Aalto Theater Essen
Richard Wagner
Tannhäuser
Premiere: 24. September 2022
Extrem wirre Zusammenschusterung
Eigentlich hätte die „Tannhäuser“-Inszenierung von Paul-Georg Dittrich schon am 26. September 2020 Premiere haben sollen, doch wegen Corona kam sie erst jetzt heraus. In der Zwischenzeit hat der Regisseur am Aalto-Theater mit Glucks „Orfeo ed Euridice“ und Bartoks „Blaubart Burg“ zwei Corona-Ersatzproduktion herausgebracht. Außerdem hat er in Kassel Aubers „Stumme von Portici“ durch viele Diskussionen unterbrechen lassen, und an der Hamburgischen Staatsoper wurde er zwei Wochen vor der Premiere von „Die Entführung aus dem Serail“ seiner Aufgabe entbunden. Man durfte also auf eine eigenwillige Sicht auf Wagners Oper gespannt sein.
Paul-Georg Dittrich, Sohn des Komponisten Paul-Heinz Dittrich, hat eine Fülle von Ideen, aber letztlich kein schlüssiges Konzept. In den Vorankündigungen des Theaters und dem Einführungsvortrag wird behauptet, Tannhäuser sei ein Künstler, der sich auf eine „Reise durch die Zeit und die Kunstgeschichte begibt“. So spielt der erste Akt vor dem riesigen liegenden Torso der „Venus von Milo“, der zweite Akt in Raffaels Fresko „Die Schule von Athen“.
Die Venus entpuppt sich aber als bloßer Dekoration, die nichts zu bedeuten hat. Wichtiger ist, dass sich hinter dem Torso die „Venuslabors“ für Reproduktionsmedizin befinden, wo Venus und Tannhäuser auf künstlichem Wege eine Tochter zeugen, die vom Hirten, der hier auch Amor und Krankenschwester ist, im Kinderwagen hereingeschoben wird. Gesungen wir der Multifunktionshirte von Mercy Malieloa mit glockenreinem Sopran.
Im ersten Akt geht es also eher um Wissenschaft als um Leidenschaft. Umso überraschter ist man, dass die Wartburg-Sänger das Venuslabor mit Benzin abfackeln. Wahrscheinlich sollen das fundamentalistische Christen zu sein, obwohl dies in ihren Kostümen nicht richtig klar wird. Das Ausstatter-Duo Pia Dederichs und Lena Schmid lässt nämlich alle Akteure in weißen Gewänder auftreten, die irgendwo zwischen Antike, Fantasy und Science-fiction zu verorten sind.
Tenor Daniel Johansson, der in Essen schon als Lohengrin zu hören war, singt mit hellem und klarem Tenor einen sehr textverständlichen Tannhäuser. Jedoch bleibt er durchweg im Mezzoforte, geht nie in ein zartes Piano oder ein auftrumpfendes Forte, wodurch die Rolle sängerisch eindimensional bleibt. Deidre Angenent gefällt als Venus anfangs mit ihrem lyrischen Mezzo, gegen Ende Szene baut die Sängerin aber ab, und die Szene verliert an Spannung. Das könnte aber auch an Dirigent Tomas Netopil liegen, der mit einer dramaturgisch gut strukturierten Ouvertüre und einer aus dem Dialog entwickelten Orchesterbegleitung beginnt. Es gibt aber einzelne Situationen, wo die Spannung der Musik einbricht und man sich zügigere Tempi wünscht.
Im zweiten Akt befinden wir uns im Raffaels Fresko „Die Schule von Athen“. Das sieht sehr eindrucksvoll aus, denn die Architektur wird auch als Projektionsfläche genutzt, auf der dann Säulen und Reliefs erscheinen. Der Einzug der Gäste ist aber eine bloße Nachstellung des Freskos durch den Chor ohne jede Regie. Auch sonst hat man den Eindruck, dass Regisseur Dittrich die Figuren nicht als reale Menschen, sondern mehr Ideenträger sieht, sodass die Konstruktion von Bildern wichtiger ist als eine packende Personenführung.
Ein starkes Rollenporträt liefert Astrid Kessler als Elisabeth. Mit ihrem jugendfrischen und strahlenden Sopran singt sie eine jubelnde Elisabeth. Ein beeindruckender Landgraf ist Karl-Heinz Lehner, der die Rolle mit großer Bass-Autorität ausstattet. Heiko Trinsinger überzeugt als Wolfram mit weichem und fülligem Bariton, den er sehr kantabel einsetzt. Matthias Frey als Walter bleibt allerdings sehr schmalbrüstig.
Im 3. Akt ist dann wieder alles ganz anders. Wie in einer Inszenierung des 2009 verstorbenen Altmeisters Jürgen Gosch sitzen die Akteure in der Mitte der Bühne auf einer Bank und warten auf ihren Auftritt. Echte Spannung kommt da nicht auf. Die Aufführung wird aber durch die darstellerische und sängerische Präsenz der Akteure gerettet: Astrid Kessler singt ihr Gebet mit viel Zwischentönen und Gefühl, bevor sie von Wolfram erwürgt wird. Heiko Trinsinger singt das Lied an den Abendstern trotz des vorher begangenen Mordes mit viel Schmelz in der Stimme, und Daniel Johansson gestaltet die Rom-Erzählung sehr eindringlich. Weil er mitten im Parkett agiert, können ihn die Besucher in den Rängen nicht sehen. Wer unten sitzt, staunt über die Speichelmassen die der Tenor im Scheinwerferlicht von sich gibt.
Insgesamt ist dieser „Tannhäuser“ eine extrem wirre und zusammengeschusterte Inszenierung. Da staunt man, dass Regisseur Paul-Georg Dittrich in den nächsten Monaten noch die Strauss-„Elektra“ in Münster, Zemlinskys „Der Zwerg“ in Köln und Wagners „Meistersinger von Nürnberg“ in Linz auf die Bühne bringen darf.
Rudolf Hermes, 26.9.22
Bilder (c) Karl und Monika Forster
Richard Strauss
Arabella
Premiere: 14. Mai 2022
Besuchte Aufführung: 19. Mai
Stefan Soltesz begann 1997 seine 16-jährige Essener Intendanz mit der „Arabella“ von Richard Strauss, nun beendet sein Nachfolger Hein Mulders seine neunjährige Amtszeit mit dem gleichen Stück. Als Regisseur hat er den Belgier Guy Joosten engagiert, am Pult steht GMD Tomás Netopil.
Das Bühnenbild von Katrin Nottrodt, von der auch die Kostüme stammen, gibt viele Rätsel auf: Im ersten Akt befinden wir uns in einem hyperrealistischen Haus, aus dessen Fenstern wir jedoch nur auf Baumfotografien blicken, während der Vorbühnenbereich mit Rosen abgesteckt ist. Das Szenario erinnert an Bilder des amerikanischen Fotokünstlern Gregory Crewdson und legt viele Fährten.
Ist Arabella vielleicht eine psychopathische Hysterikerin, die sich ihren Mandryka nur herbeifantasiert, in ihrer Fantasie-Rosenwelt lebt und von der Familie weggesperrt wird? Diese Sichtweise wird dadurch unterstützt, dass Arabellas übertrieben uniformierten Verehrer erst die Bühne betreten, wenn Schwester Zdenka im Badezimmer verschwindet.
Auch der Verlobungsball des zweiten Aktes erscheint wie ein bloßer Wunschtraum der Titelfigur, die sich am Ende des ersten Aktes in ihr Rosenreich begibt, worauf der Vorhang fällt und erst wieder hochgeht, wenn Arabella in die Geschichte eintaucht. Rätselhaft ist auch der zweite Akt, der nicht in einem Ballsaal, sondern im Esszimmer der heruntergekommenen Waldner-Familie stattfindet. Die drei Verehrer sind nun wie in einem Albtraum als Schweine maskiert, Mandryka ist wie ein Trapper aus einem Western kostümiert.
Regisseur Guy Joosten und seine Ausstatterin Katrin Nottrodt schicken das Publikum auf viele rätselhafte Spuren, und lange Zeit glaubt man, einer grandiosen Inszenierung beizuwohnen, deren Geheimnisse am Ende entwirrt werden. Dass ist jedoch nicht der Fall, den im Finale wird nichts von den Skurrilitäten dieser Produktion erklärt: Es war bloß die übliche „Arabella“-Geschichte, diesmal nur in einer verwirrenden Ausstattung. Szenisch ist dieser Abend eine Mogelpackung.
Musikalisch ist der Abend wesentlich besser bestellt: Tomás Netopil dirigiert am Pult der Essener Philharmoniker einen vollen süffigen Strauss-Klang, der aber auch tänzerischen Schwung besitzt. Einige orchestrale Feinheiten könnten aber noch aufpoliert werden. Als Arabella glänzt Jessica Muirhead mit großem und leuchtenden Sopran. Ihre Monologe gestaltet sie mit intensiver Innerlichkeit. Heiko Trinsinger als Mandryka singt seine Partie mit geschmeidigem Bariton, bräuchte aber manchmal etwas mehr heldischen Schwung.
Das weitere Ensemble ist sehr unterschiedlich besetzt. Julia Grüter überzeugt als Zdenka mit leichtendem und sehr textverständlichen Sopran. Thomas Paul kann als Matteo mit seinem Tenor schön auftrumpfen. Bettina Ranch und Christoph Seidl geben die Waldner-Eltern sehr zuverlässig, während Santiogo Sanchez und Karel Martin Ludvik als Arabellas Verehrer Elemer und Dominik sehr angestrengt und bemüht klingen. Absolute Spitze ist Karl-Heinz-Lehner in der Minipartie des Grafen Lamoral: Mit großem und raumgreifenden Bass trumpft er so auf, dass man sich fragt, warum Arabella für ihn nicht alle anderen Verehrer einschließlich Mandryka stehen lässt? Mit leichtem Sopran zwitschert Giulia Montanari eine quicklebendige Fiakermilli.
In der nächsten Spielzeit übernimmt dann Merle Fahrholz die Intendanz des Aalto-Theaters, holt hauptsächlich die ausgefallene Spielzeit 2020/21 nach. Eigene Akzente wird die neue Hausherrin erst ab Herbst 2023 setzen können.
Rudolf Hermes, 27.4.22
Giuseppe Verdi
Don Carlo
Premiere: 12. März 2022
Besuchte Aufführung: 25. März 2022
Regisseur Robert Carsen ist weltweit unterwegs, und seine Arbeiten werden oft als internationale Koproduktionen herausgenbracht. Auch an Rhein und Ruhr war Carsen oft tätig, in Essen hat man seine „Jenufa“ gezeigt“, an der Rheinoper zwei Puccini-Inszenierungen und sein Kölner „Ring des Nibelungen“ wurde sogar nach Venedig, Barcelona und Madrid exportiert. Nun kommt endlich „Don Carlo“ in Essen heraus. Schon im März 2020 wurde die Inszenierung, die 2016 in Straßburg Premiere hatte, bis zur Generalprobe erarbeitet, fiel dann aber der Corona-Pandemie zum Opfer.
Bühnenbildner Radu Boruzescu hat eine schwarze sich nach hinten verengende Kiste gebaut, die als Einheitsbühnenbild dient. Manchmal wird der Raum durch Zwischenwände verengt, in anderen Szenen öffnen sich Fenster und Türen und schaffen die Atmosphäre eines Platzes. Dieser Raum ist vom Regisseur und Peter van Praet schön und stimmungsvoll ausgeleuchtet. Carsen in den meisten Szenen jedoch mehr arrangiert als inszeniert. Richtig überwältigt wird man aber weder von der Optik noch vom Konzept der Inszenierung.
Etwas durcheinander gerät der Regisseur bei der Zuordnung der Personen im Autodafé. Da bei Robert Carsen keine Ketzer auftreten, die hingerichtet werden können, geht es den flandrischen Deputierten an den Kragen. Zu einer Bücherverbrennung werden sie mit Genickschuss getötet.
Drei Stunden erzählt Carsen brav die Geschichte nach, stellt dann aber in der letzten halben Stunde die Geschichte total auf den Kopf. Wie soll hier nicht verraten werden, jedoch kollidiert Carsens Umdeutung frontal mit Verdis Musik und dem Libretto. Insgesamt ist das eine szenisch gediegene Aufführung, von Robert Carsen har man aber schon viele bessere Arbeiten gesehen.
Die Titelrolle singt Gaston Riviero. Der Tenor besitzt eine füllige und kraftvolle Stimme, gestaltet seine Partie aber weitgehend ohne Zwischentöne. Ante Jerkunica singt den König Phillip mit schlanken und schneidendem Bass, Tobias Greenhalgh interpretiert den Marquis Posa mit kantig-markantem Bariton. Mit wuchtiger Bassgewalt singt Karl-Heinz Lehner einen imposanten Großinquisitor.
Die Damen können da weniger überzeugen: Gabrielle Moulhen als Elisabeth verfügt zwar über eine selbstbewusste Höhe, könnte jedoch eine stärkere dramatische Fundierung der Stimme benötigen. In der Mittellage und der Tiefe bleibt die Stimme der Königin blass. Nora Sourouzian, welche die Eboli singt, besitzt einen hell gefärbten Mezzo, Feuer und Durchschlagskraft, die man von anderen Interpretinnen der Rolle gewöhnt ist, kommen bei ihr aber zu kurz.
Dirigent Andrea Sanguineti lässt die Essener Philharmomiker kraftvoll aufspielen und setzt an den dramatischen stellen starke Akzente. Klangfarben und Effekte der Partitur arbeitet der Dirigent spannungsvoll heraus. – Insgesamt erlebt man in Essen eine gediegene, aber nicht sensationelle Aufführung.
Rudolf Hermes, 31.3.2022
Giacomo Puccini
Il trittico
Premiere: 22. Januar 2022
Besuchte Vorstellung: 13. Februar 2022
Puccini in schlichter Schönheit
Das Essener Aalto-Theater zeigt mit Puccinis „Il Trittico“ nach dem umjubelten „Dido“ einen weiteren Abend, der an den alten Glanz des Hauses anknüpft und beim Publikum für Begeisterung sorgt. Auf der Bühne, auf der Pierro Vinciguerra ein bildgewaltiges und so schlichtes, wie ästhetisch ansprechendes Szenario kreiert, entstehen immer wieder so wunderbare, so einfach schöne Bilder, dass man Gefahr läuft sich in diesem schwelgerischen Gesamtkunstwerk zu verlieren.
„Il trittico“ gehört sicherlich nicht zu den populärsten Werken Puccinis und doch zeigt es die Meisterschaft des reifen Komponisten nicht minder als seine Kassenschlager. 1918 in New York uraufgeführt, war es Ansinnen des Komponisten einen Abend mit drei grundverschiedenen Werken zu schaffen, es sollte ein tragisches („Il tabarro“), ein lyrisches („Suor Angelica“) und ein heiteres („Gianni Schicchi“) entstehen und dem Publikum auf eine Reise in alle menschlichen Empfindungen führen. Ein reizvolles Ansinnen, alles, was das Theater ausmacht, in einen Abend zu packen – und genau dieses Ansinnen wird in Essen auf beste Art und Weise umgesetzt.
Der Essener Abend beginnt – wie meistens gespielt – mit „Il tabarro“, eine düstere Geschichte voller Eifersucht und Leidenschaft, die – man mag es ahnen – ein tragisches Ende nimmt. Im Milieu Pariser Seine-Schiffer angesiedelt greift die Essener Inszenierung das Element des Wassers auf, das in diesem Teil des Abends die gesamte Bühne flutet. Dezente, aber raffinierte Reflexionen sind alles, was die Szenerie belebt und so fokussiert sich alles kammerspielartig auf die Protagonisten. Diese klassische Dreiecksbeziehung setzt rein musikalische zu Beginn des Abends ein Ausrufezeichen. Heiko Trinsinger als düsterer, aber liebender Michele zeichnet ein berührendes Rollenportrait. Sergey Polyakov als Luigi überzeugt mit strahlendem Tenor und ergänzt sich stimmlich exzellent mit der wunderbar singenden Annemarie Kramer als Giorgetta.
In „Suor Angelica“, im direkten Anschluss an den „tabarro“ gespielt befinden wir uns vom Stück ausgehend in einer fast schon pittoresk anmutenden Klosterszenerie. Aus Düsternis wird ein luftiger, lichtgefluteter Raum. Die Schwestern machen das, was man eben so erwartet, sie sammeln Almosen, ernten Kräuter, sie beten und büßen. In Essen bleibt die Wasserfläche erhalten und wehende Vorhänge verleihen der Szenerie das mystische, ja religiöse. In der Titelpartie glänzt Jessica Muirhead mit einem herzergreifenden Rollenportrait, fein nuanciert und mit bestem Puccini-Sound in der Stimme. Die Regie von Roland Schwab nutzt hier den klösterlichen Kontext aber nur als Projektionsfläche – der vermeintlich so leicht zu verlassende Raum ist ein doch schreckliches inneres Gefängnis Angelicas, die in der Sorge um ihr ihr weggenommenes Kind fast umkommt. Der Raum öffnet sich erst, als sie sich von ihrem irdischen Dasein verabschiedet. Regisseur Roland Schwab zeigt hier eine zutiefst schlüssige und plausible Deutung des Stücks, das ohne jeglichen Kitsch auskommt und sich nicht in der pittoresken Klosterszenerie verliert. Gabriele Rupprecht, liefert gerade hier wunderbare Kostüme, die fernab klassischen Nonnenhabits sind, aber doch die Strenge klösterlichen Lebens und die Uniformität der Mitschwestern suggeriert. Einzig Angelica kommt farblich nicht in der Welt ihrer Mitschwestern an und bleibt in zartem, pastelligen rosa.
Nach der Pause wechselt die Szenerie, das Wasser ist überbaut, aber Wasserspiele und Seifenblasen unterstreichen schon zu Beginn die vergnügliche Note in „Gianni Schicchi“. So ernst und dramatisch es im ersten Teil des Abends zuging, so sehr entfesselt die Regie nun hier die Komödie und das tut sie ganz unaufdringlich und im besten Sinne unterhaltsam. In der Posse um Erbschleicherei und Betrügereien glänzt das Ensemble einmal mehr mit veritabler Spielfreude, die dem Publikum nicht nur einen hörbaren Schmunzler entlockt. Allen voran zeigt auch hier Heiko Trinsinger alle Facetten seines stimmlichen und schauspielerischen Könnens. Nahezu entfesselt spielt er den schrägen Schicchi und zelebriert die Schlitzohrigkeit seines Charakters. Ihm zur Seite steht eine zauberhafte Lilian Farahani, die nach ihrem „o mio babbino caro“ vollkommen zurecht Szenenapplaus erhält. Carlo Cardoso als Rinuccio überzeugt an ihrer Seite nicht minder.
Mit diesem „Trittico“ ist dem Essener Aalto-Theater ein echter Hit gelungen. Die Inszenierung von Roland Schwab schafft es zwischen den drei so verschiedenen Werken einen Bogen zu schlagen und fokussiert sich auf das stringente Erzählen der Handlung der drei Einakter. Die Personen sind scharf und konturiert gezeichnet, vor der nahezu weißen Leinwand, die Bühnenbildner Pierro Vinciguerra ein einem so einfach, wie doch wandlungsfähigen Raum zur Verfügung stellt. Raffiniert ist wohl das Wort, das am ehesten beschreibt, was mit kleinen, teils einfach Kniffen immer wieder neue Bühnenwelten entstehen lässt.
Auf der musikalischen Seite hat der Abend aber auch großes Lob verdient. Die Vielzahl der kleinen Partien sind allesamt solide bis exzellent besetzt. Besonders fällt aber gerade die spielerische Ensemble-Leistung im „Gianni Schicchi“ in Augenschein, der auch zwei Einspringer am Abend keinen Abbruch getan haben. Die von Patrick Jaskolka einstudierten Chöre liefern ihren Part klangschön und souverän ab. Alexander Joel führt die Essener Philharmoniker souverän durch die Partitur. Von den fein musizierten lyrischen Passagen, bis zu den großen Szenen, bei denen der Maestro auch gerne in die Vollen greift, lässt dieser Puccini kaum Wünsche offen. Hier und da stellen sich gerade in den Ensemble-Szenen kleine, aber absolut verzeihbare Ungenauigkeiten ein.
Essen ist wieder ein großer Opernabend gelungen, der allen Opernfreunden wärmstens ans Herz gelegt sein soll.
Sebastian Jacobs, 15,2,2022
Bilder von Matthias Jung
Schattenspiele
Dido and Aeneas in Essen
Premiere: 02.01.2022
besuchte Vorstellung: 16.01.2022
Lieber Opernfreund-Freund,
Dido’s Lament gehört wohl zu einem der berühmtesten Stücke aus Barockopern – und wer diese Arie in Perfektion erleben will, muss derzeit nach Essen fahren. Das liegt nicht nur an der überwältigen Interpretation der Titelheldin von Jessica Muirhead und auch nicht an der überzeugenden und bildgewaltigen Erzählweise von Ben Baur. Erst die perfekte musikalische Umsetzung durch Andrea Sanguineti macht diesen kurzen Abend zu einem Gesamtkunstwerk.
In der historischen Sagenwelt verliebt sich Dido, die zu früh zur Witwe gewordene Königin von Karthago, in Aeneas, dem mit einigen wenigen die Flucht aus Troja gelungen war, als der auf dem Weg nach Italien in Karthago anlegt. Doch er besinnt sich auf seinen göttlichen Auftrag und verlässt die Unglückliche, die an gebrochenen Herzen stirbt. Bei Purcell dann sind es Hexen, die Dido ihr Glück nicht gönnen und für Aeneas‘ Abreise sorgen. Bei Ben Baur nun ist die Zauberin die dunkle Seite Didos. Die Herrscherin ist hin- und hergerissen, kann dem eigenen Glück nicht trauen und treibt so Aeneas von sich, statt ihn an sich zu binden. Dabei hat der in der Jagdszene keinen Eber erlegt, sondern sich gleich selbst der Herrscherin geopfert.
Beflügelt durch die grandiose Ausleuchtung der fast requisitenlosen Szenerie, die überdimensionale, ja übermächtige Schatten erzeugt, malt Ben Baur fast statisch wirkende Bilder, die Didos Inneres spiegeln. Uta Meenen krönt Dido und ihr Alter Ego, die Zauberin, mit einem madonnenhaften Lichterkranz, steckt Bedienstete und Chor in schlichte schwarze Schleier; Kriegsheld Aeneas kommt gar nicht heldenhaft daher, sondern ist blutverschmiert und sichtlich des Kämpfens müde. So erklärt sich auch, warum er sich Didos Wunsch, sie zu verlassen, nicht widersetzt, sondern resigniert die Segel streicht. Die symbolismengetränkte, düstere Bebilderung allein aber könnte den kurzen Abend nicht tragen ohne die exquisite musikalische Interpretation.
Jessica Muirheads warmer Sopran ist zu einer solchen Zartheit fähig, dass er Dido von Anfang an etwas unglaublich Zerbrechliches verleiht. Diese Frau hat Angst vor der eigenen Courage, vor dem eigenen Glück und zerbricht an sich selbst. Das eingangs bereits erwähnte Lamento wird so zum gefühlsgeladenen Höhepunkt einer perfekten Interpretation durch das britisch-kanadische Ensemblemitglied. Nicht nur stimmlicher Gegenpart ist die Zauberin von Bettina Ranch, die mit energiegeladenem, unheilsschwangerem Mezzo Missgunst versprüht. Der US-Amerikaner Tobias Greenhalgh kann mich am meisten überzeugen, wenn er seinen Bariton im Piano über den Graben schickt, wie in seiner letzten Szene; der energische Auftritt liegt ihm weniger, denn dabei neigt er zu starken Tremoli. Giulia Montanari als Belinda hingegen trumpft sicher auf mit ihrem farbenreichen Sopran.
Sängerischer Star – neben Jessica Muirhead – ist gestern Abend aber der von Patrick Jaskolka betreute Chor. Die Stimmen der Damen und Herren sind perfekt ausbalanciert und ihnen gelingt eine Gratwanderung zwischen präzisem Gesang und höchster Emotion, die mich verzaubert. Als Zauberer entpuppt sich auch Andrea Sanguneti, der vom Cembalo aus die Aufführung leitet. Mit einer Mischung aus frischem Esprit und berührendem Gefühl zeigt er, dass Barockmusik alles andere als nüchtern sein muss. Lebendig und nuancenreich präsentiert er so eine mitreißende musikalische Interpretation und macht den Abend perfekt, an dem sich Ben Baur als behutsamer Erzähler eines Seelenzustandes statt einer bloßen Geschichte erweist. Schade, dass dieses kurze Musiktheatererlebnis in dieser Spielzeit nur noch ein einziges Mal am Aalto-Theater zu erleben sein wird. Vielleicht gelingt Ihnen, lieber Opernfreund-Freund, ja dennoch ein Besuch.
Ihr
Jochen Rüth
17.01.2022
Die stimmungsvollen Fotos stammen von Bettina Stöß.
La Finta Giardiniera
Premiere: 2. Oktober 2021
Besuchte Vorstellung: 13. November 2021
Mit einer Spieldauer von über drei Stunden ist Mozarts „La Finta Giardiniera“ nicht die ideale Oper für den Corona-Spielplan. Jedoch kommt dieses Stück ohne Chor aus und es werden nur ein kleines Ensemble sowie ein Kammerorchester benötigt. Es gibt also doch gute Gründe, Mozarts Jugendoper für die Saisoneröffnung am Essener Aalto-Theater auszuwählen. Aufgrund der Premierenflut an Rhein und Ruhr war es dem Opernfreund erst jetzt möglich eine Vorstellung zu besuchen.
Das Bühnenbild von Frank Phillip Schlößmann hinterlässt einen stärkeren Eindruck als die Regie von Ondrej Havelka: Wenn der Vorhang aufgeht sieht man ein perspektivisches Gartenbild mit gemalten Säulen. Hier haben wir es aber nicht mit einer Einheitsbühne zu tun, sondern die Drehbühne kommt zum Einsatz: Auf der linken Seite befindet sich das Zimmer der titelgebenden Gärtnerin, bei der es sich eigentlich um die Marchese Violante Onesti handelt. Auf der rechten Seite sehen wir einen Empfangssaal im Schloss des in Sandrina verliebten Podestas, das mit vielen Landschaftsbildern ausgestattet ist. Und auf der Rückseite befindet sich noch eine gemalte Parklandschaft mit Pavillon und Bach.
Schlößmann hat hier eine sehr schöne Arbeit in zarten Farben abgeliefert, in der man auch problemlos “Figaros“ Hochzeit spielen könnte. Das optische Vergnügen wird noch durch die historischen Kostüme von Jana Zborilova gesteigert. Leider enthüllt die Regie schon innerhalb der ersten 35 Minuten alle Geheimnisse und Räume des Bühnenbildes, sodass in den verbleibenden zweieinhalb Stunden weitere Überraschungen ausbleiben. Der tschechische Regisseur Ondrej Havelka, der sich auch Schauspieler und Bandleader einen Namen gemacht hat, entwickelt das Stück aus dem Geist der Musik und inszeniert die Rezitative pointiert. In den Arien geht er verschiedene Wege, mal interagieren die Sänger, mal stehen sie nur an der Rampe. In den 90 Minuten nach der Pause lässt aber manchmal die Spannung zwischen den Sängern nach.
Auf der Bühne ist ein gutes und wohlklingendes Sänger-Ensemble zu erleben, wobei man sich aber fragen muss, warum ein Haus wie das Aalto-Theater für solch ein Stück drei Gäste engagiert? Mit jungendfrischer Stimme singt Giulia Montanari die Sandrina. Gleich zwei Tenöre werben um die Hand dieser Figur: Den Conte Belfiore legt Dmitry Ivanchey anfangs als geckenhafte Karikatur an, den er mit Charaktertenor singt. Erst nach der Pause zeigt der Sänger, der über eine füllige und farbenreiche Stimme verfügt, die lyrischen und positiven Seiten der Rolle. Kenneth Tarver verkörpert den Podesta mit elegantem und gut geführtem Tenor. Sopranistin Sophia Brommer gibt der eifersüchtigen Arminda das nötige dramatische Feuer mit. Die Hosenrolle des Ramiro singt Alexandra Kadurina mit vollem Mezzo, bei dem sich aber gelegentlich Schärfen einschleichen. Eine unbekümmerte und gewitzte Serpetta ist Christina Clark. Tobias Greenhalgh überzeugt als Nardo mit wohlgerundetem Bariton.
Am Pult der Essener Philharmoniker sorgt GMD Tomas Netopl für einen frischen und leichten Orchesterklang. Die Dynamik ist fein abgestuft und zudem dirigiert Netopil sehr sängerfreundlich. Insgesamt beschert diese Produktion dem Publikum ein unbeschwertes Mozart-Vergnügen.
Rudolf Hermes, 14.11.2021
Pagliacci
Premiere: 03.06.2021
besuchte Vorstellung: 13.06.2021
Ein Alptraum
Lieber Opernfreund-Freund,
auch das Aalto-Theater Essen nutzt die gelockerten Coronaschutzmaßnahmen, um dem Publikum das eine oder andere Liveerlebnis zu präsentieren, bevor es in die Spielzeitpause geht; dafür trennt man die sonst als fast siamesisch wahrgenommenen Opernzwillinge Cavalleria rusticana und Pagliacci und zeigt den zweiten in einer düsteren Inszenierung von Roland Schwab, die die Grenze zwischen Realität und Wirklichkeit, die im Stück ja angelegt ist, gleich mehrfach bricht.
Zu Beginn des Abends ist Nedda schon tot. Sie hat ihre Liebe zu Silvio und die versuchte Flucht mit dem Leben bezahlt. Dahingemeuchelt hat sie ihr Ehemann Canio, besessen von ihr und von der Kunst. Demonstrativ trägt er immer wieder ein Schild um den Hals, das die Aufschrift Theater muss sein trägt – vielleicht eine nicht ganz versteckte Botschaft an die Politik die im vergangenen Jahr alles Mögliche für systemrelevant erklärte, Kunst und Theater jedoch nicht. Während des Vorspiels zeigt ein Film die vollendete Bluttat, die Handlung der Oper wird also zur Erinnerung, zum Trauma, zum erneuten Erleben des Vergangenen. Doch in wessen Kopf spielt sich das ab? In Canios? In Tonios? In unserem?
Roland Schwab präsentiert seine alptraumhaften Bilder wie eine fratzenhaft verzerrte Realität, mit den Zerrspiegeln in einem Spielkabinett vergleichbar. Die Beweggründe der Protagonisten bleiben schemenhaft, nur Tonios Rolle ist von seinem ersten Auftritt an klar. Er ist der Strippenzieher – nicht nur, weil er während des Prologs Canio an einer Kette auf die Bühne zerrt und ihn zum Spielen animiert, sondern auch weil er durch sein Tun die Handlung vorantreibt. Seine eigene gekränkte Eifersucht macht ihn zum eigentlichen Mörder Neddas. Leider gibt der Besetzungszettel keine Auskunft darüber, wer für Maske und Ausstattung verantwortlich zeichnet, sonst könnte ich jetzt über die Maßen loben – u.a. für das an Assoziationen reiche Bild, Tonio eine entstellte Wange zu verpassen, die an das Phantom der Oper erinnert, dem man die Maske vom Gesicht gerissen hat. Oder für die düsteren Requisiten mit Anleihen in der Fetischszene, lackrote Pumps oder Neddas Flügel, die sie sich vom Rücken reißt und Canio vor die Füße schleudert – sein Engel will sie nicht mehr sein. Bildgewaltig ist das zweifelsohne, Erklärungen liefert es nicht.
Auch die Erinnerungsebene als zusätzliche Dimension neben Realität und Theater auf der Bühne geht nicht ganz auf. Zu wenig abgegrenzt ist der zweite Akt vom ersten, das Theater im Theater wird nicht als solches wahrgenommen, sondern als allenfalls besonders bizarr-skurriles Zwischenspiel. So lässt mich die szenische Interpretation, die man schon Ende 2020 einstudiert hatte, dann aber pandemiebedingt doch nicht zur Aufführung bringen konnte, teilweise ratlos zurück. Auch akustisch habe ich Schwierigkeiten: die Sänger kommen teilweise kaum über den Graben. Das mag an fehlenden Bühnenaufbauten liegen, die den Schall in diese Richtung lenken könnten – nach hinten ist alles offen, lianenartig von der Decke hängende Lichterketten und die Lichter eines angedeuteten Zirkuszelts sind die einzigen Kulissen (Bühne: Piero Vinciguerra). Gespielt wird coronagerecht eine Fassung für reduziertes Orchester von Francis Griffin, was aber wegen der ausgezeichneten Arbeit von Robert Jindra nicht weiter auffällt. Voller Verve entfacht der aus Prag stammende Dirigent die volle Klangfülle von Leoncavallos Partitur, findet dabei aber immer wieder den Schwenk hinüber zu schwelgerisch-romantischen Passagen oder purer Lebensfreude und zeigt so eine facettenreich schimmernde Interpretation voller Italianità.
Das Sängerensemble zeigt sich durchweg solide. Sergey Polyakov ist ein höhensicher auftrumpfender, intensiv spielender Canio voll mitreißender Mimik; die Nedda der Niederländerin Gabrielle Mouhlen, bis vergangenes Jahr Ensemblemitglied am Aalto, besticht mit warmem Timbre und immensem Ausdruck; Seth Carico gibt mit eindrucksvollem Bariton den Canio, auch wenn ich mir von dem von Schwab besonders fies gezeichneten Fiesling ein wenig mehr Schwärze in der Stimme erwartet hätte. Der Beppo von Carlos Cardoso erfreut mich mit seinem Harlekinständchen und zeigt dabei neben komödiantischem Gespür auch seinen klangschönen Tenor; dagegen bleibt Tobias Greenhalgh als Neddas Liebhaber Silvio vergleichsweise blass. Der Chor, von Jens Bingert betreut, ist glänzend disponiert, singt aus dem Zuschauerraum und befeuert so noch die Verschmelzung von Realität und Theater.
Das Publikum ist begeistert, strömt aber gewohnt zügig Richtung Ausgang. Doch da hat man die Rechnung ohne die Saalordner gemacht, die die Zuschauer teils rüde auf ihre Plätze verweisen. Dort wartet man, bis ein geordnetes Abrufen der einzelnen Reihen ein pandemiegerecht geordnetes Verlassen des Saales ermöglicht. Eine entsprechende Ansage VOR der Vorstellung hätte da vielleicht geholfen, die allgemeine Verwirrung zu verhindern – es reicht doch, wenn einen die Inszenierung verwirrt.
Ihr
Jochen Rüth
14.06.2021
Die Fotos stammen von Matthias Jung.
Richard Wagner
Tristan XS
Konzertante Szenen aus „Tristan und Isolde“
Premiere: 2. Oktober 2020
Eigentlich wollte das Essener Aalto-Theater die Saison mit Richard Wagners „Tannhäuser“ eröffnen, doch coronabedingt wurde die Premiere durch Christoph Willibald Gluck kleinbesetzten und pausenlosen „Orfeo ed Euridice“ ersetzt. Daniela Köhler und Daniel Johannsson, die im „Tannhäuser“ die Elisabeth und die Titelpartie singen sollten, kommen nun „Tristan XS“ - Konzertante Szenen aus Richards Wagners „Tristan und Isolde“ – zum Einsatz. Die Konzeption und Auswahl des eindreiviertelstündigen Abends stammt von dem Tenor Hans-Georg Wimmer und wurde für eine Produktion in Rostock erstellt. Die Fassung für Kammerorchester, in der gerade einmal 30 Musiker zum Einsatz kommen stammt von Armin Terzer.
Auf der großen Bühne des Aalto-Theaters ist der Bereich des abgedeckten Orchestergrabens für die beiden Solisten freigehalten. Die von Tomas Netopil geleiteten Essener Philharmoniker sind dahinter positioniert. Den räumlichen Abschluss bildet eine große Leinwand, auf der manchmal Bilder der Sänger oder die Texte zweier Wesendonck-Lieder projiziert werden.
Sopranisatin Daniela Köhler und Tenor Daniel Johansson debütieren beide in ihren Rollen, die sie auswendig singen. Beide Interpreten überrumpeln mit beachtlichem Stimmmaterial, kluger Durchdringung der Rollen und guter Textartikulation. Daniela Köhler hat ihre Karriere am Staatstheater Karlsruhe begonnen. Über die Helmwige hat sie sich bis an das schwere Wagner-Fach vorgearbeitet, in Loriots „Ring an einem Abend“ hat Köhler bereits in Mainz und Essen die Brünnhilde gesungen. Im neuen Bayreuther „Ring“ wäre sie als „Siegfried“-Brünnhilde zu hören gewesen.
Daniela Köhler verfügt über einen hellen und klaren Sopran, der eine große Durchsetzungskraft besitzt. Ihre Mittellage glänzt mit metallischer Kraft. In der Höhe funkeln manchmal noch Soubrettentöne durch. Darstellerisch besitzt sie zudem eine große Präsenz und spielt, obwohl es sich hier um konzertante Szenen handelt, ihre Rolle mit wenigen Gesten und Gängen ganz aus dem Geist der Musik heraus.
Tenor Daniel Johannson ist schon seit einigem Jahren parallel im jugendlichen Heldentenor- und Spintofach unterwegs. Er singt sowohl den Stolzing als auch den Cavaradossi. In Essen war er schon als Lohengrin zu erleben. In der anspruchsvolleren Partie des Tristan scheint er aber noch viel besser aufgehoben zu sein denn als Gralsritter. Seine Stimme besitzt eine helle Färbung, er artikuliert bestens und verfügt über den großen Atem, um die weiten Bögen der Rolle zu meistern. Singt er im 2. „Tristan“-Akt ein schönes Liebesduett, so steigert er sich in den Fieberphantasien des 3. Aktes noch einmal. Nach dem Eindruck der Essener Aufführung müssten beide Interpreten auch in einer ungekürzten und szenischen „Tristan“-Produktion ein echter Gewinn im schweren Wagner-Fach sein.
Trotz kleiner Besetzung entlockt Tomas Netopil den Essener Philharmonikern einen starken Wagner-Klang. Wagners Musik entwickelt auch mit 30 Musikern einen großen emotionalen Sog. Mit gerade einmal 7 Bläsern dominieren diese auch gar nicht, sondern der Klang ist gut ausbalanciert. Netopil führt mit fließenden Tempi durch die Partitur wählt weder übertrieben langsame, noch zu schnelle Geschwindigkeiten. Der Gesamtklang ist zwar schlank, aber dennoch von romantischer Wärme geprägt.
Dieser Abend ist zwar als „Konzertante Szenen“ angekündigt, und statt einer Regie gibt es eine szenische Einrichtung von Marijke Malititus. Der Einsatz von Videos und Beleuchtung wirkt jedoch unschlüssig und manchmal störend. Zudem wird man als Zuschauer von der zu hoch eingestellten Beleuchtung einiger Notenpulte geblendet. Aufgrund des starken darstellerischen Einsatzes der beiden Akteure hat man den Eindruck, dass man mit Hilfe einer ordnenden Regie-Hand auch in kurzer Zeit einen szenisch starken Corona-Kammerspiel-Kurz-„Tristan“ hätte produzieren können. Seit Heiner Müllers Bayreuther „Tristan“ von 1993 ist es ja zur Regiemode geworden, dass sich das Liebespaar körperlich nicht mehr nahekommt. Der Pariser „Tristan“ von Peter Sellars und Bill Viola hat zudem gezeigt, dass man diese Oper auch mit einer durchgehenden Video-Bebilderung stimmungsvoll auf die Bühne bringen kann.
Der Essener „Tristan XS“, der übrigens die erste Wagner-Produktion in NRW während der Corona-Pandemie ist, wird noch am 11. und 21. Oktober sowie am 26. November und 11. Dezember gespielt.
Rudolf Hermes, 3.10.2020
Yesterdate
Uraufführung: 08.02.2020
Ein Rendezvous mit den Sixties
Die Theaterwelt lädt immer wieder zu schönen Zeitreisen ein, erst letzte Woche wurde man in Düsseldorf ins Berlin der 20er Jahre versetzt, am 08. Februar 2020 stand nun im Essener Aalto-Theater die Premiere von „Yesterdate“ auf dem Spielplan. In dieser Musical-Revue von Heribert Feckler und
Marie-Helen Joël treffen sich die alten Freunde Bärbel, Gunda, Lutz, Rolf und Kenneth nach dreißig Jahren wieder, um ein Benefizkonzert zugunsten unverheirateter junger Mütter zu spielen.1966 hatten sich kurz nach dem Beatles-Konzert in der Grugahalle ihre Wege getrennt. Bärbel und Lutz sind inzwischen verheiratet, er hat inzwischen Karriere als Chefarzt gemacht. Kenneth betreibt einen Klamottenladen auf der Londoner Carnaby Street, den er von seinen Eltern übernommen hat und Rolf bringt seine Ehefrau Penny mit, eine erfolgreiche Jazzsängerin, für die er seine eigene Gesangskarriere aufgab. Inzwischen ist Rolf als Manager seiner Frau tätig. Auch Gunda hat als Unternehmensberaterin Karriere gemacht, bringt zum Treffen aber zur Überraschung der anderen ihren fast 30-jährigen Sohn Alexander mit, um ihn mit seinem bisher geheim gehaltenen Vater bekannt zu machen.
Soweit die Eckdaten der Geschichte, denn die Handlung spielt an diesem Abend eine eher untergeordnete Rolle. Im ersten Akt schwelgen die Akteure nahezu konfliktfrei in alten Erinnerungen. Dies nutzt Marie-Helen Joël, die sich in Personalunion auch für die Inszenierung und das Bühnenbild verantwortlich zeichnet und die Rolle der Bärbel besetzt, um den Zuschauer mit alten Fakten aus den Sechzigern vertraut zu machen, sei es die Erfindung des Kassettenrekorders 1963, die bereits erwähnte „Bravo Beatles-Blitztournee“ die die Band auch nach Essen führte oder die „Internationalen Essener Songtage“ im September 1968. Hin und wieder sind es vielleicht etwas viele Fakten auf einmal, da ist man als Zuschauer froh, wenn Alexander Franzen als Rolf eine wunderbare Elvis-Imitation auf die Bühne bringt. Ein weiteres Highlight des ersten Aktes ist eine großartige Version von Pinnball Wizard der britischen Rockgruppe The Who durch Henrik Wager (Kenneth), der im Laufe des Abends immer wieder sein Können als Rocksänger zeigen darf. Auch eine a-cappella-Version bekannter Beatles-Hits durch alle sieben Darsteller kann vollständig überzeugen. Später am Abend folgt noch eine wunderbare Kombination von großen Beatles-Klassiker, die übereinander gesungen werden. Auch eine eigens für Essen komponierte „Zollverein-Hymne“ darf im Stück nicht fehlen.
Im zweiten Akt gibt die alte Band „Dropping Softice“, der Name unter dem die fünf Freunde früher aufgetreten sind, dann verstärkt durch Penny und Alexander das erwähnte Benefizkonzert, so dass die Handlung hier mehr oder weniger gar nicht mehr stattfindet und man sich ganz der Musik hingeben kann. Hierbei setzt man auf einen breiten Abriss quer durch die Musik der 60er Jahre, von Schlager, Rock und Pop bis zum Chanson. Hin und wieder werden einzelne Nummer etwas mehr inszeniert, so z. B. ein Telefonat zweier Freundinnen die sich am Telefon in Form von „Schuld war nur der Bossa Nova“ und „Ich will keine Schokolade“ gegenseitig von ihren letzten Tagen berichten. Gut beim Publikum kommt auch immer wieder „Marmor, Stein und Eisen bricht“ von Drafi Deutscher an, ein echter Klassiker aus dem Jahr 1965. Doch auch die internationalen Hits fehlen natürlich nicht, ganz wunderbar hier z. B. das ruhige „The Sound of Silence“ von Simon & Garfunkel welches Henrik Wagner zusammen mit Thomas Hohler präsentiert, deren Stimmen hier wunderbar harmonieren. Das gleiche gilt für „Father and Son“ von Cat Stevens, perfekt dargeboten von zwei sehr talentierten Musicaldarstellern. Auch Brigitte Oelke als Alexanders Mutter Gunda, die als Killer Queen im Queen-Musical „We will rock you“ im gesamten deutschsprachigen Raum große Erfolge feierte (u. a. auch im Essener Colosseum Theater), konnte bei Yesterdate mit ihrer großartigen Rockstimme ebenso überzeugen wie bei den etwas leiseren Nummern.
Die beiden Ensemble-Mitglieder Christina Clark (Penny) und Albrecht Kludszuweit (Lutz) überzeugen mit sehr starken und gut ausgebildeten Stimmen auf ganzer Linie und runden die in allen Teilen überzeugende Cast sehr gut ab. Schade ist hierbei lediglich das die Tonabmischung im Theater noch nicht ganz funktionierte, besonders im ersten Akt gehörten verspätet aufgedrehte Mikrofone und eine nicht ganz passende Abmischung von Musik und Gesang leider ständig dazu. Hier bleibt zu hoffen, dass man dies bei den Folgevorstellungen besser in den Griff bekommen wird. Das United Rock Orchestra unter der musikalischen Leitung von Heribert Feckler spielt auf jeden Fall sehr souverän und ist im zweiten Akt dann auch mittig auf der Bühne untergebracht. Zu erwähnen wären noch die vielen bunten Kostüme von Ulrich Lott, die ebenfalls dazu beitragen, dass sich das Publikum durch die Zeitmaschine Theater in die 60er-Jahre versetzt fühlt und am Ende zu stehenden Ovationen und mit vielen Luftballons und Konfetti ausgelassen mitfeiert.
Markus Lamers, 09.02.2020
Bilder: © Matthias Jung
PIQUE DAME
Premiere Essen 13.10.2019
Doomsday in Russland
Achtung: Diese Inszenierung könnte ihr bisher freudvolles Dasein als Tschaikowsky Fan und ihr bisher ausgeglichenes Seelenheil beschädigen
Es gibt Wahrnehmungen, da möchte man als Kritiker schon beim - viel zu frühen! - Aufgehen des Vorhangs das Opernhaus sofort wieder verlassen. Es sind diese Situationen, die man schon hundertmal durchlitten hat und die mitverantwortlich sind, daß man dann im Alter sein Haar von einst schillernder Lockenpracht in schlohweiße Dürre gewechselt hat.
Dazu zählt ein Inszenierungskonzept der längst vergangenen 80er, als man öfter, egal ob Schauspiel oder Oper, sofort alle Personen auf der Bühne drapierte - gleich ob sie jetzt schon auftreten oder erst später. Diese Nichtagierenden sitzen dann meist gelangweilt bis belanglos am Rand herum und zählen imaginäre Fliegen an der Decke oder - was sich in dieser Produktion (Müllplatz hinter der Tschernobyl-Ruine) eher anbieten würde - imaginäre Riesen-Kakalaken auf dem Boden.
Genuss
Das in solchen Inszenierungen immergleiche AOK-Krankenhaus-Bettgestell gibt einem dann schon nach fünf Minuten den Rest. Also: Augen zu, der Herzkasper droht sonst, denn es gibt ja schöne Musik. Doch auch hier suche ich den Tschaikowsky-Sound, den ich so liebe, vergeblich. Aus den Tiefen der russischen Seelen kam diese Musik leider nicht - zumindest in meinen Ohren. Die Mehrheit des Pr-Publikums schien das allerdings anders gehört zuhaben.
Tomas Netopil ist kein Tschaikowsky-Dirigent des Herzens, der Emotionen, der Sentimentalität oder des doch so schönen Kitsches im Streicherschwelgen. Sein schon fast kammermusikalischer Ansatz langweilt. Diese Musik ergreift weder das Herz, noch bewegt es die Seele. Sie rauscht einfach vorbei. Auch schienen mir die Essener Philharmoniker etwas dünn besetzt. Also auch musikalisch nicht der erwartete Genuss. Der bärbeissige Rezensent hält es hier mit Tannhäuser: Dem ziemt Genuß in freud'gem Triebe, und im Genuß nur kenn ich Liebe! Hier gilt es allerdings meiner Liebe zur tschaikowskyschen Musik ;-).
Nun ja, denkt sich der höfliche Operngänger, es ist ja bald Pause. Denkste! Regisseur Himmelmann hat mit seinem Team diese eigentlich wunderbare Oper von den ursprünglichen drei Stunden auf pausenlose 125 Minuten gekürzt. So spielt sich der "Genuss" dieses Abends zwischen ständig in den Theaterschlaf fallend und - bei älteren Menschen hoffentlich verständlich - in sich kontinuierlich forcierenden Harndrang ab. Keine optimalen Voraussetzungen für eine gute Rezension. Aber clever ist eine solche pausenlose Machart schon, die ich eigentlich nur aus modernen Opern-Produktionen kenne; da aber stets mit der Intention, daß nach einer Pause oft niemand mehr im Theater säße. Solch simple Denkweise möchte man dem Regisseur heuer allerdings nicht unbedingt unterstellen.
Obwohl... Wenn man sich zwei Stunden lang mit einem höchst deprimierenden, elenden Einheitsbühnenbild (Johannes Leiacker) - eben dieser Tschernobyl-Ruine mit vorgelagertem Schrottplatz und einer riesigen trüben Pfütze an der Rampe - konfrontiert sieht, steigert sich dieser Fluchtinstinkt doch immer mehr.
Tempus non fugit - im Gegenteil!
Fürs Seelenheil eines friedlich harmlosen Genuss-Suchenden Opernfans der Theatergemeinden und Volksbühnen ist diese Produktion nicht geeignet. Üblicherweise will man sich ja entspannen. Dies klappt nur, wenn man sich an Pennerhorden (immerhin ganz phantasievolle Tristesse in den Kostümen von Gesine Völlm), die sinnlos über die Opernbühne irren, schon gewöhnt hat. Irgendwie gelingt mir persönlich das nie.
"Hier gilt es der Kunst" - daher stört auch wenig, daß man halt nicht Karten spielt, sondern diese massenhaft in die Luft wirft. So gibt es im Finale natürlich keinen Spieltisch mit Geld und Karten. Und auch das Zurufen der Kartenwerte dort wirkt völlig sinnos. Es geht halt nicht um die Royals einer zerfallenen dekadenten Adelsdynastie, sondern um den Verfall eines Individuums zwischen Spielsucht und Liebe.
Warum allerdings die alte Gräfin (achtbar gesungen von Helena Rasker) sich den ganzen Abend in somnambulen Zuckungen bewegen muß und das Ölgemälde der Zarin Katharina ständig hinter sich herschleift, ist rätselhaft. Vielleicht erklärt mir mein Seelenklemptner, den ich nach dem Besuch dieser Depri-Inszenierung am Montag sofort aufsuchen werde, damit ich mich nicht noch verzweifelt von der Brücke stürze, die freudschen oder freudlosen Zusammenhänge.
Na wenigstens keine Rollstühle diesmal...
Gesungen wird in Russisch, was bei einer so textreichen Oper immerhin dazu führt, daß der Zuschauer überwiegend zum obere Bühnenportal schaut und vielleicht seelisch doch nicht so sehr geschädigt das Opernhaus verlässt, wie der Rezensent, der ja - fataler Weise - den Text schon vorher kennt.
Gesungen wird eigentlich in allen Partien gewohnt gut - immerhin schon fast ein Alleinstellungsmerkmal des Essener Aaltos - wobei ich Gabrielle Muhlen (Lisa) und Sergey Polyakow (Herman) als die primi inter pares doch etwas herausheben möchte. Insbesondere diese eigentlich undankbaren Wahnsinnspartie verdienen schon angesichts ihrer reinen Bewältigung großen Respekt. Da darf dann auch das musiktheatralische Darstellungsvermögen etwas leiden. Aber dafür ist die Regie ja verantwortlich. Die stets gleichbleibend gute Qualität des Chores unter Jens Bingert erfreut immerhin.
Fazit: Tschernobyl war gestern - diese Pique Dame ist heute. Für beide gilt natürlich in erheblicher Differenzierung: "grauenhaft!"
Peter Bilsing 13.10.2019
Bilder (c) Monika und Karl Forster
Credits der Vorstellung am 17.10. 19:30
Musikalische Leitung: Tomáš Netopil
Inszenierung: Philipp Himmelmann
Bühne: Johannes Leiacker
Kostüme: Gesine Völlm
Licht: Stefan Bolliger
Choreinstudierung:Jens Bingert
Dramaturgie: Svenja Gottsmann
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Hermann: Sergey Polyakov
Graf Tomski: Almas Svilpa
Fürst Jeletzki:Heiko Trinsinger
Tschekalinski: Dmitry Ivanchey
Surin: Baurzhan Anderzhanov
Tschaplitzki: Rainer Maria Röhr
Narumow: Karel Martin Ludvik
Gräfin: Helena Rasker
Lisa: Gabrielle Mouhlen
Polina: Liliana de Sousa
Bühnenklavier: Juriko Akimoto
Zeremonienmeister: Stoyan Milkov
Saisonvorschau 2019/20
Nur 3 Opern (!), ein Oratorium, eine Operette und eine Musical-Revue
Dürftiger geht es wirklich kaum noch
Pique Dame 12. Oktober / / Regie führt Philipp Himmelmann / Ml Tomas Netopil
Das Land des Lächelns 7. Dezember / Regie: Sabine Hartmannshenn / Ml: Friedrich Haider
Kain und Abel oder der erste Mord 25. Januar / Regie: Hilsdorf / Ml: Rubén Dubrovsky
Yesterdate– Ein Rendezvous mit den 60ern 8. Februar / Regie: Joel / Feckler
Don Carlo 14. März / Regie: Robert Carsen / Ml: Robert Jindra
Le nozze di Figaro / 23. Mai 2020 / Regie; Floris Visser ML: Tomáš Netopil
Loriot / Wagner
DER RING AN EINEM AEBND
Premiere am 24.2.2019
VORWORT
Liebe Opernfreunde, diese wunderbare Inszenierung, für die wir sogar unseren OPERNFREUND STERN verliehen haben, darf nun, in der von uns besprochenen Gestalt, leider nicht mehr aufgeführt werden. Die Erben und Copyright-Inhaber STUDIO LORIOT (email: s.v.buelow@studioloriot.de) habern das untersagen lassen. Grund: Lizenzgebühren wären nur für eine einfache konzertante Aufführung ausgehandelt worden und nicht für szenische Ausarbeitung. PB
Statt 15-stündigem Bombast erleben die Besucher in Essen eine urkomische, dreistündige Reduktion, die Wagners Meisterwerk trotz all ihrer Albernheiten nie bloßstellt, sondern sich vor ihm verbeugt.
Stefan Klein (Literatur & Feuilleton)
Nur wenige wissen, daß Loriot sogar Honorarprofessor für Theaterkunst an der Berliner Universität der Künste war. Wer seine Auseinandersetzung mit dem Ring als Klamauk bezeichnet, hat leider überhaupt nicht verstanden, worum es ihm ging. Aber der klassische Wagnerianer versteht halt keinen Spass - erst recht nicht, wenn es um den heiligen Ring geht und seine hehren Göttergestalten. Promt leerten sich auch im Aalto-Theater nach der Pause einige - Gott sei´s gedankt - wenige Reihen vermutlicher Altar-Wagnerianer, die finsteren, dampfenden Blickes den Weg ins Parkhaus nahmen. Sauerei auf den Lippen. Vermutlich hatte man den Namen Loriot nicht gelesen und erwartet eine klassische Wagner-Gala a la Best of the Ring.
Verehrte Opernfreunde, ich muß Ihnen mitteilen, daß es tatsächlich eine Gala war, nur in anderem Sinne, denn blendender und brillanter wurde ich mit Wagners Ring in 50 Jahren Ring-Genuß und -Verdruss nie unterhalten. Die vier Stunden vergehen wie im Flug - und das bei 100 Prozent originaler Wagnermusik. Das will was heißen.
Der Vorhang ist offen, und wir blicken auf eine rechts und links am Bühnenportal an zwei langen Tafeln mit Schreibkram und Wasserkaraffe sitzende illustre Runde; auf den ersten Blick vermutlich Wissenschaftler oder Opernintendanten, die sich auf einem Symposium mit eben diesem Wagner und seinem Ring beschäftigen. Im Hintergrund sitzt das große Essener Wagnerorchester - am Pult Robert Jindra.
Vorne rechts steht eine Badewanne. Eine Badewanne? Ja - genau die Badewanne! Auf den Konferenztischen stehen Namensschilder. Bei näherem Hinschauen - ab Reihe 15 wird es schwierig - erkennt man jedoch, daß nicht die Namen von Opernstädte wie z.B. Düsseldorf, Leipzig, Hamburg oder Berlin darauf stehen, sondern Woglinde, Flosshilde, Wellgunde, Wotan, Loge, Alberich...etc. Der Platz hinter dem Schild Brünhilde ist noch leer, was die anderen sichtbar erregt und empört. Nur Ruhe, Freunde möchte man als inhaltlicher Kenner des Rings rufen: Die Brünhilde ist ja am Anfang noch nicht dran. Jetzt hört man im Hintergrund ein schweres Motorrad brummen und im krachledernen harten Motorradrocker-Dress kommt die hehre, gewichtige Maid doch noch.
Der Leiter der Konferenz - ganz wunderbar, schon fast besser als Loriot selber Jens Winterstein - im Programmheft nur als Sprecher ausgewiesen, obwohl die Maske ihn unverkennbar als Loriot zeichnet, beginnt mit den Worten:
Meine Damen und Herren, wären die Rheintöchter nicht so zickig gewesen, hätte uns das drei weitere riesige Opern erspart.
Dann kündigt er die nun folgenden 130 unendlichenTakte des Rheingold-Vorspiels an. Musik marsch! Und zu den ersten Noten des Orchesters verfallen langsam die Symposiums-Teilnehmer auf ihren Bürostühlen erkennbar einem orgiastischen Wagner-Rausch. Ein Bild für die Götter. Der Alberich-Sänger fällt aus dem Rahmen, denn er reagiert auf die Musik mit dem klassischen Headbanging des Heavy-Metal-Fans, oder hat er etwa Kopfhörer auf und hört was völlig anderes?
Regisseur Sascha Krohn gelingt es, mit unzähligen Requisiten und vielen Anspielungen in brillanter Weise Loriots Humor in zweimal 100 Minuten nachzuspüren. Wir werden ihm dafür unseren heißbegehrten OPERNFREUND-Stern verleihen, denn es ist einfach grandios und permanent Lachtränen erzeugend. Dabei korrellieren seine feinsinnig, filigran aber auch manchmal derb-intelligent ins Wagnergeflecht eingewirkten Seitenhiebe - auch aufs sogenannte Regietheater - einfach genial mit Loriots Einfällen, Geschichten und Originalrequisiten. Was für ein Gesamtkunstwerk! Es steckt fast in jeder Szene ein Loriot. Das ist so ungeheuer vielfältig, daß man diesen Abend unbedingt mindestens zweimal genießen sollte, denn beim ersten Mal übersieht man im Trubel doch Einiges, denn auf dieser Bühne und in dieser irrsinnig tollen und durchdachten Inszenierung steckt Loriot überall.
Außer der Jodelschule kommt praktisch alles vor. Man muß nur haarklein beobachten und seinen Loriot kennen. Daher werde ich hier, denn es wäre Spoiler-Wahnsinn für alle, die noch reingehen wollen - was ich dringend empfehle -, nicht weiter auf die wirklich tollen Geistesblitze und Coups eingehen. The Ring to end all Rings ;-)
Künstlerisch muß man das ganze tolle Team loben - keine Einzelbravi wie in Bayreuth. Und auch beim passabel spielenden Orchester sieht man über Einiges hinweg; es gilt ja der Kunst des Humors in diesem feinsinnigen Gesamtkunstwerk, dekoriert mit Wagners Ring-Musik. Hier gelten also keine Festspielansprüche.
Fazit: Die Essener Philharmoniker spielen passablen Wagner und die Sänger treffen die Töne. Mehr ist ja auch gar nicht intendiert. Also Wagnerianer mit Humor, entspannt Euch und genießt einfach. Schöner kann man sich mit Wagners Werk nicht unterhalten. Dieser Ring ist einmalig. Hinfahren!
PS: Wagner is simply great!
Wenn sich die sieben veritablen Möpse - unfassbar, man traut seinen Augen nicht - zu Siegfrieds Trauermarsch alle schlagartig zum Orchester ausrichten und gebannt zuzuhören scheinen, dann ist für alle - obwohl der Held gerade dahingemeuchelt wurde - die Welt doch wieder in Ordnung. Ne watt ist datt schön! Diese Musik kann nicht übel sein, wenn sogar Hunde sie mögen.
Bilder (c) Matthias Jung
Peter Bilsing 27.2.2019