus sehr flach und halsig klingender Gerichtsdiener.

Am Pult gefiel Samuel Hogarth. Zusammen mit dem versiert aufspielenden Philharmonischen Staatsorchester Mainz erzeugte er einen größtenteils robusten, dramatischen Klangteppich, der von schöner Italianita geprägt war und die Sänger/innen an keiner Stelle zudeckte.

Fazit: Ein exzellenter Opernabend, dessen Besuch sehr zu empfehlen ist.

Ludwig Steinbach, 14.3.2016

Die Bilder stammen von Martina Pipprich

 

 

 

Schwarz-weiße

MEDEA

Premiere: 13.06.2015

Wiederaufnahme am 19.02.2016

Packendes Regietheater 

Lieber Opernfreund-Freund,

die Geschichte um Medea, die Jason zum goldenen Vliess verhilft, mit ihm aus ihrer Heimat flieht, zur Brudermörderin wird und - als Jason sich der Tochter von König Kreon von Korinth zuwendet - aus Rache die gemeinsamen Kinder tötet, hat über die Jahrtausende immer wieder Künstler aller Sparten zu außergewöhnlichen Werken inspiriert. Es gibt zahlreiche Gemälde u.a. von Rubens, Delacroix und Cezanné, die Szenen aus der Medea-Geschichte zeigen. In der Literatur haben sich angefangen von Euripides, Seneca und Ovid über Pierre Corneille bis hin zu Grillparzer, Brecht, Christa Wolf und Heiner Müller unzählige Autoren mit dem Thema befasst. Es exisitieren Dutzende Opern u.a. von Johann Simon Mayr, Pacini, Mercadante, Charpentier und Rolf Liebermann. Auch der Italiener Luigi Cherubini befasste sich 1797 mit dem Stoff und verarbeitet ihn zu „Medée“, der einzigen seiner Opern, die heutzutage noch da und dort auf dem Spielplan landet - unter anderem in Mainz, wo die Produktion aus der vergangenen Spielzeit gestern zur Wiederaufnahme kam.

Elisbeth Stöppler wählt einen modernen Ansatz, um den Stoff und Cherubinis Musik, die mal nach Mozart, mal nach Beethoven und dann wieder nach Belcanto klingt, zu vermitteln. Der von Annika Haller gestaltete Bühnenraum ist weiß und nüchtern, im zweiten und dritten Akt wird ein wandelbarer, ebenfalls weißer Überseecontainer hereingefahren, die wenigen Requisiten werden von einem riesigen Nashorn dominiert, dessen Horn das goldene Vliess verkörpert. Im Zentrum der Geschichte steht natürlich Medea, doch wird Jason nicht bloss als Opfer der Mutter seiner Kinder gezeigt, sondern als machthungriger Macho, Dircé ist nicht nur Nebenbuhlerin, sondern sich gewissermaßen als Opferlamm fühlende Frau, die den Mann, mit dem sie verheiratet werden soll, nicht liebt, sondern sich vor ihm und der Zukunft, die er ihr bringt fürchtet. Wunderbar gespiegelt ist dieser Ansatz in den gelungenen, vornehmlich schwarz-weiß gehaltenen Kostümen von Annika Haller, die den an gouvernantenhafte Krankenschwestern erinnernden Chor in stützende Korsetts und die Braut in ein ein Gefängnis suggerierendes Brautkleid steckt. Das Licht von Alexander Dölling tut ein übriges, damit sich die Tragödie auf der Bühne entfalten kann.

Währende der Ouvertüre wird die Vorgeschichte auf die Bühnenwand projeziert, die gesprochenen Dialoge werden nahezu ausnahmslos durch fremde Texte zum Medea-Stoff ersetzt, die Anna Steffens auf Band eingesprochen hat und aus dem Off eingespielt werden. Scheinen diese Texte von Heiner Müller, Ingeborg Bachmann und Christa Wolf im ersten Akt noch eher überinterpretierend als unterstützend, sind sie in der zweiten Hälfte des Abends dermaßen passgenau auf die jeweiligen Szenen ausgesucht, dass sie beim Zuschauer in der Tat eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Stoff der Tragödie beflügeln. Unterm Strich ist also die moderne Lesart von Elisabeth Stöppler schlüssig, intensiv und packend - ganz anders als der ähnlich aufgebaute Versuch ihres Kollegen Florian Lutz, der vor einigen Jahren in Bielefeld das Drama durch eigene Texte demontierte.

Solch ein intensiver Theaterabend kann nur gelingen, wenn auf der Bühne nicht nur ausgezeichnete Sänger stehen, sondern auch überzeugende Schauspieler. In der rheinland-pfälizschen Landeshauptstadt ist dieses Kunststück gelungen: Dorin Rahardja als bedauernswerte Dircé singt betörend, glänzt mit beweglichem Sopran und unglaublich intensivem darstellerischen Ausdruck. Ihr Vater wird von Peter Felix Bauer verkörpert, der über einen feinen, fast noblen Bassbariton verfügt, der dem Korintherkönig gut steht. Geneviève King als Medeas Vertraute Neris hat einen warmen, geschmeidigen Mezzo, ihre Stimme umgibt einen während ihrer Szene im zweiten Akt fast wie Balsam.

Der Franzose Philippe Do ist mit der Figur des Jason betraut, sein schlanker Tenor ist durchaus klangschön, sein Spiel als zwischen Liebe und Machtgier Hin- und Hergerissener überzeugt, doch hatte er gestern erkältungsbedingt ein wenig mit der Höhe zu kämpfen. Und natürlich sie. Medea! Nadja Stefanoff verleiht ihrer Figur dastellerisch dermaßen intensiv Kontur, daß es einem kalt über den Rücken läuft. Sie gibt die Frau, die alles verloren hat, Heimat, Familie und Liebe, mit allen Facetten. Sie ist verzweifelt, willensstark, liebend, gedemütigt und kämpferisch in Kriegsbemalung, präsent, packend bis ins Mark, einfach wunderbar. Dazu singt sie, die vom Mezzofach kommt, herrlich differenziert, mit üppiger Tiefe und sicherer Höhe, bewältigt Cherubinis zum Teil atemberaubende Koloraturen mit Bravour und zieht so den kompletten Saal in ihren Bann.

Joo Hyun Cho und Anke Steffens überzeugen als Hofdamen ebenso, wie der tadellos singende und spielende, von Sebastian Hernandez-Laverny einstudierte Chor. Andreas Spering schlägt mit dem Philharmonischen Staatsorchester Mainz flotte Tempi an, musiziert genau und entfesselt die Kraft in Cherubinis farbenreicher Musik so aufs Vortrefflichste.

Das Mainzer Haus ist für die Wiederaufnahme eines eher selten gespielten Werkes außerordentlich gut gefüllt. Der Applaus gilt allen Beteiligten, allen voran der ausgezeichneten Sängerdarstellerin Nadja Stefanoff, die in diesen zweieinhalb Stunden Medea WAR.

Die Produktion läuft in Mainz nur noch ein einziges Mal, ist dann aber ab Ende März bis in den Juli hinein am Stadttheater Heilbronn zu erleben - durchaus also ein Grund, einmal an den Neckar zu fahren.

Ihr

Jochen Rüth aus Köln / 20.02.2016

Fotos (c) Andreas Etter.

 

 

 

DER ZWERG von Alexander Zemlinsky / GIANNI SCHICCHI von Giacomo Puccini

Aufführung vom 31.10.2015

VIDEO/ TRAILER

DER ZWERG

Der Komponist Zemlinsky zählt zu den Spätromantikern, wie beispielsweise Schreker, Korngold und Braunfels. „Der Zwerg“ ist eine durchkomponierte ausdrucksstarke, bis an die Grenze der Tonalität gehende Komposition. „Der Zwerg“ wurde 1922 in Köln uraufgeführt und wurde erst in den letzten Jahrzehnten wiederentdeckt. Es ist ein Werk, das sowohl von der Komposition als auch szenisch den Besucher in den Bann zieht.

Die Dichtung für den Zwerg stammt von Oscar Wilde, ein Dichter, der sozialkritische Themen behandelte und selbst ein Außenseiter war. Das Libretto verfasste Georg C. Klaren.

Die Geschichte handelt von einem Zwerg, den die spanische Infantin Donna Clara zu ihrem 18. Geburtstag geschenkt bekommt. Das Besondere an dem Zwerg ist die Tatsache, dass er als hässlich eingestuft wird, der wiederum weiß nichts von seinem Aussehen, weil er sich noch nie im Spiegel gesehen hat. Er fühlt sich als Ritter und kann mit seinem Gesang die Menschen positiv beeinflussen. .

Die Infantin wiederum findet deshalb im weiteren Verlauf Gefallen an ihm und weil er doch ganz anders ist, als man von seinem Aussehen vermuten könnte. Die Oper erreicht ihren Höhepunkt, wenn der Zwerg sich erstmalig im Spiegel sieht. Es bricht für den Zwerg eine Weltbild zusammen, an dem er schließlich zugrunde geht.

Das Team um die Regisseurin Rebecca Bienek besteht aus den Bühnenbildnern P. Zoller u. V. Köhler, letzterer ist auch für die Kostüme verantwortlich. Nicht zu vergessen die Lichtregie vonStefan Bauer, der einen besonderen Anteil an der Inszenierung hat.

In der Inszenierung wird das Sein und der Schein der Prinzessin thematisiert.

Vor Beginn der Oper sieht man die Prinzessin im Neglige und glatzköpfig, also nicht attraktiv, die dann bei Beginn zur Schönheit wird, indem sie sich eine Perücke aufsetzt und ein herrliches Kleid anzieht.

Die Bedeutung kommt erst zustande, wenn der Zwerg sein Ebenbild erkennt, dann sieht man, wie die Prinzessin wieder ohne Perücke vergebens versucht, dem Zwerg zu helfen. Der Zwerg ist aber alleine mit seiner Verzweiflung, weil zwischen beiden Personen eine imaginäre Wand das Zusammensein verhindert.

Musikalisch kann die Aufführung überzeugen (Leitung: Herrmann Bäumer), wenn man davon absieht, dass die offene Bühne für die Sänger manchmal ein akustisches Problem darstellt. Hier hätte man sich gewünscht, dass sich das Orchester den Gegebenheiten anpasst.

Die beiden Protagonisten, Marie-Christine Haase und Alexander Speemann haben ihre Partien mit großer Hingabe interpretiert, wobei man bedenken muss, dass die Partie des Zwerges zu den anspruchsvollsten Tenorpartien gehört.

GIANNI SCHICCHI

Warum als zweites Werk die Oper Gianni Schicchi ausgewählt wurde, ist schwer zu beurteilen. Gemeinsamkeiten sind, dass beide fast im gleichen Zeitraum entstanden sind, aber in der musikalischen Ausrichtung völlig verschieden sind. Es könnte von dem Wunsch getragen sein, den Besucher mit einem heiteren Gemüt zu verabschieden.

Das Team für die szenische Aufführung ist die gleiche, nur führt diesmal die Regie K. D. Schmidt.

Diesmal spielt die Komödie in einem geschlossenen Raum, wo der verstorbene reiche Buoso Donati zum Leidwesen der anwesenden Verwandtschaft im Testament die Kirche mit dem Vermögen bedacht hat. Um eine Änderung des Testaments zu erreichen, wird kurzerhand der Verstorbene durch den für einfältig gehaltenen unbeliebten Verwandten Gianni Schicchi ersetzt und dem hinzugekommenen Notar eine neues Testament diktiert. Dabei setzt sich Schicchi selbst zum Alleinerben ein.

Es ist ein herrliches Ensemblestück mit 16 Solisten und ausgestattet mit vielen humoristischen Einfällen. Die bekannte Arie “O mio babbino caro” sang Dorin Rahardia und ihr Geliebter Rinuccio, wurde mit schöner höhensicherer Tenorstimme von Phillipe Do gesungen.

Fazit: Es ist erstaunenswert, wie dieses Haus mit dem bescheidenen finanziellen Rahmen eine so bemerkenswerte Aufführung zustande bringt.

Franz Roos 5.11.15

Besonderer Dank an MERKER-online

Bilder: Staatstheater

 

DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG

Besuchte Aufführung: 31.5.2015

Harmlos und unausgegoren

Sie waren eine der bemerkenswertesten Erscheinungen des Mittelalters: Die Meistersinger, deren bedeutendster Vertreter Hans Sachs war, knüpften mit ihrer Kunst an die traditionelle Form des Minnegesangs an und traten damit in die Fußstapfen beispielsweise eines Walther von der Vogelweide oder Wolfram von Eschenbach, um nur die berühmtesten zu nennen. Wo genau sie ihren Anfang nahmen, konnte bisher nicht eindeutig geklärt werden. Wahrscheinlich in Mainz, in dessen Vorort Biebrich, der heute zu Wiesbaden gehört, Wagner in einer Villa am Rhein das Vorspiel seiner ursprünglich als Satyrspiel zum „Tannhäuer“ konzipierten „Meistersinger“ komponierte. Dass er sich nach eigenem Bekunden dabei von der Silhouette des goldenen Mainz inspirieren ließ, gehört in das Reich der Legenden. Von Wagners Domizil aus ist Mainz - zumindest heute - gar nicht zu sehen. Und das dürfte damals nicht anders gewesen sein.

A. Spemann (Stolzing), Vida Mikneviciute (Eva), Linda Sommerhage (Magdalene)

Der enge Bezug, den Wagners „Meistersinger“ zu Mainz haben, veranlasste Intendant Markus Müller nun, das Werk auf den Spielplan zu setzen. Der Erfolg mag ihm Recht gegeben haben. Wagner zieht ja immer und der Schlussapplaus des Publikums geriet dann auch sehr herzlich. Andererseits reichte die Inszenierung von Ronny Jakubaschk über reines Mittelmaß nicht hinaus und vermochte gehobenen Ansprüchen nicht zu genügen. Allzu brav und bieder geriet seine Regiearbeit, die keinerlei Bezug zu aktuellen Problemen aufwies und in mancherlei Hinsicht in Ansätzen stecken geblieben ist. Lediglich dekorativen Charakter hatte bereits der vorwiegend grüne  äußere Rahmen, in den Ausstatter Matthias Koch das Ganze gesteckt hatte. Sowohl beim Bühnenbild als auch bei den Kostümen der Meister dominierte diese Farbe. Der rothaarige Stolzing hingegen wurde in ein violettes Licht gehüllt, Dass Eva den Ritter von ganzem Herzen liebte, wurde dadurch versinnbildlicht, dass sie im dritten Aufzug ihre vordem nicht gerade ansehnlichen grünen Haare ebenfalls rot gefärbt hatte.

Derrick Ballard (Sachs), Heikki Kilpeläinen (Beckmesser)

Ihr Einfall, sich im ersten Aufzug als Mann verkleidet, mit schwarzem Hut, riesigem grünem Schal und Sonnenbrille unter die Meistersinger zu mischen, um die genauen Pläne ihres Vaters, von denen sie hier augenscheinlich noch nicht in allen Einzelheiten Kenntnis hat, auszuspionieren, war zwar amüsant, wurde aber nicht konsequent durchgezogen, verebbte und blieb letztlich eine für das Gesamtgefüge der Handlung unwesentliche Episode. Schade. Aus dieser an sich trefflichen Idee hätte Jakubaschk viel mehr machen können. Obendrein war es nicht sehr logisch, dass die Meister eine ihnen ganz unbekannte vermummte Person so gänzlich kommentarlos in ihrer Mitte duldeten. Aber nicht nur das wirkte unausgegoren.

Michael Pegher (David), Linda Sommerhage (Magdalene), Derrick Ballard (Sachs), Vida Mikneviciute (Eva), Alexander Spemann (Stolzing)

Das Ganze spielt in einer fast leeren Fabrikhalle, deren Hintergrund von einem riesigen, in einer Art Turm befindlichen Räderwerk mit vielfältigen Leuchtröhren dominiert ist, der im ersten Aufzug an die Stelle des Gemerks - auf eine Tafel verzichtet die Regie - tritt und im zweiten als Haus Pogners dient. Das kann einmal als Verweis auf die Entstehungszeit der „Meistersinger“ verstanden werden, in der die Industrialisierung riesige Fortschritte machte. Andererseits steht es für eine moderne Maschinenwelt, in der man leicht mal zwischen die Räder geraten kann. Diese nehmen während der Festwiesenszene auch mal die Form von Hypnosescheiben an. Leider werden die Möglichkeiten, die sich aus dieser trefflichen Symbolik eröffnen, vom Regisseur nicht weiter genutzt. Dass die Meistersinger in einer technisierten, einen Kunstraum darstellenden Welt ihre Kunstreligion pflegen, wird zwar deutlich, Konsequenzen, die den Abend womöglich etwas spannender hätten werden lassen, werden daraus aber nicht abgeleitet.

Ensemble

Dass die Inszenierung insgesamt nicht gerade aufregend ausfiel, lag in erster Linie an der reichlich unspektakulären Herangehensweise Jakubaschks an das Werk. Ein Gewinn für die Rezeptionsgeschichte ist seine doch recht harmlos anmutende, biedere Inszenierung wahrlich nicht. Tiefergreifende Gedanken hat er sich über die Handlung nicht gemacht und sich darauf beschränkt, diese ohne Schnörkel und recht geradlinig nachzuerzählen, wobei die Personenregie mal mehr, mal weniger ausgeprägt war. Leider gab es gerade im zweiten Aufzug einige szenische Längen. Die als Kissenschlacht gestaltete Prügelfuge, in deren Verlauf sich der von David stark misshandelte Schönling Beckmesser in den Räderwerk-Turm flüchtet, in dem zuvor Magdalene seinem Ständchen lauschte, fiel dagegen wieder ausgesprochen munter und lebendig aus. Entbehrlich war die Szene, in der der Baum der Erkenntnis in einem sanften Blütenregen vom Schnürboden auf die Festwiese herabschwebte. Hier wurde die Grenze zum Kitsch in bedenklicher Weise gestreift. Völlig unkommentiert seitens der Regie blieb Sachs’ berüchtigte Schlussansprache, deren hoher politischer Gehalt eine Interpretation unbedingt erfordert hätte. Hier lief sie ins Leere. Kein Wunder, dass Stolzing ihren Sinn dann augenscheinlich auch nicht erfasst hat. Wenigstens hat er am Ende den vom Regisseur ernst genommenen Beckmesser wieder zurückgeholt und ihm versöhnlich die Hand gereicht. Insgesamt blieben bei der Inszenierung einige Wünsche offen. Für jemanden, der die Oper kennenlernen will, war sie vielleicht gut geeignet. Spannendes Musiktheater mit hohem geistig-innovativem Anspruch, wie man es sich gewünscht hätte, stellte sie jedenfalls ganz und gar nicht dar.

Ensemble

Insgesamt zufrieden sein konnte man mit den gesanglichen Leistungen. Es spricht für die Qualitäten des Staatstheaters Mainz, dass es sämtliche Hauptpartien aus dem eigenen Ensemble besetzen konnte und nur für die zahlreichen Nebenrollen auf Gäste zurückgriff. Derrick Ballard war ein stimmlich sehr verlässlicher, stets aus dem Vollen schöpfender Sachs, der seinen extrem langen Part nicht nur ohne Ermüdungserscheinungen durchhielt, sondern auch noch bravourös gestaltete. Er gewann seinem gut fokussierten, sonoren Heldenbariton zahlreiche Nuancen ab und wartete auch mit einer ansprechenden Farbenscala auf. Die Dramatik des Schusterliedes und der Schlussansprache stand ihm in gleichem Maße zur Verfügung wie die poetisch-eleganten Facetten des Flieder- und des Wahnmonologs. Neben ihm war Heikki Kilpeläinen ein junger, gut aussehender und intensiv spielender Beckmesser mit lyrisch kultiviertem, bestens verankertem Baritonschmelz und schönem hohen a, der rein stimmlich dem Stolzing von Alexander Spemann, der mit den Höhen seiner Rolle nicht immer zurechtkam und manchmal ziemlich gepresst hat, um einiges überlegen war. Er präsentierte sich als ernstzunehmende Konkurrenz um Evchens Hand, der die wunderbare Vida Mikneviciute mit ungemein kräftigem und vollem, dabei in jeder Lage bestens gestütztem und glanzvollem Sopran einen regelrecht hochdramatischen Anstrich verlieh. Von dieser phänomenalen Sängerin, die zu den ersten Kräften des Mainzer Theaters gehört, kann man sicher noch viel erwarten. Eine voll und rund, dabei sehr tiefgründig singende Magdalene war Linda Sommerhage. Einen darstellerisch würdevollen, eleganten Pogner mit profundem Bassklang gab Ks. Hans-Otto Weiß. Solides Bass-Bariton-Material brachte Peter Felix Bauer für den Kothner und den Nachtwächter mit. Nicht zu überzeugen vermochte der ausgesprochen flach und halsig singende David von Michael Pegher. Auch Max Friedrich Schäffers Vogelgesang verfügte nur über dünnes Tenor-Material. Den Stimmführer der kleinen Meister hätte besser Karsten Münster vom Landestheater Coburg geben sollen, der den Eisslinger sehr kraftvoll und mit solider tiefer Stütze sang. Solide schnitten Johannes Held (Nachtigal), Christopher Kaplan (Zorn), Scott Ingham (Moser), Manos Kia (Ortel), Stephan Bootz (Foltz) und Georg Lickleder (Schwarz) ab. Auf hohem Niveau bewegte sich der von Sebastian Hernandez-Laverny einstudierte Chor.

Derrick Ballard (Sachs), Heikki Kilpeläinen (Beckmesser)

GMD Hermann Bäumer am Pult ging das Werk sehr ausgelassen und rasant an. Die von ihm angeschlagenen Tempi waren teilweise sehr zügiger Natur, was dem heiteren, frischen Charakter von Wagners herrlicher Musik indes zugute kam. Lediglich bei der Prügelszene wäre ein etwas gemäßigteres Tempo vielleicht nicht schlecht gewesen. Das Philharmonische Staatsorchester Mainz setzte seine Intentionen differenziert und klangschön um.

Fazit: Eine Aufführung, die von der Inszenierung her entbehrlich anmutete, musikalisch und gesanglich aber durchaus für sich einzunehmen vermochte.

Ludwig Steinbach, 1.6.2015

Die Bilder stammen von Martina Pipprich

 

 

 

 

 

 

 

Rauschender Erstaufführungserfolg am Staatstheater für großes Musiktheater

Pascal Dusapin (*1955)

PERELÀ – l’uomo di fumo

Premiere (Deutsche EA) am 16.01.2015

„Ich bin ganz leicht“   ein Mensch aus Rauch – ein messianischer Auftritt

Von Piccini bis Verdi haben maßgebliche italienische Komponisten Opern zu französischen Texten, ja sogar französische Opern geschrieben. Da ging es vor allem ums Geld in der reichen französischen Hauptstadt. Mit Pascal Dusapin haben wir einen der wenigen französischen Komponisten, der eine Oper auf einen italienischen Text geschrieben hat. Ihm ging es aber um die Sprache! Der italienische Schriftsteller Aldo Palazzeschi hat 1911 „Il codice di Perelà“ erstveröffentlicht, einen futuristischen Roman mit Bühnen-affiner Dramaturgie. Dusapin fiel per Zufall das Buch im Originaltext in die Hände; von dessen achtzehn Kapiteln hat er zehn ausgesucht und daraus quasi im Originaltext sein eigenes Libretto redigiert. Bei seiner Oper „Faustus the last Night“ (UA 2006 an der Lindenoper) ist er ähnlich verfahren und hat aus Christopher Marlowes „The Tragical History of Dr. Faustus) einen englischen Text für das Libretto extrahiert.

Vor den Kameras: Peter Felix Bauer (Zeremonienmeister), Peter Tantsits (Perelà), Hans-Otto Weiß (Diener); Chor

Perelà – l’uomo di fumo (Der Mensch aus Rauch) ist wie die literarische Vorlage mit viel Symbolik und Anspielungen auf Vergangenheit und Zukunft ein Werk, das vielerlei Interpretationen erlaubt und diese dem Zuschauer überlässt. Perelà ist zu Mensch gewordener Rauch, dessen drei Mütter Pena, Rete und Lama ihn von oben auf eine Welt schicken, in welcher eine Gesellschaft nicht richtig zueinander finden kann. Der Kindkönig Torlindao (stumme Rolle), die  Königin, Diener und Zeremonienmeister, ein eitler Minister, ein geldgieriger Bankier, ein Scharlatan als Philosoph, ein unbedeutender Erzbischof, ein nachdenklicher Diener, eine tragisch verliebte Marquise und schließlich noch ein verrückter Papagei stellen die vielen Solisten des Stücks, dazu als Chor ein buntes vergnügungssüchtiges Volk. Perelà  fällt gewissermaßen in diese Welt hinein, wird in der Stadt aufgenommen und  ob seiner ungewöhnlichen Leichtigeit wie ein Guru oder Prophet aus der Wüste verehrt. Er soll dem Stadtstaat ein verbindendes und verbindliches Gesetzbuch schreiben. Perelà kann nichts dazu, dass der Diener Alloro ihm in seiner Leichtigkeit nacheifern und sich auch in einen Rauchmenschen verwandeln will. Der verbrennt dabei zu Asche; die Stimmung schlägt vom berühmten „Hosianna!“ zum „Kreuziget ihn!“ um. Perelà wird von einem illegitimen Gericht zu lebenslänglich Gefängnis verurteilt. Er verwandelt sich aber wieder in Rauch und entzieht sich dieser Gesellschaft, die unverändert zurückbleibt. Perelà war weder Guru noch Prophet, einfach nur ein Neugieriger, der sich aus den Turbulenzen, in die er geraten war wieder heraussehnte.

Die junge amerikanische Regisseurin Lydia Steier inszeniert den Bogen der Handlung schlüssig. Seiner „Geburt“ im Adamskostüm aus einem schwarzen Uterus („Utero nero“ -Kapitel I) in Form eines schwarzen Zylinders auf völlig nackter Bühne schließt sich eine Reise durch acht turbulente, mit viel Ironie und szenischer Satire gefasste Bilder zum Schlusskapitel X („La sua leggerezza Perelà – Seine Leichtigkeit“) an, in welcher er als rauchender Geist wieder in der Flasche, ebendem Uterus verschwindet und der wiederum von der sonst nackten Bühne.

"Tea Party" Zweite von links: Geneviève King (Marquise); ganz rechts: Peter Tantsis (Perelà); Chor

Für die acht Kapitel  dazwischen hat sich Bühnenbildner Flurin Borg Matsen aber noch viel mehr einfallen lassen. Von hinten fährt auf einem Drehteller die Fassade eines italienischen Renaissance-Palazzos nach vorne, die in ihrem Maria-Theresien-Gelb den einzigen farblichen Blickfänger der sonst in schwarzweißen Mustern gehaltenen Bühne darstellt. Die Hinterseite des Palazzos bildet eine große weiße Treppe, auf seinen beiden Seiten gewinnt man Einblick ins Innere, wo die vielen Nebenfiguren des Stücks in sketchhafte Szenen verwickelt sind. Dazu ist die gesamte Struktur des Palazzo längs teilbar, die beiden Hälften dreh- und verschiebbar, so dass für jedes der weiteren acht Kapitel geeignete Spiel-Räume geschaffen werden können wie Teesalon, Ballsaal oder Gerichtsplatz.

Lydia Steier ist bekannt für ihre bunten Inszenierungen: In Perelà wird die fantasievolle Buntheit durch die Kostüme von Gianluca Falaschi geprägt: etwas karikierender renaissance-Stil mit überspitzten Masken, Perücken und  spitzen Nasen. Dem nackt Mensch gewordenen Perelà werfen seine Mütter nur ein Paar rote Stiefel hinterher; die Menschen versorgen ihn mit einer modernen Schlabberhose; so bleibt er von seiner Kluft her immer Außenseiter; er hat sich bei der ihn mehr und mehr bejubelnden Gesellschaft nicht eingeschleimt; die zuletzt wirkenden Abstoßungskräfte können aber nicht überraschen.  „Aufstieg und Fall des Perelà“ könnte daher die Oper auch heißen. Steier lässt die Burleske nie zum Klamauk verkommen, sondern kommt in dieser Parabel immer wieder auf nachdenklich Machendes zurück. Zwar ist es nicht immer leicht, die Rollen der vielen Nebendarsteller zu verfolgen, zumal diese teilweise nur sehr kurze Auftritte haben, aber man behält unschwer den Faden der Handlung in Blick und Ohr. Und das nicht nur, weil wie im Stummfilm die Überschriften der einzelnen Kapitel projiziert werden, sondern auch wegen einer besonders stimmigen Personenführung. Insgesamt eine glänzende Regiearbeit!

Peter Tantsis (Perelà), Marie Christine Haase (Königin)

Musikalisch gehört Perelà zu den interessantesten zeitgenössischen Opern, die Ihr Kritiker in den letzten Jahren gesehen hat. Zwar werden impressionistische Klangbilder als Basis der Partitur deutlich; aber mit keinem Takt verfällt der Komponist in die Mode einer eklektischen Retro-Musik. die nicht über die Harmoniewelt der Spätromantiker von Mahler bis Puccini hinausgeht. Glissandi und Flageolett-Töne gehören bei Dusapin auchzum Handwerkszeug, aber seine Musik kommt zunächst sehr flächig daher; Klangflächen, auf welche das überwiegende recitar cantando der Solisten aufgesetzt ist. Im Verlauf werden die Flächen mehr und mehr rhythmisch und instrumentell aufgelöst, so dass das musikalische Geschehen feingliedriger wird und immer spezifischer das szenische Geschehen abbildet. Vergleichsmöglichkeiten gibt es bei einer Erstaufführung naturgemäß nicht; eine Tonträgeraufnahme von Perelà gibt es noch nicht (in Mainz gäbe es nun die Möglichkeit eine zu verfertigen – am besten mit Verfilmung). GMD Hermann Bäumer verfestigt mit dem Philharmonischen Staatsorchester Mainz mit jedem Takt der Partitur den Eindruck, dass die Partitur und die Intentionen des Komponisten adäquat umgesetzt wurden. Er konnte damit einer mittlerweile schon bemerkenswerten Reihe von Realisierungen zeitgenössischer Musik in Mainz eine weitere hinzufügen.

Geneviève King (Marquise Oliva di Bellonda), Peter Tantsits (Perelà)

Auch ein großer Opernchor gehört zu diesem Werk. Sebastian Hernandez-Laverny hatte ihn für seine wirkungsvollen Auftritte bestens präpariert. Dusapin hat einen eindrucksvoll-wirksamen Chorsatz geschrieben, der die orchestralen Klangflächen noch verbreitert, sich aber auch – teilweise ziemlich dissonant – aus ihnen hervorhebt. Klanglicher Höhepunkt ist Kapitel VIII („Il processo di Perelà –Perelàs Prozess“), wenn sich der Chor mit dem Tutti des Orchesters zu eindrucksvollen Klangräumen schichtet. Dabei atmet die Partitur souverän mit der szenischen Bewegung des Chors, welche die Regie gekonnt in die Musik einbettet.

Fünfzehn Rollen zählt die Besetzungsliste, wofür in Mainz dreizehn Sänger, überwiegend aus dem eigenen Ensemble  eingesetzt werden.  Sie müssen in den zweieinviertel Stunden reiner Spielzeit (volles Opern-, statt des modischen Fernsehformats!) viel Text transportieren. Neben der vorherrschenden Deklamation gibt es weniger kantable und auch einige Sprechstellen.  Dusapin hat ihnen teilweise sehr anspruchsvolle Partien geschrieben. Peter Tantsis - schon vielen Rollen moderner Musik profiliert - gab die Titelpartie darstellerisch und vokal überzeugend. Vor allem in der Höhe aber auch in einem großen Tonumfang stark gefordert, überzeugte der amerikanische Gasttenor  von bronzenen baritonalen Tiefen bis ins Falsett mit vielen Nuancierungen. Geneviève King, vom Staatstheater Oldenburg nach Mainz gewechselt,  sang die Marquise Oliva di Bellonda mit tiefgründigem samtigem Mezzosopran.  Sie hat den Großteil der kantablen Passagen. Brett Carter vom aufgelösten Ensemble in Wiesbaden nach Mainz engagiert interpretierte die tragikomische Rolle des Alloro mit ordentlicher Kraftentfaltung. Mit Christine Haase waren die sehr hoch gelegenen Partien der Königin und der Tochter des Alloro besetzt, in denen sie durchaus verschieden wirkte; etwas spitz und mit wenig Textverständlichkeit die Königin, viel runder die Tochter.

Heikki Kilpälainen (Bankier), Alin Ionut Deleanu (Erzbischof), Georg Lickleder (Philosoph Pilone); vorne: Peter Tantsitis (Perelà)

Mit feinem Mezzosopran sang Katja Ladentin die Rolle der armen Alten, der ersten Begegnung Perelàs in der Nähe der Stadt. Stephan Bootz konnte mit seinem solide strömenden, dabei deutlich artikulierenden Bass punkten,  als Gerichtspräsident hoch über die Köpfe der Mitmenschen gehoben. Unter den kleinen Rollen war Jürgen Rust als Papagei exponiert. Dessen einzige Vokabel „Dio!“ war für den Charaktertenor zu krächzen und zu singen. Den Diener gab Hans-Otto Weiß mit kernigem Bass. Solide Heikki Kilpeläinen als Bankier Rodella und Peter Felix Bauer in den Rollen des Zeremonienmeisters und des Ministers mit jeweils sonorem Bariton. Aus der Altus-Schule der Musikhochschule Mainz, nun auch im jungen Ensemble des Staatstheaters wirkte der Counter Alin-Ionut Deleanu als Erzbischof. Georg Lickleders verlässlicher Bass als Philisoph Pilone vervollständigte das Ensemble.

Unter den Gästen an diesem Abend war auch der Komponist Pascal Dusapin, der nun nach zehn Jahren die zweite Aufführung seines Werks erleben durfte. Er war es bestimmt zufrieden: nach der begeisterten Aufnahme mit einer Viertelstunde teilweise jubelndem Beifall aus dem vollen Haus kann es keine Zweifel geben, dass diese Oper weitere Produktionen erleben wird. Und das Mainzer Opernpublikum registriert  -  wie Ihr Kritiker -  mit Zufriedenheit, dass die Ära Fontheim-Gürbaca am Staatstheater vorbei ist. Man kann wieder ins Staatstheater gehen! Perelà kommt noch am 28.01.2015, 31.01.2015, 23.02.2015, 5.03.2015, 22.03.2015, 10.04.2015 und 12.04.2015. Der Opernfreund verleiht der Produktionen seinen Stern!

Manfred Langer, 18.01.2015                                    Fotos: Andreas Etter

 

 

 

 

Unterwasser-Schau mit gebremstem Schaum

DER BARBIER VON SEVILLA

Auufführung vom 28.09.14                          (Premiere am 26.1014)

Der Graf Almaviva taucht in eine Märchenwelt unter Wasser und befreit Rosina aus den Fängen des Kraken 

Die Opera Buffa ist im Italien des 18. Jhdts. aus den  einaktigen „Intermezzo“-Opern entstanden, die in den langen Pausen der Seria-Opern des Barock leichte  Kost boten, in aller Regel mit einem schlauen Dienstmädchen und einem eingebildeten reichen Bürger (beispielhaft: La serva padrona, Die listige Magd, Pimpinone) besetzt. Diese kleinen Musiktheaterstücke dauerten etwa Stunde und wurden zur Kurzweil dem Teil des Publikums dargeboten, das nicht an einer ausufernden Mahlzeit in der Pause teilnehmen durfte. Angereichert mit mehr Personal aus der Tradition der italienischen commedia dell’arte, deren Einfluss auch über Italien hinaus in die Lustspiel-Szene reichte, kam es zu abendfüllenden Opern, in der auch Figuren aus dem einfachen Volk auf der Bühne auftreten und nicht mehr nur die Götter, Könige und Helden der opera seria. Auch suchte man sich für die neue Operngattung Stoffe aus der aktuellen Literatur. Ein Paradebeispiel hierfür ist die Trilogie von Beaumarchais: Le Barbier de Séville, Les Noces de Figaro und La Mère Coupable, in der die gleichen Personen in den Komödienhandlungen auftreten. 

„Le Barbier de Séville oder ou la Précaution inutile“ wurde 1775 in Paris uraufgeführt. Eine sehr erfolgreiche Veroperung des Stoffs von Giovanni Paisiello kam bereits 1782 in St. Petersburg  heraus, Mozarts Oper „Le nozze di Figaro“ (basierend auf dem zweiten Teil der Trilogie 1778) schon 1786 in Wien. (Die Musikindustrie arbeitete damals sehr schnell). Als Rossini den Auftrag erhielt, den Barbier von Sevilla neu zu vertonen, wurde es als sehr riskantes, ja sogar provokantes Unternehmen angesehen, sich an dem gleichen Stoff wie Paisiello zu versuchen. Um dessen Werknamen auszuweichen, nannte Rossini sein Werk zuerst „Almaviva o sia L’inutile precauzione. Nach einer von Protesten gestörten Uraufführung im Teatro Argentina in Rom 1816  erlebte die Oper bald einen Riesenerfolg, der bis heute anhält. Paisiellos Werk verschwand hingegen von den Spielplänen, auch weil es musikalisch mit dem sprühenden Buffa-Ton und der Eingänglichkeit der Rossini-Vertonung nicht mithalten konnte. Rossini hatte nur 26 Tage Zeit, um das Stück zu vertonen; deshalb verarbeitete er auch Material früherer erfolgloser Opern, an deren Musik sich schon niemand mehr erinnerte.

vorne: Alexandra Samouilidou (Berta), Yun Seong Shim (Almaviva), Stefan Keylwerth (Fiorello); Chor; hinten stehend: Brett Carter (Figaro)

Rossinis Oper verzeichnete einen Erfolg sondergleichen bis in die heutigen Tage (Operabase gibt für die letzte und die laufende Spielzeit 840 Aufführungen von 176 Produktionen an). Da sind Regisseure und Ausstatter sehr gefordert, sich für diese einfache Geschichte mit ihren klaren Spielorten jeweils etwas Neues einfallen zu lassen, denn sicher hat in jeder Neuproduktion der größere Teil des Publikums die Oper schon einmal gesehen. Die nun in Mainz vorgestellte Produktion, die der neue Intendant von seiner alten Wirkungsstätte in Oldenburg mitgebracht hat und vom Regisseur Ronny Jakubaschk neu einstudieren ließ,  bricht mit fast allen der gewohnten szenischen Zutaten (Die Piazza, das Haus, der Balkon, das Musikzimmer, die Treppe, die angestellte Leiter...) und siedelt das Geschehen unter dem Meeresspiegel an. Das ist sicher neu. Weniger neu ist, dass er einen Teil der Figuren als aus der commedia dell’arte stammen lässt. Originell ist die Idee, das Ganze als ein Märchen zu inszenieren: der gute Prinz (Graf Almaviva) befreit die Prinzessin (Rosina) aus den Klauen eines Bösewichts (Bartolo). Schon zu Beginn der Ouvertüre fällt der Vorhang und stellt dem Zuschauer das Bühnenbild vor: eine blaugrün beleuchtete Szene, umrandet von einer in der Mitte durchschlagenen Wand, die sich zuerst ansieht wie der Rand einer zerstörten Sekuritscheibe (Aquarium?), die später aber in weiteren heruntergelassenen Kulissen zu einem korallenartigen Muster mutiert (Bühne und Kostüme: Matthias Koch). Hier tummeln sich nun die Darsteller, die mit Meerestieren Ähnlichkeit haben: Der Chor mit Krabbenscheren statt Händen an einer imaginären Aquariumsscheibe herumtastend, Don Basilio als Meeresschildkröte und Don Bartolo als Krake, dessen Tentakel von der Halskrause herabhängen. Von den ins die Szenerie hineingesenkten Kronleuchtern hängen lange Fangarme wie von eine Qualle herab. Viel Fantasie steckt in den Kostümen.

Brett Carter (Figaro)

In diese märchenhafte Szenerie dringt aus dem Zuschauerraum kommend der in „Zivil“ gekleidete Graf Almaviva ein. Um seine Rosina zu bekommen, lässt er sich ebenfalls als Meeresgetier verkleiden, zwischendurch in einen Hai und zum Schluss mutiert er mit Dreizack zu Nettuno. Es ist klar, dass in dieser Szenerie teilweise deutlich von der den überkommenen Sehgewohnheiten abgewichen werden muss, was a priori kein Problem ist, denn die Inszenierung war mit vielen spezifischen guten (aber auch etlichen flachen) Einfällen angereichert, die von der Zuschauern goutiert wurden. Aber dann haperte es doch bei der Durchführung im Einzelnen. Es wurde zu viel an der Rampe gesungen und gespielt; die Bewegungen der Protagonisten wirkten teilweise verhalten und gehemmt, und einzelnen Handlungselementen fehlte es in dieser Setzung an Schlüssigkeit. Sicher hätte man mit einer spritzigeren Personenführung noch mehr erreichen können. Vice versa eröffnete die ungewöhnliche Szenerie auch die Möglichkeiten völlig anderer gelungener Regieeinfälle, z.B. wenn Alamaviva als Don Alonso als Diszipel Don Basilios mit dessen Meeresschildkrötenumhang auftritt und dafür Basilio anschließend im Unterhemd (hatte Almaviva ihm gar die Kleidung gestohlen?). Das Publikum hatte jedenfalls genug zu lachen, auch wenn es sich teilweise nur um Albernheiten handelte.

Till Toth (Ambrogio), Stefan Keylwert (Fiorello), Alexandra Samouilidou (Berta), Georg Lickleder (Basilio), Peter Felix Bauer (Bartolo)

Das Philharmonische Staatsorchester Mainz stand unter der Leitung des jungen Kapellmeisters Paul-Johannes Kirschner vom Staatstheater Oldenburg. Das Orchester spielte routiniert und konzentriert; aber ein richtiger Rossini-Klang wollte zuerst nicht entstehen. Zur Ouvertüre wurde ein schleppendes Tempo angeschlagen, und dennoch haperte es mit dem Zusammenspiel. Es wurde kein brillant-pfeffriger Rossini musiziert, wenig prägnant seine Stretten. Ein rhythmisierendes Rossini-Feuerwerk wurde nur stellenweise versucht, verlief aber zuweilen im Einklang mit dem ebenso gehemmt wirkenden Bühnengeschehen. Das (endlich) sehr flotte Tempo im ersten Finale führte indes wieder zu deutlichen Unschärfen im Zusammenwirken. Der Herrenchor des Staatstheaters, im Verlauf auftretend wie ein Schwarm Tiefseefische mit jeweils zwei Gehstöcken und Diodenleuchten als Leuchtfaden, war von Sebastian Hernandez-Leverny präpariert.

Geneviève King (Rosina), Youn-Seong Shim (Almaviva), Peter Felix Bauer (Bartolo)

Darstellerisch vermochte von den Hauptfiguren nur Peter Felix Bauer als Bartolo voll zu überzeugen. Stimmlich kam er im kraftvollen tiefen bis mittleren Bereich seines in der hohen Lage für die Rolle etwas hell wirkenden Baritons am besten zu Recht. Als sein Freund und Auftragnehmer Basilio verfügte Georg Lickleder über mächtiges, rund strömendes Bassmaterial. Wegen seiner hünenhaft erscheinenden Gestalt musste man auf eine Stehleiter steigen, um ihm den Kopf zu streicheln; von der Regie war er rollentypisch statisch eingesetzt. Dem Figaro von Brett Carter war in darstellerischer Bewegung eine Rolle zugeordnet, die an Strehlers Arlecchino erinnerte. Obwohl die Inszenierung schon hier und da auf die commedia dell’arte Bezug nahm, passte diese Rolle als Mittelding zwischen Narr und Harlekin gar nicht zum Figaro, und Brett Carter ist Opernsänger und kein Artist. Vermutlich war ihm das schleppende Tempo bis zur seiner normalerweise zungenbrecherischen Auftrittsarie zugestanden; langsamer wirkt das nicht. In Umkehrung der Operntradition sang die tiefere Frauenstimme die Rosina; die war mit dem recht dunkel timbrierten Mezzo von Geneviève King besetzt, die ihre Stimme bestens fokussierte und den großen erforderlichen Stimmumfang sauber beherrschte; darstellerisch blieb sie leider blass. Youn-Seong Shim vom Theater Münster gab einen vorzüglichen Grafen Almaviva; neben seinem schönen Tenormaterial, der sauberen Stimmführung und seinen klaren brillanten Höhen gefiel er auch durch sein fröhliches, lebendiges Auftreten. „Il vecchiotto cerca moglie“ ist die einzige Arie der Berta (Marcellina), die zuweilen gestrichen wird. An diesem Abend aber wurde der reizenden Alexandra Samouilidou vom Jungen Ensemble Mainz die Gelegenheit gegeben, in dieser Arie mit ihrem frischen hellen Sopran zu glänzen. Darstellerisch hatte sie aber eine viel größere Präsenz, meist im Zusammenwirken mit den anderen Untergebenfiguren, nämlich Fiorello (Stefan Keylwerth) und Ambrogio (Till Toth), mit denen sie die Köpfe hinter einem leeren Bilderahmen zusammensteckte und über die Bühne wuselte. Dramaturgisch ein Muster ohne Wert, lockerte aber auf. Milan Stradalski sang den Offizier.

Solistenensemble

Das Haus war in der zweiten Aufführung der Serie gut besucht, und es wurde reichlich Beifall gespendet von einem Publikum mit auffällig vielen jungen Besuchern, das sehr gelöst das Haus verließ. Weitere Termine: 5.11.14, 23.11.14, 17.12.14, 25.12.14, 27.12.14, 30.12.14, 02.01.15, 25.01.15, 30.04.15, 08.05.2015. Übrigens: abgestimmt haben sich die Theater in der Region ohnehin nur selten. Denn am 05.12.14 kommt auf der anderen Rheinseite am Staatstheater in Wiesbaden die dortige Produktion  des Barbier heraus, und zwar in einer dort sehr seltenen vierten Wiederaufnahme.  Das will etwas heißen.  

Manfred Langer, 29.10.2014                                 Fotos: Martina Pipprich        

 

 

 

 

Der Krieg ist des Menschen Wolf

Karl Amadeus Hartmann ( 1905 - 1963 )

SIMPLICIUS SIMPLICISSIMUS

Premiere im Kleinen Haus am 18.10.2014

Historienstück - zwischen den Nachbeben des ersten Weltkriegs und der Vorahnung auf neues Schlachten entstanden und zeitlos zu verstehen

Der Komponist Karl Amadeus Hartmann ließ sich von den Nazis nicht gleichschalten. Er war Mitglied der Künstlervereinigung „Die Juryfreien“, die 1934 zwangsaufgelöst wurde, konnte  aber Mitglied der Reichsmusikkammer werden, obwohl seine Werke in Deutschland nicht aufgeführt wurden. So schrieb er in einer Art innerer Emigration für die Schublade. Auch seine in den Jahren 1934 und 1935 entstandene Oper „Des Simplicius Simplicissimus Jugend – drei Szenen aus seiner Jugend“ gelangte erst nach dem Krieg zunächst konzertant, dann szenisch (Köln 1949) zur Uraufführung. Zu dem Werk hatte ihn sein Mentor Hermann Scherchen angeregt, der gleich zu Beginn des Nazi-Regimes in die Schweiz emigriert war. Scherchen hat auch wesentlichen Anteil am Libretto der Oper, das er zusammen mit Hartmann und Wolfgang Petzet erstellte. Dieses thematisiert drei Szenen aus dem ersten von fünf Büchern Grimmelshausens Antikriegsroman „Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch“, also aus der Jugend des Simplicissimus. Es handelt sich um eine eminent politische Oper mit vielen Anspielungen an die Nazizeit, die auch nach nunmehr achtzig Jahren noch unmittelbar verstanden werden können.

Marie-Christine Haase (Simplicius Simplicissimus)

Ein Bauer übergibt dem Buben eine Pfeife, damit er beim Hüten der Schafen den „Wolf“ verscheuchen kann. Ein marodierende Landsknecht erscheint und wird vom Buben Simplicius als „Herr Wolf“ (immerhin nicht „Onkel Wolf“)  angesprochen. Der möchte gern etwas über die Identität des Knaben erfahren. Ein autobiographisches Element der Oper, da Hartmann zu eben der gleichen Zeit versuchte, sich der Frage nach seinem Arier-Nachweis zu entziehen. Oder die Feststellung des naiven Simpel an den Gouverneur von Hanau: „Mein lieber Hermaphrodit, wie bist Du prächtig angetan“ kann man ohne weiteres auf das Spottlied frei nach Claire Waldoff beziehen: „Rechts Lametta, links Lametta,/Und der Bauch wird imma fetta,/Und in Preußen ist er Meester -/Hermann heeßt er!“  Oder das „falsch verstandene“ Gebet der zehn Gebote durch den Simpel: „Und erlöse uns vom Reich“.

Das Stück ist keine Oper im damals überkommenen Sinne, sondern es stellt drei nicht durch einen Handlungsstrang verbundene Szenen dar, in denen zu einem erweiterten Kammermusik-Ensemble gesprochen, deklamiert und gesungen wird; Musiktheater, das sich entstehungszeitlich im Kontext mit Schönbergs „Moses und Aron“, Bergs „Lulu“ oder als Antikriegsstück auch thematisch, aber nicht musikalisch mit Strauss‘ „Friedenstag“  in Kontext setzen lässt. Simplicius Simplicissimus ist ein Stück, das vordergründig natürlich im dreißigjährigen Krieg angesiedelt ist, das aber den Intentionen der Autoren zufolge in deren Gegenwart der Werkentstehung spielt und mit Bezug auf die Grausamkeiten des Kriegs leider bis in die Zukunft mit ihren Geschehnissen von Terroristen-Gemetzeln bis zu „Kollateralschäden“ durch kriegführende Großmächte wirkt und „das furchtbarste aller Verbrechen, den Krieg“ (Hartmann) aus der Perspektive der Opfer beschreibt. Helden gibt es nicht. Hartmann hat nach dem Krieg eine zweite Version der Oper mit größerer musikalischer Durchgängigkeit erstellt. Das Staatstheater aber folgt in seiner „Mainzer Fassung“ weitestgehend der Urfassung, die hier und da unnötigerweise verbal noch weiter aufgeladen ist.

Alexander Maczewski (Trommler und Sprecher); Chor

Für die drei an verschiedenen Spielorten ablaufenden Bilder hat Annika Haller mit einfachen Mitteln die Szenographie erstellt. Vor einer bühnengroßen Wand aus großen Transportkartons spielt die erste Szene, in welcher der „Knän“ den Simpel vor dem Wolf warnt und ihm die Sackpfeife übergibt. Die Verwüstung des Hofs, das Erschlagen des „Knäns“ wird durch das Demolieren dieser Kartonwand dargestellt, hinter der sich ein Raum öffnet, der im großen Viereck von drei weiteren Kartonwänden umbaut ist. Aus den heruntergestürzten Kartons packt die Soldateska moderne automatische Waffen aus. Wozu sie die brauchen? Auf den Kartons der umstehenden Wände sind in dicken Chiffren die Jahreszahlen der Kriege bis in die jüngste Vergangenheit aufgedruckt. Dazu braucht man immer wieder Waffen. Es erschließt sich dem historisch Interessierten aber nicht, warum dabei die Kriege zwischen dem Dreißigjährigen und dem Einigungskrieg 1870/1871 ausgelassen sind, die in ihrer Summe (Erbfolgekriege, Napoleonische Kriege, Befreiungskrieg) nicht weniger verheerend waren als die großen Weltbrände. In der so „ummauerten“ zerstörten Landschaft wohnt der Einsiedel, der hier ein desertierter Soldat ist, an posttraumatischen Belastungsstörungen leidet und sich am Ende die Kugel gibt.

Hans-Otto Weiß (Bauer); Marie-Christine Haase (Simplicius); Chor

Während des Umbaus zur dritten Szene wird vor dem Vorhang weitergespielt. Dann öffnet sich der Saal zur dritten Szene: die „Halle“ des Gouverneurs zu Hanau ist wieder von Wänden hochgestapelter Kartons umgeben. Es wird klar, womit der seinen Lebensunterhalt verdient: mit Waffenhandel, denn die Kartons sind mit Kalaschnikow-Drucken versehen. (Man erinnert sich an  Olivier Tambosis Mannheimer Rosenkavalier-Inszenierung von 2004, in welcher das Stadtpalais des „Edlen“ von Faninal von oben bis unten mit dessen Handelsware dekoriert ist: hübschen Kanonenrohren.) Und wie der schöne Pelzmantel des Gouverneurs zeigt, muss auch dieser keine Not leiden. Ein dramaturgisch eher deplatzierter Einfall der Regisseurin Elisabeth Stöppler, der jeder Logik entbehrt und mit dem sie sich weiterer Möglichkeiten der Personenführung begibt, besteht darin, in der dritten Szene die Figur der „Dame“ mit der des Simplicissimus zusammenzulegen, indem sie diesem ein aufgeblasenes Gummikostüm mit den überdrallen Formen einer teilentblößten Frau überziehen lässt. Die „Dame“ muss ihre entwürdigenden Tänze aufführen und sich das Couplet „Hei, lüderlich sind alle Weiber" anhören, ehe sich aus ihr der Simplicius herausschält und zum Hofnarren des Gobernators promoviert wird. 

Am Ende der Oper präsentiert Hartmann seine aus der Vorhistorie gewonnene Vision. Die Odenwälder Bauern mit dem Lied „Als Adam grub und Eva spann, wo war da der Edelmann?“ machen alles nieder. Mit diesem Lied forderte der Priester John Ball im 14. Jhdt. in England die Aufhebung der Standesgrenzen; es wurde in den deutschen Bauernkriegen des 15. und 16. Jhdts aufgenommen und fand Eingang ins Liedgut der bündischen Jugend: („Wir sind des Geyers schwarze Haufen“) und zwar sowohl der rechts- als auch der linksgerichteten, es war Liedgut der SS und wurde (das konnte Hartmann noch nicht wissen) auch von der NVA in der DDR gesungen. Die Vision einer solchen „freien“  Gesellschaft hatte Bertold Brecht allerdings schon 1928 kommentiert: „Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.“ Hartmann, auf der Suche nach künstlerischer Entfaltung in einem nicht-repressiven, nicht-restaurativen Umfeld ging nach der Teilung gar auf die Abwerbeversuche der DDR-Kulturpolitik ein. Allerdings roch er den Braten und blieb im goldenen Westen.

oben: Heikki Kilpeläinen (Landsknecht), Hans-Otto Weiß (Bauer); unten: Chor

Mit diesem beziehungsreichen Ende schließt sich der Kreis dieser 90-minütigen Oper, die teilweise Kammerspiel-Charakter hat und daher vom Staatstheater im kleinen Haus aufgeführt wurde. Die Regisseurin  Elisabeth Stöppler hat das Geschehen in eine zeitlose Gegenwart verlegt. Neben Annika Hallers Kartonwelt zeugen davon vor allem die Kostüme von Frank Lichtenberg, der uns Personen in Kleidungen zeigt, wie sie uns täglich im Baumarkt, aber auch auf Demos der Blockupy begegnen können: ohne jeglichen Charme. Die Regie hält die Figuren in steter Bewegung, geht (bis auf die verfehlte Tänzerin) in eher zurückhaltendem Realismus auf die Leute und ihr Umfeld ein und legt eine im Ganzen stringente und überzeugende Regiearbeit vor, die zusammen mit Musik und Sprache zu einem nachhaltigen Ganzen zusammenfindet.

Alexander Spemann (Einsiedel); Marie-Christine Haase (Simplicius)

Von Hartmann ist diese Oper, die zwar selten aber regelmäßig aufgeführt wird und in etlichen Tonträger-Aufnahmen zu haben ist, wohl das bekannteste Werk. In seiner Musik verarbeitet er – wieder politisch beziehungsreich – verschiedene stilistische oder auch direkte Zitate und gerade solche von Komponisten, die bei den Nazis verfemt waren. Ohne dass man Hartmann des Eklektizismus zeihen könnte, hört man: Schönberg, Strawinsky, Prokofjew und gar den jüdischen Volksgesang zum Passah-Fest („Elijahu Hanavi“). Dazu kommt fast leitmotivartig das deutsche Renaissance-Lied „Innsbruck, ich muss Dich lassen“ (Heinrich Isaac) in der Bachschen Vertonung, die als „Nun ruhen alle Wälder“ Eingang in die evangelischen Gesangsbücher gefunden hat. Im Orchestergraben ist jedes Instrument des klassischen Orchesters vertreten, aber jeweils nur einmal. Hermann Bäumer leitete dieses 13-köpfige Ensemble des Philharmonischen Staatsorchesters, das naturgemäß sehr transparent aufspielt und sowohl auch bei den vielen Soli als auch bei den symphonisch wirkenden Tutti  die Qualität der Musiker unter Beweis stellt. Der Schlagzeuger Alexander Mazcewski – das war eine gute Idee – übernahm mit verschiedenen Instrumenten (große, kleine, Landsknechtstrommel) ausgerüstet die Rolle des Sprechers auf der Bühne. Dass seine Aussprache nicht so perfekt war wie sein Spiel, konnte man ihm leicht nachsehen.  Nicht zum Charakter eines Kammerspiels passte der große Chor, dessen Herren durch den Extrachor verstärkt waren. Ein Teil sang grundierend ohne Text hinter den Kulissen, der andere Teil, das teilnehmende Volk, in verschiedenen Konstellationen auf der Bühne, vor dem Vorhang oder im Saal. Da klappte es mit den Einsätzen noch nicht ganz präzise; und bezüglich der Sprachverständlichkeit fehlte auch ein Quäntchen Genauigkeit. (Einstudierung: Sebastian Hernandez-Laverny). So hätte man selbst bei den gesprochenen Passagen die Übertitelung weiter laufen lassen sollen.

Jürgen Rust (Gouverneur)

Die Passagen für die Solisten sind in einer Folge von Sprache, (teils psalmodierende) Deklamation, Bänkelgesang und Gesang gesetzt, was die Sänger vor vielfältige Aufgaben stellte, mit denen sie - sämtlich aus dem Ensemble des Staatstheaters besetzt, das den Intendantenwechsel größtenteils vor Ort überleben durfte – durchweg gut zurecht kamen. Die lyrische Koloratursopranistin Marie-Christine Haase, seit  Beginn der Spielzeit 2014/15 festes Ensemblemitglied des Staatstheaters Mainz, hatte die Titelrolle schon an alter Wirkungsstätte in Osnabrück gesungen; manchmal etwas spitz im Recitar, dafür mit glühend warmen leuchtenden Höhen. Hans-Otto Weiß gab seinen kurzen Auftritt im ersten Bild mit sonorem Bass, den er auch in den gesprochenen Passagen sehr gut und klar zur Geltung brachte. Heikki Kilpeläinen brachte als Landsknecht seinen voluminösen, runden Bassbariton vorteilhaft zur Geltung und setzte sich schauspielerisch überzeugend ein. Als Einsiedel präsentierte Alexander Spemann sein festes, klares Tenormaterial, etwas monochrom zwar, aber in dieser Färbung wie auch im Spiel der Rolle durchaus angemessen. Stefan Bootz ließ sich vom Intendanten als indisponiert ankündigen; aber in der Rolle des kalten, zynischen Hauptmanns war das seinem fokussierten kräftigen Bassbariton kaum anzumerken. Im Saal des kleinen Hauses braucht man zudem keine volle Kraft. Jürgen Rust als Gouverneur mit weichem tief timbriertem Tenor hatte sängerisch nur eine kleine Rolle. 

Großer Beifall aus dem sehr gut besuchten Hause nach der neunzig-minütigen eindringlichen Vorstellung. Weitere Vorstellungen am 23.10.2014, 30.10.2014, 2.11.2014, 17.11.2014, 25.11.2014

Manfred Langer, 19.10.2014                                  Fotos: Andreas J. Etter

  

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Eine empfehlenwerte Einspielung hat BR Klassik herausgebracht; die CDs sind beim Opernfreund auf der Seite CDs Opern besprochen

 

 

 

 

 

Schön, aber wenig aufregend

THE FAIRY QUEEN

Besuchte Aufführung: 5. 10. 2014 (Premiere: 2. 10. 2014)

Spartenübergreifendes Abrutschen in die Konventionalität

Eine Neuproduktion von Purcells „The Fairy Queen“ läutete am Staatstheater Mainz die neue Intendanz von Markus Müller ein. Das im Jahre 1692 uraufgeführte Werk beruht auf Shakespeares gegen Ende des 16. Jahrhunderts - wann genau ist nicht überliefert - aus der Taufe gehobenem „Sommernachtstraum“. Purcells Oper war damals in hohem Maße geeignet, das Stück des Meisters aus Stratford einem breiten Publikum wieder bekannt zu machen, nachdem es auf Befehl Cromwells aufgrund seines losen Inhalts fast hundert Jahre in der Versenkung verschwunden war. Auch für die Oper waren unter Cromwell schwere Zeiten angebrochen. Die Republikaner konnten mit dieser Kunstform nichts anfangen und verboten sie kurzerhand. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts begann sich die Lage wieder zu entspannen. Die Oper an sich, in der Emotionen nur durch die Musik vermittelt wurden, war zwar nach wie vor verpönt. Aber gegen die Aufführungen von reich mit Musik garnierten Schauspielen, in denen die Gefühle immer noch vom gesprochenen Text transportiert worden, hatte die Obrigkeit damals nichts mehr einzuwenden. So entwickelte sich die sog. Semi-Opera, als deren herausragender Vertreter Purcell gilt und dessen „Fairy Queen“ ein Musterbeispiel dieser Gattung ist. Sie brachte ihm neben einigen seiner anderen Kompositionen hohen Ruhm ein. Nach wie vor unbekannt ist indes der Verfasser der Bearbeitung des „Sommernachtstraums“ für die Semi-Opera. John Dryden, Elkanah Settle und Thomas Betterton kommen in Frage, ihre Autorenschaft lässt sich aber nicht nachweisen. In dieser Beziehung muss alles Spekulation bleiben.

Vida Mikneviciute (Helena), Gili Goverman, Alessandra Corti und Maasa Sakano (Tänzer)

Das in der „Fairy Queen“ wie auch allgemein in Semi-Operas als Stilprinzip dominierende Potpourri aus Gesang, Schauspiel und Tanz entsprach voll und ganz Markus Müllers Intention, zu Beginn seiner Mainzer Intendanz sämtliche Sparten des Staatstheaters in einer gemeinsamen Produktion zu vereinigen. Die Entscheidung für Purcells Werk als Eröffnungspremiere war mithin gut getroffen. Diese Wahl ist programmatisch zu verstehen: „Wir möchten, dass die Sparten nicht bloß nebeneinander her, sondern immer wieder auch miteinander spielen“ schreibt Müller im Jahrbuch. In dieser Beziehung ist seine Rechnung dann auch voll und ganz aufgegangen. Was an diesem Nachmittag über die Bühne ging, war ein quicklebendiges Miteinander von Opern-, Schauspiel- und Tanzensemble, wobei die Musik entgegen der ursprünglichen Intention Purcells wieder Teil der dramatischen Handlung wird. Insoweit hat man sich in Mainz von der Historie wieder entfernt, um die Bedürfnisse der drei Sparten auf einer gleichgeschalteten Ebene erfüllen zu können. Purcells Werk wird nicht in der ursprünglichen Reihenfolge erzählt, sondern erfährt eine Umstellung, die es erlaubt, den Focus auch während der Gesangseinlagen nachhaltig auf die vielfältigen Emotionen der Handlungsträger zu legen. Gesungen wurde dabei in der englischen Originalsprache; die deutsch gesprochenen Dialoge folgten der Übersetzung von August Wilhelm von Schlegel, die aufgrund ihrer romantischen Ausrichtung zu Purcells musikalischer Sprache ausgezeichnet passte.

Alexandra Samoulidou (Sopran)

Für die Inszenierung konnte der Regisseur und Choreograph Jo Stromgren gewonnen werden, dem eine insgesamt durchaus schlüssige Verzahnung aller beteiligten Sparten gelang. Um dem Zuschauer den Überblick über die etwas verworrenen Handlungsstränge zu erleichtern, hat er zusammen mit dem Mainzer Dramaturgen Lars Gebhardt eine neue Textfassung des Werkes kreiert und erstmal radikal den Rotstift angesetzt. So strich er beispielsweise sämtliche Szenen der Handwerker. Die Aufführung dauerte dann mit ca zwei Stunden reiner Spielzeit gerade mal halb so lang wie zu Purcells Zeiten. Gekonnt nahm er eine Komprimierung des Geschehens vor und legte das Schwergewicht seiner Deutung auf die Liebespaare. In erster Linie geht es ihm um eine eingehende Beleuchtung der das Stück ausmachenden diversen Liebesformen der Menschen und der aus dem hohen Norden kommenden Elfen. Einfühlsam werden hier die aufflammende erste Liebe zwischen den beiden Menschenpaaren und die altgediente, zur bloßen Routine erstarrte Ehe des Elfenkönigspaares einander gegenübergestellt. Insbesondere der dämonisch gezeichnete Oberon ist eher ein traditioneller Alberich als ein mehr oder weniger liebevoller Elfenkönig. Als Verwandte von Wagners Schwarzalben sind die Feenwesen als Projektionen menschlicher Ängste und damit nicht real aufzufassen. Feuerbach lässt grüßen. Puck stammt aus dem Tanzensemble und stellt eine Mischform aus Wolf und Hund dar. 

Die Gedanken, die Stromgren sich über das Stück gemacht hat, sind durchaus berechtigt. Auch technisch ist ihm nicht das Geringste anzulasten. Er versteht sein Handwerk. Sänger und Schauspieler vermag er solide zu führen und die zwischenmenschlichen Beziehungen mit einer guten Prise Ironie und einem gehörigen Schuss an humorvollem Witz aufzuladen. Noch ausgeprägter sind seine Fähigkeiten indes auf dem choreographischen Sektor. Hier wartet er mit einem beeindruckenden Gemisch aus Ausdruckstanz, traditionellem Pas de deux und einigen tänzerischen Sporteinlagen auf, die man fast schon als akrobatisch bezeichnen könnte. Die vielfältigen Tänze und Pantomimen hatten einen starken assoziativen Charakter. In diese Richtung gingen auch von Sopran-, Tenor- und Basssolisten verkörperte Allegorien von diversen Gefühlszuständen und Jahreszeiten. So weit, so gut.

Klaus Köhler (Oberon), Alin-Ionut Deleanu (Lysiander). Lilith Häßle (Hermia)

Dass die Produktion insgesamt dennoch nicht sonderlich zu überzeugen vermochte, verdankte sich dem allzu biederen, traditionellen Ansatzpunkt des Regieteams. Von einer Modernisierung wurde gänzlich Abstand genommen. Die Handlung spielt nach wie vor in Griechenland, in dem die Protagonisten in von Bregie van Balen geschaffenen antiken Tuniken erscheinen und ihre Händeleien in einem altgriechischen Ambiente mit reflektierendem Boden, ionischer Säule und einigen Säulenfragmenten austragen. Stephan Ostensens derart altmodisch ausgestatteter Bühneraum erfuhr darüber hinaus eine von Stefan Bauer vorgenommene ästhetisch ansprechende Beleuchtung. Wenn es nur das gewesen wäre. Dazu kam aber noch, dass Stromgren die Errungenschaften des modernen Musiktheaters anscheinend überhaupt nicht zu schätzen weiß. Er hat zu Purcells Werk überhaupt nichts zu sagen und beschränkt sich darauf, die Handlung belanglos und ohne sonderlichen Tiefgang, wenn auch frisch und munter, nachzuerzählen. Das ist nicht gerade originell. Zudem hält der Regisseur die Protagonisten bei den gesprochenen Texten zu einem überholten, heute nicht mehr gefragten pathetischen Deklamieren an, vom dem sich heutige ernstzunehmende Schauspielschulen längst und zu Recht zugunsten eines psychologischen Realismus entfernt haben. Diese Art, auf der Bühne zu sprechen, wirkte ziemlich altbacken. An diesem Nachmittag wurde Unterhaltung ganz groß geschrieben, der intellektuelle Faktor dagegen gänzlich ausgespart, was schade ist. Insgesamt haben wir es bei dieser Produktion mit einem spartenübergreifenden Abrutschen in die Konventionalität zu tun, das wenig aufregend war und dem in den vergangenen Jahren gepflegten ausgesprochen modernen szenischen Kurs des Staatstheaters Mainz eine rigorose Absage erteilte. Es bleibt zu hoffen, dass diese wenig geglückte „Fairy Queen“ eine Eintagsfliege bildet und die folgenden Mainzer Opern-Inszenierungen wieder etwas zeitgenössischer ausfallen werden.

Tanzensemble

Eine hervorragende Leistung erbrachten Andreas Spering und das Philharmonische Staatsorchester Mainz, die sich den Duktus von Purcells Partitur trefflich zu eigen gemacht hatten und auf Originalinstrumenten recht schmiegsam und farbenreich zu Gehör brachten. Die herrlichen Streicher-Kantilenen erklangen in gleichem Maße intensiv und gefühlvoll wie die Ausbrüche von Pauken und Trompeten fulminant. Dabei verlor der Dirigent die profunde Basslinie der tiefen Streicher nie aus dem Auge. Der von ihm und den Musikern erzeugte Klangteppich war dabei kein original barocker, sondern diesem musikalischen Stil lediglich angenähert. Hervorzuheben ist weiter die prägnante Rhythmik, die Spering trefflich herausgearbeitet hat, sowie die gute Diktion der Orchesterstimmen. 

Trefflich aufeinander eingespielt war das gemischte Ensemble, das von zwei hochrangigen Sängerinnen angeführt wurde. Alexandra Samoulidou sang mit phantastisch fokussiertem, in jeder Lage sauber ansprechendem und sehr emotional geführtem Stimmmaterial den Sopran. Sie stellt eine ganz große Hoffnung in ihrem Fach dar. Mit der Helena hatte sich die schon oft bewährte Vida Mikneviciute stark von ihren sonstigen Rollen entfernt, überzeugte aber auch hier mit wunderbar italienisch geschultem, kräftigem und ausdrucksstarkem Prachtsopran, den sie ausgesprochen nuanciert einzusetzen wusste. Ihre sehr gefühlvoll gesungene Arie im zweiten Teil war der Höhepunkt des Nachmittags. Einen mächtigen, robusten Bass brachte Georg Lickleder in die Partie des allegorischen Bassisten ein. Reichlich dünn und überhaupt nicht im Körper intonierte Michael Pegher den Tenor. Mit nicht gerade ansprechendem, dünnem und unnatürlich klingendem Countertenor gab Alin-Ionut Deleanu den Lysiander.

Michael Pegher (Tenor), Mattia De Salve (Puck), Ruben Albelda Giner (Indischer Knabe), Andrea Quirbach (Titania)

Auf der Schauspielerseite überzeugte Klaus Köhler in der Doppelrolle des dunklen Oberon und des seitens der Regie etwas komisch angelegten Theseus. Neben ihm bewährte sich Andrea Quirbach als resolute Titania und Hippolyta. Bestens besetzt war auch Clemens Dönicke, der in der Partie des Zettel einiges zu leiden hatte und den Egeus einfach köstlich als herrlich verdeppten Einfaltspinsel gab. Ansprechend spielte Lilith Häßle die Hermia. David Schellenberg legte den Demetrius reichlich stolz und selbstsicher an. Ein Extralob gebührt dem Tanzensemble mit Mattia De Salves grandiosem Puck an der Spitze. In die kleine Partie des indischen Knaben war Ruben Albelda Giner geschlüpft. Auf der Haben-Seite der Aufführung bewegte sich ferner der von Sebastian Hernandez-Laverny trefflich einstudierte Chor. 

Ludwig Steinbach, 8. 10. 2014          Die Bilder stammen von Andreas J. Etter

 

 

 

 

Fulminant in die neue Saison gestartet

THE FAIRY QUEEN

Premiere am 02.10.2014

Rundum gelungener Purcell:  spritzige Komödie und Klassik-Parodie

1692 wurde Purcells The Fairy Queen, eine von seinen drei noch regelmäßigen masques oder semi-operas in London uraufgeführt. Das Werk beruht auf Shakespeares Sommernachtstraum, das gut 100 Jahre früher herauskam. In der Restaurationsperiode in England  nach der puritanischen Zwischenspiel hatten Theater und Musik wieder an Zuspruch gewonnen. Shakespeares Komödie, die nicht zuletzt dadurch fast in Vergessenheit geraten war, dass die dort beschriebenen lockeren Sitten dem Cromwell-Regime gar nicht passten wurde nun plötzlich mit musikalischem Interesse wieder ausgegraben. Wer der Textautor der Oper war (Thomas Betterton oder John Dryden) ist nicht gesichert. Die Ur-Fassung für Purcells Werk ist gegenüber dem Shakespeare-Original schon stark gekürzt. Die nun in Mainzer vorgestellte Fassung ist noch weiter gekürzt worden und kommt auf eine reine Spielzeit von gut zwei Stunden. Die „Handwerker“-Szenen („Rüpel“ oder „Bergamasker“) sind gestrichen. Der deutschen Dialogfassung, die Jo Strømgren und Lars Gebhardt angefertigt haben, liegt die Übersetzung von August Wilhelm Schlegel zugrunde. 

Semi-operas stellen eine Mischform aus Schauspiel, Gesang, Musik-Einlagen, Pantomimen und Tanzmusik dar. Somit sind an einem Dreispartentheater Tanz, Oper, Orchester und Schauspiel eingebunden. Es war eine sehr gelungene Geste des neuen Mainzer Intendanten Markus Müller, bei der ersten Premiere des Staatstheaters alle seine Sparten vorzustellen und das gleich in einer so gelungenen Produktion.

in der Mitte: Alexandra Samouilidou ("Sopran"), Ballett (Elfen); hinten: Klaus Köhler (Oberon) mit Flitspritze

Inszenierung und Choreographie der Produktion hatte Jo Strømgren übernommen. Es gelang ihm, den Wirrwarr der Shakespeare-Komödie einigermaßen klar und verständlich auf die Bühne zu bringen, was a priori keine leichte Aufgabe ist. Allerdings wurde dazu auch kräftig gekürzt. Dennoch empfiehlt es sich, dass die Besucher sich vor der Vorstellung aus dem Programm über die auftretenden Figuren informieren, denn es wird nicht wie in klassischen Theaterstücken das Personal vorgestellt, sondern es ist einfach da. Erst kommen die Schauspieler; da folgt man ohnehin gut, dann kommt Instrumentalmusik, die einen gleich in ihren Purcell-Zauber zieht, dann kommen die wenigen Sänger: nur zwei Individuen, dazu drei, die wie Allegorien ihre Kommentare und Wünsche formulieren. Eine Gruppe von zwölf Tänzerinnen und Tänzern spielte teilweise ganz konkrete Rollen, wirkt in weiteren Szenen aber auch abstrakt zur Ballettmusik. 

Shakespeare hat die Handlung seines Stücks in einen Wald bei Athen gelegt, wo neben den antiken Figuren auch solche aus der nordischen Mythologie auftreten (Oberon, Puck, Elfen). Eine ganz einfache Szenographie (Bühnenbild Stephan Østensen) bot den geeigneten, antikisierenden Rahmen für die Aufführung. Auf der spiegelglatten Bühne waren die entsprechenden Requisiten aufgestellt: antike Säulenstümpfe, eine umgestürzte ionische Säule und dazu je nach Szenenbild ein paar silbrige Büsche. Eine große als Bühnenprospekt aufgespannte Leinwand diente als Reflexionswand für verschiedene farbige Beleuchtungseffekte oder zeigte einfach einen blauen Himmeln mit Federwolken (sehr wirksam: Licht Stefan Bauer). Dazu kam die antiken Mustern nachgebildete Kleidung der Hauptdarsteller der Kostümbildnerin Bregje van Balen, die zudem das Ballett in verschiedene fantasievolle Kostüme gesteckt hatte; besonders attraktiv die als fauchende Kobolde auftretenden Elfen der Ballettgruppe. Puck ist ein hundeähnliches Fabeltier; der sowohl von  Oberon als auch Titania begehrte „indische Junge“ eine hochgewachsene schlanke Fakir-Figur.

Vida Mikneviciute (Helena); Kikith Häßle (Hermia); Alin-Ionut Deleanu (Lysander); Ballett

Humor und Witz waren bestimmende Elemente der quirligen, spritzigen Regiearbeit. Die führte auch bis zum Ulk, blieb aber stets in genügendem Sicherheitsabstand zum Klamauk. Da die ganze Handwerker-Aufführung (Pyramus und Thisbe) gestrichen ist, haben sich Dramaturgie und Regie weiterer inszenatorischer Möglichkeiten des Stücks beraubt, die gerade gegen Ende des Stücks die Szene noch einmal ordentlich aufmischen könnte. Da kommt das Ende mit seiner klassischen Jubelszene fast unvermittelt, aber in einer sehr schönen Bühnenästhetik, in der alle Mitwirkenden sich noch einmal wie zu einem vorweggenommenen Schlussapplaus aufbauen dürfen. 

Im Vergleich zu dem, was heute vielenthalben auf den Schauspielbühnen zu sehen ist, setzte Strømgren die Schauspieler recht dezent ein. Kein Geschrei, keine Farbbeutel, sondern sehr manierliches, bestens verständliches Sprechen und szenenwirksames Interagieren durch eine gekonnte Personenregie. Das ging auch bis hin zu klassischem Posieren und Deklamieren,  allerdings ironisierend und  parodierend - dem Sujet angemessen. Für den in der Schauspielkunst nicht so versierten Opernfreund blieben hier keine Wünsche offen. Klaus Köhler und Andrea Quirbach verkörperten die beiden Paare Theseus/Hippolyta sowie Oberon und Titania überzeugend differenziert ohne jegliche Stereotypen und drückten  sogar stimmlich die Unterschiede zwischen diesen beiden Paaren aus. In den beiden Rollen Egeus und Zettel war Clemens Dönicke besetzt, der dem Egeus die typischen, etwas trotteligen Züge verlieh und sich leider als Zettel heftige Misshandlungen seitens Titania gefallen lassen musste, die sich entsprechend Pucks Interventionen diesem zum Geliebten und Leibeigenen machen durfte. Sehr selbstüberzeugt als Demetrius trat  David Schellenberg auf, aber sein hohler Pathos wich bald irdischer Eifersucht. Lilith Häßle gab eine klassisch auftretende Hermia. Die Textpassagen wurden auf Deutsch gesprochen.

Klaus Köhler (Oberon); Clemens Dönicke (Zettel); hinten: Mattia De Salve (Puck)

Im Gesang ging es librettogetreu auf Englisch mit deutscher Übertitelung über. Dem als  Lysander überzeugenden Alin-Ionut Deleanu waren sowohl Gesangs- als auch Sprechpassagen zugeordnet. Mit seinem weich ansprechenden warmen Counter ohne großes Volumen bewältigte er klangschön die Gesangslinien, und – erstaunlich genug – ging mit seiner Stimme bei harten Sprecheinsätzen im baritonalen Naturregister nicht gerade sanft um. Die Helena wurde von Vida Mikneviciute gesungen; ihre Stimme ist für Barockgesang nicht ausgebildet; aus ihrem an sich schönen Sopran-Fundament entwickelte sie keine klaren Gesangslinien und blieb in ihrem Lamento unter den Möglichkeiten der Partitur. Das Publikum spendete ihr dennoch Szenenbeifall. Daneben gab es die im Programm als Sopran, Tenor und Bass bezeichneten Sänger, denen verschiedene Rollen von Allegorien und Gottheiten zugeteilt waren. Alexandra Samouilidou intonierte mit weich ansprechendem und geschmeidigem Sopran; Michael Pegher  sang die Tenor-Rolle mit baritonalem Timbre und schlanker Stimmgebung sauber aus. Georg Lickleders  runder, voluminös ausladender Bass entsprach seiner mächtigen Figur.

Klaus Köhler (Oberon); Alin-Ionut Deleanu (Lysander); Lilith Häßle (Hermia)

Ein Ensemble aus dem Philharmonischen Staatsorchester Mainz unter der Leitung des ausgewiesenen Barockspezialisten Andreas Spering ließ mit Original-Instrumenten ergänzt vom ersten Moment an einen seidigen Purcell-Klang ertönen. Allerdings war dieser „erste Moment“ nicht genau definiert, denn  wie zu Purcells Zeiten üblich  hatte Spering bei noch beleuchtetem Saal schon den Taktstock gehoben, als sich noch nicht alle gesetzt hatten, die Zuspätkommer sich durch die Reihen zwängten und die Mainzer sich noch in angeregter Unterhaltung befanden. Dafür war es umso besser, was er dem Orchester entlockte: süffige Streicherklänge; die in Kleinintervallen fallenden Basslinien für die traurigen Passagen oder auch die markanten von den tiefen Streichern vorgetragenen Ostinati, über welche der Gesang gesetzt war: Markenzeichen von Purcells Musik. Bis hinein mit den für Pauken und Trompeten bestückten Triumpf-Passagen war das immer tadellos präzise und konzentriert musiziert.

Ballett

Auch die Tänzer bewiesen hohes Niveau. Manierierter Barocktanz wurde nicht gezeigt, aber ein breites Spektrum von Ausdruckstanz über gelungene Gruppen-Choreografien und perfekte turnerische Einlagen bis ein an den klassischen Tanz angelehntes Pas de deux. Herrlich die Elfen als fauchende Kobolde und die gelungenen Tierpantomimen. Den meisten Beifall von allen aber bekam der italienische Tänzer  Mattia De Salve als Puck, stumme Rolle als hundeähnliches wildes Tier in Szene gesetzt;  mit muskulös gestähltem Körper spielte De Salve den Puck, scheuchte das Bühnenpersonal mit erschröcklichem Auftreten, arbeitete aber hündisch treu seinem Herrn Oberon zu, dem er eine übergroße Flitspritze hinterhertrug, mit welchem Oberon die Gefühle der Protagonisten manipuliert. 

Das Publikum im vollen Haus spendete begeisterten Beifall für den gelungenen ersten Abend unter der neuen Intendanz: so kann es weiter gehen.  Mit der Fairy Queen geht es erst einmal weiter mit Vorstellungen am 5., 10., 12., 19. und 29. Oktober. Danach gibt es noch weitere Termine. Gesamturteil: unbedingt hingehen!

Manfred Langer, 03.10.14                                      Fotos: Andreas J. Etter

 

 

 

OPERNGALA

am 13. 9. 2014

Das neue Ensemble stellt sich vor

Am Staatstheater Mainz hat ein Wechsel an der Führungsspitze stattgefunden. Seit Beginn der aktuellen Spielzeit ist Markus Müller als neuer Intendant für die Geschicke des Hauses verantwortlich. Wie immer, wenn an einem Theater der Chefsessel neu besetzt wird, hat das auch Auswirkungen auf das Ensemble. Müller hat einige der alten Mainzer Sänger übernommen, viele aber auch aus Oldenburg mitgebracht oder neu engagiert. An diesem Abend stellten sich die neuen und teilweise auch alten Gesangssolisten/innen im Rahmen einer Operngala dem zahlreich erschienenen Publikum vor. 

Den Auftakt des von Müller selbst lustvoll und heiter moderierten Konzerts bildete die Fourth Act Symphonie aus Henry Purcells „The Fairy Queen“, die am 2. 10. 2014 im Großen Haus Premiere hat. Samuel Hogarth und das bestens disponierte Philharmonische Staatsorchester Mainz erzeugten einen von großer Frische geprägten, mit Pauken und Trompeten gespickten eindringlichen Barock-Klang. Im Folgenden waren aus dem spartenübergreifenden Werk, das sowohl Sänger als auch Schauspieler und Tänzer einbezieht, noch weitere Ausschnitte, ebenfalls unter Hogarths musikalischer Leitung zu hören. Mit nicht gerade tiefgründigem, ausgesprochen kopfigem Altus sang Alin-Ionut Deleanu die Arie „One charming night“. In dem Duett „A thousand thousand ways“ war der mit solidem, tief gestütztem Bass singende Georg Lickleder seinem sehr dünn und überhaupt nicht in Körper singenden Tenor-Kollegen Michael Pegher überlegen. 

Die zweite Premiere unter der neuen Intendanz gilt Karl Amadeus Hartmanns selten gespielter Oper „Simplicius Simplicissimus“, die am 18. 10. 2014 im Kleinen Haus Premiere hat. Aus diesem interessanten Werk sang der über tadelloses, gut gestütztes Tenor-Material verfügende Alexander Spemann, der in Mainz indes kein Unbekannter mehr ist, einleitend die Arie des Einsiedel „Komm, Trost der Nacht“. In seiner Szene mit Simplicius „So geht das schnöde Leben“ stand ihm die mit recht variablem Stimmsitz häufig recht maskig klingende Marie-Christine Haase als Partnerin zur Seite. Begleitet wurden sie von GMD Hermann Bäumer.

Mit Ausschnitten aus Verdis „La Traviata“, die am 14. 9. 2014 wiederaufgenommen wird, präsentierten sich überwiegend einige Sänger, die schon länger zum Mainzer Opernensemble gehörten. Den Anfang machte das Duett „Parigi, o cara“, in dem die schon oft bewährte Vida Mikneviciute mit hervorragender italienischer Technik und hoher Ausdrucksintensität eine phänomenale Violetta sang. Den Alfredo gab mit hellem, solide gestütztem und prägnantem Tenor Neuzugang Eric Laporte. Anschließend gab Heikki Kilpeläinen mit ebenfalls gut italienisch fundiertem Bariton, den er sehr nuancenreich und teilweise recht bedächtig zu führen verstand, ein herrliches „Di Provenza“. Am Pult bei beiden Titeln stand wieder GMD Hermann Bäumer, der das Werk diese Saison betreuen wird. Er dirigierte als letzte Nummer vor der Pause auch mit großem Schmiss, frisch und gut akzentuiert das Vorspiel aus Wagners „Meistersingern“, deren Neuproduktion in Mainz am 26. 4. 2015 über die Bühne gehen wird.

In ebenfalls traditionellen Bahnen bewegten sich die zu Beginn des zweiten Teiles folgenden beiden Darbietungen aus Rossinis „Il barbière di Siviglia“, der in Mainz am 26. 10. 2014 eine Neuinszenierung erfährt. Mit gut verankertem, flexiblem Bariton und sicherem hohem a sang Brett Carter die Cavatine des Figaro „Largo al factotum“. Übertroffen wurde er von Geneviève King, die mit prachtvoll ausladendem, sehr energiegeladenem und in den Koloraturen recht flexibel und gewandt geführtem dunklem Mezzosopran und sicherer Höhe die Arie der Rosina „Una voce poco fa“ sang. Paul Johannes Kirschner und das gut gelaunte Orchester steuerten einen leichten, lockeren und spritzigen Rossini-Klang bei. 

Anschließend erklang unter der Leitung von Sebastian Hernandez-Laverny, der an diesem Abend auch für die gelungene Choreinstudierung verantwortlich zeigte, mit enormer Fulminanz die John Williams’ „Querbeet“ - Premiere ist am 21. 11. 2014 - entnommene Star Wars Suite. Peinlich für das Theater war, dass das Programmheft von den Daten her den 1932 geborenen Komponisten mit dem gleichnamigen, bereits 1994 verstorbenen Autoren verwechselte. So etwas darf nicht vorkommen!

Interessant zu werden verspricht auch die deutsche Erstaufführung von Pascal Dusapins „Perela“, für die man sich im Terminkalender den 16. 1. 2015 freihalten sollte. Unter der erneuten Stabführung von GMD Hermann Bäumer gaben Peter Felix Bauer, den die Mainzer vor einigen Jahren bereits als Klingsor in Wagners „Parsifal“ erleben konnten, und der alteingesessene Ks. Hans-Otto Weiß mit teilweise stark komischem Ausdruck die Szene der Wachen.

Zum Höhepunkt des Abends gestalte sich die Arie „Vous voyez“ aus Luigi Cherubinis Oper „Médée“. Es ist Markus Müller hoch anzurechnen, dass er diese überaus beeindruckende Oper, die aber sehr selten gespielt wird, ab dem 13. 6. 2015 in den Spielplan aufnimmt. Das ist eine echte Rarität, die man sich auf gar keinen Fall entgehen lassen sollte - noch dazu, weil sich Nadja Stefanoff, die man noch aus ihrer Zeit in Bremen, wo sie sowohl Partien des Sopran- als auch des Mezzo-Fachs sehr erfolgreich gesungen hat, in hervorragender Erinnerung hat, als Idealbesetzung für die Titelpartie erweisen könnte. Das „Vous voyez“ sang sie mit glutvoller, lodernder Dramatik und viel vokalem Feuer, wobei ihr Paul Johannes Kirschner und die Instrumentalisten trefflich zur Seite standen. Diese ausgezeichnete Sängerin, die in Bremen einen der ersten Plätze an der Sängerinnenspitze einnahm, für Mainz gewonnen zu haben, kann sich für das Haus als großes Glück erweisen. Sie wird ab dem 1. 3. 2015 auch als Tosca zu erleben sein. Ihr Scarpia wird Derrick Ballard sein, der an diesem Abend mit mächtigem, bestens fokussiertem Heldenbariton das „Te deum“ aus Puccinis Oper sang.

Als Zugabe ertönte unter der Leitung von GMD Hermann Bäumer, der zuvor auch schon den „Tosca“-Ausschnitt dirigiert hatte, das von allen Beteiligten des Abends mit Schmiss dargebotene Brindisi aus Verdis „La Traviata“. Alles in allem war das ein gelungener, recht informativer Vorgeschmack auf das, was man am Staatstheater Mainz in dieser Spielzeit erwarten darf.

Ludwig Steinbach, 14. 9. 2014

Die Bilder stammen von Andreas J. Etter und Martina Pipprich 

 

 

 

 

Heftig umstrittene Neudeutung

DON GIOVANNI

Premiere: 22. 3. 2014

Im Vakuum der Macht

Ein gewaltiges Buhkonzert musste  Tilman Knabe beim Schlussapplaus über sich ergehen lassen. Wieder einmal war das zahlreich erschienene Premierenpublikum in nicht gewillt, seine Neudeutung von Mozarts „Don Giovanni“ am Staatstheater Mainz zu akzeptieren. Dabei handelt es sich um eine der eindrucksvollsten und kurzweiligsten zeitgenössischen Interpretationen des Werkes, um Musiktheater pur. Knabe hat die Oper gänzlich gegen den Strich gebürstet und praktisch ein ganz neues Stück daraus gemacht. Das ist man von ihm aber gewohnt. Gerade eine solche radikale Vorgehensweise ist es ja auch, die eine Opernproduktion erst richtig interessant macht und ihr den Stempel des Außergewöhnlichen aufdrückt. Und im Gegensatz zu vielen anderen Inszenierungen des Werkes wird es bei Knabe niemals langweilig. Dazu versteht er sein Handwerk zu gut, was auch an den von ihm vielfach verwendeten Brecht’schen und Tschechow’schen Elementen offenkundig wird. Und Sänger hat er schon immer ausgezeichnet zu führen verstanden.

Heikki Kilpeläinen (Don Giovanni), Statistin

Knabe präsentiert eine Mischform aus der Prager und der Wiener Fassung und stellt im zweiten Akt zudem im Interesse eines dichteren dramatischen Gesamtgefüges kurzerhand einige Nummern um. Zudem wird das Schlussensemble gestrichen, dessen erhobener Zeigefinger in seiner Konzeption auch keinen Sinn gemacht hätte. Ausgangspunkt ist für Knabe ein diktatorisches Gewaltsystem der Jetztzeit, dem der Commendatore als weltlich-moralische Machtinstanz vorsteht. Es ist eine gottlose Welt, in der Gewalt und Verbrechen an der Tagesordnung sind und das Leben des Einzelnen nicht gerade hoch im Kurs steht. Die Zustände ähneln denen im Krieg. Eine von Eva Mareike Uhlig mit Sturmhauben und Tarnanzügen versehene, gleichgeschaltete Militärpolizei streift durch Wilfried Buchholz’ als Einheitsbühnenbild konzipierte verbrannte Stadt mit erhöht liegender büromäßiger Machtzentrale und Hotel mit Leuchtreklame, wobei mit Hilfe der Drehbühne ein schneller Wechsel der Handlungsorte gewährleistet ist. Zahlreiche unschuldige Opfer fallen den übertrieben lang anhaltenden Maschinengewehrsalven - eine davon beendet auch mal eine Arie Don Ottavios vorzeitig - dieser mörderischen Truppe zum Opfer, unter ihnen sogar der ein Kreuz tragende Commendatore als gleichermaßen weltliche wie kirchlich-moralische Oberinstanz. Hier wirft der Regisseur einen kritischen Blick auf die Auswüchse einer nur auf sich selbst bedachten, egozentrischen Staatskirche, in der moralische Grundsätze kurzerhand zur Durchsetzung politischer Interessen herhalten müssen. 

Tatjana Charalgina (Donna Anna), Statisterie

Der Tod des Staatschefs hinterlässt ein ausgedehntes Machtvakuum, das es im Folgenden wieder auszufüllen gilt. Es kommt zu einem erbitterten Kampf zwischen den von Knabe umgedeuteten Antipoden Anna und Ottavio. Nicht Liebe ist es, was die beiden jungen Leute zusammenhält, sondern Berechnung und Zweckmäßigkeit. Die vom Commendatore arrangierte Verlobung seiner Tochter mit dem von ihm propagierten, faschistisch gezeichneten Nachfolger im Amt des Staatsoberhauptes Ottavio hat mit Gefühlen überhaupt nichts zu tun, sondern beruht auf dem eiskalten Kalkül zweier gewissenloser Machtpolitiker, die beide nur darauf bedacht sind, den jeweils anderen im Disput um das oberste Amt im Staat auszustechen. Beide erweisen sich als vom Ehrgeiz zerfressene, strategisch denkende Karriereristen übelster Sorte, denen jedes Mittel recht ist, ihr Ziel zu erreichen. Neben Mord und Totschlag gehören auch Lüge und Verleumdung dazu. Darunter hat insbesondere der trefflich dem Frauenhelden Franz Liszt nachempfundene Don Giovanni zu leiden, dem so manches Verbrechen in die Schuhe geschoben wird, das er gar nicht begangen hat, so neben dem Mord am Commendatore auch die angebliche Vergewaltigung der im Aufstellen von wahrheitswidrigen Behauptungen und Spinnen von Intrigen äußerst gewandten Anna, die ihre Ammenmärchen vor laufenden Fernsehkameras eifriger Journalisten sehr überzeugend zum Besten gibt. Sie ist schon ein ganz ausgekochtes, eiskaltes Luder, das jeden Vorteil geschickt zu nutzen und sich obendrein sehr zu profilieren weiß. Der zu Beginn stattfindende Sex zwischen ihr und dem Titelhelden geschieht im beiderseitigen Einvernehmen. Auch an der von Giovannis Feinden nach allen Regeln der Kunst instrumentalisierten Zerlina, einer zarten Grenzgängerin zwischen Bauernstand und Bürgertum, die den groben und ohrfeigenfreudigen Masetto alles andere als gerne heiraten will, vergeht er sich nicht. Er ist den Übergriffen des bösen Paares gnadenlos ausgesetzt. Wie bei diesem gibt es auch in der Gesellschaft keine kittenden Bindeglieder mehr. Der ganze totalitäre Staat ist damit in Auflösung begriffen. 

Hier MainzGiov14n – Tatjana Charalgina (Donna Anna), Thorsten Büttner (Don Ottavio)

Lediglich Don Giovanni, der sich liebevoll um Zerlina kümmert und im dritten Akt sogar die vom Staat gewissenlos ausgebeuteten Armen an seine Tafel lädt, könnte diesen Verfall noch aufhalten. Als Mitglied der Oberschicht nimmt er ungeachtet aller Widersacher eine führende Rolle ein, gestattet sich aber zu viele Freiheiten, die ihm trotz seines adeligen Standes nicht zustehen. Durch seine Handlungen und einen ausgeprägten scharfen Zynismus entlarvt er die fragwürdige Funktionsweise des Gewaltstaates und führt das anrüchige System von Politik und Macht ad absurdum. Ein Revolutionär ist er indes nicht; einen Versuch, an den schlimmen Verhältnissen etwas zu ändern, unternimmt er nie. Er weiß, dass ein derartiges Unterfangen zwecklos wäre, denn die üble Nachrede von Anna und Ottavio hat seinem Leumund zu sehr geschadet. Den Ruf als Verführer vermag er nicht mehr abzulegen. Was ihm in dieser Situation nur noch zu tun übrig bleibt, ist, den Spieß kurzerhand umzudrehen und jetzt seinerseits alles zu tun, um dieser angedichteten Reputation gerecht zu werden. Damit geht er unausweichlich seinem Ende entgegen. Zu Lebzeiten des Commendatore, dessen Bild im zweiten Akt auf einmal lebendig wird, war er noch relativ sicher. Mit dessen Ableben ist nun auch sein Tod bei der Gesellschaft beschlossene Sache, worüber sich Giovanni gänzlich im Klaren ist und den kurzen Rest seines Lebens in einem ausgelassenen Fest noch einmal richtig genießen will. Er erkennt, dass er keine Zukunft mehr hat, und deutet seine mit großer Ausgelassenheit in die Welt gerufene Parole „Viva la libertà“ in die Bereitschaft um, diese Welt, in der die skrupellose Anna schließlich die Herrschaft übernimmt und Ottavio zähneknirschend das Nachsehen hat, freiwillig zu verlassen. Er stirbt einen symbolischen Tod und verlässt die Bühne durch den Zuschauerraum. Das Machtvakuum ist zum Schluss zwar beendet, die Zustände werden aber auch unter der neuen Despotin Anna kaum eine Besserung erfahren. Das war alles hervorragend durchdacht und sehr stringent umgesetzt. Ohne Zweifel stellt Knabes packende, regelrecht unter die Haut gehende Inszenierung einen ganz gewichtigen Meilenstein in der Rezeptionsgeschichte des Werkes dar. Bravo! 

 

Tatjana Charalgina (Donna Anna), Thorsten Büttner (Don Ottavio)

 

Größtenteils hervorragend waren auch die sängerischen Leistungen. Heikki Kilpeläinen gab mit gut sitzendem, prägnantem Bariton einen soliden Don Giovanni. Seine überzeugendsten Momente hatte er an den Stellen, an denen er seine Stimme im Legato weich und geschmeidig dahinfliessen lassen konnte, ohne dabei in einen Parlandostil zu verfallen. Auch darstellerisch war er überzeugend. Keinen sonderlich guten Tag hatte Ks. Hans Otto Weiß, der als Leporello um einiges hinter seinen sonstigen Leistungen zurückblieb. Etwas schwerfällig klang der Commendatore von José Gallisa. In der Rolle des von der Regie nicht gerade sympathisch angelegten, groben Masetto machte der junge Richard Logiewa mit sauber geführtem, gut fokussierten Stimmmaterial nachhaltig auf sich aufmerksam. Seine Leistung war durchaus überzeugend, auch wenn die Tessitura dieser Bassrolle der seiner Stimme nicht entsprach. Er ist aufgrund seines Bruchtons ‚e’ eindeutig ein Bariton und kein Bassist. Indes sei die Vermutung gestattet, dass in Logiewa ein guter Don Giovanni nachwächst. Das Zeug dazu hätte er. Neben ihm sang Saem You mit fein durchgebildetem, trefflich verankertem und farbenreichem Sopran die Zerlina. Sowohl in ihrem Hass als auch in ihrer Liebe zu dem Titelhelden glaubhaft war die Donna Elvira der sonor und tiefgründig intonierenden Patricia Roach. Die gesangliche Krone des Abends gebührte aber dem sich bekriegenden jungen Paar, das an der ungewohnten negativen Weise, wie Knabe sie in Szene setzte, sichtbar Spaß hatte. Die schon oft bewährte Tatjana Charalgina, die man noch in der vorletzten Spielzeit als Despina erleben durfte, hat nun endlich das Fach gewechselt und hinterließ als Donna Anna einen hervorragenden Eindruck. Diese Rolle liegt ihrem bestens italienisch fokussierten, substanz- und farbenreichen lyrischen Sopran ausgezeichnet. Ihr gelang ein differenziertes und nuancenreiches Rollenportrait voller Kraft und ausgemachter Intensität. Die Dramatik des „Or sai chi l’ onore“ strömte ihr ebenso versiert aus der Kehle wie die Lyrismen des „Non mi dir“. In Nichts nach stand ihr der junge Thorsten Büttner, der mit dem Don Ottavio ebenfalls nachhaltig zu begeistern wusste. Die ungeheure Musikalität seines Vortrags, die Weichheit von Tongebung und Phrasierung sowie die sehr elegante Linienführung seines phantastisch italienisch geführten Ausnahmetenors gemahnten wieder einmal an den großen Fritz Wunderlich. Wie die seines leider viel zu früh verstorbenen legendären Fachkollegen zeichnet sich auch Büttners Stimme durch einen immensen Klangreichtum und eine enorme Ausdrucksskala aus. Phantastisch, wie er die ausgedehnten Koloraturen des „Il mio tesoro intanto“ auf einem langen Atem ebenmäßig dahinfliessen ließ und auch bei „Dalla sua pace“ sehr berückende, ebenmäßige Töne zauberte. Dass er die zweite Arie entgegen der Tradition mit dem großen Zorn des im Kampf gegen Anna letztlich Unterlegenen vortrug und sich in der ersten Arie als scharf reflektierender Analytiker erwies, der sich ganz genau den nächsten Schritt im Duell um die Macht überlegt, war Ausfluss des Regiekonzeptes. Ansprechend präsentierte sich der von Sebastian Hernandez-Laverny einstudierte Chor. 

Heikki Kilpeläinen (Don Giovanni)

Am Pult setzte GMD Hermann Bäumer zusammen mit dem gut gelaunt aufspielenden Philharmonischen Staatsorchester Mainz auf einen insgesamt lockeren, transparenten und farbenreichen Mozart-Klang, der indes durch teilweise recht abenteuerlich anmutende, viel zu schnelle Tempi etwas relativiert wurde. Etwas mehr Ruhe hätte seinem Dirigat gutgetan. 

Fazit: Modern eingestellten Gemütern und Knabe-Fans sei der Besuch der viel Neues beinhaltenden Aufführung sehr empfohlen. Von der sängerischen Seite her lohnt sich die Fahrt nach Mainz schon wegen Charalgina und Büttner.   

Ludwig Steinbach, 24. 3. 2014             Die Bilder stammen von Martina Pipprich.

 

 

 

 

Sternstunde hochkarätigen Musiktheaters

LA TRAVIATA

Premiere: 11. 1. 2014

Im Getriebe einer unbarmherzigen Starkult-Maschinerie

Vera Nemirova, die nach „La Bohème“ und „Idomeneo“ bereits zum dritten Mal in Mainz inszenierte und deren Mutter Sonja Nemirova an der Regie mitwirkte, hat hervorragende Arbeit geleistet. Sie ging das Werk gänzlich unkonventionell an und stellte es gekonnt in einen überzeugenden zeitlos-modernen Rahmen. Ihr Produkt  war recht assoziativer Natur und zeichnete sich obendrein durch einfühlsame Detailarbeit und eine ausgeprägte, stringente Personenregie aus. Auch im Umgang mit den Lehren eines Bertolt Brecht und Tschechow’schen Elementen erwies sie sich an diesem Abend wieder als Meisterin. Ihr langjähriger künstlerischer Partner Jens Kilian hat ihr einen Raum auf die Bühne gestellt, der  zahlreichen Verwandlungen unterworfen ist und sich von Akt zu Akt immer mehr nach hinten hin öffnet. Die bei offenem Vorhang erfolgenden Wechsel der Schauplätze sind weniger realer Natur als vielmehr Manifestationen von Violettas Phantasie entsprungener Sehnsuchtsorte. Konsequenterweise nimmt die Inszenierung zunehmend einen faszinierenden transzendenten Charakter an, der Ausfluss von Traviatas Seelenleben ist.  

Vida Mikneviciute (Violetta), Thorsten Büttner (Alfredo) 

Geschickt rollt die Regisseurin das Stück von hinten auf und erzählt es als Rückblende aus der Perspektive der von ihr enorm aufgewerteten Maskenbildnerin Annina. Diese ist fast ständig präsent und verfolgt mit aufrichtiger Anteilnahme das tragische Schicksal Violettas, das sich in einem Theater auf dem Theater samt davor liegender Künstlergarderobe abspielt. Dabei ist es Vera Nemirova nicht um irgendwie geartete sittliche Anprangerungen zu tun, sondern um das Aufzeigen eines Künstlerinnenschicksals. Die Heldin ist bei ihr keine Prostituierte, sondern eine gefeierte Sängerin unserer Zeit, die gnadenlos der Gnade und Ungnade ihrer Fangemeinde unterworfen ist. Zu Beginn gibt sie ihren Bewunderern während einer im Foyer eines prachtvollen Opernhauses im Neorenaissance-Stil stattfindenden Premierenfeier Autogramme. Ihre Photos, die sie so bereitwillig signiert und die in diesem frühen Stadium des Geschehens noch hoch im Kurs stehen, verlieren im Lauf des Abends immer mehr an Wert und haben letztlich nur noch die Funktion von Erinnerungsstücken an eine vielversprechend begonnene, letztlich aber abrupt zum Erliegen gekommene Laufbahn. Ihr trauriges Geschick nimmt Frau Nemirova zum Anlass, mit den Gegebenheiten des gegenwärtigen Sänger- bzw. Künstlermarktes radikal abzurechnen. Schonungslos und ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen zeichnet sie ein eindringliches Bild einer anrüchigen, nur auf oberflächliches Amusement bedachten, skandalhungrigen Fangemeinde, die ihrem augenblicklichen Star Violetta anbetend zu Füßen liegt, nur um ihn später umso rücksichtsloser fallen zu lassen, wenn er ihren Erwartungen nicht mehr entspricht. 

 

Ks Hans-Otto Weiss (Dr. Grenvil), Thorsten Büttner (Alfredo), Vida Mikneviciute (Violetta)

 

 

Dieses Objekt der Begierde, das sich den strengen Bedingungen des unbarmherzigen Künstlermarktes nicht mehr länger unterordnen will und als äußeres Zeichen hierfür sein von Marie-Thérèse Jossen entworfenes blutrotes Kleid ablegt, ist zum Untergang verdammt. In dem Maße, wie ihr der zu Beginn ziemlich frech gezeichnete Alfredo - das wird insbesondere beim hier sehr ungewöhnlich gedeuteten Brindisi offenkundig - ihr im kammerspielartig erzählten ersten Akt durch seine Liebe die Wahrheit über ihren lediglich eine Seifenblase darstellenden gesellschaftlichen Status und dessen Fragwürdigkeit aufzeigt, entzieht sie sich in immer stärkerem Maße der gesellschaftlichen Kontrolle und wird auf diese Weise ins Abseits gedrängt. Die deutsche Übersetzung des Titels „La Traviata“ als „Die vom Wege Abgekommene“ versteht Frau Nemirova nicht als moralische Verirrung der Titelheldin, sondern als Ausbruchversuch einer berühmten Sängerin, die dem ihr vorbestimmten Künstlerweg nicht mehr folgen will und darob gesellschaftlich entgleist. Indem sie sich zu ihrer Liebe zu Alfredo bekennt und mit ihm flieht, wird sie symbolisch an das Stierschädel-Kreuz gesellschaftlicher Acht geschlagen, von dem sie nicht mehr heruntersteigen kann. In dieser tristen Situation kehrt sie innerlich in die unbeschwerten Tage ihrer Kindheit auf dem Lande zurück, was seitens der Regie durch ein kindliches Double ausgedrückt wird. Vergebens sehnt sie in dem sehr surrealistisch interpretierten dritten Akt, in dem es kein Krankenlager gibt, Alfredo herbei. Das Schlussbild erscheint als Sehnsuchtstraum Traviatas von der Trauer Alfredos und seines Vaters an ihrem von einem Hoffnung symbolisierenden kleinen Bäumchen gesäumten Grab. Dabei hat sie wieder den Ausgangspunkt des Geschehens, die Garderobe des Anfangs, erreicht. Ein Entkommen aus den sie verfolgenden gesellschaftlichen Zwängen ist nicht möglich. Von hier aus sieht sie die Vision ihres Geliebten auf dem bereits erwähnten, im Hintergrund aufragenden Theater auf dem Theater. Das Abweichen von der ihr oktroyierten Bahn führt unausweichlich in den symbolischen Tod der Diva. Am Ende verlässt sie die Bühne durch den Zuschauerraum und entzieht sich damit endgültig dem unaufhaltsamen Getriebe einer unbarmherzigen Starkult-Maschinerie, die jede(n) Sänger(in) bedenkenlos wegwirft, sobald sie/er ihre/seine Funktion nicht mehr erfüllen kann und mithin nicht mehr ins Schema passt. Ihrer Nachfolgerin Annina wird es nicht besser ergehen. Vera Nemirova lässt kein gutes Haar an dem herzlosen Apparat des undurchsichtigen Künstlermarktes, dem schon etliche zuerst hoch verehrte Künstler/innen zum Opfer gefallen sind. Seine Auswüchse stellt sie unnachsichtig und mit großer Vehemenz an den Pranger. Hier haben wir es mit einem zeitlos gültigen Thema von enormer sozialer Brisanz zu tun, das in Frau Nemirovas Deutung eine phänomenale Umsetzung erfuhr. Bravo!  

Vida Mikneviciute (Violetta), Thorsten Büttner (Alfredo)

Ungewohnt erschien das von Florian Csizmadia und dem Philharmonischem Staatsorchester Mainz erzeugte Klangbild. Das mag an der ungewöhnlichen Platzierung der Musiker gelegen haben. Sie saßen in einer von der Norm gänzlich abweichenden Aufstellung, wobei insbesondere die Streicher über die ganze Breite des Grabens verteilt waren. Mit konventionellen Hörgewohnheiten wurde damit an diesem Abend schon gehörig aufgeräumt. Bereits das Brindisi im ersten Akt unterzog der Dirigent einer von der Konvention stark abweichenden Deutung, indem er es mit enormem Konfliktpotential darbot, was dem begleitenden Geschehen auf der Bühne indes trefflich entsprach. Dabei ging er nicht allzu laut ans Werk, sondern gab leisen Tönen den Vorzug. Die Folge war ein etwas abgehobener, schwebender Klang, der sich den Sängern bereitwillig unterordnete. So interessant die Auffassung des Dirigenten von Verdis Musik auch war, an manchen Stellen wäre etwas mehr Feuer und Glut des musikalischen Ausdrucks wünschenswert gewesen.

 

Heikki Kilpeläinen (Germont), Vida Mikneviciute (Violetta)

 

Und was für ein phantastisches Ensemble hatte das Staatstheater Mainz aufgeboten! Das begann schon bei Vida Mikneviciute, die trotz einer augenscheinlich nicht ganz überwundenen Erkältung als Violetta eine wahre Glanzleistung erbrachte, was von einer guten Gesangstechnik zeugt. Diese junge, vielversprechende Sopranistin hat ihre Stimme bestens im Griff. Was sie an diesem Abend mit ihrem kräftigen vorzüglich sitzenden, strahlenden, und ausdrucksstarken, bereits deutlich ins jugendlich-dramatische Fach tendierenden Sopran bot, war schon außergewöhnlich. Der große Nuancen- und Farbenreichtum der Stimme gepaart mit einer ausgezeichneten Pianokultur - das „Dite alla giovine“ hat man seit Sofia Kallio in Coburg vor zwei Jahren nicht mehr mit so wunderbar verinnerlichten, hauchzarten, dabei aber vorzüglich gestützten Pianissimo-Tönen singen gehört -, kulminierten in einer sehr zu Herzen gehenden Gesamtleistung, zu der auch ihre intensive Darstellung einen gehörigen Teil beitrug. In Nichts nach stand ihr Thorsten Büttner, der sich mit dem Alfredo die höchsten Weihen ausgezeichneten Verdi-Gesangs errang. In der Tat kann die Leistung des jungen, sympathischen Sängers, der zu den ersten Kräften der Mainzer Oper gehört und dessen farbenreicher und differenziert geführter Prachttenor ausgezeichneter italienischer Natur ist, nur an dem Niveau eines Fritz Wunderlich gemessen werden. Was den schönen Schmelz seiner Stimme, die Emotionalität des Ausdrucks sowie die einfühlsame Linienführung angeht, erwies sich Büttner als legitimer Nachfolger des legendären Tenors, dem er vokal in vielem ähnelt. Ihm und Frau Mikneviciute steht bei pfleglichem Umgang mit ihrem kostbaren Material die ganz große Karriere bevor, die ihnen auch sehr zu gönnen ist. 

Vida Mikneviciute (Violetta), Thorsten Büttner (Alfredo), Heikki Kilpeläinen (Germont), KS Hans-Otto Weiss (Dr. Grenvil), Anke Steffens (Annina)

Zu diesen beide  Ausnahmekünstlern gesellte sich noch Heikki Kilpeläinen, der als Giorgio Germont ebenfalls einen bleibenden Eindruck hinterließ. Mit hoher Autorität zeichnete er einen ganz den vorherrschenden gesellschaftlichen Konventionen verhafteten Großbürger, der im Lauf des Stückes, von Violettas Edelmut und Herzensgüte sichtlich gerührt, eine positive Entwicklung durchmacht, zu der der noble, volltönende und runde Klang seines Baritons gut passte. Schauspielerisch und gesanglich solide präsentierte sich Anke Steffens als Annina. Einen profunden Mezzosopran brachte Patricia Roach für die Flora mit. Mit prägnantem, sonorem Bassmaterial empfahl sich Ks Hans-Otto Weiss für den Dr. Grenvil. Ansprechend gaben José Gallisa und Dietrich Greve den Marquis d’ Obigny und den Baron Douphol. Etwas zu hoch gestützt sang Ks Jürgen Rust den Gaston. Patrick Hörner (Joseph). Seok-Gill Choi (Bediensteter Floras, Kommissionär) und Gabriela Süss als Violetta-Double rundeten das homogene Ensemble ab.

Fazit: Diese Sternstunde in Sachen hochkarätigen Musiktheaters ging unter die Haut, geriet zu einem großen Erfolg für alle Beteiligten und brannte sich tief ins Gedächtnis ein. In den Schlussapplaus des begeisterten Publikums, dem für seine Aufgeschlossenheit gegenüber zeitgenössischen Deutungen ein großes Lob auszusprechen ist, mischten sich keinerlei Missfallenskundgebungen. Hier haben wir es mit einer Produktion zu tun, die die Rezeptionsgeschichte des Werkes voranbringt und in die Annalen des Mainzer Theaters eingehen wird und zu der man Vera Nemirova und dem Staatstheater Mainz nur gratulieren kann. Dieser sensationelle Abend hatte Festspielniveau!  

Ludwig Steinbach, 14. 1. 2014                 Die Bilder stammen von Martina Pipprich.

 

 

 

 

 

Demontage als Regieprinzip

MEFISTOFELE  

(Arrigo Boito)    

Besuchte Aufführung: 24.11.13        (Premiere 06.09.13)   2. Kritik

„Wie schön ist doch die Musik, aber wie schön erst, wenn sie vorbei ist!“

Arrigo Boito (1842 – 1918) hatte schon als Jugendlicher am Mailänder Konservatorium studiert. Als eine der treibenden Kräfte in der Intellektuellen- und Künstlervereinigung „Scapigliatura“ rechnete er schon in jungen Jahren mit der kulturellen Erstarrung in Italien ab und betrieb deren Erneuerung. Dabei nahm er auch Einflüsse der deutschen Musik auf und half, Wagners Werk in Italien bekannt zu machen. Er übersetzte die Texte von Rienzi und Tristan und Isolde ins Italienische. Arrigo Boito ist durch seine Libretti zu Verdis beiden letzten Shakespeare-Vertonungen bestens bekannt geworden. Sein historischer Verdienst besteht sicher darin, dass er Verdi dazu bewegen konnte, diese Libretti zu vertonen, was Verdi nur zögerlich anging, obwohl die beiden bei der Überarbeitung des Simone Boccanegra bereits einen durchschlagenden Erfolg erzielt hatten. Seine Befassung mit Goethes Faust I und II brachte Boito dazu, den Stoff zu veropern. Eine erste, längere Fassung 1868 fiel durch, mit der überarbeiteten und gekürzten Version von 1875 war ihm ein großer Erfolg vergönnt. Die Oper verschwand seither nie ganz aus den Programmen der Musiktheater, aber sie führt heute dennoch nur ein Schattendasein - und das zu Recht. Operabase listet für diese Spielzeit gerade drei neue Produktionen. 

Musikalische Versuche an Faust hat es zur Genüge gegeben; von den Versuchen in Sinfonik (Wagner, Liszt), Chor-Tableaus (Schumann) oder in  Opern (Berlioz, Gounod, Boito, Busoni) ist lediglich Gounods Faust (17 Produktionen in dieser Spielzeit laut operabase) im heutigen Stamm-Repertoire vertreten. Gounods Faust beschränkt sich auf die Gretchen-Geschichte und macht damit eine folgerichtige Handlung möglich; Rührseligkeit und Süße von Stoff und Musik sind von der Musikkritik genügend bewertet worden.  Der Faustkenner Berlioz hatte vorsichtshalber wie Schumann seine erste Faust-Musik „Faust-Szenen“ genannt, seine spätere Oper „dramatische Legende“. Eine Oper über den Faust-Stoff schreiben zu wollen, gleicht dem Versuch der Quadratur des Kreises, vor allem wenn wie bei Boito auch noch Szenen aus Faust II einbezogen werden. Man bedenke, dass Faust I und II in Originallänge 13 (dreizehn!) Stunden dauern (Peter Stein 2001). Auch Boito hat letztlich nur vier  Szenen zu einer „Oper in einem Prolog, vier Akten und einem Epilog“ verschafft.  

Feuerzauber und zersägte Jungfrau

Hat also schon Boito seinen Mefistofele ziemlich zusammenhanglos und bilderbuchartig in Szenen aneinander gereiht und verweigert dem Zuschauer damit eine durchgängige Handlung, so hat Regisseur Lorenzo Fioroni den Stoff noch weiter zerlegt, zerhackt und demontiert, so dass man sich nur schwer hinein findet. Seine Arbeit erinnert deutlich an seine Inszenierung des „Grand Macabre“, einer erklärten Klamauk-Oper, im März 2012, die in Mainz nicht nur wegen des attraktiven Stücks Furore gemacht hat, sondern auch wegen der quirlig witzigen Umsetzung. Nun folgt die Fortsetzunjg: nicht mit anderen Mitteln, aber an einem anderen Stoff. Klamauk beim Faust-Stoff kann aber bezüglich der Sinnhaftigkeit hinterfragt werden. Das Bühnenbild von Paul Zoller zeigt eine zeltartige Theaterbühne mit noch einer weiteren kleinen Bühne: die Bühne auf der Bühne der Bühne. In diesem Welttheater stehen um einen alten Filmprojektor (im Kontext damit etliches Video-Flimmern auf einem Gaze-Vorhang) vor allem Kisten und Aberkisten herum - schlampig mit Strichlisten beschriftet. In einigen ist einfach nur Krempel untergebracht; andere enthalten ihrer länglichen Form entsprechend Leichen; in eine legt sich zum Schluss Faust, nachdem er dort die Erde herausgeschaufelt hat. Absurdes Theater und Travestie beherrschen die Szene, Variété und Zirkus mit knackendem Feuerzauber und Kunststücken, die in der zersägten Frau gipfeln. Mefistofele als Taschenspieler, der als gefallener Engel noch blutige Spuren von abgefallenen oder abgerissenen Flügeln auf dem Rücken trägt.  Sein Gegenüber im Prolog „Alte“ ist ein Gemisch aus Altrocker in schwarzer Lederkluft und Hippie.  

Tatjana Charalgina (Gretchen); Faust

Der Osterspaziergang findet auf einer Kirmes statt.  Bei der Walpurgisnacht kommt es zum Extremklamauk, den Annette Braun noch mit den grellen Kostümen der Hexen aufpeppt. Danach gibt es einen Ansatz von Kontinuität im Bühnengeschehen. Im Hexensabbat bricht das Zelt zusammen und begräbt etliche Kisten unter sich. Illusion gab es auch vorher nicht; nun aber sitzt der Zuschauer vor dem schwarzen Theaterturm mit einigen Stellagen, in welche später ein paar von den Kisten entsorgt werden. Aus dem zerstörten Welttheater formt sich mit den herunter gefallenen Zeltplanen eine Landschaft, in der Helena im vierten Akt als Fremdenführerin mit heftig blitzgewitternden Touris einzieht: antike Ruinen. Helena ist aber nicht als schönste Frau der Welt zurechtgemacht, sondern eher wie eine alternde Hausfrau, die sich etwas hinzuverdienen will. Entsprechend wird auch Faust nicht zum zweiten Male verjüngt, sondern von Mefistofele in einen Variété-Conférencier mit Frack, Zylinder und weißem Seidenschal gemacht, zur Verzerrung dazu noch mit einer  aufgepinselten Clownsmaske degradiert – sic transit gloria mundi.   

Ks. Hans-Otto Weiß (Mefistofele)

Dass Boito und die Scapigliatura die kulturelle Szene in Italien mit Neuem aufmischen wollten, führte nicht zu einer wirklich neutönerischen Musik. Hermann Bäumer mit dem engagiert und konzentriert aufspielenden Philharmonischen Staatsorchester Mainz ließ es aus dem Graben wagner-n und verdi-en. Deutlich hört man, dass Boito den Lohengrin gut gekannt hat. Noch stärker allerdings ist der Einfluss des älteren Freundes Verdi auf seine Musik durchhörbar; und wie beim späteren Verdi werden auch Puccini-Klänge schon vorweggenommen. Der an sich auch im Stoff angelegte Dualismus gut-böse ist auch in die Partitur projiziert; große emotionale Ausbrüche und Pathos kontrastieren mit feinen kammermusikalischen Passagen; das wird vom Orchester durchweg filigran und feinsinnig bzw. kraftvoll und auch krachend umgesetzt. Eindrucksvoll gerieten auch die Chorszenen. Neben dem von Sebastian Hernandez-Laverny einstudierten Staatstheater-Chören traten quicklebendig auch Kinder des Mädchenchors am Dom und St. Quintin und des Mainzer Domchors (Einstudierung: Karsten Storck) auf.   

Ks. Hans-Otto Weiß (Mefistofele); Faust

Von der solistischen Besetzung ist durchweg positiv zu berichten. Im Dauereinsatz mit dominierender Bühnenpräsenz gestaltete Ks Hans-Otto Weiß mit sonorem, fast zu kultiviertem Bass die Rolle des Mefistofele. Der Koreaner Andrea Shin vom Ensemble des Badischen Staatstheaters gab die Gegenpartie des Faust mit gut geerdetem, nicht zu hellem Tenor und schönen Höhen, aber eindimensionaler Färbung. Dass das Gretchen Auftritte in zwei ganz verschiedenen Teilen der Oper hat, veranlasste die Regie dazu, zwei verschiedene Sängerinnen einzusetzen. In der Gartenszene wirkte Tatjana Charalgina als verletzliche Puppengestalt und begeisterte mit ihrem schön grundierten warmen Sopran und glühenden Höhen. Den zweiten Auftritt der Margherita bestritt die superschlanke Vida Mikneviciute, die zweite Sopran-Wunderwaffe am Staatstheater, kraftvoll mit deutlich hellerem, klarem und perfekt fokussiertem Sopran. Aiste Miknyte gestaltete die Elena mit komödiantischen Einsatz und elegant-geschmeidiger Führung ihres tadellosen Soprans. Agustín Sánchez Arellano als Wagner fiel mit einer gewissen Enge seines Tenors etwas ab, aber Katja Ladentins als lasziv aufregende Marta  gefiel in ihrer kurzen Rolle mit ihrem aufreizenden Spiel und ihrem vollen Alt.  

 

In der Mitte: Faust; Chor

Das was, Boito an dem Faust-Stoff fasziniert haben mag, kommt in der Fioroni-Inszenierung nicht vor. Kein Respekt vor dem Stoff, kein Respekt vor dem Stück, und was selbst im extremen Regietheater selten ist: nicht die Spur von Respekt gegenüber der Musik. Denn die wird laufend durch geräuschvolles Kistenrücken gestört, durch extreme eingespielte Fremdklänge, durch Getrappel der Statisten und schließlich zu relativ zarter Musik zu Faustens Ende auch durch Geplapper der Bühnenarbeiter, die schön geräuschig die Bühne abräumen, um nach dem Welttheater nicht noch Überstunden machen zu müssen. Wahrscheinlich fehlten Fioroni noch die Autohupen aus dem „Grand Macabre“. Wirklich Neues über den Faust-Stoff hat man nicht erfahren. Das "Faustische", das Italierer und Franzosen fasziniert hat, ist Kirmes-Bildern gewichen.

Die Produktion geriet aber voll zum Geschmack des Publikums. Jubelnder Beifall aus dem fast ausverkauften Haus mit auffallend vielen jüngeren Zuschauern schloss den Abend ab. Man kann sich dieses Spektakel noch am 8. Dez. und am 18. Januar ansehen. 

Manfred Langer, 26.11.2013                        Fotos: Martina Pipprich

Als Faust ist Gaston Rivero aus der Premierenbesetzung zu sehen. Weitere Fotos unten bei der Premierenbesprechung

 

 

 

Starke nachhaltige Bilder

EUGEN ONEGIN

WA am 10.11.2013        (Premiere am 23.03.13)

Näher an der Partitur als am Libretto inszeniert: eine erstarrte Gesellschaft am Abgrund.

Die literarische Vorlage Eugen Onegin, der Versroman von Alexander Puschkin, ist 1823 bis 1830 entstanden – vor dem soziokulturellen Hintergrund des Klassizismus mit den für die russische Literatur typischen ausufernden gesellschaftlichen Tableaus. Konstantin Schilowski hat daraus gemeinsam mit dem Komponisten das Libretto für die gleichnamige Oper geschöpft, die 1879 zur Uraufführung kam. Da hatte sich in Russland schon viel geändert. Noch mehr hat sich in den folgenden 80 Jahren geändert, denn nach etwa 1960 kann man die Mainzer Inszenierung der Oper von Johannes Erath verorten: Es gitb urtümliche Rollkoffer, Kofferradios und eine Kabine für Passfotos. Diese eher diffuse Verlegung des Stoffs in Gegenwartsnähe ist aber kaum von Bedeutung.  

Ob Erath sich mit der Puschkin-Vorlage beschäftigt hat? Vom Russland nach den Befreiungskriegen fließt nur ein Samowar und vielleicht eine Videoprojektion in die Bebilderung ein. Russland ist denn auch für den Regisseur und seine Inszenierung auch nicht wichtig. Was ihm dagegen offensichtlich wichtig erscheint, ist die Tatsache, dass es sich beim Werk nur um einige Szenen handelt, die aus Puschkins Rahmenhandlung genommen wurden, weshalb das Werk als „lyrische Szenen“ in drei Akten bezeichnet wurde. Diese Szenen haben keine stringente Dramaturgie, sondern sind in erster Linie Bilder oder Tableaus. Und gerade das ist es, was Erath auf die Bühne bringt: Bilder, die sich um die rudimentären dramaturgischen Vorgaben des Stücks gar nicht scheren, teilweise sehr starke, nachhaltig wirkende Bilder. Für die teilweise skurrilen gesellschaftlichen Tableaus lässt er sich viel einfallen und entfernt sie weit von Puschkins oder Tschaikowskys Vorlagen. Vielleicht hat Erath auch den Tschaikowsky-Text nicht gelesen; sicher aber hat er vorher die Musik gehört.  

Den einheitlichen Bühnenrahmen mit vielen Variationsmöglichkeiten hat Katrin Connan gebaut. Im Bühnenhintergrund steht eine große quadratische Wand, die in lauter kleinere quadratische Felder mit einem erratischen Schwarzweißmuster eingeteilt ist. Unten in der Mitte ist eine Fotokabine in diese Wand eingebaut. Bei offenem Vorhang schon lange vor dem Anpfiff werkelt ein Bühnenarbeiter an dieser Wand herum. Das erste Bild ist schroff gegen den Text inszeniert. Die Larins sind auf der Reise.  Bei „Handlungs“beginn bringt die Hebebühne Eisenbahnsitze und einen Gepäckständer nach oben. Die Larins befinden sich gar nicht auf ihrem Gutshof, sondern sie sind mit Sack und Pack mit der Eisenbahn unterwegs. Durch eine Projektion auf die Wand sieht man die weite Landschaft vorbeifliegen. Vielleicht reisen die Larins durch Russland, aber es kann auch Saskatchewan  sein. Die Landarbeiter, mit ihrer slawischen Volklore die müden Füße besingend, die sie sich bei der Erntearbeit zugezogen haben, kommen hereingeströmt. Die müden Füße müssen sie sich beim Laufen neben dem Zug geholt haben, um auf diesen aufspringen zu können. Die Guts“nachbarn“ Lenski und Onegin werden zu Abteilnachbarn. Kaum ein Wort passt zu dem, was sich auf der Bühne abspielt.  

Im zweiten Bild sind die vielen Eisenbahnsitze, auf denen das Personal zuvor wie mit Boxautos auf der Bühne hin- und hergefahren ist, bis auf einen verschwunden. Aus dem Gepäck- wird ein Kleiderständer. Man ist in einem Hotel eingelangt; die Filipjewna packt die Koffer aus und hängt die Wäsche auf. Tatjana hat sich in die Fotokabine zurückgezogen. Bei der langen Zugfahrt hat sie Frauenromane gelesen; nun hat sie Onegin kennengelernt und ist selbst in einem Roman angekommen: sie ist in den Nichtsnutz verliebt. In der Fotokabine, als ob das ein Alkoven wäre, schreibt sie den entscheidenden grenzüberschreitenden Brief. Man hört auf, sich über eine stringente Dramaturgie den Kopf zu zerbrechen und wendet sich den Figuren zu. Erath lässt die Fotokabine nach vorne fahren. Tatjana schreibt, die Filipjewna ist im Hintergrund eingeschlafen, hält aber schon den Brief in der Hand. Onegin nimmt ihn ihr aus der Hand und beginnt ihn zu lesen, während Tatjana immer weiter schreibt. Eine starke Szene mit der Verschränkung der Zeitebenen. 

Chor beim Kontertanz

Die nächste Szene spielt im Wartesaal. Onegin hält Tatjana vor der Weiterreise noch schnell seine Gardinenpredigt. Ob die Larins irgendwann und irgendwo mal ankommen werden? Jawohl, auf einem Ball. Für den Festsaal wird der Bühnenboden etwas angehoben, von oben kommt eine Lichtbrücke mit Lampions herunter. Der an sich überflüssige Mensch Onegin betanzt nun Olga – sehr zum Ärger von deren Verlobten, dem Dichter Lenski. Es herrscht aber keine festliche Ballstimmung; alle sind in kalkiges Weiß gekleidet (Kostüme: Noëlle Blancpain); beim Walzer wird sich nicht schwungvoll und lustig gedreht, sondern es wird Schieber getanzt: ein Totentanz! Der Cotillon wird vom Chor im Sitzen mit rhythmischen Verrenkungen dargestellt, bis das Bild vor dem Schrecken des drohenden Duells einfriert. Vor dem Duell sitzt Lenski auf einem halbhohen Laufsteg und schreibt an seinen Memoiren. Was er wohl schreibt? Das wird gerade unten in einer Pantomime dargestellt; Lenskis Albtraum; Olga tanzt dauernd mit Onegin. Wieder eine ganz starke Szene! Mit einem Loch in der Stirn irrt Lenski nach dem Duell weiter zwischen den Beteiligten herum.  

Die Saalregie hat die große Sektpause in die Mitte des zweiten Akts gelegt. Das führt zu dem makabren Ergebnis, dass nach Lenskis Lamento und seinem traurigen Tod und nur einer ganz kurzen Generalpause im Graben schon die Polonaise kommt. Sehr wirkungsvoll! Denn eigentlich sollten Jahre zwischen diesen Szenen liegen! Nun ist es der Ballsaal des Fürsten Gremins. Hier sind auch die Larins endlich angekommen. Des Fürsten elegante Gesellschaft tanzt in morbidem Schwarz. Onegin ist wieder Außenseiter; nun aber schreibt er an Tatjana. Und wieder wird da so gestellt, dass Tatjana den Brief zeitgleich liest, wie er geschrieben wird. Tatjana bekennt sich zu ihrer neuen Rolle als Fürstin Gremin; Onegin bleibt draußen. Erschießt er sich nun?  Wenn Erath seine großen Szenen in einen besser schlüssigen Rahmen gelegt hätte, wäre es eine große Regiearbeit geworden. So ist es „nur“ ein packender Opernabend, von dem auch etliches Sinnentleertes haften bleibt. Auffällig ist die gekonnte Partitur-nahe Bewegungsregie.Ein Verdienst der Regiearbeit ist zweifellos, dass kein Rührstück zum Mitweinen geboten wird, sondern durch die Verzeichnungen ständiges Missbehagen übertragen wird.  

In gewissem Maße „mitschuldig“ daran ist die musikalische Interpretationsarbeit von Florian Csizmadia am Pult, der mit dem prächtig aufgelegten Philharmonischen Staatsorchester Mainz einen packenden Tschaikowsky mit viel Tiefgang musiziert. Man hatte sich in Mainz für die Originalfassung entschieden, die weniger Pathos und weniger Prunk aufweist. So ist dort die Ecossaise der späteren „Normalversion“ noch nicht enthalten. Neben der vor allem in der ersten Chorszene mitverarbeiteten slawischen Folklore lassen aus der Partitur des „Westlers“ Tschaikowsky Verdi und die deutschen Romantiker grüßen. Pastellfarben zart ließ Csizmadia aufspielen, aber auch verdianisch dramatisch aufgeladen. Es wurden lange kohärente Bögen mit einer spannenden Dynamik und große emotionale Tiefe musiziert. Das Orchester gab sich dabei keine Blöße. Die hier so prominenten Holzbläser, Oboe, Klarinette und Fagott, vielfach im solistischen Einsatz, waren traumhaft sicher; gefühlvoll der Schmelz der Celli. Für Ihren Kritiker, der alles andere als ein Tschaikowsky-Adept ist, eine neue Erfahrung. Lediglich die Hornisten wichen dem Risiko einer ganz zarten Intonation aus und kamen zu kräftig. Der Chor des Staatstheaters war von Sebastian Hernandez-Laverny bestens präpariert.   

vorn in der Mitte: Tatjana (andere Sängerin) und Lenski (Thorsten Büttner)

Auf homogen hohem Niveau gestalteten auch die Gesangssolisten ihre Rollen. Mit der Litauerin Vida Mikneviciute war eine Tatjana besetzt, deren zerbrechlich wirkende Bühnenerscheinung idealtypisch zur Rolle passte. Sie wies ein großes Spektrum in Spiel und Gesang vor. Ihr anrührend inniges und zartes Spiel korrespondierte mit der musikalischen Interpretation ihres feinen, hellen und klaren lyrischen Soprans. Ganz leichte Schärfen beim Forcieren in hohen Lagen muss man ihr noch nachsehen. Aber welch Riesenleistung in der langen Briefschreibeszene! Sanja Anastasia aus Serbien sang mit berückendem tiefen Mezzo die Rolle der Olga und bestach mit ihrem stimmlichen Fokus. Patricia Roach, langjähriges Ensemblemitglied, überzeugte als Larina mit ihrem schönen glatten Mezzo von mütterlich dunkler Tönung. Perfekt auch ihre Bühnenerscheinung in dieser Rolle. Die Reihe der tieferen Frauenstimmen schloss Katherine Marriott als Filipjewna ab, die die kleinere Rolle mit rundem schön tönendem, Mezzo gestaltete. Thorsten Büttner als Lenski ließ ich als erkältet ankündigen, was in seinen etwas zurückgenommenen hohen Passagen auch hörbar wurde. Da schonte er sich zu Recht, aber den schön grundierten Schmelz seiner Mittellage brachte er vorteilhaft zur Geltung. Gut wurde er der Rolle des schwärmerischen weltfremden Dichters gerecht. Mit dem vielseitigen Heikki Kilpeläinen konnte das Staatstheater eine weitere männliche Rolle prächtig aus dem Ensemble besetzen. Sein viriler, kerniger, aber zugleich geschmeidiger Bariton überzeugte in der Titelrolle. Mit José Gallisa und seinem profundem, voluminösen Bass war auch der Fürst Gremin adäquat besetzt. Als Luftballonverkäufer trat Jürgen Rust als Monsieur Triquet auf. Seine Couplets wirkten durchaus parodistisch ebenso wie die französische Diktion des Tenorbuffos. In den Nebenrollen Saretzki und Hauptmann verlässlich der Bass von Dietrich Greve.

Für die Transliteration aus der kyrillischen Schrift ins lateinisch geschriebene Deutsche gibt es seit langem feste Regeln. Mehr und mehr wird davon unter amerikanischem Einfluss abgewichen. Man braucht da ja nicht päpstlicher als der Papst zu sein. Aber warum im Programmheft Tschaikowskij und Lenskij geschrieben wird, ist dennoch hinterfragenswert.

Leider war das Haus nur mäßig besucht. Und da in ganzen Reihen nur Studenten saßen, hatte das Staatstheater hier wohl eine Aktion durchgeführt. Einige Besucher kehrten nach der Pause nicht mehr in den Saal zurück. Der Beifall aber war verdientermaßen sehr herzlich und lang anhaltend. Allen, die nicht nur auf Opas Oper setzen und sich den beschriebenen Regie-Skurrilitäten nicht verweigern, kann der Besuch dieses musikalisch glänzend gestalteten, spannenden und nachhaltigen Abends sehr empfohlen werden. Gelegenheit hierzu gibt es noch am 15.11. sowie am 06., 18., und 26. Dezember.

Manfred Langer, 11.11.2013                                  Fotos: Martina Pipprich

Besprechung der Premierenserie mit weiteren Bildern weiter unten, ggf. im Archiv

 

 

RINALDO

Premiere: 31. 10. 2013

Im Räderwerk moderner Zeiten 

Also man muss schon sagen: Händels Oper „Rinaldo“ scheint z. Z. eine echte Renaissance zu erleben. Nach Aufführungen in Coburg und Freiburg hat sich nun auch das Staatstheater Mainz in Zusammenarbeit mit der Hochschule für Musik Mainz des Werkes angenommen und damit wieder einmal einen Volltreffer gelandet. Das ist in erster Linie Tatjana Gürbaca zu verdanken, die mit ihrer gelungenen Inszenierung ihre letzte Regiearbeit als Operndirektorin des Mainzer Theaters präsentierte. Wie immer, wenn Frau Gürbaca am Regiepult sitzt, wurde man auch dieses Mal mit einer trefflich durchdachten, modernen Konzeption konfrontiert, die in ihrer Gesamtheit durchaus überzeugend war. Auf eindringliche Weise nimmt die junge Regisseurin ***, die von der Zeitschrift Opernwelt vor kurzem zur Regisseurin des Jahres nominiert wurde, sozial- und gesellschaftskritische Aspekte unter die kritische analytische Lupe, wobei der eigentlichen Kreuzfahrer-Geschichte eine nur untergeordnete Bedeutung zukommt. Sie dient letztlich nur als Mittel dafür, allgemeingültige Aspekte des menschlichen Zusammenlebens und universale politische Gegebenheiten aufzuzeigen. Aber dass Tatjana Gürbaca die Geschichte nicht nur auf traditionelle Art und Weise simpel nacherzählen, sondern sie als Vehikel für eine übergeordnete Aussage nutzen würde, war ja von vornherein klar. Sie hat immer etwas von zentraler Relevanz zu sagen. Auch diesmal war das der Fall.

Jina Oh (Rinaldo)

Nicht mit einem konkret zu verortenden Geschehen haben wir es somit zu tun, sondern mit überall und zu jeder Zeit möglichen Handlungsmustern. Demgemäß wird der Hintergrund des von Stefan Heyne geschaffenen Einheitsbühnenbildes von einem überdimensionalen Weltenglobus mit Breiten- und Längengraden eingenommen, den die Regisseurin als Kommentarebene mit Hilfe von eingeblendeten Zwischentexten nutzt. Im weiteren Verlauf des Abends tritt eine riesige Weltenuhr an seine Stelle. Unter ihm sitzt auf einer Empore das Orchester einschließlich eines Donnerblechs als integrierter Bestandteil des gesamten - künstlerischen - Kosmos, während die Sänger auf einer über dem Orchestergraben errichteten Vorderbühne agieren. Dieses Verfahren ist nicht mehr neu. Ganz im Vordergrund befindet sich eine den Kreislauf der Welt versinnbildlichende drehbare Scheibe, auf der ein Sofa den von Silke Willrett zeitlich variabel eingekleideten Handlungsträgern von Zeit zu Zeit Bequemlichkeit bietet.

Jina Oh (Rinaldo) und Ensemble

Im Übrigen lässt das Bühnenbild eklatante Bezüge zu Charlie Chaplins „Moderne Zeiten“ erkennen. Die vielfältigen, teilweise recht gigantischen Räder, die den Hintergrund prägen oder bedrohlich vom Schnürboden herabhängen, nehmen in eindrucksvoller Art und Weise das Interieur des berühmten Stummfilmklassikers auf und weisen gekonnt den Weg zu dem eigentlichen, innovativen Kern des Ganzen. Nicht auf die Zeit der Kreuzzüge, von der ein Geschichtsbuch den Handlungsträgern Aufschluss gibt, nimmt Frau Gürbaca hier Bezug, sondern auf die als Folge der Industrialisierung entstandenen Klassenkämpfe des 19. Jahrhunderts, wobei sie keinen Zweifel daran lässt, dass sie die Grundaussage von Chaplins Film auch heute noch für gültig und letztlich für zeitlos erachtet. Dessen radikale kapitalismus- und sozialkritische Ausrichtung nimmt die Regisseurin geschickt auf und führt dem Zuschauer eindringlich eine Gesellschaft vor Augen, die gnadenlos dem Räderwerk von Industrie und Technik unterworfen ist, wobei sie gleichzeitig dem Publikum den Spiegel vorhält. Damit begibt sie sich ganz in das Fahrwasser Chaplins, der schon damals die Gefahren einer Überbetonung des industriellen Faktors erkannt und nachhaltig dagegen opponiert hat.

Die Botschaft ist klar: Was zuerst als Fortschritt erscheint, kann sich irgendwann einmal als Gefahr erweisen. Dafür ist Chaplins in „Moderne Zeiten“ vorgeführte „Fütterungsmaschine“, die zuerst harmlos erscheint, schließlich aber gefährlich wird, ein treffliches Beispiel. Sie symbolisiert die Auswüchse des Industriezeitalters, das außer Kontrolle gerät und seine eigenen Schöpfer zu verschlingen droht. Darum geht es auch hier. Allzu leicht kann die Menschheit Opfer des von ihr im Zuge eines fragwürdigen Fortschritts selbst geschaffenen monströsen Räderwerks werden und letztlich selber zur Maschine mutieren. Die menschliche Seele darf aber nicht zu „einer Art geistiger Automat“ werden, um es mal mit Leibniz zu formulieren, nicht an ihrer eigenen Hybris zugrunde gehen. Gegen diesen drohenden Verlust des menschlichen Faktors, der in Anlehnung an eine Formulierung von Edmond Halley nur einer „Himmelsmechanik“ unterworfen sein soll, geht Tatjana Gürbaca mit den Mitteln der Opernbühne auf die Barrikaden und richtet an das Auditorium ihr flammendes Plädoyer, seine Identität, sein Menschsein zu bewahren.

Jina Oh (Rinaldo), Radoslava Vorgic (Armida)

Zu diesem Zweck bringt sie auf symbolischer Ebene erst einmal zwei weibliche Engel, ursprünglich die Sirenen, ins Spiel, die gleich Amor ihre sprichwörtlichen Liebespfeile abschießen und die Liebe damit als edelstes Gefühl der Menschheit preisen. Und wie könnte man dieses hehrste Gut den Erdenbürgern besser vermitteln als durch die Musik, meint die Regisseurin und lässt demgemäß den Pfeil auch mal zum Violinbogen mutieren, der im Folgenden die Runde durch die Hände mehrerer Beteiligter macht. Sein Ansatzobjekt ist aber keine Violine, sondern eine gewöhnliche Pop-Gitarre, mit deren Hilfe Almirena im ersten Akt ihre Arie „Augelletti che cantate“ in einer schönen Naturstimmung komponiert, aber erhebliche Schwierigkeiten hat, den Notenständer aufzustellen. Nicht nur hier wird eine heiter-komische Komponente ins Spiel gebracht, die fernab von allem Ernst das Lachen als einzige Gesundungsmöglichkeit der tiefernsten Verstrickungen unterworfenen Gesellschaft propagiert. Nur so kann das spezifisch Humane erhalten werden.

Einfach köstlich ist schon  Gürbacas Zeichnung des Titelhelden, den sie als „Held in Arbeit“, als noch nicht gänzlich ausgereiften, manchmal etwas unbeholfen wirkenden Krieger auf seinem Weg zur Mündigkeit auffasst. An Rinaldo hat die Erziehung noch eines zu wirken. Der Vorteil seiner Unfertigkeit ist indes, dass er von den Schwankungen seiner Unwelt als Einziger nicht berührt wird. Letztere sind insbesondere in dem von bewussten Überzeichnungen und Slapstick dominierten Verhältnis von Goffredo und seinem nur „dreißig Sekunden zu spät geborenen“ - so eine der auf den Globus projizierten augenzwinkernden Anmerkungen der Inszenatorin - Bruder Eustazio zu merken. Ersterem behagt es nicht, dass ihm nicht allein die Staatsführung obliegt, letzterer lässt sich von der Spitze aber nicht so leicht verdrängen. Logisch, dass es unter diesen Umständen zwischen ihnen zum Streit kommt.

Aber nicht Waffen sind es, die den doch sehr selbstherrlichen Brüdern zur Austragung ihres Konfliktes dienen, sondern Federbälle. Das Federballspiel beherrschen beide ausgezeichnet. Auch Rinaldo und die beiden Engel finden daran Gefallen, während sich die sprunghafte, zeitweilig recht aggressive und insgesamt sehr erotisch gezeichnete Raucherin Armida lieber mit Kosmetikartikeln aus London, New-York, Tokio und Paris abgibt, die sie in einer Handtasche mit sich führt. Darüber hinaus stellt die Regisseurin gleichsam mit erhobenem Zeigefinger in Form einer eifrig ihrer Kriegsberichtserstattungsarbeit nachgehenden Kamerafrau den oft fragwürdigen modernen Presse- und Medienrummel an den Pranger. Es geht auf der Bühne schon ausgesprochen kurzweilig und rasant zu, wozu nicht zuletzt die wieder einmal hervorragende, lebendige und abwechslungsreiche Personenregie Tatjana Gürbacas, die die da-capo-Arien szenisch ausgezeichnet zu füllen weiß, einen immensen Teil  beiträgt.

Diese Geschichte mündet in ein äußerst vergnügliches Ende, an dem die Regisseurin den von ihr verurteilten Krieg in reichlich parodistischer Manier herrlich karikiert. Ein durch den „Zauber“ der Regie bei allen Beteiligten hervorgerufenes, augenscheinlich ganz dringendes menschliches Bedürfnis zwingt sie, zuerst einmal nicht das Schlachtfeld, sondern ein gewisses Örtchen aufzusuchen, das sie wohl nicht so schnell wieder verlassen werden. Humor, Selbstironie, Karikatives und Parodie als amüsante Mittel gegen den Krieg prägen das ungewöhnliche, aber recht lustige Ende. Hier ist Tatjana Gürbaca erneut ein großer und kluger Wurf gelungen, der ihr alle Ehre macht und ihren Abschied von Mainz schmerzlich erscheinen lässt.

Radoslava Vorgic (Armida)

Eine gute Hand für Händels Partitur bewies GMD Hermann Bäumer am Pult. In einer Zeit, in der die Werke des Haller Komponisten vorwiegend auf historischen Instrumenten gespielt werden, musste die von ihm und dem Philharmonischem Staatsorchester Mainz zu Gehör gebrachte Interpretation reichlich romantisch anmuten, was aber kein Fehler ist. Insbesondere bei den langsamen, gefühlvollen Arien machte sich diese Herangehensweise von Dirigent und Musikern bezahlt, zumal Bäumers Deutung der Partitur das barocke Flair mit zahlreichen spezifischen Coleurs, guter Transparenz und enormer Ausdrucksintensität nicht vernachlässigte, was sein Dirigat sehr vielschichtig und abwechslungsreich erscheinen ließ.

Saem You (Almirena)

Gespielt wurde die am 24. 2. 1711 am Queen’s Theatre, Haymarket, London uraufgeführte erste Fassung der Oper. Die Sänger, die trotz ihres jugendlichen Alters zum großen Teil bereits beachtliche Leistungen erbrachten, rekrutierten sich aus dem Jungen Ensemble des Staatstheaters Mainz. Jina Oh gab einen schauspielerisch wendigen, aufgedrehten Rinaldo, dem sie mit ihrem gut focussierten Mezzosopran auch stimmlich gut gerecht wurde. Über beachtliches dramatisches Sopran-Potential und prägnante Koloraturen verfügte Radoslava Vorgic, die der Armida auch darstellerisch ein überzeugendes Profil zu geben wusste. Ebenfalls vokal flexibel und mit schönem lyrischem Ausdruck präsentierte sich der vorbildlich gestützte Sopran von Saem Yous Almirena. Dem Argante von Dmitriy Ryabchikov fehlte es noch etwas an vollem, rundem Klang seines an sich nicht unangenehmen, im Augenblick aber noch etwas zu „deutsch“ geführten Baritons. Etwas italienischerer Natur hätten auch die Stimmen von Su-Jin Yang (Donna, Sirene) und Uiji Kim sein können. Solide Florian Küppers’ Mago. . Gastsänger Michael Taylor und Alin Deleanu waren als Brüderpaar Goffredo und Eustazio rein von der darstellerischen Seite her aber durchaus gefällig, genau wie der manchmal gesprochene deutschsprachige Extemporés von sich gebende Frederik Bak in der Rolle des Araldo. Beim herzlichen Schlussapplaus versammelten sich alle Solisten auf einer viel zu kleinen Couch um ihre aufgrund des großen Erfolges sichtbar glückliche Regisseurin Tatjana Gürbaca und zeigten das anrührende Bild einer kleinen, eng aneinander geschmiegten, aber glücklichen Künstlerfamilie.

Fazit: Eine klug durchdachte, kurzweilige und amüsante Produktion, zu der man Tatjana Gürbaca nur gratulieren kann und deren Besuch durchaus empfehlenswert ist.

Ludwig Steinbach, 5. 11. 2013

Die Bilder stammen von Martina Pipprich und Paul Leclaire.

 

*** Anmerkung der Redaktion, um Mißverständnisse zu vermeiden:

Bei den Titelgewinnern der Opernwelt findet keine "Wahl" statt. Frau Gürbaca hat einige Nominierungen aus der Reihe der 50 von der Opernwelt angeschriebenen Kritiker erhalten, aber insgesamt die meisten. Eine anschließende Wahl aus den Nominierten fand nicht statt. 

 

 
 

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