DER OPERNFREUND - 51.Jahrgang
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(c) Julien Fernandez

 

www.opera-bordeaux.com

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


TRILOGIE MOZART-DA PONTE

an der Opéra National de Bordeaux – 4-6 VI 2022

Zum ersten Mal die drei Opern an drei Tagen mit denselben Sängern: eine eindrucksvolle Team-Leistung, die unerwartete Bezüge zwischen den drei Werken aufdeckt – demnächst in Ravenna und Versailles...

 

So einfach kann es sein: drei Opern an drei Tagen in einem Bühnenbild (von Antoine Fontaine). Hier nächtlicher Zauber in „Don Giovanni“ mit (immer von links) Alix le Saux (Zerlina), Alexander Rosen (Masetto) und Alexandre Duhamel (Don Giovanni).

Mozart-Da Ponte-Trilogie“ ist zurzeit ein Mode-Begriff, dem man überall begegnet. In Berlin, Paris und Wien erarbeitet man Neu-Produktionen der „Trilogie“ - meist eine pro Jahr mit demselben Regisseur - als ob es das Selbstverständlichste der Welt sei. Doch wenn man sich die Rezeptionsgeschichte ansieht, entdeckt man mit Erstaunen, dass es fast 200 Jahre dauerte bis der Begriff „Trilogie“ überhaupt erst aufkam. Denn weder der Komponist noch der Librettist haben die drei Opern als ein „Terzett“ verstanden und die Zeitgenossen noch viel weniger. Im 19. Jahrhundert wurde hauptsächlich „Don Giovanni“ gespielt – auch für Wagner „die Oper aller Opern“ - und dies hauptsächlich wegen dem Stoff, mit dem sich im Jahrhundert der Umwälzungen und Revolutionen zahllose (romantische) Dichter und Schriftsteller identifizieren konnten und der dadurch - ähnlich wie Faust - einen ganz eigenen Mythos entwickelte. „Le Nozze di Figaro“ galt als ein etwas veraltetes Lustspiel des verflossenen 18. Jahrhunderts und „Cosi fan tutte“ wurde so gut wie gar nicht gespielt. Erst Gustav Mahler (als Operndirektor in Wien) und Richard Strauss (als Dirigent) holten „Cosi“ wieder ins Repertoire, bis in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die neuen „Mozart Festivals“ in Glyndebourne und Aix-en-Provence programmatisch mit „Cosi“ eröffnet wurden. Und erst Dank dieser Aufwertung von „Cosi“ konnte der Gedanke an eine „Trilogie“ mit drei gleichwertigen Opern keimen.

Giorgio Strehler, der alle drei Werke wunderbar inszenierte, hat meines Wissens, trotz seiner unglaublichen Bildung und Akribie, von 1973 bis 1997 den Begriff „Trilogie“ nie benutzt und die drei Opern ohne erkennbaren Zusammenhang inszeniert. Peter Sellars sprach in den 1990-Jahren wohl von einer „Trilogie“, doch der einzige Zusammenhang war, dass er alle drei Opern in „heutiger Zeit in New York“ inszenierte (was damals für einen Riesen-Trubel sorgte). Soviel ich erinnere, hat Jean-Pierre Ponnelle als einer der ersten die drei Opern ab 1972 in Salzburg in drei ähnlichen Bühnenbildern inszeniert (die an der Wiener Staatsoper von 1977 bis 2022 im Repertoire blieben), bis Pierre Constant als wahrscheinlich erster alle drei „en suite“ 1995 in Tourcoing und dann auf großer Tournee im gleichen Bühnenbild brachte (was mir aber damals keine sonderlichen Einsichten bescherte). Eine Generation später suchen die heutigen Regisseure nach inhaltlichen Bezügen zwischen den drei Werken. So hat Vincent Huguet gerade eine „Trilogie“ in Berlin abgeschlossen, die mit „Cosi“ anfing („Sexualität“ in den 1968-Jahren“), mit „Le Nozze“ weiterging als „Komplikationen in der Zeit um den Mauerfall 1988/89“ und nun im April 2022 endete mit „Don Giovanni“ als „Altersdesillusion in heutiger Zeit“ (2019). Ob dies Konzept aufging oder nicht kann ich nicht persönlich beurteilen, aber nach meinen (Merker-)Kollegen zu urteilen, eher nicht.

 

Aus Cherubino wird Don Giovanni und dann Don Alfonso

 

Dagegen geht das Konzept von Ivan Alexandre und Marc Minkowski wunderbar auf, mehr noch: es gibt unerwartete Einblicke in die Zusammenhänge zwischen den drei Opern, die quasi zu einem pochenden Herzen verschmelzen. Und dies, obwohl wir „gefühlt“ alle drei schon „hundert Mal“ gesehen & gehört haben und glaubten sie schon in- und auswendig zu kennen. Dies erreichen sie mit den allereinfachsten Mitteln: einfach indem sie haargenau in die Partitur und in den Text horchten und so musikalische und inhaltliche Bezüge aufdeckten. Es ist ein langes Projekt, mit 20 Jahren (!) Vorlauf (siehe das beigefügte Interview mit dem Regisseur). Denn als Ivan Alexandre 2000/2002 sein Konzept erarbeitete, war er noch ein Musikjournalist und Autor in Paris und war dies zuerst ein Gedankenspiel (seine erste Operninszenierung war erst 2007). Doch da seine Gedankenspiele aus einem hochgebildeten und zugleich fantasievollen Gehirn entspringen (man lese nur seine Bücher und sein für den nächsten Frühling endlich angekündigtes Buch über die Mozart/Da Ponte-Trilogie, an dem er schon viele Jahre schreibt), ging eine Intendantin auf dieses in vieler Hinsicht waghalsige Unternehmen ein. 2015 war die Premiere von „Le Nozze di Figaro“ im Schlosstheater von Drottningholm, 2016 folgte dort „Don Giovanni“ und 2017 „Cosi fan tutte“, die alle drei einzeln im Schlosstheater von Versailles nachgespielt und dort durch mich rezensiert wurden – ohne dass die nun aufgedeckten Bezüge für mich deutlich wurden. Denn diese erkennt man erst, wenn die drei Werke in drei aufeinanderfolgenden Tagen gespielt werden.

 

Solch ein temperamentvolles Spiel entsteht, wenn ein eingeschworenes Ensemble Wochen, Monate und Jahre zusammenarbeitet. Hier in „Cosi fan tutte“: Ana Maria Labin (Fiordiligi), Alexandre Duhamel (Don Alfonso), Angela Brower (Dorabella) und die Rücken von Robert Gleadow (Guglielmo) und Miriam Albano (Despina).

 

Bei den Uraufführungen in Wien und Prag sang Francesco Bennucci erst den Figaro, dann Leporello und danach Guglielmo

 

Ausgehend von der Aufführungsgeschichte und von dem was Mozart, Da Ponte, einige Sänger und Zeitgenossen dazu in ihren Briefen und Memoiren geschrieben haben, sieht das Konzept von Ivan Alexandre (schematisiert) so aus: Aus dem Cherubino, dessen Herz in „Le Nozze“ für alle Frauen schlägt („ogni donna mi fa palpitar“), wird der wenig wählerische Schürzenjäger Don Giovanni („Non si picca se sia ricca, se sia brutta, se sia bella ; purché porti la gonella voi sapete quel che fa“), der im Alter zum abgebrühten „Frauenkenner“ Don Alfonso mutiert („Giacché giovani, vecchie, e belle e brute (...) Cosi fan tutte“). Mozart baute selbst viele Brücken, indem er u. A. im „Don Giovanni“ ironisch eine Figaro-Arie zitiert („Ach die haben wir schon zu oft gehört“!) und auch Figaro-Versatzstücke in „Cosi“ wieder aufnimmt. Auch die Sänger der Uraufführung(en) sahen & sangen diese lustigen Bezüge, da diese teilweise extra für sie komponiert wurden. So war es z.B. der gleiche Francesco Bennucci, der erst Figaro, dann Leporello und danach Guglielmo gesungen hat. Mit diesem „Ensemble-Geist“ bat Ivan Alexandre den Ausstatter Antoine Fontaine für eine einfache Holzbühne aus der Commedia dell’Arte, mit schlichten Kostümen und Requisiten, die in allen drei Opern benutzt werden und während der Vorstellung am Rande der Bühne liegen, wo die Sänger sich (natürlich stilisiert) vor unseren Augen anziehen und schminken. Erste Überraschung: allein schon durch die einfache Bühne erkennt man sofort szenische Bezüge zu den Lustspielen nicht nur von Beaumarchais (in „Le Nozze“), sondern – für mich total unerwartet - auch zu Molière und Marivaux (vor allem in „Cosi“). Marc Minkowski war bereit, die drei Opern in je drei Tagen zu dirigieren, was keineswegs selbstverständlich ist. Denn das heißt: drei Tage nacheinander drei Stunden (mit stets nur einer Pause) spielen & singen, wonach es nach nur einem Ruhetag (am Ende zwei) gleich wieder im selben Tempo weitergeht. Das sind permanente „Überstunden“ für alle Beteiligten und mit den Proben 4 Monate „Marathon“, mit 24 Vorstellungen (30 wenn man die öffentlichen Generalproben mitrechnet) in nur 2 Monaten! Erst einige Serien in Barcelona und danach in Bordeaux, wo in der von mir besuchten letzten Serie die Sänger also 12 Vorstellungen in 17 Tagen gegeben haben. So entstand ein eingeschworenes, exquisites Mozart-Ensemble, mit Sängern die quasi alle Rollen (oft schon lange) kennen und diese ggf. austauschen und voneinander übernehmen. Sie waren vielleicht nicht ganz so jung wie bei den Uraufführungen (wo z.B. Don Giovanni 21 und Barbarina nur 12 Jahre alt waren!), aber wirkten wie 25-30 Jahre, was den drei Abenden eine beschwingende Jugendlichkeit, Frische und Leichtigkeit gab. Denn es handelt sich ja ursprünglich um eine/drei opera buffa(s) - nur „Don Giovanni“ bekam das einmalige Label dramma giocoso -, die 1786-89 durch eine „Buffo-Truppe“ in Wien und Prag uraufgeführt wurde(n).

 

„LE NOZZE DI FIGARO“ (4 VI 2022)

 

Seit sieben Jahren eröffnet er den Vorhang: Robert Gleadow, „darstellerische Säule“ dieser ganzen Trilogie (hier als Figaro, der sein neues Zimmer entdeckt).

Der Abend wird eröffnet durch den Figaro von Robert Gleadow, den man ohne Einschränkungen wohl als „darstellerische Säule“ dieser ganzen Trilogie bezeichnen kann.

Er ist seit 2015 dabei und der Regisseur erzählte mir, dass Robert Gleadow inzwischen alle Rollen auswendig kennt und in den Proben, falls die Kollegen anderweitig beschäftigt sind, ihren Part gerne übernimmt und so auf einer Probe gleichzeitig Leporello, Don Giovanni und Masetto spielte und sang! Er besitzt eine schier unglaubliche Energie und tigert mit einer solchen Kraft über die Bühne, dass Mick Jagger im Vergleich zu ihm wie ein zahmes, zitterndes Schoßhündchen wirkt. Solch ein Temperament ist manchmal schwierig zu bändigen und in einigen anderen Produktionen – er hat Figaro und Leporello schon über 70-mal in der ganzen Welt gespielt (auch an der Wiener Staatsoper) – sang er für mein Empfinden einige seiner Kollegen an die Wand (so 2013 in Paris). Doch davon ist hier keine Rede, denn es herrscht ein wirklicher Ensemble-Geist, wo niemand den anderen übertrumpfen will. Und sowieso ließ sich seine Susanna nicht an die Wand singen. Denn Ariana Vendittelli ist genauso eine Tigerin wie er und hat ebenfalls quasi alle weiblichen Rollen der Trilogie in ihrem Repertoire. Zwischen den beiden knisterte es so stark (auch an den anderen Abenden), dass die Funken bis ins Publikum sprangen. Ein beschwingter Auftakt! Da konnte der Conte Almaviva natürlich nicht mithalten. Florian Sempey, den wir vor allem als Figaro kennen und schon seit seinen Anfängen verfolgen (man lese das Interview mit ihm), erschien als sympathisch junger Graf, was der Figur eine unerwartete Menschlichkeit gibt. Denn so scheint er nicht aus Zynismus permanent untreu und eifersüchtig geworden zu sein, sondern aus Erziehung – was genau die politische Aussage des Stückes von Beaumarchais war, die auf persönliche Bitte des österreichischen Kaisers durch Da Ponte aus dem Libretto gestrichen wurde.

 

Florian Sempey, den wir vor allem als sympathischen Figaro kennen (siehe Interview), nun als eifersüchtiger Graf, der der Gräfin (Ana Maria Labin) das Leben schwer macht.

Ana Maria Labin erscheint – erst hier als Contessa – als ein zweiter Pol des Ensembles. Nicht mit Kraft und Power wie Robert Gleadow, sondern mit einer unglaublich differenzierten Rollengestaltung und so vielen Nuancen, dass jedes Mal wenn sie singt es ganz still im Saal wird - weil sie wie eine Magierin die Zeit anhalten kann und jeder ihr Herz schlagen hören will. So ein mitreißendes „Dove sono“ habe ich selten gehört. Das liegt auch an der Inszenierung: denn da es keine Bühnenbildwechsel gibt (nur Vorhänge mit z.B. gemalten Türen, die die Sänger selbst nach Gebrauch beseitigen), bleibt diese Arie mitten in der allgemeinen Handlung, was im Eindruck alles ändert. Denn jetzt hören wir schon im (rasant schnellen) Rezitativ ein verletztes Herz, das mit sich und dem Leben ringt - und nicht, wie so oft nach dem Bühnenbildwechsel, eine etwas statisch-distanzierte Aristokratin in ihrem goldenen Käfig. Dass sich Cherubino in diese Gräfin verliebt (und, so Beaumarchais, später ein Kind mit ihr zeugt) verstehen wir sofort. Und dass er zuvor für quasi alle Frauen schwärmt, auch. Miriam Albano (die unter Dominique Meyer im Ensemble der Wiener Staatsoper war) ist eine Idealbesetzung: sie stammt aus Venedig und hat die Commedia dell’Arte in ihrem ADN und gleichzeitig singt sie mit fein ziselierten Verzierungen. In „Voi che sapete“ bleibt sie einerseits total in der Rolle und gleichzeitig entwickelt sie in der Wiederholung feine kleine Verzierungen die wir noch nie gehört haben. Das gilt übergreifend für das ganze Ensemble: einerseits wird die Handlung ohne Pausen mit Temperament vorangetrieben, andererseits wird in den Wiederholungen auf höchstem musikalischem Niveau verziert und ziseliert – womit wieder neue Gefühle & Inhalte zum Ausdruck kommen. Langeweile gibt es nicht!

Eine so komische Marcellina wie Alix Le Saux habe ich selten erlebt: nicht eine vertrocknete alte Frau, sondern eine energische „Servante“ von Molière, die sich von Niemandem etwas sagen lässt (auch nicht durch ihren wiedergefundenen Sohn). Auch einen so temperamentvoller Don Basilio war mir neu: Paco Garcia dirigierte als „Hausmusikmeister“ das Sänger-Ensemble im Finale, quasi als ob er dem eigentlichen Dirigenten den Stab aus der Hand nahm. Norman Patzke sang zum Beginn des Abends fulminant die „Vendetta“ des Bartolo und war danach als Gärtner Antonio so urkomisch, dass ich erst beim Lesen des Programmheftes feststellte, dass es sich beide Male um denselben Sänger handelte (dies auch übergreifend für alle Doppel-Rollen). Der musikalische „Ausklang“ des Abends war die Arie der Barbarina. Manon Lamaison gestaltete sie so berührend schön, dass wir alle die Luft anhielten und bedauerten, dass sie so kurz ist. Sie wurde halt für die damals zwölfjährige Anna Gottlieb komponiert - die mit 17 die erste Papagena singen würde.

 

„DON GIOVANNI“ (5 VI 2022)

 

So haben wir die berühmte „Katalog-Arie“ noch nie gespielt gesehen: als Buffo-Arie, in der Leporello (Robert Gleadow) seine Kleider auszog und Donna Elvira (Ariana Venditelli) ihn betastete (um wirklich alle Namen zu lesen)

Notte e giorno faticar“ – schon wieder eröffnet Robert Gleadow, nun als Leporello, den Abend und es geht ein Lächeln durch das Publikum. Denn es erscheint so als ob der Sänger, der sich weigert den kleinen Bühnenvorhang zu öffnen, nicht mehr in dieser Geschichte mitmachen will. Denn eigentlich wiederholt sich die gleiche Handlung: in „Le Nozze“ kann der Graf mit den Frauen nicht „zur Sache“ kommen, weil an diesem „verrückten Tag“ immer wieder in letzter Minute ein unerwarteter Störenfried erscheint - genauso wie bei „Don Giovanni“ im letzten Moment immer wieder etwas Unerwartetes dazwischenkommt. Beide Male müssen die Diener mithelfen und dabei auch Kostüme mit ihren Herren tauschen etc (viele Parallelen!). Alexandre Duhamel erscheint als Don Giovanni in derselben Frackjacke, die Cherubino getragen hatte (nur dass sie bei dem Jüngling zart rosa war und nun bei dem gestandenen Mann braun geworden ist). Eigentlich kann man nur wiederholen, was man am Vorabend über seine Ensemble- Kollegen geschrieben hat: er singt und spielt temperamentvoll mit sonorer Stimme, was ihn aber nicht daran hindert in der Reprise von „Deh vieni alla finestra“ ins mezza-voce zu wechseln mit einem piano, dass man im Saal die Luft anhält. Seine große Gegenspielerin ist Donna Elvira, aus der Ariana Venditelli (Susanna des Vorabends) eine leidenschaftlich-temperamentvolle Spanierin macht, wieder mit vielen Nuancen, wie z.B. in der Reprise von „Ah chi mi dice mai“. Der szenische Höhepunkt – weil so vollkommen originell und unerwartet – war ihre (als Zuhörerin) und Leporellos „Katalog-Arie“. Denn dieser hatte die Namen der vielen Frauen nicht in ein Büchlein, sondern auf seinen ganzen Körper geschrieben und aus der bekannten Arie wurde ein Striptease, in dem Gleadow provokant genüsslich seine Kleider auszog - ohne dabei vulgär zu werden - und Donna Elvira in den Reprisen ihn betastete um wirklich alle Namen zu lesen. Herrlich: die bekannte Katalog Arie mal als Buffo-Arie gespielt.

 

In „Don Giovanni“ wiederholt sich die gleiche Handlung wie in „Le Nozze“: immer wenn der Conte/Don „zur Sache“ kommen will, erscheint in letzter Minute ein Störenfried. Vorne: Alix le Saux (Zerlina) und Alexandre Duhamel (Don Giovanni), hinten: Leporello (Robert Gleadow), Donna Elvira (Ariana Venditelli), Donna Anna (Iulia Maria Dan) und Julien Henric (Don Ottavio).

In Versailles haben wir 2017 Ana Maria Labin unvergesslich als Donna Anna erlebt. Doch drei so große Rollen wie Contessa + Donna Anna + Fiordiligi in drei Tagen war der erfahrenen Mozart Sängerin für ihre Stimme zu riskant (womit wir ihr Recht geben). So sprang Iulia Maria Dan ein, die wunderbar sang, aber eben nicht schon seit sieben Jahren in diesem Trilogie-Ensemble mitwirkt, was ihre Rollengestaltung etwas einseitiger machte als brave Tochter & Verlobte (dabei wird die Figur noch vielschichtiger, wenn es auch zwischen ihr und Don Giovanni knistert). Das gleiche gilt auch für Julien Henric, der auch neu dazukam und nun als Don Ottavio debütiert. Aber dies ist Klagen auf hohem Niveau, denn beide haben makellos gesungen. Und wieder „siegte“ das „niedere Paar“ über dem gesellschaftlich „höherem“. Alix le Saux (am Vorabend noch Marcellina) war nicht wiederzuerkennen als Zerlina und gab dieser Figur eine solchen Präsenz, dass man endlich verstehen konnte, warum zu Mozarts und Da Pontes Zeiten die Primadonnen und Gattinnen von Operndirektoren Zerlina singen wollten und nicht Donna Anna oder Donna Elvira. Das kam auch durch den ungewöhnlich sonoren Masetto von Alexander Rosen. Denn dieser sang auch - wie bei der Uraufführung - den Commendatore, womit Masetto vokal ein wirklicher Gegenpart zu Don Giovanni und Leporello wird und seine Drohung, Don Giovanni umbringen zu wollen, eine ganz andere Dimension bekommt. Zum Schluss noch etwas zu der Bühnen-Musik: all und voran Maria Shabashova am Pianoforte, die auch einige Einlagen spielte (wozu später mehr), Thomas Bienabe an der Mandoline, Pierre-Raphaël Halter und Guilherme Pelaes am Kontrabass und die Geiger Agnès Viton und Boris Rojanski, die aus dem (erhöhten) Orchestergraben auf die Bühne stiegen um mit zu spielen. Das geschah mit so einer Natürlichkeit, als ob die Musiker mit zum Darsteller-Ensemble gehörten - was dem Abend auch die oben erwähnte Frische und Leichtigkeit gab.

 

„COSI FAN TUTTE“ (6 VI 2022)

 

Bei solch temperamentvollen Damen weiß Despina auch eben nicht weiter: die herrlich komödiantische Miriam Albano (Despina) zwischen „zwei Feuern“: Angela Brower (Dorabella) und Ana Maria Labin (Fiordiligi).

La mia Fiordiligi tradirmi non sa“. Schon wieder fängt der Abend mit Robert Gleadow an, jetzt als Guglielmo, auch wenn er nicht mehr der Drahtzieher des ganzen Geschehens ist. Das ist nun der alte Don Alfonso von Alexandre Duhamel, im gleichen, etwas abgewetzten Kostüm wie Don Giovanni und nun mit grauen Haaren. Er hat mit seinem sonoren Bass sofort die durch alle anerkannte Autorität des „alten Philosophen“, was noch einmal belegt, dass das reale Alter eines (jungen) Sängers – wie zu Mozarts Zeiten - nichts zu tun hat mit dem der durch ihn verkörperten Figur. Die zweite Drahtzieherin ist Despina, die als Figur schon aufgewertet wird, weil vor ihrer ersten Arie auf dem Pianoforte „Notte e giorno faticar“ eingeschoben wird. So erklingt ihr Auftritt mit „Che vita maledetta è il far la cameriera! Dal mattino alla sera si fa“ als eine quasi textgleiche Klage wie Leporellos Auftrittsarie (war mir noch nie aufgefallen). Miriam Albano kann ihre im Cherubino gezeigten Commedia dell’Arte-Karten nun weiter ausspielen und ist neben einer lupenreinen Despina – herrlich ihr schelmischer „Una donna a quindici anni dee saper ogni gran moda, dove il diavolo ha la coda“ - auch noch ein komödiantischer „dottor miraculo“, der sieben Sprachen spricht & singt und im zweiten Akt ein herrlich langweiliger Notar (beide von Molière!), der sich nicht scheut, auch mal betont langweilig und unverständlich zu singen. Köstlich und im gleichen Kostüm des Anwalts aus „Le Nozze“ (wieder Parallelen!).

Robert Gleadow ist als Verführer wieder in seinem Element mit „Non siate ritrosi, occhietti vezzosi“ und ging in der Gartenszene mit Dorabella echt zur Sache. Doch bei dem Kriechen in die Unterbühne – sowie er es an beiden Vorabenden schon gemacht hat – scheint er einen Muskel gezerrt zu haben, denn danach konnte er ein kleines Humpeln nicht kaschieren. Der Tiger-Sänger griff nun zu seinen allerletzten Kraftreserven, was seine sowieso schon imposante Bühnenpräsenz noch berührender machte. James Ley verausgabte sich als Ferrando so sehr im kraftvollen Zusammenspiel mit Gleadow, dass ihm bei seiner gleichfolgenden Arie „un‘ aura amorosa“ offenbar der Atem fehlte und er bei der Reprise mit seiner wunderschönen Stimme nicht ins mezza-voce und piano überwechseln konnte – obwohl ihm der überaus Sängerfreundliche Dirigent (man spürte ihn wirklich mit den Sängern atmen!) vor der besagten Reprise eine betont lange Atempause gewährte. Angela Brower hatte als spielfreudige Dorabella damit kein Problem, weil sie seit Jahren mit zum Ensemble gehört und in vorigen Serien auch Susanna und Zerlina gesungen hat. Sie war eine wunderbare Partnerin für Gleadow und eine richtige Schwester für Ana Maria Labin, die als Fiordiligi der schillernde Stern des Abends war (auch vokal mit einem eingeschobenen hohen F der Königin der Nacht in der Reprise des Finales). Wie oft haben wir Fiordiligi in „come scolglio“ wie ein „Fels in der Brandung“ erlebt, manchmal unbeweglich hingestellt wie eine Statue auf einem richtigen Felsen. Natürlich ist die Arie eine Parodie des klassischen Treueschwurs, doch auch diesen kann man „vermenschlichen“ und vor allem spielen. Ana Maria Labin gestaltete die lange Arie in Zusammenarbeit mit dem Regisseur und dem Dirigenten als eine Interaktion mit ihren Bühnenpartnern, mit dauernd neuen Farben und Nuancen, dass aus dem Felsen-Schwur ein (innerer) Dialog wurde. Und bei „per pietà“ ging sie noch weiter, wanderte auf der Musik von einem zum anderen und landete so auf der vor der Vorderbühne, wo sie kaum hörbar piano sang, dass man eine Mücke hätte fliegen hören können. Ein Ausnahme-Moment: wie bei ihrer Gräfin blieb plötzlich die Zeit stehen…

 

Zum Abschluss ein Ausnahme-Moment, in dem die Zeit stehenblieb und man eine Mücke hätte fliegen hören können: Ana Maria Labin in Fiordiligis Arie „per pie

 

Standing ovation für Marc Minkowski

 

Am letzten Abend, zugleich der letzte Abend des „Trilogie-Marathons“ in Barcelona & Bordeaux und die letzte Vorstellung von Marc Minkowski als Direktor der Oper in Bordeaux, gab es einen Riesen Applaus für alle Beteiligten und für ihn sogar eine Standing Ovation. Denn er war der musikalische Spiritus Rektor dieser Trilogie, die seiner langen Mozart-Erfahrung viel verdankt. Wir hören ihn schon seit über 30 Jahren Mozart dirigieren und das im Merker oft zitierte bon mot, dass für Dirigenten „die goldenen Jahre mit 60 anfangen“, scheint sich nun auch bei ihm zu bewähren. Denn seine Interpretation der Trilogie – ob es nun an diesem en-suite-spielen liegt sei dahingestellt – beschränkt sich nun auf das Wesentliche. Wo früher vielleicht gewisse Tempi oder Effekte etwas aus der Reihe tanzten, braucht er das alles nicht mehr und läuft nun alles wie selbstverständlich im Dienst der zu erzählenden Geschichte. Da geht es manchmal rasant schnell, wie halt bei einer Buffa-Oper in drei Teilen (Komik hat viel mit Geschwindigkeit zu tun!), bevor er uns bei Seelen-Momenten die Zeit und Stille gönnt, um gewisse Phrasen und Töne in unseren Herzen nachhallen zu lassen. Das Orchestre National Bordeaux Aquitaine hat sich unter seiner Leitung sehr entwickelt: vor einigen Jahren monierten wir noch, dass es manchmal zu laut spielte, während es jetzt zu wunderbaren piani fähig ist so wie der durch Salvatore Caputo dirigierte Choeur de l’Opéra de Bordeaux (auch wenn dieser in der Trilogie nur eine kleinere Rolle innehat).

Und gerade weil der große Bogen stimmte, konnte sich Marc Minkowski ein paar kleine „Erkennungseinlagen“ leisten, die viele nun aufgedeckten Bezüge innerhalb der Trilogie verdeutlichten, oft mit einem Schuss Humor, der für einige „Erkennungslächeln“ im Publikum sorgte. Da gab es nicht nur „Rückverweise“ wie Leporellos „Notte e giorno faticar“ vor Despinas „Che vita maledetta è il far la cameriera!“, sondern auch „Vorausblicke“, wie Don Giovannis „Deh vieni alla finestra“ vor Cherubinos Erscheinen im „Gartenakt“ von „Le Nozze“ (Maria Shabashova spielte am Pianoforte nur einige Takte leicht verfremdet, hier z.B. eine Terz tiefer). Denn das war/ist ja das Konzept von Ivan Alexandre, was Dank dieser beeindruckenden Ensemble-Arbeit, nach zwanzig Jahren nun noch mehr aufgeht als man es hier lesen kann. Denn man erkennt die vielen Verweise/Bezüge erst richtig, wenn man sie sieht und vor allem hört. Dazu wird sicher noch die Gelegenheit sein, hoffentlich in den nächsten Jahren auf einer größeren Tournee. Vorerst einmal sind in der nächsten Spielzeit zwei Serien in Oktober in Ravenna geplant (in dem Festival von Riccardo Muti) und danach im Januar in dem Schlosstheater von Versailles, wo diese beschwingende Trilogie auch aufgenommen und gefilmt werden soll – natürlich mit dem gleichen eingeschworenen Ensemble.

Waldemar Kamer, 16.6.22

 

Opéra National de Bordeaux: www.opera-bordeaux.com

Zwei Serien von 31 Oktober bis 6 November 2022 in Ravenna: www.ravennafestival.org

Zwei Serien von 16 bis 22 Januar 2023 in Versailles: www.chateauversailles-spectacles.fr

 

Alle Fotos:  © Eric Bouloumiç / Opéra National de Bordeaux

 

 

Richard Wagner

DIE WALKÜRE 

am 20. Mai 2019

 

Das war ein Abend der emotionalen Superlative  - und damit genau das Gegenteil dessen, was inszenatorisch am Abend zuvor mit „Tristan und Isolde“ am Monnaie in Brüssel zu erleben war! Die junge deutsche Regisseurin Julia Burbach, in Tokio geboren und in Mailand, Prag, München, Bonn, London und Hong Kong in einer Diplomaten-Familie aufgewachsen, hat mit ihrer ersten selbständigen Wagner-Inszenierung einen regelrechten Weitwurf geliefert. Bisher hat sie u.a. mit Christoph Loy zusammengearbeitet und ist Director in Residence an Covent Garden London. So eine intensive und mit ganz neuen emotionalen Facetten arbeitende Personenregie habe ich - wenn überhaupt - bei meinen 111 „Ring“-Inszenierungen in den letzten 53 Jahren nur ganz selten erlebt. Vielleicht ist ihr Regiekonzept etwas mit dem der Magdeburger „Walküre“ 2018 vergleichbar. Nach den Erfahrungen in Chemnitz (Rezension weiter unten) vor einigen Wochen: Wenn das die „weibliche Sicht“ auf den „Ring“ ist, dann kann man das nur begrüßen…

Es wurde einmal mehr klar, dass der „Ring“ vor allem durch seinen Mikrokosmos in engem Zusammenhang mit der Musik lebt, ein Mikrokosmos, den Richard Wagner mit so vielen, wenn nicht gar allen Spielarten menschlicher Interaktion gestaltet hat. Das herauszuarbeiten mit einer intensiven Personenregie, die durch eine phantasievolle, meist die Handlung sinnhaft unterstreichende, aber bisweilen auch zu weit gehende Videoregie auf einer großen LED-Wand in der Bühnenmitte ergänzt wird, ist Burbach mit dem Video-Designer Tal Rosner in einer Probenzeit von nur zwei Wochen für die Szenen (vier Wochen für die Musik) voll gelungen. Clémence Pernoud schuf dazu avantgardistische, stilvolle Kostüme und Jon Bausor ein relativ einfaches, aber effizientes Bühnenbild aus drei ineinander verschachtelten Spielflächen, die sinnvolle Abstufungen in der Aktion der Akteure ermöglichen. Die stark auf personenbezogene Effekte setzende Beleuchtung von Eric Blosse setzt in vielen, zumal in den von individuellen Auseinandersetzungen gekennzeichneten Szenen, starke dramaturgische Effekte.

Der Generalmusikdirektor der Opéra National Bordeaux, Paul Daniel, schuf mit dem Orchestre National Bordeaux Auqitaine mit 97 (!) Musikern in einem stark versenkten Graben, der zudem weit unter die Bühne reicht, eine glanzvolle und überaus engagierte und plastische musikalische Interpretation, die zu jedem Zeitpunkt Hand in Hand mit dem Geschehen auf der Bühne ging.

Die Schwedin Ingela Brimberg, vielen Wiener Wagner-Freunden aus dem „Ring“-Verschnitt von Tatiana Gürbaca im vergangenen Jahr am Theater an der Wien bekannt, sang eine wunderbare Brünnhilde mit allem, was man sich wünscht. Sie bestach vor allem durch leuchtende, perfekt angesetzte und lang ausgesungene Töne bei ebenso guter Mittellage und Tiefe. Dazu kam eine äußerst authentische jugendliche Darstellung der Beziehung der Wotanstochter zu ihrem Vater. Evgeny Nikitin, der in Murmansk aufgewachsen ist, wie er mir in einem Interview mitteilte, gab den Wotan mit sowohl großer göttlicher Souveränität als auch dem durch seinen Fall verbundenen menschlichen Leid. Sein Bassbariton verfügt auch über hinreichend Tiefe für den „Walküre“-Wotan, wobei seine heldenbaritonale Höhe aber seine größte Stärke ist. Vielleicht sollte hier und da mit mehr Legato auch noch die Phrasierung verbessert werden.

Die blutjunge US-Amerikanerin Sarah Cambridge kam wie aus dem blauen Himmel aus San Francisco und sang ihre erste Sieglinde, betörend und ausdrucksstark bei bester Diktion. Der Afro-US-Amerikaner Issachah Savage war ein stimmschöner Siegmund mit ebenfalls viel Empathie. Stefan Kocán sang einen eleganten Hunding mit prägnantem Bass bei leichten Höhenproblemen. Aude Extrémo spielte eine genauso „extrem“ engagierte Fricka mit ihrem charaktervollen Mezzo. Die Wortdeutlichkeit aller Protagonisten war beeindruckend. Auch das Walküren-Oktett agierte mit kräftiger stimmlicher, aber auch großer darstellerischer Qualität - besser als jenes, welches ich noch vor neun Tagen an der New Yorker Met hören konnte.

Dieser „Ring“, vom Generalintendanten Marc Minkowski angestoßen und von Paul Daniel äußerst engagiert mitgetragen, MUSS weitergehen!! Immerhin wird diese Walküre im kommenden Jahr in Island zu sehen sein!

 

Fotos (c) Eric Bouloumie/Opéra National Bordeaux

Klaus Billand, 23.5.2019

 

 

 

Jules Massenet

MANON

12.4.2019

Frühlingserwachen für die schöne Manon, nun mit der bezaubernden Nadine Sierra

Die schöne Manon, das junge Mädchen, das allen Männern den Kopf verdreht, kann nun wieder voll und ganz ihre Reize ausspielen. In dieser Spielzeit steht sie in einem Dutzend europäischer Opernhäuser auf dem Spielplan, worüber wir uns sehr freuen. Denn viele Jahre sah man nur die „Manon Lescaut“ von Puccini und nicht die viel interessantere „Manon“ von Massenet. Dabei war „Manon“ nach „Carmen“ die meist gespielte Oper an der Opéra Comique: 1.649 Vorstellungen von 1900 bis 1950 (nur 150 weniger als „Carmen“), in einer Zeit als Massenet dort konkurrenzlos der meistgespielte Komponist war. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich Vieles und wurde Massenet hauptsächlich in den USA gespielt, wo Beverly Sills ab 1952 in Manon die „Rolle ihres Lebens“ sah (so wie sie es in ihrer Autobiografie beschreibt), die sie jahrzehntelang fantastisch verkörpert hat (wie es noch auf ihren Platteneinspielungen zu hören ist). In den neunziger Jahren wollte Renée Fleming diese „Traumrolle für eine Sängerin“ als Platte aufnehmen, doch Angela Gheorgiu war ihr um ein Haarbreit zuvorgekommen, und Fleming bekam „Thaïs“, (aufgenommen in Bordeaux mit dem Orchestre National Bordeaux Aquitaine). Fleming wandte sich daraufhin an die Pariser Oper, wo „Manon“ nur einmal zu Liebermans Zeiten im Palais Garnier gespielt worden war, und sie bekam vom Intendanten Hugues Gall eine ganz wunderbare Produktion, mit der sie ab 1997 immer wieder einen ihrer größten Erfolge an der Opéra de Paris feierte.

Nun steht wieder eine Amerikanerin auf der Bühne, die es an Schönheit und angeborener Eleganz schon optisch mit ihren Vorgängerinnen aufnehmen kann (auch Sibyl Sanderson, Massenets Lieblingssängerin und rollenprägende Manon, war eine bezaubernde Amerikanerin). Die aus Florida gebürtige Nadine Sierra ist eine Senkrechtstarterin seit sie 2013 den Wettbewerb „Neue Stimmen“ gewann (und viele andere auch) und hat - noch keine 30 Jahre alt – schon Gilda an der Scala, der Met, in Berlin und Paris gesungen. Der Dirigent und inzwischen auch Direktor der Oper in Bordeaux Marc Minkowski hat ein besonders gutes Ohr für junge Talente und wusste sie für dieses Rollendebüt nach Bordeaux zu engagieren. Nadine Sierra war der Stern des Abends, sah nicht nur wunderschön aus und gestaltete die vielen Arien der Manon mit Eleganz und dem so wichtigen „raffinement“, u.a. in den kleinen Verzierungen und lupenreinen Trillern, so wie man sie heute nicht mehr so oft hört. Ihr Französisch war (noch) nicht perfekt, aber das von Beverly Sills auch nicht, die trotzdem jahrzehntelang als die unangefochtene „Rollenträgerin“ galt. Nadine Sierra debütierte nicht nur als Manon, es war das allererste Mal, dass sie auf Französisch sang, und wir sind sicher, dass solch eine intelligente und hochbegabte Künstlerin, auch dieses bald lupenrein beherrschen wird.

Für ihre hoffentlich bald nächste „Manon“ wünschen wir ihr einen anderen Regisseur, der sich wirklich in das Stück vertieft. Denn was Olivier Py – den man nicht mehr vorzustellen braucht – hier fabriziert hat, war im Gegensatz zu vielen seiner gelungenen Inszenierungen bodenlos schlecht. Py interpretierte „Manon“ als ein Stück über Frauenmisshandlung und Prostitution und begründet diesen Ansatz im Programmheft mit der Frage, ob Massenet die Vorlage, den bekannten Roman des Abbé Prévost, „wirklich gelesen hat“. Das ist genauso abstrus, als ob man fragen würde, ob Wagner das „Nibelungenlied“ und den „Parzival“ wirklich gelesen hat. Denn Massenet war ein ausgesprochener Kenner des 18. Jahrhunderts und ist für die Komposition von „Manon“ sogar extra nach Den Haag gefahren, um das Zimmer zu sehen, in dem der Abbé Prévost 1743 seinen Roman geschrieben hat - so wie es der Dramaturg der Opéra de Bordeaux Laurent Croizier zwei Seiten weiter im gleichen Programmheft beschreibt. Py macht aus der leichten Galanterie des „siècle galant et léger“ eine gewalttätige Orgie, in der sich der Marquis de Sade und Casanova köstlich hätten ausleben können (so Py).

Wie soll Nadine Sierra uns in ihrer Auftrittsarie „je suis encor tout étourdie“ überzeugen, in der sie als 15-jähriges Mädchen aus der Postkutsche steigt, um ins Kloster geführt zu werden, wenn sie in dieser Inszenierung in einem billigen Bordell landet, wo sie als Nutte arbeiten soll und halbnackt ihre Beine spreizt. Wie soll sie uns am Ende der Oper in ihrer Sterbearie berühren, in der sie, nur noch mit einem Hemdchen bekleidet, vom Gefängnis in die Verbannung abtransportiert wird, wenn sie in der Inszenierung dann in Abendrobe mit Tiara durch ihren Zuhälter mit Diamanten überhängt wird? etc. Die provozierende Regie ging beinahe kontinuierlich gegen das Stück und oft auch gegen die Musik, mit einem Maß an Nackedei und Sexualität vor, das auch Casanova als „vulgär“ abgestempelt hätte.

Als Chevalier des Grieux war ein anderer junger Senkrechtstarter engagiert, nämlich der französische Tenor Benjamin Bernheim, den man inzwischen auch schon an der Wiener Staatsoper hören konnte. Doch in der von mir besuchten Vorstellung sang Thomas Bettinger. Schön, dass junge Sänger aus Bordeaux nun auch mit großen Kollegen auf der Bühne stehen dürfen, aber Bettinger war entweder vollkommen durch die Rolle überfordert oder schwer indisponiert (was man hätte ansagen müssen). Das brachte viele Ensembles aus dem Lot, vor allem mit seinen beiden männlichen Gegenspielern. Alexandre Duhamel, in bester Erinnerung als König Don Andrès de Ribeira der „Périchole“ (siehe Merker 11/2018), trumpfte mit sonorer Stimme als Lescaut auf und Laurent Alvaro war als Comte des Grieux neben Nadine Sierra der beste Sänger des Abends. Seine Arie „Epouse quelque brave fille“ war einer der musikalischen Höhepunkte, indem wir uns an José van Dam erinnerten (ganz wunderbar in dieser Rolle). Olivia Doray, Adèle Charvet und Marion Lebègue waren ein junges und spritziges Trio Poussette, Javotte und Rosette, Antoine Foulon ein überzeugender Hotelier, doch Philippe Estèphe und Damien Bigourdan einfach zu jung für die Rollen der alten Lebemänner Monsieur de Brétigny und Guillot de Morfontaine (eigenwillig umgetauft in „Mortfontaine“, „toter Brunnen“).

Marc Minkowski begleitete die Sänger so gut er konnte, was nicht immer einfach war, weil das Orchestre National Bordeaux Aquitaine oft viel zu laut spielte. Den durch Salvatore Caputo vorbereiteten Choeur de l’Opéra de Bordeaux haben wir auch schon besser gehört. Doch die schöne Manon, in Frankreich ein Inbegriff für alles was süß und teuer ist - ihretwegen werden auch noch heute viele Bäckereien und Pralinen nach ihr benannt -überstand dies alles ohne mit der Wimper zu zucken. Die Produktion reist nun weiter nach Paris an die Opéra Comique (7-21 Mai) in einer teilweise veränderten Besetzung, nun mit Patricia Petibon als Manon. Wieder eine begabte junge Sängerin! Waldemar Kamer

 

Opéra National de Bordeaux: www.opera-bordeaux.com

Opéra Comique: www.opera-comique.com

 

Waldemar Kamer 16.4.2019

Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online

Fotos (C) Eric Bouloumié

 

 

 

 

LA PERICHOLE

Premiere 13. Oktober 2018

Der feine aber nicht kleine Unterschied, wenn Spezialisten am Werk sind – bald als Platte zu belauschen.

Kaum zehn Tage nach den Fées du Rhin in Tours geht das Offenbach-Jahr des Palazzetto Bru Zane in Bordeaux weiter. Ursprünglich war eine andere Rarität geplant, die wenig bekannte opéra-bouffe Le pont des soupirs auf deutsch: Die Seufzerbrücke aus 1861. Doch der Dirigent und inzwischen auch Direktor der Oper in Bordeaux Marc Minkowski entschied sich für La Périchole, die er immer schon dirigieren wollte und die leider in den letzten Jahren weniger gespielt wird.

Und da seine Aufführungen und Plattenaufnahmen von La Belle Hélène, La Grande-Duchesse de Gérolstein und Orphée aux Enfers Meilensteine in der Offenbach-Rezensionsgeschichte sind, konnte niemand diesem Wunsch widerstehen und es erfolgte eine Einladung von Cecilia Bartoli an die Pfingstfestspiele in Salzburg, wo diese Périchole im Mai konzertant gespielt wurde und im Juli im Festival Radio France in Montpellier wiederaufgenommen wurde.

Dass La Périchole in Deutschland so wenig bekannt ist und auch in Frankreich langsam von den Spielplänen verschwand, hat sicher nichts mit ihrer Musik zu tun. Denn an Offenbachs Beerdigung sang die große Offenbach-Interpretin par excellence Hortense Schneider, die seine größten Rollen uraufgeführt und tausende Male gesungen hatte, die bewegende Brief-Arie der Périchole.

Es liegt an dem Sujet: der König von Peru ist inkognito auf Jagd nach neuen Mätressen und verliebt sich in die bildschöne aber brotlose Straßensängerin Périchole, die er über Nacht adelt, im Palast installiert und – völlig betrunken – dem gesamten Hof vorstellt. Das Pariser Publikum von 1868 erkannte darin mühelos die Maitressenwirtschaft von Kaiser Napoleon III, worüber ich einen Artikel geschrieben habe, der zusammen mit dieser neuen Aufnahme der Périchole im Januar erscheinen wird.

Doch als vor wenigen Jahren Präsident Hollande internationales Medieninteresse bekam, als er von einem Fotografen ertappt wurde wie er sich inkognito - als Motorradfahrer getarnt - vom Elysee-Palast in die Wohnung seiner Mätresse begab, wusste kein Journalist zu melden, dass diese im gleichen Haus wohnte, in dem Kaiser Napoleon III schon seine unehelichen Kinder und seine Hauptmätresse untergebracht hatte  -eine vermögende Kurtisane, die seine politische Karriere finanziert hatte. Hollande wusste dies sicher auch nicht – die Orte und Sitten ändern sich wenig in Paris, aber das historische Verständnis geht verloren. Jacques Offenbach hätte sich köstlich amüsiert, dass seine opéra-bouffe nun an einem der edelsten Opernhäuser Frankreichs gespielt wird.

Das elegante Grand Théâtre von Architekt Victor Louis wurde 1780 in Anwesenheit von Königin Marie-Antoinette eröffnet und ist mit den Opern in Versailles und Nantes der einzige französische Opernsaal aus dieser Epoche, der seine ursprüngliche Farbe königsblau behalten hat. Die Architektur und das Ambiente sind prächtig und die Akustik hervorragend  weil alles noch aus Holz ist. So kann man unter den besten Bedingungen lauschen, was uns hier geboten wird. Und das ist vom Feinsten.

In Tours empfanden wir das Dirigat leider genauso brutal und unnuanciert wie die Regie, sodass wir schon nach einer Stunde wegen der permanenten Über-Lautstärke und den Salven von Maschinengewehren auf der Bühne Kopfschmerzen bekamen.

In Tours verließen einige Offenbach-Spezialisten empört den Saal, in Bordeaux herrschte allgemeine Bewunderung. Die Musciens du Louvre spielten lt. Programmheft auf romantischen Instrumenten einen Offenbach, den wir schon lange nicht mehr so fein und nuanciert gehört haben. Marc Minkowski dirigierte das alles mit viel Finesse, Humor und dem für die französische Musik so essenziellen raffinement.

Der durch Salvatore Caputo exzellent vorbereitete Choeur de l’Opéra de Bordeaux sang nicht nur rhythmisch präzise, sondern blieb auch noch in den geflüsterten Passagen textverständlich. Wie oft wurde in den französischen Medien vor zwanzig Jahren gejammert, dass es keine Französischen Sänger mehr gäbe, weil bei der fortschreitenden Internationalisierung des Sängerbetriebes niemand mehr die ganz spezifische französische Technik noch lernt.

Daraufhin wurden mehrere Sängerakademien gegründet, wie das Atelier Lyrique der Pariser Oper, dem ein Großteil der jetzigen Besetzung von 2008 bis 2012 angehört hat. Zehn Jahre später erntet man nun die Früchte dieser präzisen Arbeit und steht nun eine Sängerriege auf der Bühne, die diese spezifische Gesangskultur perfekt beherrscht. So konnte Marc Minkowski jeder Rolle einen anderen accent geben – je nachdem ob eine Figur vom Hof oder aus dem Volk stammt oder – wie bei Offenbach so oft – ein König den Vorstadtganoven spielt oder eine Straßensängerin mit Juwelen behängt am Hof erscheint. All dies konnte man hören.

Die Sensation des Abends war für uns Aude Extrémo als Périchole. So haben wir diese Rolle noch nie gehört, auch wenn so ungefähr jede bekannte französische Sängerin, von Régine Crespin bis Nana Mouskouri, die beliebten Arien der Périchole in ihr Konzertprogramm aufgenommen hat (sei es nur als Zugabe). Denn jetzt steht kein Sopran und keine leichte Operettensängerin auf der Bühne, sondern ein Mezzo mit tiefer Bruststimme, die schon Dalila, Amneris und die Tannhäuser-Venus gesungen hat. Dies gibt der Figur eine ungekannte Tiefe. Auch wenn Hortense Schneider diese bei der Uraufführung stimmlich sicher nicht gehabt haben kann – sie hatte keine ausgebildete Stimme, dafür aber unendlich viel Charme, dem so ungefähr alle männlichen gekrönten Häupter Europas zu Füßen lagen – wird Offenbach bei der Komposition wahrscheinlich eine derart tiefe Stimme vorgeschwebt haben.

Er war ja ursprünglich Cellist. Trotz angesagter Indisposition sang Aude Extrémo alle Arien mit einer zugleich großen und bis ins kleineste Detail fein geführten Stimme – ihr lag danach der ganze Saal zu Füssen. Stanislas de Barbeyrac, den Marc Minkowski vor zwei Jahren als Renaud in Armide an die Wiener Staatsoper mitgebracht hat und der seitdem eine internationale Karriere macht, gab dem Straßensänger Piquillo stimmliche Noblesse, auch wenn er offensichtlich wegen Premierenstress und Rollendebüt - er hatte im Gegensatz zu den anderen Sängern keine sechs Monate Vorlaufzeit gehabt - einige Einsätze verpatzte.

Alexandre Duhamel, in Erinnerung als wunderbarer Sancho in Massenets Don Quichotte, war ein überaus spielfreudiger König Don Andrès de Ribeira mit sonorer und ebenfalls immer fein geführten Stimme, äußerst witzig begleitet durch seine Hofschranzen Marc Mauillon als Don Pedro de Hinoyosa und Eric Huchet als Don Miguel de Patanellas, der diese Rolle immerhin schon 150 Mal gesungen und gespielt hat. Auch die kleineren Rollen waren intelligent besetzt und sehr fein ausgearbeitet. So hatten die beiden Notare, Enguerrand de Hys und François Pardailhé – zwei Tenöre – jeder mit einen eigenen überzeichneten accent und die vier Wirtshausdamen Olivia Doray, Julie Pasturaud, Mélodie Ruvio und Bignagni Lesca natürlich auch. Das gab ihren Ensembles viel mehr Witz und Relief als üblich.

Die szenische Umsetzung war nicht ganz von derselben Feinheit, doch das kann man dem sympathischen jungen Regisseur Romain Gilbert und seinem Ausstatter Mathieu Crescence nicht vorwerfen. Als ich in einem vorigen Leben in eben diesem selben Haus Opern inszeniert habe, bekam ich vor zwanzig Jahren jedes Mal sechs Wochen Probenzeit. Jetzt gab es nicht einmal eine Woche. Kein Wunder, dass das Bühnenbild nur aus Vorhängen bestand. Doch die Kostüme waren maßgeschneidert und wirklich auf jede Figur zugeschnitten; in Tours war das deutlich sichtbar nicht der Fall.

So fühlten sich die Sänger sichtlich wohl und wurde mit viel Spielfreude und Fantasie gesungen und gespielt. Und originelle Regieeinfälle gab es auch: ich habe den etwas langen Eröffnungschor des dritten Aktes, reveillez-vous noch nie so lustig gesehen. Diese Inszenierung ist viel witziger und spritziger als die von z.B. Jérôme Savary, die Jahre lang an verschiedenen Theatern in Frankreich an Sylvester gespielt wurde, und in meinen Augen dafür verantwortlich ist, dass La Périchole immer weniger gespielt wird. Denn bei Savary wirkte sie billig und vulgär.

Am Tag nach der Premiere wurde Marc Minkowski die Légion d’honneur überreicht für seine Verdienste für die französische Musik. Diese Auszeichnung hat er inzwischen mehr als verdient und wir freuen uns schon auf seine neuste Offenbach-CD im Januar – beim Palazzetto Bru Zane ein ganzes Buch mit vielen Artikeln und neuem Material. Offenbach klingt eben anders, wenn er feinfühlig und durchdacht durch Spezialisten gespielt/präsentiert wird. Ein weiteres Geburtstagsgeschenk für sein Jubiläumsjahr!

Bilder (c) Vincent Bengold

Waldemar Kamer 18.10.2018

Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online

 

OPERNFREUND CD TIPP

für 7,99 Euro geradezu geschenkt

 

 

 

 

 

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