SAINT ÉTIENNE / Grand Théâtre Massenet
opera.saint-etienne.fr
Aufführung am 3. Mai 2019
Gelungene Wiederentdeckung des damals bekanntesten „Aschenbrödel“ mit einem fantastischen Jugendorchester
Es lohnt sich, in die so genannte „Provinz“ zu fahren, denn dort findet man seltene Werke und Initiativen, die man in der Hauptstadt oft vergeblich sucht. Nach der „Cendrillon“ von Massenet in Nantes (Merker 1/2019), fahren wir nun nach Saint-Etienne, 50 km südlich von Lyon. Die Geburtsstadt von Jules Massenet war in der Musikwelt lange bekannt für das Massenet-Festival, das es leider nicht mehr gibt. Aber die Oper spielt neben den gängigen Werken – im Juni „Carmen“ – immer noch Raritäten, wie zum Beispiel die kaum bekannte opéra comique von Gounod „Le Médecin malgé lui“ (nach Molière), über die wir mit Vergnügen im Merker berichtet haben (11/2015). Nun kommen wir für die quasi unbekannte opéra comique „Cendrillon“ von Nicolas Isouard, 1998 zum allerersten Mal durch Richard Bonynge auf Platte aufgenommen und die jetzt erst wieder eine Opernbühne erklimmt.
Die sehr willkommene Initiative stammt vom Palazzetto Bru Zane, das bei den letzten Opera Awards in London den Mäzenen-Preis für jetzt schon zehn Jahre Einsatz für die weniger bekannte französische Musik des 19. Jahrhunderts bekommen hat. „Cendrillon“ von Isouard ist ein Paradebeispiel für eines der vielen damaligen Werke, deren Wiederentdeckung man mit großer Freude begrüßt. Nicolas Isouard (1773-1818), der sich „Nicolò“ nannte (Napoleon liebte in der Musik alles was Italienisch klang), war ein damals sehr bekannter Komponist in Paris und seine „Cendrillon“ 1810 ein Welterfolg. Doch bei allem was jedes Jahr in Frankreich über Napoleon veröffentlicht wird und auch in den auffallend vielen Ausstellungen über Napoleon – zum Beispiel jetzt, sehr interessant, in Fontainebleau über seine Hofhaltung (eine große Ausstellung aus Montreal, die nach einer Amerika-Tournee bis zum 15. Juli in Frankreich zu sehen ist), sucht man die Musik vergebens. Die einzige Ausnahme ist das Palais Fesch in Ajaccio, wo ich in einem Ausstellungskatalog einen langen Artikel über die Musik bei den Bonapartes geschrieben habe – der erste auf Französisch seit über 50 Jahren.
Dabei gibt es viel zu berichten, denn die (österreichische) Kaiserin Marie-Louise spielte auf ihrer Harfe – die ihre Tante Marie-Antoinette am französischen Hof eingeführt hatte – gerne das Harfen-Solo aus Isouards „Cendrillon“ und es wird berichtet, dass sie mit ihren Hofdamen die damals sehr beliebten „Cendrillon“-Tänze in den Tuilerien getanzt hat. Denn in der französischen Fassung des Aschenbrödel-Märchens von Charles Perrault (1697) steht der Königshof im Mittelpunkt und die bei Jakob und Wilhelm Grimm (1819) dramaturgisch so wichtige verstorbene Mutter Aschenbrödels und die romantisch-philosophischen Naturbezüge kommen gar nicht vor.
Die Handlung beginnt mit einem Duo der beiden Stief-Schwestern „Arrangeons nos fleurs et nos dentelles“, die sich für den Hofball schmücken und ihre Tänze ausprobieren und sich dabei mokieren über das einfältige Bauernliedchen „Il était un petit homme“, das Aschenputtel gleichzeitig beim Kehren des Hofes singt. „Cendrillon“ ist also eine Parodie auf die Eitelkeit am Hofe, mit köstlichen gesprochenen Dialogen des damals an der Opéra Comique sehr beliebten Librettisten Charles-Guillaume Etienne. Einer der ersten Bewunderer dieses Librettos war Gioacchino Rossini, der es als Vorlage für seine „Cenerentola“ nahm, die er 1817 in weniger als einem Monat in Rom komponierte. Da Isouards „Cendrillon“ nur anderthalb Stunden dauerte, schmückte Rossini die Handlung gegen Ende aus und machte zum Beispiel aus dem verlorenen Schuh ein Armband.
Marc Paquien traf als Theater-Regisseur genau den richtigen Ton dieser komischen Oper. Manche Figuren und Szenen waren vielleicht ein bisschen überzeichnet, aber zwei der vier Vorstellungen in Saint-Etienne waren für Schüler vorgesehen, die schon an der Premiere zahlreich anwesend waren und sich köstlich amüsierten. Wir auch, vor allem in den gesprochenen Szenen mit viel „esprit“ (der sich schwierig ins Deutsche übersetzen lässt). Jean-Paul Muel, den wir noch aus dem Grand Magic Circus von Jérôme Savary erinnern, beherrschte als Baron de Montefiascone (bei Rossini, Don Magnifico barone di Montefiascone) die Bühne in den bunt japanisch-mexikanisch überzeichneten Kostümen von Claire Risterucci. Christophe Vandevelde konnte ihm als Diener Dandini (ebenfalls eine Sprechrolle) herrlich die Bälle zuwerfen, sowie der wohlklingende Bariton Jérôme Bouteiller als Prinzen-Erzieher und Magier Alidor. Bei den Sängern gaben unerwarteter Weise die Stiefschwestern, die den Abend mit ihren zierlichen Vorbereitungen eröffneten und mit ihrem bösen Gekeife beendeten, den Ton an. Isouard hat die drei weiblichen Hauptrollen den damaligen Sängerstars der Opéra Comique auf den Leib geschrieben – jede bekam (nur) eine große Arie - und Mmes Duret und Regnault besaßen offensichtlich Stimmen mit einer großen Bandbreite. So trumpfte Jeanne Crousaud als Clorinde in einer temperamentvollen Spanischen Bolero-Verführungsarie und Mercedes Arcuri als Tisbé in einer urkomischen Rache-Arie, in der Isouard offensichtlich seine Italienischen Kollegen karikierte, die am Hofe Napoleons so beliebt waren. Im Gegensatz dazu klang die schlichte Romanze der Cendrillon „Je suis fidèle et soumise“ – auch wenn wunderbar gesungen durch Anaïs Constans – etwas blass und ging Riccardo Romeo etwas unter als einfältiger Prince Ramir (bei Rossini Ramiro). Emmanuel Clolus schuf eine einfache Einheits-Drehbühne und Dominique Bruguière – in Wien bekannt durch ihre langjährige Zusammenarbeit mit Luc Bondy und Patrice Chéreau – eine ganz wunderbare Lichtregie, die noch einmal unter Beweis stellt, dass man auch mit wenigen und einfachen Mitteln gute Kunst machen kann.
Der Clou des Abends war für uns die Musik, die Julien Chauvin mit großem Können dirigierte (sowie er es auch auf vielen CDs des Palazzetto Bru Zane tut). Und die Überraschung kam auf der Premierenfeier. Denn als ich dem sympathischen jungen Dirigenten zu seinem makellos klingenden Orchester komplimentierte – man hatte mich noch kurz vor Beginn der Vorstellung gewarnt, dass es sich nicht um das reguläre Opernorchester handelte – und fragte, wer denn dieses lange Horn-Solo von der Seitenbühne und das schöne Harfensolo gespielt hätte, erklärte er, dass die beiden Solisten 13 und 16 Jahre alt sind !! Denn der musikliebende Bürgermeister Gaël Perdriau fordert seit Jahren, dass die Oper in Saint-Etienne auch Jugendliche einbezieht. Deswegen befindet sich gleich neben dem Bureau des Intendanten Eric Blanc de la Naulte das des „Musik- und Jugendverantwortlichen“ François Bernard, der eine höchst originelle Zusammenarbeit mit dem Conservatoire Massenet begonnen hat. Da viele Orchestermusiker dort auch Lehrer sind, können einige Schüler nach einem Jahr Proben mit Eric Varion in ausgewählten Produktionen mit dem regulären Orchester mitspielen. So saßen 23 Jugendliche von 12 bis 26 Jahren neben 21 erfahrenen Orchestermusikern im Graben und haben dort eine sicherlich einzigartige Erfahrung gemacht. Wo sieht man das sonst? Komplimente für alle Beteiligten und diese wirklich exemplarische Jugendarbeit! Die Premiere war überaus erfolgreich und die Oper in Caen hat bereits angekündigt, dass sie diese Produktion nächstes Jahr übernehmen will. Wir freuen uns für Isouard und sein wiedergefundenes Meisterwerk!
Fotos (c) Cyrille Cauvet
Waldemar Kamer 7.5.2019
Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online
Opéra de Saint-Etienne: www.opera.saint-etienne.fr
Libretto und Informationen: www.bruzanemediabase.com
Der Hof von Napoleon: www.chateaudefontainebleau.fr
OPERNFREUND PLATTENTIPP
Eine empfehlenswerte, gut illustrierte Referenzaufnahme.
Oper von Charles Gounod
am 17.10.2015
TRAILER
Saint-Étienne, die derzeit vierzehntgrößte Stadt Frankreichs, ist die Hauptstadt des südfranzösischen Départements Loire in der Region Rhône-Alpes und liegt etwa 50 Kilometer südwestlich von Lyon. Die Stadt wurde im Mittelalter zu einem Zentrum der Metallverarbeitung und war vor allem für seine Waffenfabriken bekannt. Die Hochblüte erlebte die Stadt zu der Zeit, als hier Steinkohle abgebaut wurde. Doch die Krise der Montanindustrie traf auch Saint-Étienne. Die Bevölkerungszahl ging von ca. 220.000 (Ende der Sechzigerjahre des vorigen Jahrhunderts) auf derzeit etwa 170.000 zurück. Berühmtester Sohn der Stadt ist Jules Massenet, der hier 1842 geboren wurde.
Nach ihm ist auch das Opernhaus der Stadt benannt, das inmitten eines Parks auf einem Hügel liegt. Und Werke von Massenet stehen natürlich auch regelmäßig auf dem Spielplan des Opernhauses. Gespielt werden aber auch andere Raritäten, wie nun „Le médecin malgré lui“, die dritte der zwölf Opern von Charles Gounod.
Diese dreiaktige Opéra-Comique erlebte am 15. Jänner 1858 im Théâtre Lyrique in Paris ihre Uraufführung, nur ein Jahr vor der Uraufführung seines wohl bedeutendsten Werkes, dem „Faust“. Das Textbuch verfasste das berühmte Librettisten-Duo Jules Barbier und Michel Carré, das der Opernwelt ja so viele Textbücher beschert hat wie „Dinorah“ (Meyerbeer), „Faust“ und „Roméo et Juliette“ (Gounod), „Hamlet“ und „Mignon“ (Thomas) und „Les Contes d’Hoffmann“ (Offenbach). Das Textbuch basiert auf dem gleichnamigen Schauspiel von Molière. Da es sich ja um ein Werk der Gattung Opéra-Comique, also um eine Oper mit gesprochenen Dialogen (und nicht mit gesungenen Rezitativen) handelt, kamen die Librettisten auf die geniale Idee, dabei Originaldialoge von Molière zu übernehmen. Das war auch der Grund, warum die Comédie–Française, allerdings erfolglos, versucht hat die Aufführung zu verhindern. Damals gab es eben noch keine Copyright-Gesetze.
Der Holzfäller Sganarelle hat wieder einmal einen über den Durst getrunken. Im Zuge eines Streites schlägt er seine Frau Martine, die daraufhin Rache schwört. Als sie von zwei Bediensteten des reichen Géronte, erfährt, dass deren Herr sie ausgesandt hat um einen Arzt zu finden, der seine von plötzlicher Stummheit befallene Tochter heilen soll, behauptet Martine, dass Sganarelle ein berühmter Arzt, aber sehr exzentrisch sei und seinen wahren Beruf nur unter Schlägen zugeben würde. Nachdem Sganarelle von den beiden Dienern ordentlich verprügelt wurde, gesteht er ein Arzt zu sein, noch dazu, wo er sich verspricht auf diese Weise leicht Geld verdienen zu können. Lucinde, die Tochter des Géronte, liebt Léandre, dieser wird aber von ihrem Vater nicht als würdiger Bräutigam angesehen, da er mittellos ist. Er möchte daher seine Tochter mit einem reichen Kandidaten verheiraten. Diese stellt sich nun aus Trotz stumm. Der „Arzt“ Sganarelle versteht sehr rasch die Zusammenhänge, erklärt sich bereit Lucinde heilen zu wollen und engagiert zu diesem Zweck den verkleideten Léandre als seinen Apotheker. Sganarelle macht sich indessen an Lucindes Amme Jacqueline heran. Als Géronte bemerkt, dass Sganarelle seiner Tochter zur Flucht mit Léandre verholfen hat, will er den falschen Arzt hängen lassen. Es gibt aber natürlich ein Happy-End. Lucinde und Léandre kehren zurück. Da Léandres Onkel gestorben ist und seinem Neffen ein Vermögen hinterlassen hat, erlaubt nun Géronte die Heirat seiner Tochter mit Léandre. Und Martine, die sich mit Sganarelle versöhnt hat, ist glücklich über den sozialen Aufstieg ihres Gatten zum „Arzt“.
Gounod hat dazu eine liebliche, aber keineswegs sentimentale Musik geschrieben. Musikalische Kostbarkeiten sind etwa der Chor der Holzfäller, die Serenade des Léandre und das große Sextett im 2. Akt. Héctor Berlioz hat diese Oper sehr geschätzt. Allerdings muss man konstatieren, dass die Genialität des Komponisten sich tatsächlich erst ein Jahr später beim „Faust“ offenbart hat.
Diese Oper wird im französischen Sprachraum gelegentlich gespielt (zuletzt 2009 in Dijon und Lille, 2010 in Rouen und 2011 in Versailles), im deutschsprachigen Raum begegnet man diesem Werk kaum noch. Es gibt übrigens auch eine Rezitativ-Fassung von dieser Oper. Kein Geringerer als Erik Satie hat für eine Aufführung dieses Werkes an der Opéra de Monte Carlo 1923 Rezitative nachkomponiert, aber diese Fassung hat sich wohl nicht durchgesetzt.
Die Österreichische Erstaufführung dieser Oper fand übrigens sehr spät, nämlich erst 1971 (!) an der Wiener Volksoper statt. In einer Inszenierung von Jean-Pierre Ponnelle sangen unter der musikalischen Leitung von Jean Périsson u.a. Robert Granzer den Sganarelle, Mirjana Irosch die Martine, Karl Dönch den Géronte, Renate Holm die Lucinde, Hilde Rössel-Majdan die Jacqueline und Adolf Dallapozza den Léandre.
Hier in Saint-Étienne hat nun der Regisseur Alain Terrat die Oper mit feinem Humor, der nur selten in Slapstick abglitt, inszeniert. Das Bühnenbild für alle drei Akte bestand nur aus einem Gartenpavillon, die barocken Kostüme waren farbenprächtig und wohl ein wenig ironisch gemeint (Ausstattung: Jérôme Bourdin). Mit einer ausgezeichneten Lichtregie (Pascal Noel) konnte die Stimmung auf der Bühne leicht an die jeweilige Situation angepasst werden.
Philippe-Nicolas Martin verfügt nicht nur über einen traumhaft schön timbrierten lyrischen Bariton, sondern auch über ein großes Maß an Spielfreude. Sein Sganarelle war einfach umwerfend. Mit etwas sprödem Mezzosopran war Marie Gautrot ideal als keifende Ehefrau Martine. Jean-Christophe Born verfügt über einen dunkel timbrierten lyrischen Tenor, der mit seiner schön gesungenen Serenade nicht nur seine Lucinde, sondern auch die Herzen der Zuseher eroberte. Jennifer Courcier spielte eine verwöhnte Göre, die lange stumm bleiben musste, aber wenn sie singen durfte, dann tat sie das mit ihrem hübschen Sopran sehr gut. Die Mezzosopranistin Sophie Leleu wirkte als Lucindes lebenslustige Amme Jacqueline zwar viel zu jung, aber dafür war das Techtelmechtel, das sich zwischen ihr und Sganarelle anbahnte, auch glaubhafter. Virgile Ancely, der den Vater Géronte sang, besitzt eine nicht allzu große, aber angenehm klingende Bassstimme. Jean-Kristof Bouton und Carl Ghazarossian ergänzten als etwas dümmliche Diener ganz ausgezeichnet. Der klein besetzte Chœur Lyrique Saint-Étienne Loire sang den Chor der Holzfäller, der hier eigentlich ein Chor der Gärtner war, sehr schön. Sehr homogen und klangschön präsentierte sich das Orchestre Symphonique Saint-Étienne Loire unter der musikalischen Leitung von Laurent Touche.
Eine in jeder Hinsicht ausgezeichnete Aufführung eines Werkes, dem man nicht allzu oft begegnen wird. Noch ein Tipp für alle, die dieses Werk auf der Bühne erleben wollen: das Grand Théâtre de Genève plant im April 2016 eine Aufführung dieser Oper in einer Inszenierung von Laurent Pelly.
Walter Nowotny
Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online (Wien)
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