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ENESCU | BARTOK | DVORAK

 
Bartok, Konzert für zwei Klaviere, Schlagzeug und Orchester

George Enescu: RUMÄNISCHE RHAPSODIE in A-DUR, op.11. Nr.1

Béla Bartók: KONZERT FÜR ZWEI KLAVIERE, SCHLAGZEUG UND ORCHESTER  Antonín Leopold Dvořák: SINFONIE NR. 8 in G-Dur op. 88

 

Über einem dumpfen Paukenwirbel erklingt ein düsteres, aus wenigen Tönen bestehendes, pentatonisches Motiv des ersten Klaviers, es wird wiederholt von beiden Klavieren - dann folgt ein brutaler, scharf zugespitzter Schlag (Becken, Klavier) und ab diesem Moment ist man als Zuhörer wie elektrisiert, sitzt auf der Stuhlkante und verfolgt mit weit geöffneten Ohren und staunenden Augen, wie sich die Klaviervirtuosen Lucas und Arthur Jussen, die Soloschlagzeuger Andreas Berger und Klaus Schwärzler und der Paukist Christian Hartmann zusammen mit dem Tonhalle-Orchester Zürich unter der Leitung von Cristian Măcelaru voller Spielfreude und ansteckendem Enthusiasmus in Béla Bartóks Konzert für zwei Klaviere, Schlagzeug und Orchester stürzen. Man kann gar nicht anders, als sich in dieses mit höchsten Ansprüchen an die Ausführenden gespickten Werks zu verlieben. Lucas und Arthur Jussen, das kometenhaft am Pianistenhimmel aufsteigende niederländische Brüderpaar, spielen mit einer staunenswerten Selbstverständlichkeit, rasen mit Leichtigkeit durch Akkordkaskaden und vertrackte Rhythmen, können - wie durch unsichtbare Bande verknüpft - mit einem soliden Grundvertrauen aufeinander eingehen, zusammen prägnant ausmusizierte Triller und orgiastische Gipfel erklimmen. Bartóks Konzert lebt aber nicht nur von Synkopen und jazzigem Fluidum, sondern findet immer wieder zu intorvertierten Kantilenen, bei denen die beiden Pianisten die Töne regelrecht atmen lassen. Mystische Glissandi des einen Bruders untermalen sanft intonierte Melodien des anderen, verspielte, mit gekreuzten Händen angeschlagene Phrasen vermitteln ein unfassbar reichhaltiges Klangkolorit, bei dem die Schlagzeuger ebenbürtige Partner sind. Hochspannend gestaltet sich der Dialog zwischen Xylophon und Pauke; es ist ein akustischer Hochgenuss, wie die Schlaginstrumente konzertierend eingesetzt werden, auch die beiden Klaviere werden (da hat Bartók absolut recht) zu Schlaginstrumenten. Alle fünf Solisten zeichnen sich durch eine grandiose Virtuosität aus, die jedoch in keinem Moment exhibitionistisch wirkt, sondern sich ganz in den Dienst des Werks stellt. Wunderbar packend schält der Dirigent Cristian Măcelaru die Steigerungen heraus, lässt das Orchester zurückfallen und die verhauchenden Trommelwirbel am Ende lassen das Publikum kurz innehalten, bevor begeisterter Applaus losbricht. Als Zugabe beglücken Lucas und Arthur Jussen das Publikum im fast vollen Saal mit einer für Klavier zu vier Händen von György Kurtág arrangierten Fassung von Johann Sebastian Bachs Sonatina aus ACTUS TRAGICUS (Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit). Damit schaffen sie es, uns in einen beinahe meditativen Zustand zu versetzen, in eine Reinheit, die nicht von dieser Welt zu stammen scheint. Nach den aufwühlenden und mitreissenden Explosionen bei Bartók ist das ein willkommener und wohltuender Kontrast.

Eingestimmt auf das Programm mit drei Werken osteuropäischer Komponisten wurde man mit George Enescus RUMÄNISCHER RHAPSODIE op. 11 Nr. 1. Das Tonhalle-Orchester Zürich verlieh dem Werk eine reichhaltige Palette an instrumentalen Farben, liess die Töne in fein ausgehorchtem ondeggiando subtil an- und abschwellen. Aus den Händen von Cristian Măcelaru schienen die Rhythmen, die Steigerungen und Wirbel nur so zu strömen, sich zu mitreissenden Tänzen und Weisen zu formen - und machte neugierig auf weitere Werke des Komponisten George Enescu. In der kurzen Umbaupause, die nötig wurde, um das Schlagzeug für Bartóks Konzert hinter die zwei Flügel zu platzieren, wandte sich Cristian Măcelaru ans Publikum und kommentierte in einer sowohl tiefgründigen wie herzlich-launigen kurzen Ansprache den musikalischen Grundgedanken (die Pentatonik), welcher die Völker der Erde miteinander von Ost bis West verbindet: "These five notes unite us, we are all the same. Music unites us!" Wie wahr, vor allem in diesen Zeiten.

Mit Antonin Dvořáks 8. Sinfonie erklang nach der Pause ein überaus populäres Werk, eine Sinfonie, bei der die melodiösen Einfälle nur so zu purzeln scheinen, die einem bestens bekannt ist. Und doch konnte man dank der feinsinnigen Lesart durch Cristian Măcelaru auf Entdeckungsreise gehen. Die differenzierte Klanggestaltung öffnete die Türen zu harmonisch-melodischen Schätzen, die dank der klug ausgehorchten Transparenz der Wiedergabe gehoben wurden. Beeindruckend war der warme Streicherklang des Tonhalle-Orchesters Zürich, die wunderbaren Klänge der Posaunen, die von den Violinen so herausragend begleitet wurden, die herrlich tragenden Piani und verinnerlichten Passagen im Adagio. Der Konzertmeister Andreas Janke steuerte dazu ein wunderschön intoniertes Solo bei. Wie durch eine zarten Schleier erklangen in diesem Satz melancholische Weisen. Mit wiegenden Walzerklängen erfreute das Allegretto grazioso, bevor die blitzsauber intoniertenTrompetenfanfaren den Finalsatz einleiteten, in welchem zuerst die tiefen Streicher aufhorchen liessen. Geschärft und klar traten die ersten und zweiten Violinen in den Dialog mit den tiefen Streichern ein. Ein fulminantes Tutti wuchs daraus hervor, mit getragenen Bläsern, die noch dagegen zu setzen versuchten. Ein besänftigender Mittelteil mit erhebenden Kantilenen der Klarinette verschaffte kurzfristig eine ruhige Stimmung, bevor das Hauptthema des Satzes in einer furianten, kurzen, aber effektvoll musizierten Stretta expolodierte. Rasend!

 

Kaspar Sannemann, 9.10.22

 

Europäische Kulturpreisgala

 

Gioacchino Rossini Allegro vivace aus Ouvertüre zu «Guillaume Tell»

Richard Wagner «O! du mein holder Abendstern» Bryn Terfel,

Die Toten Hosen «Alles aus Liebe»

Ryuichi Sakamoto «Merry Christmas, Mr. Lawrence» Nigel Kennedy

«Morgen!» aus Vier Lieder op. 27  Camilla Nylund, Sopran

Tschaikowsky Arie des Lenski aus «Jewgenij Onegin»  Sol Gabetta, Violoncello

Berlioz «Ouverture du Corsaire» op. 21 H. 101

 

Preisträger: Sir Bryn Terfel, Sol Gabetta, Mario Adorf, YELLO - Dieter Meier und Boris Blank, Camilla Nylund, Claudia Cardinale, Nigel Kennedy, Hannes Jaenicke, Die Toten Hosen, Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi

 

Bereits zum fünften Mal fand gestern Abend die Gala zur Verleihung des Europäischen Kulturpreises statt. Nach der Elbphilharmonie in Hamburg, der Frauenkirche in Dresden, der Wiener Staatsoper und dem Opernhaus Bonn erhielt nun die Tonhalle Zürich die Ehre, als Austragungsort gewählt worden zu sein. Die Tonhalle war zwar gut besetzt - aber entgegen der Behauptung auf der Webseite des Europäischen Kulturpreises - beileibe nicht ausverkauft, was bei den saftigen Eintrittspreisen denn auch nicht gross erstaunte.

 

Die Preise werden vergeben an Künstlerinnen und Künstler, die mit ihrem Können und ihrer Persönlichkeit den Europäischen Gedanken und Werten verpflichtet sind, diese weitertragen an junge Generationen oder besondere Verdienste um das Thema Nachhaltigkeit erworben haben. Den rasanten Einstieg in den Galaabend gestaltete das Tonhalle-Orchester Zürich unter Paavo Järvi mit einem hinreissend gespielten Galopp aus Rossinis Wilhelm-Tell-Ouvertüre.

 

Durch den Abend führten die Moderatorin Sandra Studer und der Musiredakteur, Autor, Journalist und TV-Moderator Axel Brüggemann. Frau Studer leistete sich leider gleich zu Beginn einen eher geschmacklosen (und auch bereits abgedroschenen) Kalauer, indem sie konstatierte, Europa hätte zu Beginn der Woche um die Queen getrauert und die Schweiz hätte heute Nacht den King (Roger Federer) verloren. Zum Glück fand sie sie danach schnell zu ihrer gewohnten Form zurück. Axel Brüggemann hatte für die Preisträger jeweils einen kurzen Einführungs-Videoclip vorbereitet, war sich auch nicht zu schade, dafür in den Zürichsee zu springen (Wagner tauchte in Dresden unter und in Wollishofen wieder auf ...), oder auf einem Tretboot zu fahren, um festzustellen, dass im Zürichsee nur wenig Plastikmüll liege, wie seine Taucher herausgefunden hätten.

 

Jeder Künstler erhielt von einer ihm verbundenen Persönlichkeit eine Laudatio vor Empfangnahme des Preises. Als erster hielt Opernhausintendant Andreas Homoki die Laudatio für Preisträger Sir Bryn Terfel. Der walisische Bassbariton bedankte sich mit Wolfgangs Lied an den Abendstern aus Wagners TANNHÄUSER (vielleicht nicht die beste Wahl), begleitet vom Tonhalle-Orchester Zürich unter der Leitung seines Music Directors Paavo Järvi. Als nächste Preisträgerin wurde die in Basel wohnhafte argentinische Cellistin Sol Gabetta ausgezeichnet, eine Kulturvermittlerin (z.B. beim Bayerischen Rundfunk), die sehr viel Jugendförderung leistet. Die weit ausholende (über Starkult und Virtuosentum im Musikbereich) Laudatio hielt Professor Stephan Schmidt, Direktor der Hochschule für Musik FHNW und der Musik-Akademie Basel. Sol Gabetta bedankte sich mit einem innig vorgetragenen Arrangement von Lenskis Arie aus Tschaikovskys Oper EUGEN ONEGIN, ebenfalls begleitet vom Tonhalle-Orchester Zürich.

 

Ich muss zugeben, ich habe Mario Adorf als Kind aus tiefstem Herzen gehasst. Als brutaler Gauner Santer erschoss er im Film WINNETOU 1 Winnetous Schwester Nscho-tschi (gespielt von Marie Versini), was mich unglaublich wütend machte. Nun erhielt der inzwischen 92jährige Schauspieler, der in der Laudatio von Schauspielkollegin Iris Berben in einer überaus intelligenten Würdigung so charmant und liebevoll als "Komplize der Kunst und Komplize des Lebens" charakterisiert wurde, den Europäischen Kulturpreis. Mario Adorf wurde als Sohn deutscher Eltern in Zürich geboren, wuchs aber dann in Deutschland auf. Als junger Germanistik Student arbeitete er als Statist und Regieassistent am Schauspielhaus Zürich (für 90 Franken pro Monat, wie Brüggemann im Archiv des Schauspielhauses herausfand, wo ihm die Lohnabrechnungen für Mario Adorf von 1953 gezeigt wurden). Natürlich hat sich mein kindlicher Hass schon längst in grosse Bewunderung für die Schauspielkunst Mario Adorfs gewandelt.

 

Die nächsten Preisträger waren das Duo YELLO, Dieter Meier und Boris Blank, die verdienten Pioniere der elektronischen Musik, die aus Geräusschnipseln ungeahnte Musik erschaffen konnten und weltweit für ihre Avantgarde gefeiert wurden und noch immer werden. Ein Zeugnis ihres Könnesn lieferten sie gleich mit Hilfe von ein paar Mundgeräuschen ab, die Boris Blank auf sein Handy aufnahm und flugs bearbeitete. Dann folgte mit Niclas Castello ein bildender Konzept-Künstler als Preisträger, sein THE CASTELLO CUBE, dieser Würfel aus purem Gold (Materialwert ca 10 Millionen SFR), ist zur Zeit auf der Gemüsebrücke in Zürich ausgestellt, natürlich streng bewacht. Gegossen wurde das Kunstwerk in Aarau. Angeblich soll er damit auch Werbung für die Kryptowährung Castello Coin (Cast) machen, die von der HOGA AG in Zug herausgegeben wird, diese Firma hat den CUBE auch gesponsert. Der Laudator, der Kusnthistoriker Dieter Buchhart, sagte, dass dieser Kubus des Humanisten und Visionärs Castello uns eine andere Welt denken liesse, sowohl eine virtuelle, als auch eine reale. Das kann man so sehen ... .

 

Die nächste geehrte Preisträgerin war die Sopranistin Camilla Nylund, die zur Zeit in Zürich als Brünnhilde in DIE WALKÜRE auf der Bühne des Opernhauses triumphiert. Ihre klug aufgebaute, seit 27 Jahren andauernde Karriere, ehrte der designierte Intendant des Opernhauses Zürich, Matthias Schulz. Seine Laudatio war so des Lobes voll, dass Camilla Nylund ihm anschliessend versprach, ihn in ihrem Testament zu berücksichtigen. Dann wandte sie sich mit launigen Worten ans Publikum, zog schelmisch über Regisseure her, die nicht Oper sondern sich selbst inszenierten, über Dirigenten, die ihre eigenen - falschen - Tempi als die richtigen durchzusetzen versuchten, über Lichtdesigner, die einen auf der Bühne alt aussehen liessen, über Bühnenbildner, gegen deren trostlose Bühnenbilder die Künstler ansingen müssten und Kostümbildner, die aus einem eine Witzfigur machten. Welch ein rarer Segen sei es dann, wenn wirklich einmal alles stimme. Hoffentlich hat der Laudator und künftige Opernhausintendant gut zugehört!!!

 

Nach dieser wirklich ehrlichen Rede bezeichnete sie sich als "Singvogel" und sang ein berückend schönes Lied, MORGEN,von Richard Strauss, einfühlsam begleitet vom Tonhalle-Orchester, mit innigem Solo der Konzertmeisterin. Danach war die Reihe an der Filmdiva (sie selbst hört diese Bezeichnung gar nicht gerne) Claudia Cardinale, die eben gerade nie ein Diva im landläufigen Sinne war. Schauspielerin Maria Furtwängler ehrte die in Tunesien geborene Italienerin mit einer wunderschönen, tief empfundenen Laudatio, bezeichnete sie als Kämpferin für die Rechte und die Würde der Frauen, lange vor der #metoo Zeit. Eine Frau, die als Opfer einer Vergewaltigung mutig an die Öffentlichkeit gegangen war, Missstände gerade im Filmbereich angeklagt hatte und als UNESCO Botschafterin für die Wahrung der Rechte benachteiligter Frauen Vorbildfunktion repräsentierte. Eine Anekdote (Frau Cardinale musste lachen) gab Maria Frurtwängler in Bezug auf Cardinales Rolle in Werner Herzogs FITZCARRALDO zum besten: Oftmals rief der Regisseur Claudia Cardinale ans Set in den amazonischen Urwald, auch wenn sie gar nicht drehen musste, nur um den stets ausrastenden Klaus Kinski zu beruhigen!

 

Claudia Cardinale verwies in ihrer auf französisch gehaltenen Rede (sie wuchs im französischen Protektorat Tunis auf) auf die Werte der europäischen Kultur und drückte ihre Dankbarkeit darüber aus, dass es ein Privileg gewesen war, die europäische Kultur und deren Literatur (u.a. in IL GATTOPARDO von Visconti, 8 1/2 von Fellini) über ihre Rollen zu repräsentieren. Gerade das Kino vereine die unterschiedlichsten Künste und diesen wichtigen Dialog und Austausch fortzuführen sei eine wichtige Aufgabe.

 

Max Moor hielt nun eine theatralische Laudatio auf den nächsten Preisträger, den Stargeiger Nigel Kennedy, der schon auf dem Roten Teppich seinem Ruf als (überaus sympathisches und menschlich zugänglichs) enfant terrible der Klassikszene mehr als gerecht geworden war. Nur schon sein rotzfreches Outfit hob sich deutlich von den exquisiten Abendroben der ausgehungerten Models an der Seite älterer Herren im Smoking ab. Moor bezeichnete Kennedys Karriere als musikalische Abenteuerreise, eine Reise, die keine Angst vor Berührungspunkten mit anderen Stilrichtungen hatte, Kennedy sei ein Abenteurer und Entdecker, der so die Freude und die Freiheit der Kunst verkörpere. Chuzpe, Selbstbewusstsein und vor allem die Liebe zur Musik seien die Triebfedern des Menhuin Schülers Nigel Kennedy. Kennedy konstatierte (auch auf Deutsch), Musik sei Inklusivität und spielte zusammen mit dem Tonhalle-Orchester Zürich und Paavo Järvi einen Ausschnitt aus Ryūichi Sakamotos Filmmusik zu "Merry Christmas, Mr. Lawrence", eine ganz wunderbare, viele Stilrichtungen vereinigende Musik. Herrlich! Das Tonhalle-Orchester wurde so mitgerissen, dass es gegen Ende stehend und sich im Rhythmus wiegend spielte. 

 

Hannes Jaenicke, Schauspieler und Umweltaktivist, wurde für sein Engagement für Nachhaltigkeit ausgezeichnet. Seine Filmdokumentationen rütteln auf und bewegen die Menschen dazu, mehr Rücksicht auf Natur und Tierwelt zu nehmen. Die letztjährige Preisträgerin Barbara Meier hielt die Laudatio. (Frau Meier ist Repräsentantin von FairFashion, Botschafterin des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung für faire und umweltfreundliche Mode und Siegerin der zweiten Staffel von Heidi Klums Germany's Next Top Model Show, verheiratet mit Klemens Hallmann, Geschäftsführer der HALLMANN HOLDING International Investment GmbH. Hallmann ist Mitglied des Kuratoriums des Europäischen Kulturpreises). Jaenicke zitierte in seinem Dank Dostojewski: "Das Einzige was die Welt retten kann, ist die Schönheit." Kultur und Natur seien eben Schönheiten, sagte Jaenicke.

 

Einen fulminanten Höhepunkt des Abends bildete die Auszeichnung der Band DIE TOTEN HOSEN. Der Frontmann der Band, Campino, sagte in seinem Dank, dass wir heute Abend in diesem Saal so viel Schönes gehört hätten, das man erst erfassen könne, wenn man mit dem Hässlichen einen Kontrapunkt gesetzt bekomme. Das taten DIE TOTEN HOSEN dann auch und das Zusammenspiel mit dem Tonhalle-Orchester unter Järvi fuhr ein wie ein Stromschlag, das war zwar nicht hässlich, wie Campino versprochen hatte, aber jegliche Sinne überwältigend! ALLES AUS LIEBE hiess der Song der sinfonisch aufgemotzt auf bombastischen Klangwolken schweben liess. WOW!

 

SRF - Direktorin Nathalie Wappler schliesslich hielt die Laudatio auf das Tonhalle-Orchester Zürich und seinen Chefdirigenten Paavo Järvi, die letzten der Preisträger der diesjährigen Gala: Sie hatten den ganzen dreistündigen Abend hindurch auf der Bühne gesessen, manche der Ausgezeichneten wunderschön und hinreissend begleitet und durften nun - nach Järvis hochemotionaler und die russischen Aggressoren in der Ukraine radikal anprangender, flammender Rede - den Europäischen Kulturpreis überreicht bekommen. Das Tonhalle-Orchester sei ein vorbildliches Beispiel für Toleranz und Menschlichkeit, 100 Musiker*innen aus 32 Nationen, welche zusammen die gleichen Werte teilten, aufeinander achtgäben und sich gegenseitig beschützten. Noch nie sei es wichtiger gewesen, Europäer zu sein, meinte Järvi. Die Wahl des Stückes, mit welchem sich das Tonhalle-Orchester für die Auszeichnung bedankte, fiel auf Hector Berlioz' Ouvertüre LE CORSAIRE. Eine kluge Wahl, denn mit einem Werk des magischen Orchestrationskünstlers Berlioz konnte das Tonhalle-Orchester eindringlich seine Qualitäten an allen Pulten demonstrieren!

 

Kaspar Sannemann, 28.9.22

 

 

Bruckner 8. Sinfonie

Toshio Hosokawa

«Ceremony» für Flöte und Orchester

SAISONERÖFFNUNG

 

Gleich zu Beginn des Konzerts feuerte der Verwaltungsratspräsident der Tonhalle-Gesellschaft Zürich AG, Martin Vollenwyder, mit seinem voluminösen Organ (er verzichtete wie immer bei seinen Ansprachen auf ein Mikrofon und nutzte die exzellente Akustik des renovierten Saals!) das Publikum zu Begeisterung und Treue und Werbung für die kommenden Konzerte auf. Die Intendantin, Ilona Schmiel (mit Mikrofon), strich die programmatischen Schwerpunkte der 154. Saison in diesem grandiosen Saal heraus: Die Zusammenarbeit mit dem diesjährigen Inhabers des Creative Chairs, Toshio Hosokawa, dessen Flötenkonzert CEREMONY an diesem Abend zur Uraufführung gelangen wird, ausgeführt und gewidmet dem diesjährigen Fokus-Künstler, dem Flötisten Emmanuel Pahud. Einen weiteren Schwerpunkt der Saison wird die Fortführung der Aufnahmen der Sinfonien Anton Bruckners unter der Leitung des Music Directors Paavo Järvi bilden, dessen monumentalstes Werk, die 8. Sinfonie, nach der Pause erklingen werde.

 

Toshio Hosokawas Flötenkonzert CEREMONY beginnt wie aus dem Welt-Atem geboren - es wird nur Luft durch Blasinstrumente geblasen. Selbst der Solist Emmanuel Pahud, dem das Werk gewidmet ist, lässt nur stockenden Atem durch seine Querflöte fliessen. Langsam entstehen aus wilden Fetzen Töne, zusammenhängendere Passagen. Lautstärke und Virtuosität schwellen an. Der Solist ist für Hosokawa eine Art Schamane, der sich mit der Natur auseinandersetzt. Mit grosser Verblüffung verfolgt man den Solisten, der seinen drei Instrumenten (er wechselt auch mal zur Altflöte und zur Piccoloflöte) eine unfassbare Palette an Farben und Ausdrucksmöglichkeiten entlockt, mal fast schwelgerisch, dann wieder schrill und hysterisch. Hochspannend gerät ein Dialog mit der Holzbläsergruppe, die beim Tonhalle-Orchester Zürich herausragend besetzt ist. Im dritten Teil entwickelt sich ein tosender Kampf zwischen Orchester und Solist, Hosokawa evoziert eine lärmige Sogwirkung, auf welche ein hypnotischer Sologesang der Flöte folgt. Im letzten Teil scheint eine Versöhnung mit der Natur stattzufinden, man hört Naturlaute, Vogelgesang. Nach Angaben des Komponisten stellt dieser Schlussatz auch eine Gebetsmusik dar, welche um das Ende der Pandemie bittet. Jedenfalls findet man sich am Ende als Hörer*in in einer absolut friedlichen Stimmung und staunt über das unheimlich subtile Verklingen, welches Paavo Järvi und das Tonhalle-Orchester¨im Saal auszubreiten vermögen. Der anwesende Komponist durfte anerkennenden Beifall entgegennehmen. Wie oft bei zeitgenössischer Musik wird man sie erst nach mehrmaliger Begegnung wirklich würdigen können.

 

Dies ging den Zeitgenossen Anton Bruckners wohl genauso. Lange brauchte der Komponist, um die ihm gebührende Anerkennung zu erfahren. Seine achte Sinfonie wird als seine gewaltigste bezeichnet, ja einige Adlaten versteigen sich gar dazu, sie als das grösste je geschaffene sinfonische Werk zu bezeichnen. Da wir bei der Musik und nicht beim Sport sind, will ich das nicht weiter ausführen. Unbestritten ist, dass sie an die Ausführenden monumentale Ansprüche stellt. Es muss nämlich gelingen, einen Spannungsbogen über 80 Minuten zu halten und eine klangliche Balance zu finden, bei der das Blech nicht alle anderen Stimmen zudeckt und trotzdem die Kulminationspunkte - die schwer erkämpft werden müssen (wie stets bei Bruckner) - zur effektgeladenen Explosion zu bringen. Dies gelingt Paavo Järvi und dem exzellent spielenden Tonhalle-Orchester Zürich an diesem Abend auf herausragende Art und Weise. Järvi geht diese Schöpfung zum Glück zügig an, er zelebriert nicht am Hochaltar, sondern erzählt ein dramatisches Gedicht. Knapp 80 Minuten braucht er dazu (Celibidache z.B. nahm sich 100 Minuten Zeit).

 

Der erste Satz beginnt mit einem mürrisch-drohenden Motiv, wie wenn ein Riese aus seinem Tiefschlaf geweckt würde. Das Motiv trotzt immer wieder der lichteren Stimmung, welche die Geigen zu verbreiten suchen. In mehreren Anläufen wird der Höhepunkt erreicht - Gänsehaut. Doch schnell fällt alles wieder zusammen, die "Totenuhr" (Bruckner) beginnt zu ticken, der Satz endet (als einziger von Bruckners Ecksätzen) im Pianissimo, welches von Järvi und dem Orchester - wie schon bei Hosokawa - ausserordentlich bewegend gestaltet wird. (Kleine Anmerkung: In der Erstfassung der Sinfonie endet dieser erste Satz im Ostinato C-Dur Fortissimo.) Dem tragischen Ende dieses Kopfsatzes stellte Bruckner im zweiten Satz die derbe Tolpatschigkeit des "deutschen Michel" gegenüber. Järvi und das Tonhalle-Orchester nehmen diesen stampfenden Bauern mit Genuss auf, das klingt rhythmisch überragend sicher und die klangliche Finesse wird subtil ausgekostet, mit den glitzernden drei Harfen, welche auch im überlangen Adagio-Satz ihre himmlischen Arpeggien beisteuern. Begeisternd intonieren die Celli und die Bratschen den Anfang dieses wunderschönen langsamen Satzes, da wird eine bewegende Innigkeit evoziert.

 

Natürlich braucht Bruckner auch hier mehrere Anläufe, um den Höhepunkt zu erreichen, doch wenn es dann soweit ist, verfällt man der klanglich eruptiven Magie mit den beiden krönenden Beckenschlägen (in der Erstfassung waren es noch sechs!). Hier ist unbedingt auch der beim Schlussapplaus dann besonders gefeierte Paukist zu erwähnen, der mit seinen zum Teil brachialen, aber stets mit haargenauer rhythmischer Präzision ausgeführten Schlägen und Wirbeln aufhorchen liess. Auch die wunderbar sauber intonierenden Hörner und Wagnertuben sowie der Spieler der Basstuba verdienten sich mit ihren Leistungen einen Sonderapplaus. Der Finalsatz lässt die diversen Motive der vorangehenden Sätzen zumindest in ihrer Rhythmik nochmals auftürmen, das Blech stellt vehemente Thesen auf, das Holz bestätigt diese. Wunderschön erklingt das kurze besänftigende zweite Thema, verschafft uns etwas Ruhe, bevor dann resolut auf die krönende Coda zugeschritten wird. Die hat es wahrlich in sich und verfehlt auch an diesem Abend ihre mitreissende Wirkung nicht, die sich in einem verdienten und lang anhaltenden Beifallssturm für das Tonhalle-Orchester Zürich und seinen Chefidrigenten Paavo Järvi entlädt.

 

Kaspar Sannemann, 17.9.22

 

SCHUMANN | BRUCKNER

28.01.2022

 

Das Adagio in Anton Bruckners siebter Sinfonie stellt wohl einen der am längsten hinausgezögerten und am wuchtigsten explodierenden musikalischen Orgasmen der Musikgeschichte dar. Ausgerechnet ein mönchisch (asexuell?) lebender und tief im katholischen Glauben verwurzelter, oft von Zwangsneurosen geplagter Mann wie Bruckner komponierte diesen sich in mehreren Anläufen aufbauenden, in beispielloser Extase kulminierenden Satz. Paavo Järvi und das Tonhalle-Orchester Zürich blieben in ihrer phänomenalen Interpretation diesem Rausch nichts an Leidenschaft schuldig. Auf dem phänomenal klangsatten Fundament der herausragenden Streichergruppen aufbauend errichtete Järvi in allen vier Sätzen eine gleissende, von beispielloser Präzision geprägte Architektonik von gigantischem Format. Dabei wurden alle dynamischen Stufen bis zur Schmerzgrenze im ffff Bereich ausgereizt - und die Akustik der Tonhalle hielt auch diesen Bereich problemlos aus. Bruckner war ja klug genug, die sich aufbäumenden Klangwogen immer wieder in sich zusammenfallen zu lassen, Effekte, welche Järvi und das Orchester mit wunderbarem Klangsinn auskosteten. Das Ohr wurde gereizt, doch kaum je überreizt. Das unermüdliche Ringen der Themen des Schmerzes mit kontrastierenden Naturstimmungen, untermalt von weihevollen Einwürfen des Blechs, prägte den wuchtigen Kopfsatz, der in einem satten, mitreissenden Crescendo mit Paukenwirbel endete. Klug disponierte Järvi das Adagio, im Gefühlsausdruck eher zurückhaltend und kühl angelegt, aber die glasklare Präzision und das untrügliche Gespür für die Zähmung der "Riesenschlange" (so nannte der Kritiker Eduard Hanslick diese Sinfonie) führten mit unheimlicher Konsequenz zum erlösenden Beckenschlag. Dieser nicht unumstrittene, und vermutlich von einem Bruckner-Schüler eingefügte Effekt, wurde zum Glück in dieser Aufführung in der Tonhalle beibehalten - er gehört einfach zu dieser Sinfonie! Von beinahe verspielter, galoppierender Leichtigkeit geprägt erklang das Scherzo, in dessen Mittelteil ein Trio mit wogender Sanftheit anhob. Die Reprise des Satzanfangs vertrieb die Idylle mit reisserischer, aufpeitschender und anschwellender Kraft. Den Schlusssatz gingen Järvi und das Orchester vorwärtsdrängend an, das Choralhafte wurde zunehmend an den Rand gedrängt, ein kurzes "Meistersinger"-Zitat tauchte subtil hervorgehoben in den Violinen auf, die überbordende Dynamik gewann schliesslich die Oberhand und mit trotz des übermächtigen Orchestertuttis hörbar jubelnden Streichern schritt die Sinfonie ihrem triumphalen Ende entgegen - gefeiert vom enthusiastischen Publikum.

Doch was setzt man dieser sinfonischen "Riesenschlange", die mit knapp unter 70 Minuten Spieldauer nicht ganz einen Konzertabend füllend ist, programmatsich entgegen? Die Verantwortlichen haben sich für Schumanns einziges Klavierkonzert entschieden. Eine gute Wahl, denn Schumann verstand es, seinen Gefühlslagen, seiner emotionalen Befindlichkeit ganz unmittelbar Ausdruck zu verleihen und setzte damit einen wirkungsvollen Kontrast zum alle Dimensionen überschreitenden, episch und architektonisch konzipierenden Bruckner. Durch die Stimmungsschwankungen mögen vor allem seine Instrumentalkonzerte manchmal leicht sperrig erscheinen und stellen die Interpret*innen vor anspruchsvolle Herausforderungen.

 

 

Die Pianistin Hélène Grimaud vermochte all die geforderten Stimmungen mit virtuoser Innigkeit des Ausdrucks zu erfassen. Energiegeladen der wuchtige Einstieg (den Grieg in seinem a-Moll Konzert quasi kopierte), wunderbar fein dann die darauffolgende Aufnahme des Oboenthemas. Fantastisch gelang die Zwiesprache, das von Schumann intendierte Dialogisieren zwischen Klavier und Orchester. Paavo Järvi und die Pianistin schienen sich sehr gut zu verstehen, intenisv aufeinander einzugehen, meisterten die Sturm- und Drang-Passagen und die Wechsel der Melodieführung hervorragend. Von rasanter Präzision erfüllt spielte Hélène Grimaud die Kadenz mit ihren durch beide Hände führenden Trillerketten. Mit fein und doch spannungsgeladen hingetupften Tönen voller Innigkeit interpretierten die Solistin und Orchester das Intermezzo, wie ein zartes Liebesgeflüster erklangen die Wechselspiele zwischen den Holzbläsern, dem Horn, den Celli und dem Klavier. Mit fein ausgehorchter Subtilität gelang der nahtlose Übergang in den Schlusssatz, in welchem die hochromantischen Wellen des Liebesüberschwangs dominierten. Erneut bewunderte man die Virtuosität der Solistin, welche nie oberflächlich wirkte, sondern gekonnt nach Ausdruck und Tiefe strebte. Ihr Ausnahmetalent offenbarte sie dann auch in der vom Publikum mit Dankbarkeit aufgenommenen, spannungsgeladenen Zugabe.

 

Kaspar Sannermann, 31.1.2022

Foto vom Rezensenten

 

 

ADAMS / ELGAR

13.01.2022

 

John Adams: CITY NOIR für Orchester

Sir Edward Elgar: 1. Sinfonie in As-Dur

 

Von einem durch und durch faszinierenden Konzertabend ist zu berichten, das grossangelegte Werk eines zeitgenössischen Komponisten (John Adams) wird einem ebenso grossen Wurf eines Hochromantikers (Sir Edward Elgar) gegenübergestellt - und beide Werke finden die ungeteilte Aufmerksamkeit des Publikums und die anschliessende Begeisterung im (leider nicht ganz gefüllten) grossen Saal der Tonhalle Zürich. Heute Abend bietet sich noch eine Gelegenheit, diese hoch spannenden Werke live zu erleben!

Der "Kosmos John Adams" gehört zu den Saisonschwerpunkten des Tonhalle-Orchesters Zürich, zu Recht. Adams ist einer der wenigen zeitgenössischen Komponisten, die es vermögen, ihre Kompositionen ins erweiterte Standardrepertoire der Sinfonieorchester (und Opernhäuser) weltweit einzubringen, das Publikum immer wieder zu begeistern und mitzunehmen. Der Auftakt zu dieser Werkschau des bedeutendsten amerikanischen Komponisten der Gegenwart stand unter der Leitung von Robert Trevino (später folgen Jaap von Zweden, David Zinman, John Adams selbst und dann Chefdirigent Paavo Järvi).

CITY NOIR erfordet ein Riesenorchester, mit ausgedehntem Schlagzeug, Harfen Vibraphon, Celesta und grossbesetztes, traditionelles Sinfonieorchester ergänzt mit Altsaxofon, Bassklarinette, Kontrafagott - das Podium in der Tonhalle war also prall gefüllt. Mit scharf gezackten Akzenten und Glockenklängen wurde man geradezu hineingeworfen in einen beinahe rastlosen Trip durch eine fiktive Filmhandlung. Enspannungsmomente gab es wenige, aber die waren von zauberhafter Schönheit, sei es in Kantilenen der Streicher, in Klagelauten aus der Gruppe der Holzbläser oder in geheimnisvollen Klängen der Celesta. Bewundern konnte unzählige Soli, besonders herausheben möchte ich das Posaunensolo, ein Instrument, das man selten so prägnant und intensiv solistisch wahrnimmt. Schmerzhafte Crescendi wühlten auf, fielen zurück um einem Solo der Bratsche Platz zu verschaffen. Im dritten Satz führt eine Art Glissando durchs gesamte Orchester, die Musik legte nochmals einen Zacken an Tempo zu, wurde von Sekunde zu Sekunde faszinierender, bannte einen wie ein Thriller in den Sitz. Ein wahrer Höllenritt setzte ein, durchsetzt mit Momenten des Free Jazz, die cineastische rasante Fahrt steigerte sich beinahe bis zur alles ausreizenden Unerträglichkeit, eine fortissimo-Orchesterwalze schien alles platt zu machen - und genau in dem Moment, wo mein meinte, man hielte es nicht länger aus, brach das Stück ab. Das ist punktgenau ausgeklügelte, effektvolle Kompositionskunst. CITY NOIR ist ein Werk von soghafter Wucht und man darf dem Tonhalle-Orchester Zürich und Robert Trevino nur dankbar sein für diese hochspannende Erstaufführung.

Während John Adams' CITY NOIR ein klares, nachvollziehbares Programm aufweist, quasi den vielfältigen Dschungel der Grossstadt Los Angeles in den 40er/50er Jahren des 20. Jahrhunderts zum Thema macht, gab Elgar zu seiner 1. Sinfonie die folgende Erklärung ab: "Es gibt kein Programm für diese Sinfonie, ausser einer weiten Lebenserfahrung mit einer grossen Liebe zu einer gewaltigen Hoffnung auf die Zukunft ...". Der Hörer solle sich also auf das besinnen, was er/sie aus den Tönen heraushören könne. Was ich heraushörte, war ein Kampf eines erhabenen, friedvollen und tröstlichen musikalischen Gedankens (eine Melodie die in ihrem Klang ganz unverkennber "Elgar" ist), der sich gegen prahlerische Lärmigkeit und martialische Rhythmen am Ende in all seiner Glorie durchsetzte. Ganz erstaunlich, wie Elgar dieses "simple" Motiv nach der Exposition zu Beginn des ersten Satzes im Verlauf der Sinfonie immer wieder in verschiedenen Instrumentengruppen und Soli aufschimmern lässt, es klanglich und harmonisch subtil verändert und diese Idée fixe kunstvoll verarbeitet. Robert Trevino und das fantastische aufspielende Tonhalle-Orchester Zürich brillierten mit fulminantem Klang, durchaus auch mal gut ausgehorchten, aufgerauten Passagen und stellten einen interessanten, ungeglätteten Elgar zur Diskussion, der gar nicht so ins Bild des vornehmen Adligen (und Pomp and Circumstance Komponisten) passen will. Nur schon die Vorstellung des so unheimlich bewegenden Hauptthemas hat es in sich: Es wird nach kurzem Paukenwirbel von den wunderbar ausdrucksstark spielenden Bratschen vorgestellt, schwappt ins volle Orchester und von da zurück zu den Bratschen und wird vom zweiten, aufregenderen Thema vorübergehend verdrängt, kämpft sich erneut durch und dieses Auf und Ab zwischen Erregung und Gelassenheit zieht sich durch den gesamten ersten Satz peitscht sich durch alle Instrumentengruppen. Spritzig und flott attackierend stiegen Trevino und das Orchester ins Scherzo ein, kurze Soli der Konzertmeisterin bereicherten das Trio, bevor attacca das erneut mit Bruchstücken des Hauptthemas versetzte, wunderbare Adagio erklang. Robert Trevino vermied in diesem konzisen Satz jegliche Gefühlsduselei, Elgar hat das nicht nötig, die Schönheit und die kluge Durchdachtheit seiner Komposition sprechen für sich. Im Finalsatz schimmert das Hauptthema nach kurzer, unheimlicher Stimmung in "Parsifal"- Manier auf. Doch das Orchester erhebt musikalische Einwände, es will den Erlösungsgedanken erst auf Umwegen erreichen. Trevino disponierte das klanglich herausragend, hob das diesmal mit Trauer umflorte Thema schön hervor. Mit weit greifenden Armbewegungen motivierte er die Violinen zu schmerzhaftem Stöhnen, bevor die Apotheose des Themas aus dem sauber intonierenden Blech aufstieg, sich endlich majestätisch durchsetzte. Das ging durch Mark und Bein - und die schlichte Schönheit und Erhabenheit dieser Musik wärmte einem das Herz selbst auf dem Nachhauseweg in der kalten Nacht noch.

 

Kaspar Sannemann, 14.1.2022

 

 

WAGNER; STRAUSS

09.12.2021


Richard Wagner: Ouvertüre und Bacchanale aus TANNHÄUSER

Richard Strauss: VIE LETZTE LIEDER

Richard Wagner: SIEGFRIED-IDYLL

Richard Strauss: TOD UND VERKLÄRUNG

 

Ganz zart schimmert gegen Ende des Liedes Im Abendrot von Richard Strauss das Verklärungsmotiv aus seiner Tondichtung Tod und Verklärung im Hornsolo auf. Zwischen den beiden Kompositionen liegen beinahe 60 Jahre eines unglaublich reichhaltigen musikalischen Schaffens. Im Sterben liegend bekannte Richard Strauss gegenüber seiner ihn umsorgenden Schwiegertochter Alice: "Ich fürchte mich nicht vor dem Sterben ... Was ich jetzt erlebe, könnte ich alles komponieren - ich hab'es ja schon vor 60 Jahren geschrieben, es ist ganz richtig so (wie in Tod und Verklärung)." Genau das ist es, was uns auch heute noch so berührt an Strauss' Auseinandersetzung mit dem Sterben und dem Tod: Die Musik verströmt eine Tröstlichkeit die das Herz erwärmt, den "freien Flug" der Seele (Hesses Worte in Beim Schlafengehen) in ein goldenes Licht taucht. Dieses herbstlich-warme Licht strömte gestern Abend auch in den grossen Saal der Tonhalle Zürich während der bewegenden Wiedergabe der VIER LETZTEN LIEDER des Komponisten. Der Sopranistin Hanna-Elisabeth Müller gelang es, den der Musik Strauss' und den Dichtungen Hesses und Eichendorffs innewohnenden Gehalt zum Leuchten zu bringen. Im ersten Lied Frühling lag vielleicht noch etwas viel Druck auf ihrer Stimme, doch bereits da zeigte sich ihre herausragende Qualität des blitzsauberen Tonansatzes in hohen Lagen. Im zweiten Lied September klang ihre bezaubernd schöne Stimme dann jedoch perfekt zentriert und mit der so passenden bronzenen Färbung. Himmlisch gelangen die langen Bögen im dritten Lied Beim Schlafengehen, wo sie die vom Konzertmeister des Tonhalle-Orchesters Zürich, Klaidi Sahatçi, ebenso wunderbar zart intonierte Melodie der Solovioline unendlich schön weitersponn und den erwähnten freien Flug der Seele evozierte. Im Abendrot schliesslich bestach Hanna-Elisabeth Müller mit Schönheit, gebotener Schlichtheit und Wahrhaftigkeit des Ausdrucks und das Tonhalle-Orchester Zürich unter der so wunderbar mitatmenden und einfühlsamen Leitung durch Marek Janowski intonierte die ausgedehnten orchestralen Passagen mit der von Strauss so unnachahmlich schön konzipierten transparenten und berührenden klanglichen Pracht. Von diesen vier Liedern "die zum schönsten, zartesten und ergreifendsten gehören, das Strauss geschaffen hat" (Zitat des Strauss Freundes und Kenners Dr. Willi Schuh) kann man nie genug bekommen - und die Aufführung gestern Abend hat dies aufs Herrlichste bestätigt.

Umso schöner war es, dass man auch die Auseinandersetzung des jungen Richard Strauss mit dem Thema Tod an diesem Abend erleben durfte. Die Tondichtung TOD UND VERKLÄRUNG des 25jährigen Meisters zeigt seine gewaltige Meisterschaft in der Instrumentierung und der Handhabung des plastischen, transparenten Orchesterklangs. Diesem blieb das Tonhalle-Orchester Zürich unter dem ohne Partitur dirigierenden Maestro Marek Janowski nichts an Effekt und Tiefgründigkeit schuldig. Die unregelmässigen Herzschläge des Sterbenden, die Schmerzen des Todeskampfs, die vorbeihuschenden Reminiszenzen aus der Jugend und schliesslich die gloriose Verklärung mit dem zur Erhabenheit aufsteigenden Hauptthema des Künstlers wurden mit eindringlich tonmalerischer Wucht und Schönheit herausgearbeitet. Arpeggien der Harfen, bezaubernde Passagen der Flöten oder der Solovioline klangen nie zu süsslich und doch voll exquisiter Schönheit. Aber auch die schmerzhaften Dissonanzen rüttelten auf. Gebührend ausladend wurden die Gänsehaut-Kulminationen zum Klingen gebracht, die Akustik in der Tonhalle erträgt auch bestens ein voll zupackendes Riesenorchester, wie es Strauss so gerne einsetzte, denn auch die in orchesteraler Breite auftrumpfenden fortissimo-Passagen wirkten nie breiig oder lärmig.

Dem einen Richard wurde im Programm der andere Richard gegenübergestellt - Strauss gegen Wagner. Programmiert wurde quasi ein viersätziger Abend, mit zwei exaltierteren Ecksätzen (TANNHÄUSER-Ouvertüre und Bacchanale von Wagner und TOD UND VERKLÄRUNG von Strauss) und zwei intimeren Binnensätzen (VIER LETZTE LIEDER von Strauss und das SIEGFRIED-IDYLL von Wagner). Der renommierte Wagner-Kenner Marek Janowski dirigierte selbstverständlich auch das SIEGFRIED-IDYLL auswendig. Gespielt wurde natürlich die Orchesterfassung (für gross besetztes Orchester), welche dem eigentlich sehr intim gehaltenen Werk nur bedingt gerecht wird. Intensive Wirkung entfalteten vor allem die Motive, welche Wagner seiner gerade im Entstehen begriffenen Oper SIEGFRIED entlehnt hatte. Die flirrenden Streicher erfüllten das Waldweben mit stimmiger Atmosphäre, mit ruhiger Hand liess Janowski die tonmalerischen Gedanken Wagners zur Natur und zur Familie (das Tapsen seines gerade mal einjährigen Sohnes Siegfried ist deutlich zu hören) vorbeifliessen. Es ist meines Erachtens ein Stück, das in der originalen kammermusikalischen Fassung seinen Reiz haben kann, für das grosse Orchester jedoch irgendwie zu wenig Substanz hat. In seiner ruhigen, unaufgeregten und manchmal fast kindlichen Art und mit dem so unpathetisch sanften Verklingen (wunderschön ausgehorcht vom Tonhalle-Orchester Zürich) ist es ziemlich untypisch für Wagner. Cosima hatte vielleicht doch recht, dass sie sich gegen eine Veröffentlichung dieser (einzigen) sinfonischen Dichtung Wagners ausgesprochen hatte ...

 

 

Richard Wagner vom Allerfeinsten wurde allerdings mit der den Konzertabend eröffnenden TANNHÄUSER-OUVERTÜRE und dem BACCHANALE geboten. Das Pilgermotiv von den Hörnern mit so wunderbar reinem Klang intoniert, von den Celli herrlich stömend aufgenommen, die unter die Haut gehenden, rasanten Violinfiguren beim ersten Crescendo des Hauptmotivs, die noch an das Vorbild Carl Maria von Webers angelehnten Jubelmotive der Ouvertüre und dann die weit in die Zukunft weisende "Ballett"-Musik des Bacchanales mit ihrer Chromatik, den scharfen, präzis gespielten Holzbläserpassagen und dem gleissenden Blech und dem origiastischen Schlagwerk verfehlten nicht ihre Wirkung, ebensowenig wie die sanft lockenden Venusrufe, die am Ende nochmals kurz dem Pilgermotiv weichen musten. Ein fulminanter Beginn war das in einen vor allem durch die Kompositionen von Strauss bewegenden Konzertabend.

 

Kaspar Sannemann, 10.12.21

 

 

 

L' ENFANCE DU CHRIST

27.11.2021

 

Der grosse britische Dirigent und Berlioz-Spezialist, Sir Colin Davis, sagte einst in einem Interview über Berlioz' L'ENFANCE DU CHRIST: "If you're not moved by it, well I'm sorry for you, you'll have to move on." Wie recht er mit dieser Aussage hatte, erwies sich gestern Abend in der Tonhalle Zürich. Niemand musste weiter ziehen, im Gegenteil, an manchen Stellen wollte man frei nach Goethe ausrufen "Augenblick, verweile doch, du bist so schön!" Im Saal herrschte eine unglaublich konzentrierte Stille, und an manch einer der so ergreifend schönen Momente löste sich bestimmt bei einigen Zuhörern leise eine kleine Träne. Gerade in den Szenen der Heiligen Familie verströmte die Musik, sanft im Dreiertakt (3/4, 3/8, 6/8, 9/8) wiegend, eine berührendeTröstlichkeit, welche vom Tonhalle-Orchester Zürich unter der Leitung von Sir John Eliot Gardiner mit warmer, transparenter Klanglichkeit erfüllt wurde. Trotz all der - bei Berlioz ungewohnten - Zurücknahme der protzenden orchestralen Kraft, trägt auch dieses Werk unverkennbar seine Handschrift.

 

Die epochale Kunst seiner Instrumentierung zeigt sich nämlich auch darin, dass die grandiose Kraft auch im verhaltenen Duktus ihre Wirkung entfaltet. Die gleich einem Herzschlag unerbittlich und doch weich schlagende Pauke, die meisterhafte Behandlung des Holzbläsersatzes, die kunstvoll fugierten oder Kanon artigen Passagen und der sparsame, doch wirkungsvolle Einsatz des Blechs wurden vom Orchester unter der sublimen Leitung von Sir John Eliot Gardiner mit fein abgestufter Dynamik mit Leben erfüllt. Beinahe theatralisch, opernhaft kam der Anfang des Werks daher,LE SONGE D'HÉRODE. Der Erzähler führte kurz ins Geschehen vor 2000 Jahren ein. Andrew Staples begeisterte mit seiner hellen, wunderbar klaren, perfekt gestützten und mit souveräner Sicherheit intonierenden Stimme. Grossartig war sein hervorragendes Piano, daneben konnte er aber auch organisch in einen bestimmten, energischen Tonfall wechseln. Im zweiten Teil, beim Repos de la Sainte Famille, kam man erneut in den Genuss der exemplarischen Phrasierungskunst und der vorbildlichen Diktion dieses aussergewöhnlichen Sängers. Mit Lebhaftigkeit begleitete er das Geschehen in Ägypten im dritten Teil, an dessen Ende er sich dann nach hinten links begab, sich quasi in den himmlisch klingenden Chor integrierte, im Mystère aufging.

 

Ja dieser Chor war natürlich ein Erlebnis der absoluten Spitzenklasse: Sir John hatte für diese beiden Aufführungen in Zürich den von ihm gegründeten Monteverdi Choir aus London mitgebracht. Packend und ergreifend gestaltete der Chor seine vielfältigen Aufgaben, stets mit einer Klangkultur allererster Güte: Als hinterhältige Einflüsterer (Wahrsager) von König Herodes offenbarten die Chorherren deren Brutalität, überirdisch schön liessen die Damen des Monteverdi Choirs die Stimmen der unsichtbaren Engel aus dem Off erklingen, voller Tröstlichkeit ertönte die Keimzelle des ganzen Werks mit dem gesamten Chor, das so unglaublich schöne Adieux des bergers, gemein und vehement gestalteten die Choristen die Abweisung der Heiligen Familie durch die Ägypter, mitfühlend und barmherzig dann aber klang der Chor der Ismaeliten und das Ende mit dem Ô mon âme und dem Amen war definitiv von der gebotenen entrückten Schönheit des Mysteriums des das Herz erfüllenden Glaubens beseelt. Absolut hochklassig besetzt waren auch die anderen solistischen Gesangspartien: Ann Hallenberg sang eine wunderbare Marie, mit warm strömender Mittellage und unforciert aufblühender, einnehmender Höhe, Ashley Richards als Joseph setzte seinen elegant und weich fliessenden Bariton mit feiner Gestaltungskraft ein und fand in der verzweifelt flehenden Bitte um Erbarmen bei den Ägyptern zu ergreifender Markanz.

 

Der herrliche Zusammenklang der beiden Stimmen von Ann Hallenberg und Ashley Richards gipfelte im Ils sont si doux/heureux - schlicht und traumhaft schön! William Thomas begeisterte mit seinem sonoren, wohlklingenden Bass als Hérode; das Wehklagen in Ô misère des rois erweckte beinahe ungewolltes Mitleid mit dem von Albträumen (Interminable nuit) gepeinigten Despoten. Grandios wie William Thomas bei Ô nuit profonde bruchlos von fein intonierter Höhe zum tiefen F hinunterstieg. Ganz besonders aufhorchen liess ein Mitglied des Chors: Der Bass Alex Ashworth sang sowohl die kleine Rolle des Polydorus, als auch die wichtige Rolle des Ismaeliten (Père de famille). Was für eine wunderbare Bassstimme, die mit ihrer klanglichen Schönheit restlos begeisterte. Der Tenor Gareth Treseder, ebenfalls Mitglied des Monteverdi Choirs, überzeugte in seinem kurzen Auftritt als Centurion.

 

Mitten im dritten Teil verliess Sir John das Dirigentenpodium und lenkte so die Aufmerksamkeit auf das Trio für Harfe und zwei Flöten, welches Berlioz quasi als Divertissement für die Heilige Familie im Haus des Ismaeliten eingefügt hatte. Die Harfenistin Sarah Verrue und die beiden Flötistinnen Sabine Poyé Morel und Haika Lübcke brachten diese himmlisch schöne Musik mit stupender Perfektion und voller Anmut zu ergreifender, ja zu Tränen rührender Wirkung.

 

Fazit: Ein berührendes Werk, wunderbar zur Adventszeit passend. Der fantastische Monteverdi Choir, das transparente und feinsinnige Spiel des Tonhalle-Orchesters Zürich, das differenziert und einfühlsam gestaltende Dirigat von Sir John Eliot Gardiner und die herausragenden Solisten machten den Abend zu einem ergreifenden Erlebnis. Heute um 17 Uhr wird es nochmals aufgeführt, lohnt sich unbedingt!

 

Kaspar Sannemann, 28.11.21

 

Applausbild vom Autor

 

 

BERNSTEIN, BARBER, ELGAR

12.11.2021

Bernstein: DIVERTIMENTO FOR ORCHESTRA

Samuel Barber: Violinkonzert, op. 14

Edward Elgar: ENIGMA VARIATIONEN, op.36

Es ist seltsam, dass es die angelsächsischen Komponisten auf dem Kontinent eher schwer haben, sich wirklich durchzusetzen. Nur vereinzelt tauchen ihre Werke auf den Spielplänen der Konzert- und Opernhäuser auf. Dabei haben sie im 20 Jahrhundert ganz wunderbare Musik geschrieben, die um einiges näher an den Hörgewohnheiten des Publikums war und ist, als es die Kompositionen in der Nachfolge von Schönberg, Berg und Webern in Kontinentaleuropa je waren. Vom gehaltvollen Wert angelsächsischer Kompositionen konnte man sich gestern Abend in der Tonhalle Zürich begeistern und mitreissen lassen, und - gemessen an der Lautstärke des enthusiastischen Applauses-  wäre auch hierzulande das Publikum durchaus bereit und dankbar für weitere Begegnungen mit Werken aus Grossbritannien und den Vereinigten Staaten.

Den Abend eröffnete das überaus unterhaltsame, schmissig-kokette DIVERTIMENTO FOR ORCHESTERA von Leonard Bernstein. Fulminante Fortissimi wechselten mit schrägen, sanft wiegenden Walzern, eine Mazurka nur von den Doppelrohrblattinstrumenten gespielt, ein Samba, ein schmerzhafter Trauermarsch der Flöten und gleissendes Blech, das einen Marsch im Stil von Sousa spielte, sorgten für witzige, jazzige Schmunzelmomente und ermöglichten es dem Tonhalle-Orchester Zürich, sich in allen Instrumentengruppen von seiner allerbesten musikantischen Seite zu präsentieren. Man spürte förmlich die Lust am Musizieren, welche vom Dirigenten Paavo Järvi zu den einzelnen Musier*innen und von da wieder zu ihm zurückfloss. Klasse!

Wunderschön intonierte darauf Alena Baeva auf ihrer Guarneri del Gesù Violine die Solointroduktion zu Samuel Barbers eindringlichem Violinkonzert. Sanft fliessend und mit traumhaft sich dem Ohr einschmeichelnder Tongebung beglückte Alena Baeva in diesem ersten Satz, überirdisch schön setzte sie nach dem tröstlich-entrückten Oboensolo (gespielt von Simon Fuchs) im zweiten Satz ein, der ganze Satz ein purer Cantabile-Traum. Das sanfte Verklingen dieses Satzes gelang dem Tonhalle-Orchester mit einer Piano-Klangkultur, die nicht von dieser Welt zu stammen schien. In den ersten beiden, eher elegisch gehaltenen Sätzen konnte Alena Baeva mit ihrer exquisiten Klangkultur und der Reinheit der Intonation glänzen, im Schlusssatz hingegen brillierte sie mit rasanter Virtuosität, raste mit dem Bogen treffgenau über die Saiten. Denn dieses Perpetuum mobile mit seiner nie erlahmenden Motorik, das Barber hier entwarf, lässt die Solistin keinen Augenblick zur Ruhe kommen. Alena Baeva gelang das Kuststück, den Satz dank präziser Rhythmik und sublimen klanglichen Schattierungen jeglicher Einförmigkeit zu berauben.

Den Schlusspunkt setzten Paavo Järvi und das Tonhalle-Orchester Zürich mit einer rundum beglückenden, fulminanten Interpretation von Edward Elgars wohl populärsten Werk, seinen ENIGMA VARIATIONEN. Natürlich begeisterte das Tonhalle-Orchester mit seinem überragenden Gesamtklang, doch Järvi legte auch grossen Wert auf das Hervorheben einzelner Stimmen, die immer wieder organisch aus dem Orchester hochstiegen, wunderbare Kantilenen der Celli, der Bratsche, fein ziselierte Phrasen der Klarinette. Eindringlich gelangen die dynamischen Abstufungen, Ruhephasen wechselten mit aufbäumenden Pointierungen durch strahlendes Blech. Am Ergreifendsten glückte der Übergang von der Variation 8 in die Variation 9 (Nimrod). Als dann die Nimrod-Variation im Pianissimo anhob, sich aus der vollkommenen Ruhe zur gigantischen, Mark und Bein durchdringenden Kulmination steigerte, schien sich der Himmel zu öffnen. Järvi scheute die Effekte nicht, ja er setzte Ritardandi und Accelerandi, Crescendi und Decrescendi sehr genau kalkuliert ein und erzielte so eine Wirkung, die direkt ins Herz der Zuhörer*innen zu zielen wusste. Glasklare Transparenz in beinahe (trotz des Riesenorchesters) kammermusikalischen Passagen wechselte mit aufrüttelnden Sforzati des Orchesters, am Ende durfte man eintauchen in eine sich stetig steigernde Klangflut, die süchtig nach dieser Musik machte. Verdienter Jubel für das Orchester und seinen Chefdirigenten nach diesem mitreissenden musikalischen Ereignis.

Es gibt ein musikalische Welt aus englischsprachiger Komponisten-Feder, die eine Entdeckung und/oder häufigere Wiederbegegnung lohnt!

 

Kaspar Sannemann, 20.11.2021

 

 

 

Paavo Järvi MARTINŮ, BRAHMS

03.11.2021

 

Angeblich soll Bohuslav Martinů sein Konzert für zwei Klaviere und Orchester innerhalb von einenhalb Monaten fertiggestellt haben, den ersten Satz gar innert vier Tagen. Das lässt einen bass erstaunt wenn man das Konzert live hört: Wie kann ein Mensch es nur rein technisch schaffen, in dieser kurzen Zeit überhaupt so viele Noten für zwei Klaviere und die farbenreiche Orchestrierung zu notieren? Aber Bohuslav Martinů hat es geschafft und das rasante Werk begeistert in dieser Aufführung so sehr, dass man es gleich nochmals hören möchte. Wie zwei Gepardinnen rasen die Schwestern Katia und Marielle Labèque durch die Sechzehntelläufe dieses Kopfsatzes. Die Musik hat etwas mechanisch Pflügendes, wie ein stark motorisiertes Boot, das sich in wilder See durchsetzt. Das Tonhalle-Orchester Zürich unter Paavo Järvi steuert jazzige Rhythmen und tschechisches Kolorit bei, die Musik entwickelt sich aus kleinsten Zellen, stets vorwärtstreibend und mitreissend, in den Ecksätzen ruhelos, und ansteckende Lebensfreude evozierend. Zu mehr Expressivität fand Bohuslav Martinů im Adagio-Mittelsatz. Eine Introduktion wird mit perlenden Tönen und kräftigen Akkorden von den Labèque-Schwestern interpretiert, im weiteren Satzverlauf brillieren die beiden Pianistinnen mit herrlich glitzernden Passagen, verfeinern diese und wunderbar einschmeichelnden Arpeggien und virtuosen Akkordfolgen. Das bestens disponierte Tonhalle-Orchester Zürich steuert farbenreiche Miniaturen der Holzbläser bei und lässt den Satz in den Violinen samtweich verklingen, bevor es sich zusammen mit den beiden Pianistinnen in den atemlosen Schlusssatz stürzt. Paavo Järvi scheint die jazzig angehauchten Passagen echt zu geniessen und führt das Konzert zum effektvollen Schluss. Als Zugabe spielten Katia und Marielle Labèque (sie sind übrigens keine Zwillinge, obwohl das Erscheinungsbild - Frisur und Kleidung - an diesem Abend den Verdacht aufkommen liess) aus der Komposition für Klavier zu vier Händen MA MÈRE L' OYE von Maurice Ravel Le jardin féerique. Das war eine gut gewählte Zugabe, denn sie holte mit dem von den beiden Schwestern so sublim und verträumt gespielten Duktus und den effektvollen Glissandi die Zuhörer*innen wieder etwas vom aufregenden, fiebrig-rasanten Schluss des Martinů Konzerts runter und führte sie in eine sanfte Traumwelt.

 

 

War der Applaus des Publikums nach Martinůs Konzert noch warm und freundlich gewesen, so steigerte er sich nach der Brahms Sinfonie zum gewaltigen Jubel. Es ist ja meistens so, dass man dem Altvertrauten mehr Begeisterung entgegenbringt als dem neu zu Entdeckenden. Paavo Järvi kennt diese erste Brahms Sinfonie natürlich bestens, nach eigenen Angaben hat er sie schon 50-bis 60 mal dirigiert. Man spürt, dass er die Architektur von Brahms' Erster genau verinnerlicht hat. Sehr plastisch arbeitet er die Momente von Spannung - Entspannung, hell - dunkel, zornig - ruhig heraus, das Tonhalle-Orchester folgt seinem Chef mit herausragender Agilität. Dabei wird nicht verdeckt, wie schmerzhaft Brahms mit der Grossform seiner ersten Sinfonie gerungen hat. Aufwühlendes Grummeln und Grollen im ersten Satz, der mit markanten Paukenschlägen einsetzt wird im zweiten durch liedhafte Strophen mit bezaubernden solistischen Leistungen der Oboe (Simon Fuchs), der Klarinette (Michael Reid) und dem Violinsolo des Konzertmeisters (Andreas Janke) abgelöst. Sehr klar wird im ebenfalls liedhaft gehaltenen dritten Satz das klopfende Motiv des zweiten Themas herausgearbeitet. Auf das Strahlen des Trios in diesem Allegretto folgt quasi mit attaca subito der gigantische Schlusssatz. Präzise Pizzicati der Streicher, das prägnant ausgekostete "Alphorn"- Motiv, welches von der Flöte so bezaubernd übernommen wird, oder der von den Posaunen eingeleitete Choral werden gebührend zelebriert, bevor die die Anläufe zur Kulmination einsetzen.

Es ist kein Brahms zum Zurücklehen, den Paavo Järvi und das Tonhalle-Orchester hier präsentieren, sondern ein aufwühlender, durchaus steiniger und zerklüfteter Weg zum strahlenden C-Dur Gipfel der Coda.

Dieser spannend programmierte Konzertabend begeisterte mit zwei ganz unterschiedlichen Werken: Das erste (von Martinů) in einem wiedererwachten Schaffensrausch - nach der Depression der Flucht in die USA - in atemberaubenden Tempo entstanden (und durch Labèque-Schwestern fulminant in der Tonhalle zum Klingen gebracht), das zweite Werk hingegen war ein 16 Jahre währendes Ringen um die Sinfonieform nach Beethoven, ein Ringen, das Brahms zu Recht einen Platz im Komponistenhimmel (nicht nur im Deckengemälde der Tonhalle Zürich) gesichert hat.

 

Kaspar Sannemann 6.11.2021

 

MAHLER 3

15.09.2021

 

In prachtvollem Glanz und warmem Licht erstrahlt der frisch renovierte, ehrwürdige grosse Saal der Tonhalle Zürich. Wie glücklich ist man, dass pünktlich zur Wiedereröffnung nach vierjähriger Renovationszeit die Corona-Massnahmen soweit gelockert wurden, dass nun Live-Konzerte mit voller Platzbelegung wieder möglich sind. (Natürlich mit 3G-Zertifikat und Maske im Saal, nicht aber im Foyer) In eloquenten (Stadtpräsidentin Corinne Mauch), launigen (Präsident der Tonhalle-Gesellschaft Martin Vollenwyder) und überglücklichen (Intendantin Ilona Schmiel, die an diesem Tag auch Geburtstag feieren durfte) Ansprachen wurde das Publikum zu diesem ereiginshaften Eröffnungskonzert begrüsst.

 

 

Ein Ereignis war es tatsächlich, denn Music Director Paavo Järvi hatte sich für eine der gigantischsten Sinfonien des Konzertrepertoires entschieden, Mahlers 3. Kaum ein anderes Werk hätte besser zur Einweihung des prächtigen, unter Denkmalschutz stehenden Saals gepasst. Entstanden ist dieser sechssätzige Koloss, der in seinem Verlauf einen ganzen Kosmos aufbaut, Mitte der 1890er Jahre, also genau in der Zeit, als die neue Tonhalle am See vollendet wurde. Bereits kurz nach der Uraufführung in Krefeld (1902) erklang sie unter Volkmar Andreae auch in der Tonhalle Zürich (1904). Seither wurde das Werk mit seinen gigantischen Ausmassen immer wieder auf die Programme dieses Orchesters gesetzt, zuletzt 2006 unter David Zinman, der mit dem Tonhalle-Orchester auch eine Gesamteinspielung aller Mahler-Sinfonien vorlegte. Die von Mahler geforderte Grossbesetzung des Orchesters mit zusätzlichem Damen- und Knabenchor und Solo-Altstimme ermöglichte es, die immer schon ausgezeichnete Akustik des Saals, die während der Renovierung nochmals verbessert und justiert wurde, zu erkunden – und zu geniessen. Nichts kann ein Live-Erlebnis ersetzen, das wurde gerade mit diesem Werk ganz besonders deutlich, welches sowohl mit verinnerlichten Passagen im ppp-Bereich, als auch mit ffff-Explosionen mit riesigem Blechbläser-Aufgebot, drei Becken und ausgedehntem Schlagwerk aufwartet. Um es gleich vorwegzunehmen: Der Klang war überwältigend auf allen dynamischen Ebenen und mit allen Instrumentengruppen, auch der wunderbar warm und innig strömende Alt von Wiebke Lehmkuhl (in den Sätzen IV und V) und die beiden Chöre erfüllten den Raum mit klanglicher Pracht.

 

Die Sinfonie Mahlers beginnt mit dem markanten, marschartigen Motiv, welches als Unisono der acht Hörner vorgestellt wird, welch ein Einstieg in diesen mit seinen über 30 Minuten Spieldauer enorme Ausmasse aufweisenden Satz. Paavo Järvi und das Tonhalle-Orchester Zürich loteten in der zuerst zerklüfteten Welt die Themen und Formierungen mit bezwingender Kraft aus, fügten die immer wieder (auch plakativ und vermeintlich trivial Jahrmarktsstimmung verbreitenden Marschthemen) zusammen, formten ein bezwingendes Klangbild und liessen die kunstvolle Instrumentierung trotz aller dynamischen Opulenz nie ins oberflächlich Lärmige abgleiten. Immer wieder schimmerten lichte Passagen der Holzbläser auf (Englischhorn!) und perlende Harfenarpeggios, neben schmerzhaften Reibungen, die wie Geburtswehen der Natur klangen. So verdichteten sich die Marschrhythmen, bäumten sich gigantisch auf, fielen wieder zusammen bis sie zum triumphalen Gipfel strebten. Rasend!

 

 

Mahler wusste sehr genau, dass es nach diesem kraftvollen Wüten einen Ruhepunkt brauchte. Im lieblichen zweiten Satz, dem Menuetto, konnte man diese sanft wogende Ruhe finden (in einem ersten Entwurf hatte Mahler von einer Blumenwiese gesprochen, diesen naturalistischen Programmbeschrieb aber wieder gestrichen), bevor das quirlige Gekrabbel des Scherzos mit strukturierter, präziser Gestaltung durch Paavo Järvi einsetzte. Doch auch dieser unruhige, aber spannende Satz besitzt einen ausgedehnten Ruhepunkt, nämlich das wunderbare Posthorn-Solo, welches in fantastischer Reinheit aus dem Off erklang und ein einmaliges, traumhaftes Klangerlebnis bot, bevor der Satz mit einer lärmigen Groteske schloss.

 

Der vierte Satz steht in krassem Gegensatz dazu, verinnerlicht, düster, geheimnisvoll stellt die Alt-Stimme ihre Fragen, Wiebke Lehmkuhl sang den Text von Nietzsche mit immenser Eindringlichkeit. Das pausenlos anschliessende Bim-Bam des fünften Satzes klingt dagegen naiv, fast kitschig mit den Knabenstimmen (hervorragend intonierten die Zürcher Sängerknaben, einstudiert von Konrad und Alphons von Aarburg) und den Damen der Zürcher Sing-Akademie (einstudiert von Florian Helgarth). Doch zum Glück folgt nach diesem fünften Satz noch der sechste und hier erreicht Mahler mit einem ausgedehnten Adagio eine Tiefe des Ausdrucks, die brucknersche Ausmasse hat. Ein Streicherthema, das aus dem Hornthema des Anfangs der Sinfonie aufgebaut ist, aber nicht mit Markigkeit, sondern mit kantabler Innigkeit einnimmt, eröffnet diesen Satz – und die Streicher des Tonhalle-Orchesters scheinen die Hörer“innen damit zu umarmen, tröstlich aufzufangen. Die Liebe will triumphieren, alles überstrahlen. Das erklang unter Järvis Leitung voller entrückter Schönheit. Das Thema strebt (damit ähnlich zum Kopfsatz) immer wieder zur Kulmination, die absolute Erhabenheit wird aber erst nach mehreren Anläufen erreicht und explodiert dann gleich eines ausgedehnten, hinausgezögerten Orgasmus. Das mag effekthascherisch sein, doch die Wirkung verfehlt es nicht – das Publikum ist hingerissen, standing ovation. Verdient!

 

Kaspar Sannemann, 16.9.2021

Bilder (c) Tonhalle / Bally

 

GALA-KONZERT

27.06.2021

 

Aufführungen in Zürich: 25.6. | 27.6.2021

 

Das Internationale Opernstudio Zürich (IOS) wurde 1961 durch den damaligen Intendanten Herbert Graf gegründet, der seinen Posten 1960 unter der Bedingung angetreten hatte, dass dem Opernhaus (Stadttheater) eine Ausbildungsstätte für junge Sänger*innen angegliedert werde, so wie er es während seiner vielen Jahre im Dienst amerikanischer Opernhäuser kennengelernt hatte. Als Patronatsgesellschaft und Mäzenin dient seither die Gesellschaft zur Förderung der Zürcher Oper (heute Freunde der Oper Zürich). Bereits aus dem ersten Sudienjahrgang ging eine Sängerin hervor, welche die Bühnen der Welt erobern sollte, Dame Gwyneth Jones. Das IOS entwickelte sich unter der Leitung engagierter musikalischer Leiter schnell zur renommierten Talentschmiede für junge Künstler*innen, u.a. absolvierten Noëmi Nadelmann, Michèle Crider, Jukka Rasilainen, Peter Straka, Javier Camarena, Benjamin Bernheim sowie die heute noch im Zürcher Ensemble singenden Martin Zysset, Oliver Widmer und Judith Schmid das IOS. Dozent*innen sind zur Zeit u.a. Brigitte Fassbaender, Ann Murray, Fabio Luisi und Edith Wiens, sowie der amtierende Intendant Andreas Homoki. Homoki zeichnete auch für szenische Einrichtung dieser Gala verantwortlich. Dazu hatte er den abgedeckten Orchestergraben als Spielstätte für die verschiedenen Szenen ausgewählt, das herausragend und beseelt spielende Zürcher Kammerorchester (in grosser Besetzung und unter dem subtil differenzierenden Dirigat von Adrian Kelly) konnte auf der weit in die Tiefe reichenden Bühne des Opernhauses Platz nehmen und dabei die notwendigen Corona – Abstände wahren. Für das Programm hatte der derzeitige musikalische Leiter des IOS, Adrian Kelly, nicht etwa Wunschkonzert-Bravourarien ausgewählt, sondern liess die jungen Sänger*innen ganze Szenen interpretieren. So konnten die Talente ihre Ensemble-Tauglichkeit und ihre schauspielerischen und mimischen Fähigkeiten (ein wichtiger Punkt der Ausbildung am IOS) gekonnt unter Beweis stellen. Homoki hat diese Szenen geschickt arrangiert, mit ein paar Stühlen, Smokings und von der Schneiderei des Opernhauses wunderschön auf die Figuren der Sängerinnen geschneiderte Abendroben.

 

„Mozart ist Balsam für die Stimme“, hat die grosse Vesselina Kasarova einmal gesagt, „Mozart hat alles. Er hat Liebe, Traurigkeit, Dramatik.“ Und an ihrem Mozart-Gesang kann man auch sehr gut die Qualitäten einer Sängerin, eines Sängers ermessen. Denn Mozart erfordert ein immenses Einfühlungsvermögen in die dargestellte Figur, erfordert Reinheit der Intonation gepaart mit differenzierter Ausdruckskraft, braucht dramatische Verve ebenso wie subtil eingesetzte Piani. Und Mozart stellte an diesem Abend einen Schwerpunkt der Szenen dar: Begonnen wurde mit der ersten Szene des ersten Aktes aus DON GIOVANNI, mit der fulminanten Donna Anna von Erica Petrocelli, den wunderbar timbrierten Bariton- und Bass-Baritonstimmen von Xiaomeng Zhang (Don Giovanni) und Andrew Moore (Leporello), dem schön klingenden, besorgten Tenor von Savelii Andreev (Don Ottavio) und dem autoritären, festen Bass von Oleg Davydov. Gleich danach sang Lina Dambrauskaité mit geforderter Hochdramatik, sicherer, stupender Höhe und geläufiger Linienführung die Arie Barbaro! aus Mozarts früher Oper IL RE PASTORE. Siena Licht Miller mit interessant herbem Timbre (Dorabella) und erneut Andrew Moore (als Guglielmo) glänzten im Duett aus Mozarts COSÌ FAN TUTTE und Vladislav Tlushch brachte alle Häme und seinen aufgestauten Zorn in der Szene des Grafen Almaviva aus dem dritten Akt von Mozarts LE NOZZE DI FIGARO zum Ausdruck.

 

Besondere Kehlkopfgeläufigkeit war in den diversen Ausschnitten aus Belcanto-Opern von Rossini und Donizetti gefragt, so bei Venti scudi aus Donizettis L'ELISIR D'AMORE, wo die weichen Kantilenen des Nemorino von Andrei Skliarenko wunderbar mit den Agitato-Parlandopassagen von Yannick Debus (Belcore) kontrastierten. Gleich drei Männerstimmen brillierten im musikalischen Räderwerk-Terzett aus Rossinis IL TURCO IN ITALIA: Luis Magallanes (Narciso), Vladyslav Tlushch (Prosdocimo) und Ilya Altukhov. Es folgten zwei Szenen aus Donizettis selten gespielter Oper LINDA DI CHAMOUNIX (war 1996 mit Edita Gruberova und Deon van der Walt in Zürich auf der Bühne zu erleben): Luca Bernard begeisterte mit seinem differenziert eingesetzten und herrlich dynamisch abgestuften Tenor in einer Soloszene aus dem zweiten Akt und Xiaomeng Zhang (Antonio) und Brent Michael Smith (Il prefetto) intrigierten gekonnt über Lindas Schicksal in der vierten Szene aus dem ersten Akt. Mit humoriger Verschlagenheit agierte Yuri Hadzetskyy als Dandini in der sechsten Szene aus Rossinis LA CENERENTOLA, assistiert von den kokettierenden Schwestern Tisbe (Katia Ledoux) und Clorinda (Lina Damrauskaité), deren Vater Don Magnifico (Oleg Davydov) und dem sanften Prinzen Don Ramiro (Luis Magallanes). Wunderbar in der Abstimmung der Stimmen erklangen das Schmugglerquintett aus Bizets CARMEN (Katia Ledoux, Ziyi Dai, Siena Licht Miller, Andrei Skliarenko und Savelii Andreev) und der Auftritt Zerbinettas mit ihrer Komödiantentruppe aus Richard Strauss' ARIADNE AUF NAXOS (Lina Dambrauskaité, Luis Magallanes, Luca Bernard, Yannick Debus und Oleg Davydov). Von Mut in der Zusammenstellung des Programms zeugte der Einbezug einer Szene aus Debussys PELLÉAS ET MÉLISANDE (an vielen Orten ist dieses wunderbare Werk leider „Kassengift“), in welcher Brent Michael Smith einen intensiven Auftritt als Arkel hatte. Ganz besonders nachhaltigen Eindruck haben auf mich die folgenden beiden Szenen dieses spannenden Abends gemacht: Ziyi Dai als Adina (zusammen mit Ilya Altukhov als Dulcamara) in der siebten Szene des zweiten Aktes aus Donizettis L' ELISIR D' AMORE. Mit atemberaubender Schönheit, Koketterie und Geläufigkeit, gepaart mit blühender Höhe und fein hingetupften Tönen und weichen Phrasen sang Ziyi Dai mit ihrem lichten Sopran die Adina. Herrlich! Ebenso grandiosen Eindruck hinterliess Katia Ledoux mit der „Suizid“-Arie aus Gounods SAPHO. Was für eine fantastische, farbenreiche und ausdrucksstarke Stimme. Frau Ledoux (sie liess bereits in der Produktion von IPHIGÉNIE EN TAURIDE aufhorchen) beeindruckte tief mit ihrem satten, wunderbar gestützt strömenden Mezzosopran. Hoffentlich kann man diese Künstlerin für einige Zeit am Haus halten.

 

Zum letzten Programmpunkt (zum Glück nicht das Brindisi aus der TRAVIATA!) durfte man nochmals alle Beteiligten mit Mozart erleben, dem musikalisch so packenden und mitreissenden Finale aus LE NOZZE DI FIGARO, das nach dem grossen und dankbaren Applaus des Publikums wiederholt werden musste.

 

Zum Abend:

 

Das Internationale Opernstudio feiert dieses Jahr einen „Runden“: Seit 60 Jahren besteht die Zürcher Talentschmiede nun schon, und einige der grössten Sängerpersönlichkeiten unserer Zeit sind daraus hervorgegangen. Grund genug, dieses Jubiläum gebührend zu feiern! In einem Gala-Konzert ist nun der aktuelle Sängernachwuchs im Opernhaus zu hören. Die jungen Sängerinnen und Sänger haben zwar wegen Corona ein schwieriges Jahr hinter sich, konnten aber unlängst in Donizettis Viva la mamma im Theater Winterthur glänzen, in Liederabenden wie Opera goes wild oder in wichtigen kleineren Partien in der Neuproduktion von Offenbachs Les Contes d’Hoffmann, die wir live gestreamt haben. Gemeinsam mit dem Zürcher Kammerorchester und unter der musikalischen Leitung von Adrian Kelly, der seit dieser Spielzeit auch Leiter des IOS ist, bringen sie berühmte Arien, Duette und Ensembles aus Opern von Mozart, Donizetti, Rossini und Richard Strauss zu Gehör. Auch Französisches mit einem Ausschnitt aus Debussys Pelléas et Mélisande, einer Arie aus der unbekannten Oper Sapho von Charles Gounod oder dem Schmugglerquintett aus Bizets Carmen werden besondere musikalische Leckerbissen sein. (Text: Opernhaus Zürich)

 

Kaspar Sannemann, 30.6.2021

 

 

Saisoneröffnungskonzert

19.08.2020 in der Tonhalle

Bartók, Violinkonzert Nr. 1

Jacques Ibert: Divertissement

Francis Poulenc: Sinfonietta

Um es gleich vorwegzunehmen: Ein Besuch in der Tonhalle-Maag ist trotz steigender Infektionszahlen mit dem Coronavirus sicher. Dank eines umfasenden, ausgeklügelten Schutzkonzepts kann man bedenkenlos Konzerte besuchen, man kommt in keiner Phase anderen Besucher*innen zu nahe: Getrennte Zu- und Ausgänge zur rechten und zur linken Saalhälfte, Abstandsmarkierungen, Maskenpflicht beim Betreten des Gebäudes (auch während des Konzerts!), Desinfektionsmittelspender allüberall und eine Beschränkung auf maximal 460 (von 1224) besetzte Sitze, wobei streng darauf geachtet wird, dass die Schachbrettverteilung eingehalten wird (auch Paare sollten sich daran halten!). Und doch blieben an diesem Abend einige der 460 möglichen Plätze leer. Dabei war doch überall zu lesen gewesen, wie wichtig Kultur sei, wie sehr man sich wieder nach Live-Erlebnissen sehne. Was hielt die Leute vom Besuch dieses Konzertes ab? Die Eintrittspreise können es nicht sein, werden doch die Plätze zum Einheitspreis von 65 Franken verkauft (das Lucerne Festival verlangte kürzlich 290 Franken ...), die Hälfte dessen was sie sonst kosten. Ok, die Programme sind auch etwas kürzer gehalten (aber unwesentlich), Pausen gibt es nicht. Mit der Geigerin Lisa Batiashvili und dem Chefdirigenten des Tonhalle-Orchesters Paavo Järvi standen zwei absolute Top-Interpreten des Klassikmarktes auf dem Podium und das Programm mit Werken von Ibert, Bartók und Poulenc war ausgesprochen interessant und bewegte sich abseits ausgetretener Pfade. Wer es verpasst hat, könnte heute Donnerstag (allerdings mit Mozarts Sinfonie Nr.29 anstelle von Poulencs Sinfonietta) oder am Freitag nochmals in den Genuss dieses spannenden Abends kommen.

Einen Einstieg in die neue Saison kann man sich erfrischender als mit Iberts DIVERTISSEMENT kaum vorstellen. Welch schmissige, vor Einfällen nur so sprudelnde, überschäumende Musik hat Ibert da aus seiner Bühnenmusik zu einer Komödie von Labiche in einem sechssätzigen Stück destilliert: Rasante Passagen des Blechs, Triumphmärsche, Verulkungen des Mendelssohnschen Hochzeitsmarsches, Abstiege in mystische, düster grummelnde Sphären, perlende Klavierkaskaden und Seitenhiebe auf kakophone, atonale Kompositionen von Zeitgenossen, herrlich schmachtende Walzer, Salonmusik und Militärfanfaren – insgesamt ein atemberaubendes, amüsantes Stück Unterhaltungsmusik, auf höchstem Niveau komponiert und mit mitreissender Spielfreude vom Tonhalle-Orchester Zürich interpretiert, unter der augenzwingkernden (aber natürlich äusserst präzisen) Leitung von Paavo Järvi, der am Ende auch mit der Trillerpfeife versuchte, Ordnung in das ausser Rand und Band zu geratene Spiel zu bringen und damit erst die gelbe, dann die rote Karte von den Schlagzeugern gezeigt bekam und so die Sache beendete. Herrlich!

Eine ganz und gar anders geartete Komposition stand als nächstes auf dem Programm: Bartóks Violinkonzert Nr.1. Der neun Jahre vor Ibert geborene Komponist war im Alter von 25 Jahren unsterblich in die Wundergeigerin Stefi Geyer verliebt und widmete ihr ein zweisätziges Werk für Solovioline und Orchester. Geyer nahm die handschriftliche Partitur entgegen, setzte sich aber bald in die Schweiz ab und vertraute die Noten erst kurz vor ihrem Tod Paul Sacher in Basel an, der das Werk dann (13 Jahre nach Bartóks Tod) zur Uraufführung brachte. Bartók jedoch verwendete grosse Teile seiner musikalischen Ideen für sein Komposition DEUX PORTRAITS, op.5. Lisa Batiashvili stellte die fast schmerzhaft aufsteigenden Terzen der Solovioline mit wunderbar sauberer Intonation in den Raum, liess ihren Klang später, wenn sie nach und nach durch die Streicher des Orchesters umspielt werden, mit fantastischer Klarheit über dem Orchesterklang schweben, Man war sofort in den Bann dieser zum Teil noch dem spätromantischen Duktus verschriebenen Musik gezogen. Das Orchsters schraubte sich zu einem erotisch gefärbten Orgasmus hoch, die Solovioline erinnerte mit einnehmend süssem Klang nochmals an das Terzenmotiv, dann verklang dieser erste Satz. Im zweiten stand dann ganz die Virtuosität der Solovioline (und damit der von Bartók angebeteten Stefi Geyer) im Vordergrund. Schnelle Läufe, energische, ja manchmal beinahe trotzige Passagen wurden von Lisa Biatiashvili mit stupender Sicherheit vorgetragen, manchmal schien sie sich listig wie eine Schlange in den Orchesterklang zu schleichen, wunderbar präzise vom Tonhalle-Orchester unter Paavo Järvis unaufgeregter, klarer Führung begleitet. Wogend und rasant steuerte der in Sonatenform komponierte Satz aufs Finale hin – Riesenapplaus für die Ausführenden.

Zum Schluss des Programms dreier beinahe gleichaltriger Komponisten (nur 18 Jahre trennen den ältesten, Bartók, vom jüngsten der drei, Francis Poulenc) erklang die Sinfonietta von Poulenc. Was für eine wunderbare Musik, von der der Komponist selbst einmal gesagt haben soll: „Analysieren Sie meine Musik nicht, lieben Sie sie.“ Und wirklich, das sind Klänge zum Verlieben. Spätromantische, klassizistische, ja manchmal gar jazzige Einflüsse verschmelzen sich mit einer ganz eigenen Klangraffinesse zu einem neuen Ganzen, es ist ein Eintauchen in einen Wohlklang, dessen Gesanglichkeit in eindringlichen Atembögen Paavo Järvi und das Tonhalle-Orchester mit Eleganz und ruhigem Fluss zum Erklingen brachten. Wunderschöne, warme Streicherkantilenen (insbesondere der Celli), innige Holzbläser, traumhaft sauber gespieltes Horn, verzaubernde Arpeggien der Harfe waren zu vernehmen, dazwischen gekonnt orchestrierte Einschübe, die an Elgars Pomp and Circumstance erinnerten.

Paavo Järvi und sein Tonhalle-Orchester Zürich nahmen die Zuhörer mit auf eine eindrückliche und lohnende Entdeckungsreise in die viel zu selten gespielte musikalische Welt der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

 

Kaspar Sannemann, 23.8.2020

copyright (c) Gaëtan Bally

 

 

BENJAMIN BERNHEIM

Liederabend am 10.02.2020

 

Nuits d'été (Berlioz)

Lieder von Clara Schumann, Henri Duparc, Richard Strauss, Ralph Vaughn Williams und Frank Bridge

Klavier: Carrie-Ann Matheson

 

Als ich Benjamin Bernheim zum ersten Mal auf der Bühne des Opernhauses Zürich hörte (Spalanzani in LES CONTES D'HOFFMANN, 2010), schrieb ich von einem „vielversprechenden Debüt“. Im gleichen Jahr „löste er beim Premierenpublikum Begeisterungsstürme aus“ (Arminio in I MASNADIERI), 2011 sang er den Roderigo in OTELLO, da merkte ich an, dass er „ein hervorragender Cassio“ wäre, 2012 „brillierte Benjamin Bernheim in seinem kurzen Auftritt als Graf Lerma“ in DON CARLO, ebenfalls 2012 gelang ihm als Capito in MATHIS DER MALER „eine bedeutsame und eindringliche Charakterstudie“, 2013 attestierte ich ihm „herausragende Tenorqualitäten“ als Osoburgo in LA STRANIERA, 2015 sang er den Arturo in LUCIA DI LAMMERMOOR mit „strahlender Kraft und grossartiger Darstellungskunst, in GESUALDO stattete er den Emmanuele mit seinem „wunderschön timbrierten Tenor aus“, als Tebaldo in I CAPULETI E I MONTECCHI „fand er zu feinfühlig interpretierten Kantilenen und begeisterte mit seiner Phrasierungskunst und der klaren Diktion“. Letzte Saison folgte dann endlich eine Premiere in einer gewichtigeren Rolle auf der Bühne des Opernhauses Zürich (Ismaele in NABUCCO) – unterdessen hatte er aber bereits eine grandiose Karriere gestartet, welche ihn in Hauptrollen des lyrischen Tenorfachs nach Covent Garden, die Opéra de Paris, die Wiener Staatsoper, nach München und Berlin führte. Gestern Abend nun durfte man die Stimme dieses wunderbaren Sängers endlich einen ganzen Abend lang in Zürich geniessen, in einem zu Recht heftig akklamierten Liederabend – und er bestätigte all die Vorschusslorbeeren der vergangenen 10 Jahre aufs Schönste!

 

In diesem klug durchgestalteten Programm mit Liedern von fünf Komponisten (die sich – natürlich – allesamt um Liebesfreuden und -leiden drehten), begann er mit vier zarten, biedermeierlichen Liedern von Clara Schumann (1819-1896). Clara Schumann, die als Komponistin erst viele Jahre nach ihrem Tod die ihr gebührende Anerkennung erlangte, komponierte einige Lieder auf Gedichte von Friedrich Rückert, welche sie zusammen 1841 als Opus 12 mit ihrem Gatten Robert Schumann als Zyklus „Liebesfrühling“ veröffentlichte. Benjamn Bernheim sang sie mit schlichter, ebenmässiger und feinfühliger Tongebung und wenn er am Ende des zweiten Liedes (Warum willst du and're fragen) singt Sieh mein Aug', ich liebe dich! dann glaubt man's ihm aufs Wort. Schon hier erwies sich Carrie-Ann Matheson als wunderbar einfühlsame Begleiterin, welche gerade die melancholisch weichen Nachspiele (in den beiden Liedern Opus 13 nach Gedichten von Heinrich Heine) in sanft perlende Preziosen verwandelte. Die sechs Lieder des Zyklus LES NUITS D'ÉTÉ von Hector Berlioz hört man selten in der originalen Fassung für Klavier und Singstimme. Umso grösser die Freude, sie mit diesem so intelligent gestaltenden Ausnahmetenor erleben zu dürfen! Frisch und überschäumend in Villanelle, schmachtend und verspielt in Le spectre de la rose, das in der Klavierfassung viel direkter und weniger parfümiert wirkt als in der Orchesterfassung. Bernheim wartete mit eleganter Phrasierung, packenden Aufschwüngen und sicherer Stimmführung auf, auch im Fortissimo. Die Phrase J'arrive du paradis geriet zum Weinen schön, auch hier fiel die wunderbar aufmerksame Pianistin Carrie-Ann Matheson durch ihre subtile Begleitung, ihr Mitatmen mit dem Sänger sehr positiv auf. In Sur les lagunes begeisterte Bernheim mit kunstvoll schleifenden Legato-Bögen, expressiven dynamischen Steigerungen – ja es war eine wirkliche Arie, voller Trauer und Verlassenheitsgefühlen, aber auch mit exzeptioneller Strahlkraft. Berührend gestaltete er die verzweifelten Reviens-Rufe an die Geliebte in Absence und mit bangem Herzen Au cimetière – Clair de lune, bevor er mit hoffnungsvoller Emphase ins den Zyklus abschliessende Lied L'île inconnue einbog.

 

Nach der Pause brachte er dem Publikum zwei Lieder von Henri Duparc (1848-1933) auf Gedichte von Charles Baudelaire nahe. Duparc war wegen einer Nervenkrankheit als Komponist viel zu früh verstummt. Carrie-Ann Matheson gab den elegisch schillernden, perlenden Wellenschlag der Stimmung des Liedes L'invitation au voyage vor, Benjamin Bernheim stimmte mit ebensolchem Duktus ein. Wunderbar trafen die beiden Interpreten den erzählerischen Tonfall des Beginns von La vie antérieure, schlicht und unprätentiös – die nachfolgende Emphase wirkte damit umso beeindruckender! Nun folgten vier „Hits“ von Richard Strauss: Befreit, Heimliche Aufforderung, Morgen und Cäcilie. Der dynamische stimmliche Spannungsbogen Benjamin Bernheims reichte von zurückgenommener Innigkeit (Befreit), eindringlicher Textgestaltung (Heimliche Aufforderung), zarter Hoffnung (Morgen) bis zu strahlemdem tenoralem Fortissimo-Glanz mit Wenn du es wüsstest, du lebtest mit mir! in Cäcilie. Mit ruhigem Fliessen und leichtem Schalk in der Stimme ging er das Lied Silent Noon von Ralph Vaughn Williams an (wann endlich wird diesem britischen Komponisten auf dem Kontinent endlich die ihm gebührende Aufmerksamkeit erbracht???) und beendete das Programm mit schon beinahe ekstatischer Lobpreisung der Liebe in Frank Bridges (1879-1941, Lehrer von Benjamin Britten) Love went a-riding, wo die Liebe auf Pegasus' Flügeln über den Planeten schwebt.

 

Doch das Publikum war dadurch natürlich in solch euphorische Stimmung geraten, dass Zugaben einfach folgen mussten – und Benjamin Bernheim verzückte mit dem schon beinahe überirdisch schön mit mit delikatem Schmelz vorgetragenen Traum des Des Grieux aus Massenets MANON En fermant les yeux. Die Rolle des Des Grieux singt er zur Zeit an der Opéra de Paris – und bei der Wiederaufnahme in Zürich nächste Saison!

 

Hätten Benjamin Bernheim und die Pianistin Carrie-Ann Matheson die Herzen der Zuhörer*innen nicht schon längst erobert gehabt, mit Léhars Dein ist mein ganzes Herz aus DAS LAND DES LÄCHELNS, wäre das dann passiert. Da offenbarte Benjamin Bernheim nochmals die Gänsehaut evozierende Strahlkraft seines grandiosen Timbres! Das Publikum hätte sicher gerne noch mehr gehört, doch Bernheim signalisierte, dass er nun Durst habe ... . Die Erfrischung wollte ihm natürlich niemand vorenthalten und so verliess man beglückt den Saal!

 

Kaspar Sannemann, 12.12.2020

 

 

 

Vesselina Kasarova

featuring: Richard Galliano

01.01.2020 in der Tonhalle Maag Zürich

 

Das Zürcher Kammerorchester hatte zum Jahresanfang ein besonderes Konzert gestaltet. Statt den üblichen Walzern und Polkas erklangen in diesem Konzert melancholische Tangos, emotionale Arien und humorvolle Kompositionen.

Die beiden Solisten des Abends, Vesselina Kasarova, Mezzosopran und Richard Galliano, Akkordeon, boten einen vielseitigen Querschnitt durch ihr Können. Das Konzert begann mit der Barcarolle aus «Hoffmanns Erzählungen» von Jacques Offenbach. Wann hat man schon die Gelegenheit, dieses bekannte Stück mit Akkordeonbegleitung zu hören? Eine ganz gelungene Idee. Man spürte schon hier, dass sich die beiden Solisten bestens ergänzten.

Vessellina Kasarova ließ ihren eleganten, dunklen Mezzosopran fließen und konnte auch mit «O del mio amato ben” von Stefano Donaudy eine bezaubernde Stimmung hervorrufen. Richard Galliano, ein Meister seines Instruments, spielte zwei eigene Werke «La Valse à Margaux” und «Aria», sowie die zwei Kompositionen seines Freundes Astor Piazzolla, «Oblivion» und «Otono Porteno». Unglaublich, mit welcher Hingabe und Beherrschung seines Instruments dieser Ausnahmekünstler aufwarten kann, sei es solistisch oder zusammen mit dem Orchester.

Nach der Pause durfte man Vesselina Kasarova mit der Habanera aus «Carmen», einer Ihrer großen Opernrollen, hören und wurde an die vielen Partien erinnert, mit welchen diese berühmte Sängerin auch in Zürich ihr Publikum immer wieder begeistert hatte.

In den zwei folgenden Gesangsstücken, «Vieni sul mar» von Eduardo Di Capua und der «Canzonetta spagnuola» von Gioachino Rossini kamen ihre Stimme und ihr Temperament voll zur Geltung und man kam richtig ins Schwelgen. Richard Galliano ergänzte seine Darbietungen mit zwei weiteren Interpretationen von Astor Piazzolla. «Libertango» und «Melodia en La Menor» liessen erkennen, wie sehr der Altmeister und der Solist miteinander harmoniert hatten. Darauf folgte nochmals eine Eigenkomposition aus «Opale Concerto».

Als Zugabe erklang das «Katzenduett» von Rossini. Die Singstimme und die von Galliano gespielte Mundharmonika boten eine sehr witzige Version dieser humorvollen Komposition.

Das Zürcher Kammerorchester unter seinem Konzertmeister Willi Zimmermann, bot eine sehr überzeugende Leistung und hatte sicht- und hörbar viel Freude an diesem speziellen Programm. Ein großes Kompliment an dieses für das Zürcher Konzertleben so wichtige Orchester.

 

Marco Stücklin, 4.1.2019

Besonderer Dank an unsere Freunde vom OPERNMAGAZIN

Fotos @ Suzanna Schwiertz

 

 

Tonhalle-Orchester

mit Dvorak, Ravel und Richard Strauss

Besprochenes Konzert vom 18.12.2019

 

Ein wilder musikalischer Hochgenuss unter der Leitung des Tonhalle-Orchester-Debutanten Gianandrea Noseda

Die beinahe ausverkaufte Tonahalle Maag erwartet gespannt den italienischen Dirigenten Gianandrea Noseda, welcher nach Fabio Luisi das Amt des Generalmusikdirektors des Opernhaus Zürich übernehmen wird, und nun mit dem Tonhalle-Orchester zum ersten Mal ein Konzert gibt. Unterstützt wird er dabei von dem ausgezeichneten jungen Pianisten Betrand Chamayou.

Das anspruchsvolle Programm ist sehr abwechslungsreich und kurzweilig. Als Einstieg wird Antonin Dvoraks «Waldtaube» op.110 dargeboten. Seine sinfonische Dichtung über das Leben einer unglücklichen Frau, welche ihren Ehegatten ermordet und schliesslich selbst durch Selbstmord aus dem Leben scheidet, dirigiert Noseda kraftvoll und mitreissend. Besonders die tiefen Streicher begeistern mit ihrer Expressivität. Jegliche Orchestergruppen sind perfekt aufeinander abgestimmt, sowie ausbalanciert, und folgen dem beinahe schon tanzenden Dirigenten auf jeden Schlag.         

Nach dem Abklingen des letzten feinen Horn-Einsatzes beginnt auch schon der Umbau zu Maurice Ravels Klavierkonzert in G-Dur. Dafür wird der grosse Steinway-Konzertflügel in die Bühnenmitte geschoben und der im Jahre 1981 geborene französische Pianist Betrand Chamayou setzt sich auf den Hocker. Der junge Ausnahme-Pianist meistert den jazzigen ersten Satz, den leidenschaftlichen und melancholischen zweiten Brückensatz, sowie den nicht minder intensiven dritten Satz, welcher die Themen des ersten Satzes erneut in erhöhtem Tempo und Komplexität aufgreift, mit scheinbar grösster Leichtigkeit. Jede Note - ist sie auch noch so fein - wird von Chamayou hörbar und in einer Klarheit die ihres Gleichen sucht, in den Raum gezaubert. Orchester und Klavier verschmelzen in einen einzigen Guss wunderbarer Musik. Noseda nimmt in Punkto Dynamik und Tempo stets Rücksicht und folgt dem Pianisten in Manier eines guten Kapellmeisters in jedem Takt. Das Konzert ist schmissig, leidenschaftlich -und leider viel zu kurz. Zu Freuden des Publikums spielt Chamayou eine wunderbare Zugabe eines weiteren Stückes von Ravel, um seinen bemerkenswerten Auftritt in der Tonhalle Maag gekonnt abzurunden.

Nach der Pause folgt der dritte und letzte Programmpunkt des Abends. «Also sprach Zarathustra» von Richard Strauss. Der grosse Strauss-Interpret und Dirigentenkollege Christian Thielemann sagte in einem Interview über den Komponisten, dass Strauss ein grosser Parfümeur war, der es verstand seine Werke so genial zu komponieren, dass auch schlechte Orchester mit seinen Werken gut klingen würden. Die kleinen aber wichtigen Nuancen, die den Unterschied machen, können nur gute Orchester und Dirigenten hervorheben. Noseda und das Tonhalle-Orchester machen diese Nuancen hörbar und überzeugen mit grösster Qualität. Die bekannte Einleitung gelingt zügig, walzt durch den Raum und was darauf folgt, ist ein Rausch, aus dem Dirigent, Orchester und Publikum erst beim Schlussapplaus erwachen. Ein Höhepunkt folgt dem Nächsten. Die Streicher flirren, die Holz- und Blechbläser strahlen - es ist ein Musikfest sondergleichen. Auch die feinen Passagen mit dem Solo des Konzertmeisters gelingen anrührend und sind eine willkommene Abwechslung zu den wilden Gefühlsausbrüchen der komplexen Tondichtung, welche an Friedrich Nietzsches Buchvorlage angelegt ist.

Der lange anhaltende und begeisterte Schlussapplaus ist Resultat eines mehr als nur geglückten Debuts Nosedas. Das Publikum bedankt sich beim Orchester und Dirigenten und darf sich freuen Noseda als neuen GMD der Zürcher Oper in Zukunft öfters zu erleben.

 

Philipp Borghesi, 20.12.2019

 

 

1. PHILHARMONISCHES KONZERT

am 28.10.2018

 

Wolfgang Amadeus Mozart: Rondo in A-Dur für Klavier und Orchester

Richard Strauss: Burleske in d-Moll für Klavier und Orchester

Schostakowitsch 5. Sinfonie

Intelligent sinnvolle Konzertzusammenstellung

Gerade bei so expressiven und extensiven Sinfonien wie sie von Schostakowitsch (oder Bruckner oder Mahler) erschaffen wurden, stellt sich immer die Frage, mit welchen Kompositionen kann man sie denn zusammen aufs Programm setzen, ohne dass die Werke vor der Pause von der nachfolgenden Sinfonie erdrückt werden. Hier haben nun Daniele Rustioni und die Philharmonia Zürich eine ganz kluge Lösung gefunden: Sie setzten vor Schostakowitsch Richard Strauss' Burleske für Klavier und Orchester an. Strauss' Jugendwerk hat mit Schostakowitschs Fünfter nicht nur die Grundtonart d-Moll gemein, auch innerhalb der beiden Werke werden Verwandtschaften hörbar, so der Zug ins Groteske im zweiten Satz der Sinfonie, der auch in Strauss' Burleske herrlich verschmitzt durchdringt und etwas an Strauss' drei Jahre nach der Burleske komponierte Tondichtung Till Eulenspiegel erinnert.

Dem extrem schwierig zu bewältigenden Klavierpart von Strauss' Burleske widemete sich Francesco Piemontesi. Er spielte die vertrackt spritzigen Läufe mit einer staunend machenden Selbstverständlichkeit, stürzte sich mit Vehemenz in die Kaskaden, entlockte dem Flügel aber auch glitzernde, perlende Klänge, versank in wohliges Gurgeln, stieg wieder auf zu gleissenden Höhen. Die hochkomplexe Rhythmik bereitete weder dem Solisten, noch dem von Daniele Rustioni sicher und mit hörbarer Spielfreude musizierenden Orchester Mühe, das klang alles überaus präzise und doch mit musikantischem Spass ausgeführt. Spannend aufgebaut wurden von Maestro Rustioni die stets erneuten Anläufe der Komposition, einen Kulminationspunkt zu erreichen, immer noch eine Drehung einzubauen, Höhepunkt an Höhepunkt zu setzen, um dann blitzschnell in vermeintliche Ruhe zurückzufallen. Auch wenn sich Strauss selbst in späteren Jahren beinahe verächtlich und verschämt über sein Jugendwerk äusserte, dem Zuhörer bereitet diese Werk stets einen Riesenspass. Nicht zu vergessen die immens wichtige Rolle der Pauke, die immer wieder auf Sturm drängt, manchmal obsiegt dann aber eine Melancholie wie von Tschaikowsky komponiert. Am Ende siegt dann natürlich die Fulminanz, die in eine durch Piemontesi auch physisch humorvoll dargestellte Erschöpfung des Solisten mündete.

Doch die Erschöpfung hielt nicht lange an, erst folgte eine herzliche Umarmung des Solisten mit dem Dirigenten, dann verlangte der begeisterte Applaus natürlich nach einer Zugabe. Die war erstmal eine ganz grosse Überraschung, denn flugs wurde ein zweiter Klaviersessel hingestellt und der Dirigent Daniele Rustioni setzte sich links neben Francesco Piemontesi und zusammen spielten sie Mozart, den 3. Satz aus dessen Klaviersonate zu vier Händen KV 381. Rasant und brillant. Wunderbar. Das war aber nicht das einzige Werk von Mozart, das in diesem Konzert erklang. Begonnen hatte man nämlich mit dem Rondo in A-Dur für Klavier und Orchester, dessen spannende Entstehungs- und Wiederaufführungsgeschichte weiter unten nachzulesen ist. Rustioni dirigierte die relativ lange Orchestereinleitung wunderbar federnd und liess den tänzelnden Charakter herrlich durchschimmern, Piemontesi antwortet mit sorgsam hingetupften Anschlägen, wunderbar sauberen Trillern, zunehmender Virtuosität; die Interpretation versprühte eine einnehmende Frische und Direktheit, zeugte von sorgfältigem gegenseitigem Mitdenken, Mitfühlen, Horchen. Doch damit nicht genug, denn Piemontesi schenkte dem Publikum auch noch einen wunderschön, sanft und sauber gespielten Bach von tief empfundener Innigkeit und Bescheidenheit.

Nach der Pause nahm dann ein Orchester auf der Bühne Platz, das noch größer besetzt war, als das für Strauss' Burleske. Aufhorchen ließen gleich zu Beginn die Streicher mit ihrem geschärften Klang. Immer wieder wurde er zwar im ersten Satz durch weichere, melancholischere, idyllischere Kantilenen abgelöst, doch die martialischen, schmerzverzerrten Passagen behielten stets die Oberhand. Schostakowitschs kaum verhohlene Kritik am Regime dringt durch. Der brachiale Marsch, von der Philharmonia Zürich mit atemberaubender Präzision gespielt, verfehlte seine unter die Haut gehende Wirkung nicht. Vom zweiten Satz war schon die Rede, diesem grotesken Gegacker der Holzbläser, das wie eine Persiflage daherkommt, unterbrochen von der verzerrt tanzenden Solovioline (wunderbar gespielt von Hanna Weinmeister, Kniefall des Dirigenten vor ihr beim Schlussapplaus) und der Soloflöte. Der dritte Satz hätte beinahe einen Zwischenapplaus ausgelöst, diese leidvolle Musik, dieses tieftraurige Largo markierte einen krassen Gegensatz zur vorhergehenden grotesken Ländlerseligkeit. Rustioni verstand es dabei, die Spannung bis zum Zerreissen aufrecht zu erhalten und eine Verinnerlichung ohnegleichen zu evozieren. Dann wieder der Schnitt zum Finalsatz, diesem kurzen, derben Heranrollen des (vermeintlichen) Triumphs. Forsch das Tempo, galoppierend, und das Riesenorchester wie eine gewaltige Siegesglocke läuten lassend. Kurz ein Verschnaufen in einer Art vorweggenommener Minimal Music, mit einer kurzen Phrase die sich höher bis in die ganz kurzen Saiten der Harfen schraubt, dann die Rührtrommel die den sich nähernden Marsch ankündigt und sich darauf mit (vom Dirigenten gerade noch genügend kontrollierter) Wucht über die Zuhörer ergiesst.

Gefährlich mitreissende Musik, die sowohl regimefreundlich als auch regimefeindlich und kritisch gehört werden kann. Der Jubel jedenfalls wollte kaum enden. Daniele Rustioni, Chefdirigent an der Opéra de Lyon, in Zürich dirigierte er Madama Butterfly und Cavalleria Rusticama / Bajazzo möchte man jedenfalls immer wieder gerne in Zürich begegnen.

Kaspar Sannemann 6.11.2018

 

 

MOZART, BRUCKNER

Konzert am 19.09.2018

Wolfgang Amadeus Mozart: Klavierkonzert Nr.22 in Es-Dur

Anton Bruckner: Sinfonie Nr. 7 in E-Dur

Als eine „symphonische Riesenschlange“ bezeichnete der scharfzüngige Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick einst Bruckners 7. Sinfonie. Hanslicks Einschätzung mag leicht despektierlich klingen, unrecht hatte er damit jedoch nicht. Denn die an- und abflauenden Spannungsbögen mit ihren endlos scheinenden Steigerungswellen erinnern tatsächlich an die Windungen einer Schlange, ihr Aufbäumen, ihr Zurücksinken , ihr Aggressionspotential. Allerdings ist es eine symphonische Schlange, der man über knapp 70 Minuten gerne zuhört, sich von ihr vereinnahmen, ja geradezu blenden lässt. Gerade im zweiten Satz, diesem unter die Haut gehenden Adagio, türmen sich die beiden Motive (Wagner-Tuben Motiv und das Zitat aus Bruckners eigenem Te Deum) in Modulationen auf, winden sich, und kommen erst ganz spät zum Höhepunkt - der allerdings ist dermassen orgiastisch und erotisch-sinnlich komponiert, dass man kaum glauben kann, dass er aus der Feder des tiefgläubigen Einzelgängers Bruckner stammt.

Wenn dann noch ein so erfahrener Dirigent wie Bernard Haitink am Pult des exzellent und mitreissend spielenden Tonhalle-Orchesters Zürich steht, dann ist gerade auch in diesem Moment Gänsehaut und wohliger Schauer garantiert. Dieser Kulminationspunkt in Bruckners 7. Sinfonie gehört zu den umstrittensten Takten der Musikliteratur. Auf Drängen von Schülern und Freunden fügte Bruckner (der eigentlich ungestimmte Instrumente wie Becken und Triangel nicht mochte) dann eben doch einen Beckenschlag ein. Später wurde er überklebt, wieder eingefügt, wieder gestrichen, so dass man bis heute nicht genau weiss, was Bruckner wirklich wollte. Haitink beliess ihn in seinem Konzert von gestern Abend – meines Erachtens zu Recht. Der Beckenschlag ist an dieser Stelle (Bruckner möge mir den Ausdruck nachsehen) einfach geil. Doch nicht nur der spannende Aufbau dieses Adagios liess einen am Sesselrand in der Tonhalle Maag kleben. Im ersten Satz wurde man von Beginn weg durch die wunderschön warm intonierten Kantilenen der tiefen Streicher in einen spannungsvollen akustischen Strudel gezogen, einen Sog, der stets klar strukturiert und doch überaus sinnlich gehalten war.

Mal zog Zuversicht wellenartig in den voll besetzten Saal, dann wieder horchte man der zerklüfteten Spannung und der originellen Harmonik in der Durchführung, hörte die Orchesterfamilien wirkungsvoll aufblühen, war fasziniert vom strahlenden, tadellos intonierenden Blech. Fantastisch gestaltete Haitink zusammen mit dem konzentriert und präzise seine Intentionen ausführenden Tonhalle-Orchester das Scherzo, mit seinem mal aufbrausenden, dann wieder wiegenden Charakter, unterbrochen durch den ruhigen Fluss des Trios, in dem besonders die Holzblasinstrumente für wunderbar zarte Einsprengsel sorgten. Nach dem architektonisch so herrlich disponierten Finale mit seinen „Rheingold“ - und „Meistersinger“ - Zitaten und dem paradiesischen Blechbläser-Choral, gab es für das Publikum kein Halten mehr, stehende Ovationen für den bald 90jährigen Maestro und das einmal mehr auf allen Positionen exzellente Tonhalle-Orchester Zürich. Ein Glanzmoment, den man eben nur live erleben kann.

Vor der Pause wurde Mozarts Klavierkonzert in Es-Dur KV 482 gespielt, mit Till Fellner am Flügel. Fellner nahm mit seinem schmeichelnden Anschlag, der subtil abgestuften, spannungsvollen Dynamik, den stupend ausgeführten Trillerpassagen und der virtuosen Kadenz für sich ein. Zart und empfindsam erklang das Andante, durch sparsamen Pedaleinsatz sehr klar gehalten und nie allzu verquollen-weinerlich. Quasi attacca bogen die Musiker in das Rondo-Finale ein, in dem Fellner noch einmal seine herausragende Trillertechnik präsentieren durfte, ein einfühlsames cantabile im Andantino-Zwischenteil evozierte und mit einer herrlichen Kaskade in die Coda führte. Ein besonders Lob gebührt auch in diesem Werk den Holzbläsern, welche man in der Akustik der Tonhalle Maag ganz besonders prominent wahrnimmt.

So schön dieses Mozart-Konzert auch gespielt und interpretiert wurde, Bruckners „Riesenschlange“ nach der Pause erwürgte beinahe die Erinnerung daran. Ähnlich war es schon, als Haitink in der letzten Saison hier die vierte Sinfonie Bruckners aufgeführt hatte, auch damals wurde vor der Pause ein Klavierkonzert von Mozart gespielt. Vielleicht sollte man mal versuchen, Bruckner mit einem Werk aus dem späten 20. oder dem 21. Jahrhundert zu kombinieren und zu konfrontieren. Ein Werk, das imstande wäre, der Schlange die Stirn zu bieten.

Kaspar Sannemann 22.9.3018

 

 

Saisoneröffnung mit Jukka-Pekka Saraste

Konzert in Zürich am 12.9.

Alban Berg: Violinkonzert

Gustav Mahler 9. Sinfonie in D-Dur

Vielfältig sind die Verbindungen und Berührungspunkte zwischen diesen beiden Meilensteinen der Musik aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Weder Berg noch Mahler erlebten die Uraufführungen ihrer letzten vollendeten Werke. Die Achtung Bergs vor Mahlers neunter Sinfonie war enorm, er bezeichnete sie als Übergang zu einer neuen Epoche, die dann tatsächlich mit ihm und Schönberg anbrechen sollte. Berg seinerseits pflegte engen, freundschaftlichen Kontakt zu Mahlers charismatischer Witwe Alma (in zweiter Ehe verheiratet mit dem Architekten Walter Gropius, in dritter mit dem Dichter Franz Werfel, Liebschaften mit Oskar Kokoschka und Franz Schreker u.a.m.). Alma Mahler unterstützte Berg auch finanziell (Drucklegung seiner Oper WOZZECK). Als Almas wunderschöne Tochter Manon Gropius im Alter von 18 Jahren an Kinderlähmung starb, widmete ihr Alban Berg sein Violinkonzert und gab ihm den Titel Dem Andenken eines Engels. Diesem Werk und auch Mahlers letzter vollendeter Sinfonie wohnt ein Hauch von Abschieds- und Weltschmerz inne, eine Transzendenz, mit der beide Werke enden, die tief bewegt, mehr Fragen aufwirft als Antworten gibt.

Am Beginn des Konzerts stand Bergs Violinkonzert. Schon Arnold Schönberg hatte seinem Schüler Berg eine „überströmende Wärme des Fühlens“ attestiert. Diesem Empfinden steht auch die Zwölftonmusik nicht im Wege. Davon konnte man sich gestern Abend in der Tonhalle Maag erneut überzeugen. Die Violinistin Janine Jansen (diese Saison als Artist in Residence des öfteren zusammen mit dem Tonhalle-Orchester Zürich und in Kammermusikkonzerten in der Tonhalle Maag anzutreffen) traf für Bergs Violinkonzert genau den richtigen Ton und evozierte bewegende Effekte. Mit kristalliner Reinheit zu Beginn intonierend, wo Berg die Schönheit, die Anmut der jungen Manon Gropius beschreibt, mit tänzerischem Aplomb dann in die Kärntner Volksweisen mündend, unbeschwert und frisch sich dem Reigen hingebend. Obwohl das Thema stehenzubleiben scheint, entwickelte das Tonhalle-Orchester Zürich unter der Leitung von Jukka-Pekka Saraste (er sprang relativ kurzfristig für den erkrankten Semyon Bychkov ein und übernahm das vorgegebene Programm) einen vorwärts gerichteten Drive und es kam zu einem spannungsgeladenen Dialog mit der Solistin Janine Jansen. Der kristalline, reine Ton wich im zweiten Teil dann einer packenden Vehemenz, einer gegen die Krankheit kämpfenden Manon, die mal wütend aufzubrausen schien, dann wieder ermattet zusammenbrach. Schmerzattacken und Wut steigerten sich auf aufwühlende Art, bis dann die Solovioline den von Berg meisterhaft zitierten Bach-Choral Es ist genug anstimmte, schmerzhaft in ausgeklügelter Zwölftontechnik konterkariert durch Bratschen und Fagott. Da war dann plötzlich wieder die Weichheit der Bogenführung, der warme Ton der Violine von Janine Jansen zu erleben, ein letztes Aufbäumen bevor das Werk in den höchsten Lagen der Solovioline in einer jenseitigen Unergründlichkeit verklingt, in die Janine Jansen noch ein letztes kleines Crescendo einbaute, ein letztes Einatmen vor dem Übergang ins Paradies. Das war nicht nur technisch absolute Spitze, das liess einem den Atem stocken. Eine Minute absoluter Stille im nicht ganz voll besetzten Saal, bevor der begeisterte Applaus aufbrandete.

Nach der Pause erklang dann Mahlers neunte Sinfonie, ein gewaltiger Brocken – aber für einmal ein Fels, der das Werk, das vor der Pause gespielt worden war, weder vergessen machte, noch dieses zu erdrücken drohte, sondern es auf ganz wunderbare Art ergänzte, weitere Türen in eine transzendentale Welt zu öffnen vermochte. Auf die Verbindungen zwischen den beiden klug programmierten Werke habe ich hingewiesen. Auf eine ganz besondere Affinität machte die Intendantin Ilona Schmiel vor dem Konzert aufmerksam: Mahlers Sinfonie entstand nämlich kurz vor der Eröffnung der Maag Zahnradfabrik, in derer einstiger Fertigungshalle sich nun die Ausweichspielstätte des Tonhalle-Orchesters Zürich befindet. Und tatsächlich kann man auch den dritten Satz der Sinfonie, diese die Tonalität auflösende, groteske Rondo-Burleske, als leicht maschinell und lärmig empfinden. Jukka-Pekka Saraste gelang es, den leicht stampfenden Charakter des Satzes mit seinen Blechgrundierungen markant zu präsentieren. Die Einwürfe der Holzbläser waren mal diabolisch verschmitzt, dann wieder überaus hässlich (vom Komponisten gewollt!), es entwickelte sich ein gewaltiger Kontrast zum Weltenschmerz des finalen Adagios. Der Weg dahin allerdings ist lang und beschwerlich, diese neunte Sinfonie beginnt (ähnlich wie Bergs Violinkonzert) eher suchend, zerklüftet, das weiche, Trost spendende Thema wird immer wieder durch harte Einwürfe unterbrochen, hinterfragt. Saraste und das Tonhalle-Orchester vermochten die unterschiedlichen Stimmungen genau auszuhorchen, mal depressiv, dann wieder lieblicher, um gleich darauf ins Mystische abzugleiten. Herrlich schräg und derb dann die für Mahler so typischen Ländlerpassagen im zweiten Satz (auch hier eine Parallele zu Berg, der ebenfalls Volksweisen zitiert). So erreichte man also dann nach der ausser Rand und Band geratenen Maschinerie der Burleske das Finale, 25 Minuten Hochspannung, manchmal gegen Ende hin kaum auszuhalten. Immer wieder vermeinte man, im Jenseits angekommen zu sein, doch Mahler fiel immer wieder eine neue Wendung ein, ein Aufblitzen eines Motivs oder einer Idylle, welche das Sterben hinauszögert, der Titan will nicht abtreten. Ja, er richtet sich gar noch in einer letzten gewaltigen Kulmination vollends auf (akustisch kommt der Maag Saal da an seine Grenzen, doch bei den feineren Passagen überzeugt er mit einer Klangtransparenz sondergleichen). Aber wenn das Sterben schliesslich unausweichlich wird, dann ist dies von so überirdischer, paradiesischer Schönheit (auch wie bei Berg), dass man nach dem letzten Verklingen gar nicht applaudieren mag – diese Anspannungen, Klänge und Emotionen, müssen erst verdaut werden.

Doch selbstverständlich wurden - nach einer stillen Einkehr - die Mitglieder des Tonhalle-Orchesters und der Dirigent gebührend gefeiert – zu Recht. Sicher kein einfacher, leicht verdaulicher Konzertabend – aber ein überaus lohnenswerter!

Kaspar Sannemann 17.9.2017

Foto (c) Tonhalle

 

 

Maria João Pires und Bernard Haitink

Aufführung am 20.12.2017

Lichter Altersglanz in souveräner Perfektion

Wolfgang Amadeus Mozart: Klavierkonzert Nr.27 in B-Dur, KV595 | Uraufführung: 4. März 1791 in Wien | Anton Bruckner: Sinfonie Nr.4 in Es-Dur, „Romantische“

 

Die Werke zweier österreichischer Giganten unter den Komponisten (Mozart und Bruckner) standen auf dem Programm dieses Extrakonzerts in der Tonhalle Maag – zwei „Giganten“ der Klassikszene, ja lebende Legenden (die über 70jährige Pianistin Maria João Pires und der bald 89jährige Dirigent Bernard Haitink), präsentierten sie zusammen mit dem vor bald 150 Jahren gegründeten Tonhalle Orchester Zürich in der ausverkauften Interimsspielstätte Tonhalle Maag dem begeisterten Publikum.

Den Anfang machte Mozarts letztes Klavierkonzert, die Nr.27, KV595, dieser verinnerlichte, leicht melancholisch durchwobene Abschied Mozarts von der Gattung des Klavierkonzerts. Und genau diesen nach innen gerichteten Hauch von Wehmut vermochten Maria João Pires und Bernard Haitink zusammen mit dem herrlich konzentriert aufspielenden Tonhalle Orchester Zürich mit berührender Schlichtheit zu evozieren, dank perfekt disponierter Tempi, die nie überhastet wirkten und so ein tiefe Empfindsamkeit der Interpretation ermöglichten. Es gab da immer wieder atemberaubende Momente des Zusammenspiels: So die Harmonie des sanft-weichen Anschlags der Pianistin mit der Soloflöte, die sublime Hornüberleitung im Larghetto, dessen Hauptthema zuvor von Maria João Pires so wunderbar romanzenhaft vorgestellt worden war, das Dialogisieren im finalen Rondo. Über die stupende technische und rhythmische Sicherheit der Pianistin braucht man keine Worte zu verlieren, wohl aber über die Behandlung des einzelnen Tons: Wie sie diesen Tönen quasi nachzuforschen scheint, ihren Nachhall einzufangen und dynamisch zu dosieren sucht, ihrer Bedeutung wie eine Forscherin nachzuspüren gewillt ist - auch inmitten expressiver Läufe und fantastisch präziser Triller in der Kadenz des Kopfsatzes - das lässt dann schon aufhorchen. Wenn dann am Ende, nach der zweiten Kadenz im Rondo, sich das Orchester quasi auf Samtpfoten durch die Hintertür wieder hereinschleicht, dann entsteht ein solch magischer Moment des Musizierens, wie man ihn nur im Konzertsaal erleben kann.

An magischen, ja geradezu mystischen Momenten herrscht in Bruckners 4. Sinfonie, der „Romantischen“ auch kein Mangel. Bernard Haitink strahlt dabei eine überlegene Ruhe aus, lässt die crescendierenden Wogen ausgeklügelt an- und abschwellen, malt das Geheimnisvolle und Rätselhafte des Waldesrauschens zusammen mit dem mit fantastischer Präzision intonierenden Orchester mit einer faszinierenden, transparenten Palette an Klangfarben. Wunderbar die Naturquinte des Horns über den murmelnden Streichern, welche das Hauptthema des ersten Satzes eröffnet, ein Thema, welches Bruckner dann fast bis zum Exzess in diesem Satz verarbeitet hatte, dessen man beinahe – aber eben nur beinahe – überdrüssig wird, und sich dann doch freut, wenn es sich in der Coda des Finales nochmals in all seiner Grandiosität wie ein erratischer Block erhebt. Der beiden Hauptthemen des zweiten Satzes (Andante) werden von den tiefen Streichern geprägt, erst von den Celli, dann diese wunderbare Melodie in den Bratschen, begleitet von den präzisen Pizzicati der restlichen Streicher. Meisterhaft gelingen die spannenden Überleitungen, der verdeckt aufkeimende Jubel, das abrupte Absinken in mystische Tiefen und dann die im Pianissimo verklingenden Wirbel der Pauke, die einem den Atem stocken lassen. Dafür hat der Paukist einen Extraapplaus mehr als verdient, wie auch die Blechbläser, welche im Jagdscherzo Enormes zu leisten haben, und diese Aufgabe mit Brillanz und Bravour meistern. Nach dem von Flöte und Klarinette geprägten Trio mit seinem so beruhigend wiegenden Charakter erklingt nochmals der Hauptteil des Scherzos, eine schon fast gefährlich soghafte Wirkung des rasanten Hörnerklangs und Trompetenschalls stellt sich ein. Wuchtig und brucknerisch mitreissend dann die kathedralenhaften Blöcke im Finalsatz. Auch hier nimmt Haitink die Bezeichnung “bewegt, doch nicht zu schnell“ sehr genau, ermöglicht dadurch eine grandiose Durchhörbarkeit des thematischen Materials, das bei ihm nie einfach zum effektvollen Auftürmen missbraucht wird, sondern auch er (wie Pires zuvor bei Mozart) spürt den Gedanken des Komponisten nach, forscht, grübelt in den dräuenden Klängen, arbeitet Herzklopfen und tänzerische Motive heraus, lässt Themengruppen gegeneinander kämpfen. Man bemerkt ein beinahe erotisches Beben und Pochen in diesem hochromantischen Wald, wo sich Hänsel und Gretel fürchten, wo aber auch immer wieder eine unheimliche Ruhe vor dem Sturm einkehrt, ein Sturm, der manchmal sehr wild daher braust, und doch grandios ist und süchtig nach mehr macht ... . Dirigent und Orchester wurden nach diesen 70 Minuten deshalb auch mit stürmischen Ovationen gefeiert. Mehr als verdient!

Dies war mein erster Besuch in der Interimsspielstätte der Tonhalle Gesellschaft Zürich. Für drei Spielzeiten residiert das Orchester in der Maaghalle im Kreis fünf (nur wenige Schritte vom Bahnhof Hardbrücke und diversen Bus- und Tramhaltestellen, also mit ÖV beinahe besser zu erreichen als der Saal am See). Die in diese Industriehalle hineingebaute, hölzerne Konzertsaal-Box übertrifft die Erwartungen. Akustisch profitieren vor allem die Holzbläser und das Blech, auch der Flügel klang ausgezeichnet. Für die Streicher fehlt es vielleicht etwas an den Möglichkeiten zur Ausbreitung des Klangs, was zu Lasten der Wärme geht, dafür jedoch für eine beinahe kristalline Klarheit sorgt. Bei Tutti im Fortissimo besteht natürlich noch mehr die Gefahr der pastosen Lärmigkeit, doch an diesem Abend hatte Haitink dieses Problem erstaunlich souverän im Griff.

Kaspar Sannemann 4.1.2018

 

 

MISA CRIOLLA, JEREMIAH, CHICHESTER PSALMS

Konzert am 22.12.2016

Ariel Ramirez: Misa Criolla

Leonard Bernstein: Sinfonie Nr. 1 "Jeremiah" 

Leonard Bernstein: Chichester Psalms

Von einem aussergewöhnlichen „Weihnachtskonzert“ ist zu berichten, einem Konzert jenseits von „Jauchzet, frohlocket“ oder „Halleluja“ (wobei diese Erwähnung weder Bach noch Händel herabwürdigen soll). Aber die Programmgestaltung für diesen eindrücklichen Konzertabend zielte über die neutestamentarische Botschaft hinaus und bohrte tiefer, stellte Fragen nach dem Warum, zielte auf gedankliche Öffnung – gerade in dunklen Zeiten, wie sie die Menschheit leider momentan (selbstverschuldet!) durchleben muss.

Begonnen wurde mit Ramizez' MISA CRIOLLA, dieser Messe für das Volk, entstanden direkt während des Zweiten Vatikanischen Konzil zu Beginn der 1960er Jahre, als daselbst beschlossen wurde, dass die liturgischen Teile der Messen nicht mehr nur in Latein, sondern auch in einer dem Volk vertrauteren Sprache gesungen werden dürfen. Doch nicht nur die Sprache (hier also Spanisch), auch die Musik von Ramirez trägt die Züge des Folkloristischen, des im besten Sinne des Wortes Populären. Selbst in das sonst oftmals sehr andächtig und zurückhaltend reagierende Publikum liess sich vom Gloria „rocken“, spendete enthusiastischen Zwischenapplaus – wie auch zwischen den Sätzen der nachfolgenden Bernstein-Sinfonie. Das war aber auch eine mitreissende, packende und in ihrer immanenten Lebensfreude bewegende Wiedergabe dieser Messe –

gelebter Glaube in Musik UND Ausführung.

Auf dem Podium der fantastisch sicher singende und wunderschön intonierende Tenor Jorge de León und die überragend sauber und mit differenziertem Klang gestaltende Singakademie Zürich (Einstudierung: Andreas Felber) begleitet von acht Musikern: Dem Dirigenten Omer Meir Wellber am Flügel (und kurz auch mal am Cembalo), drei grossartigen Schlagzeugern, einem Kontrabassisten, Sebastián Montes (Gitarre), Daniel Cabaluz (Charango) und Oscar Velásquez (Siku/Queba). Nicht alles ist bis auf die letzte Note notiert in Ramirez' Werk – die Freiheit und die Kunst der Improvisation ist ebenfalls gefragt und wird von den Beteiligten mitreissend musikantisch wahrgenommen. Nur schon der Beginn mit dem leise summenden Chor über welchem sich die herrliche Tenorstimme mit der Anrufung des Herrn erhebt (Señor ten piedad de nosotros) erhielt gerade angesichts der tragischen Ereignisse vom letzten Montag in Berlin eine Gänsehaut erregende Bedeutung. Doch nicht nur Fragen wurden gestellt, es gab auch Antworten in Form von offensichtlicher Lebensfreud, Lust und überschäumender Fröhlichkeit.

So muss Glaube gelebt werden.

Mit dem Glauben beschäftigt hat sich zeitlebens auch der schwule Jude, Komponist, Dirigent und Kosmopolit Leonard Bernstein. In seiner ersten Sinfonie, genannt JEREMIAH, weil Bernstein sich durch die Prophezeiungen des Propheten Jeremias, die Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar und Texte aus den Klageliedern aus dem Buch Jeremia der Bibel bei der Komposition inspirieren liess. Welch eine grandiose Musik ist da zu hören – und einmal mehr stellt man sich die Frage, weshalb es die Komponisten aus den USA (und auch aus Grossbritannien) so schwer haben, sich in Europa zu etablieren. Bernsteins überaus packende Sinfonie steht den Werken eines Schostakowitsch z.B. in nichts nach, weder in den genialen Klangabmischungen, der Dramatik, der Kraft, direkt ins Herz des Zuhörers zu dringen. Mit seinem energiegeladenen, überaus klug, aber auch emotional disponierenden Dirigat von Omer Meir Wellber und dem leidenschaftlichen Spiel des Tonhalle-Orchesters Zürich lieferten die Ausführenden jedenfalls ein restlos überzeugendes Plädoyer für diese Musik.

 

Die Mezzosopranistin

Rachel Frenkel gestaltete die Klagelieder des dritten Satzes mit herrlich zentrierter, unverschnörkelter reiner Tongebung, bruchlos fliessender Stimme und bewegender Gestaltungskraft. Die bedrohlichen, eruptiven Klangballungen des Orchesters erhielten durch die verinnerlichte Kraft des Gesangs eine tröstliche Korrektur – doch wir brauchen mehr als Trost, in Bernsteins eigenen Worten ausgedrückt: “ Der Glaube und Frieden, der sich am Ende von JEREMIAH findet, ist mehr als Trost gedacht denn als Lösung. Trost ist ein Weg, um Frieden zu erlangen, aber er erreicht nicht das Gefühl eines Neubeginns.“

 

Einen etwas hoffnungsvolleren Weg aus der Krise zeigen Bernsteins CHICHESTER PSALMS, seine Vertonung von ausgewählten Psalmen aus dem Alten Testament in hebräischer Sprache. Die Musik erreicht auch hier eine zutiefst beeindruckende Kraft. Das Orchester ist interessant besetzt: Beim Blech fehlen die Hörner, die Holzbläser mussten das Podium nach JEREMIAH verlassen. Dadurch wirkt das orchestrale Fundament direkter, weniger verästelt, auch weniger spätromantisch. Die Botschaft dringt klar durch: Setzt euch gemeinsam an den Tisch, sucht die Eintracht, nehmt Abstand von Zielen, die ihr eh nicht versteht. Die Singakademie Zürich kann all ihre immensen Qualitäten offenbaren, von ätherischer Reinheit und Zurückhaltung zu paradiesischer Schönheit bis zu durchschlagenden Glaubensbekenntnissen. Im zweiten Teil begeistert der Knabensopran von Gianluigi Giosuè Sebastian Sartori mit seiner lichten Stimme. Wunderbar wie der Dirigent Omer Meir Wellber ihn durch sein einfühlsames Dirigat stützt und trägt.

„Siehe, wie fein und lieblich ist's, wenn Brüder einträchtig beieinander wohnen.“ (Psalm 133, Vers 1 in Teil III der CHICHESTER PSALMS)

In diesem Sinne FROHE WEIHNACHTEN!

Kaspar Sannemann 24.12.16

Bilder (c) Sannemann / Deutsche Grammophon

 

 

 

GLAGOLITISCHE MESSE

Konzert am 5.12.2105

Janáčeks Werken im Konzertsaal zu begegnen, stellt stets ein besonderes Erlebnis dar. Wie es der mährische Komponist verstanden hatte, aus kleinstem motivischem Material solch eine faszinierende, packende Wirkung zu entfalten, ist immer wieder aufs Neue begeisternd. Diese Wirkung stellte sich auch gestern Abend anlässlich des (späten) Debuts von Sir John Eliot Gardiner am Pult des Tonhalle-Orchesters Zürich ein – und zwar mit einer Eindringlichkeit sondergleichen. Gardiner eröffnete das Konzert mit Janáčeks Blanik-Ballade: Plastisch erzählend breitete das Orchester den manchmal herb, dann wieder pastoral-lieblich orchestrierten Klangteppich aus, flirrende Streicher über dumpf-rhythmischem Fundament wechselten mit strahlenden Fanfaren des Blechs und entfalteten einen beinahe mythischen Sog, der jedoch nie in spätromantischen Schwulst abglitt, sondern durchaus abrupte Wendungen enthielt, das Ohr überraschten.

Noch deutlicher wurden diese Effekte in der zweiten Konzerthälfte hörbar, einem zentralen Werk aus Janáčeks Oeuvre, der GLAGOLITISCHEN MESSE. Gardiner hatte dazu aus London den von ihm gegründeten Monteverdi Choir mitgebracht – welch ein Klangkörper funkelnder, überragend wuchtiger und dramatischer Stimmgewalt. Die aus acht Sätzen bestehende, in glagolitischer Schrift verfasste Messe wurde in der Interpretation der Ausführenden zu einem tief beeindruckenden, lange nachhallenden Hörerlebnis. Neben dem fantastischen Chor und dem die manchmal herbe und ungewöhnliche Instrumentationsweise des Komponisten grandios spielenden Tonhalle-Orchester beeindruckte auch das Solistenquartett: Luba Orgonášová mit ihrem wunderbar in himmlische Sphären weisenden, sauber geführten Sopran, Pavel Černoch mit seinem schlanken, unforcierten Tenor, Peter Mikuláš mit seinem kernigen Bass und (leider von Janáček mit nur marginalen Einwürfen bedacht) die Altistin Alisa Kolosova. Einen fulminanten, wahrlich unter die Haut gehenden Beitrag zum überwältigenden Gesamteindruck steuerte Peter Solomon bei, welcher mit seinen Orgelsoli gewichtige Akzente setzte. Gardiners Dirigat zeichnete sich durch einen vorwärtsdrängenden, doch nie überhasteten Impetus aus, scheute die zupackenden, naturalistischen Effekte nicht, liess aber auch die transzendentalen Phrasen mit berührender Zartheit aufblühen.

Es tut einem fast leid anzumerken, dass das dritte, zwischen die Kompositionen Janáčeks gestellte Werk, Dvořáks Sinfonische Dichtung DAS GOLDENE SPINNRAD, neben der innovativen Klangsprache Janáčeks fast ein wenig zu konventionell und blass wirkte. In einem anderen programmatischen Kontext hätte diese Komposition aber bestimmt mehr Eindruck gemacht, denn Dvořák spielte darin sehr gekonnt mit dem Chiaroscuro Effekt, die hellen Klänge der königlichen Jagd im Wald (wunderbar die Hornisten des Tonhalle-Orchesters) und das emphatisch aufsteigende Liebesmotiv kontrastierten gekonnt mit den brutalen und dramatischen Episoden der grausigen Geschichte. Sir John Eliot Gardiner und das Tonhalle-Orchester erzählten das Märchen mit fein abgestufter Dynamik und sehr dicht herausgearbeiteter Plastizität (näher kommendes Hufgetrappel der Pferde!).

Das Publikum im gut gefüllten Saal der Tonhalle Zürich zeigte sich zu Recht begeistert und feierte die Ausführenden nach der GLAGOLITISCHEN MESSE mit grossen Ovationen, wobei man einmal mehr konstatieren muss, dass gewisse Leute bereits in das Verklingen des letzten Tons hineinklatschen – das muss gerade bei einem geistlichen Werk nun wirklich nicht sein.

Kaspar Sannemann 17.12.15

 

STRAWINSKY | TSCHAIKOWSKY | PROKOFIEW

Konzert am 13.12.2015

Ja warum auch nicht? Warum sollen die Rituale in klassischen Konzerten immer so sakrosankt eingehalten werden, wie in einer streng regulierten, totalitären Glaubensgemeinschaft? Jedenfalls scherte sich das erfreulich junge und auch erfreulich aufmerksam zuhörende Publikum gestern Abend im Opernhaus Zürich nicht um die beinahe schon „heilige“ Übereinkunft, dass man bei Sinfonien und Solokonzerten nicht zwischen den Sätzen applaudiert, und so brandete sowohl nach dem ersten Satz des Violinkonzerts von Tschaikowsky als auch nach dem Kopfsatz von Prokofiews 5. Sinfonie begeisterter Applaus auf, verschaffte sich die angestaute Spannung Raum und galt sowohl den Ausführenden als auch den Komponisten, welche in ihren Werken die Satzfinali ihrer ersten Sätze so herrlich kulminieren und explodieren liessen.

Einzig das CONCERTO IN D von Igor Strawinsky blieb von Zwischenapplaus verschont, das lag aber beileibe nicht am Spiel der Streicher der Philharmonia Zürich noch am wunderbar die tänzerischen Aspekte herausarbeitenden Dirigat durch Gustavo Gimeno, sondern lag einzig und allein darin begründet, dass Strawinskys neoklassizistischer Stil halt etwas harscher, rauer und weniger emotional effektbeladen daherkommt als die nachfolgenden Werke der Spätromantik und der (sowjetischen) Spät- Spätromantik. Doch wenn man genau hinhört, ist Strawinskys Komposition eine wunderbare Entdeckung: Rhythmisches Staccato, nervös pulsierender Impetus und aparter tänzerischer Gestus der Ecksätze kontrastieren mit arioser Kantabilität des Andantinos.

Danach folgte also das erwähnte Violinkonzert Tschaikowskys: Grossartig, wie es der Dirigent Gustavo Gimeno verstand, die Einleitung kontinuierlich klanglich zu verdichten, dann den Teppich auszulegen für den Einsatz der Solovioline. Baiba Skride und der Klang ihrer Stradivari vermochten vom ersten, feinfühlig intonierten Aufschimmern des Hauptthemas an zu faszinieren, die Geige schien regelrecht zu singen; wie eine grosse Arie stieg das Kopfthema auf und breitete sich mit grandioser Steigerung aus. Glutvolle Emphase, leichtfüssige Variationen, funkelnde Girlanden und Glissandi, Läufe bis in die höchsten Lagen in der halsbrecherischen Kadenz – und dabei hatte man immer das Gefühl, dass sich Baiba Skride regelrecht auf die schwierigsten Stellen freute, sich auch durch ein umher flatterndes, gerissenes Haar des Bogens nie aus der Konzentration bringen liess. Kein Wunder also, dass nach der Reprise Applaus aufbrandete. Wunderbar zart dann das Cantabile des zweiten Satzes, diesem empfindsamen Tor zur russischen Seele Tschaikowskys, auch vom Orchester und dem Dirigenten mit der notwendigen Ruhe und der exquisiten Balance in der Klangabmischung gestaltet. Ja überhaupt das Orchester: Die Philharmonia Zürich spielte wunderbar an diesem Abend, hatte keine Schwierigkeiten mit den zum Teil doch beachtlich zügigen Tempovorgaben des Dirigenten mitzuhalten, auch nicht im entfesselt (aber kontrolliert) daherkommenden, tänzerisch-folkloristischen Schlusssatz dieses Bravour-Konzerts. Selbstverständlich entliess das Publikum Baiba Skride erst nach einer äusserst virtuos und konzentriert vorgetragenen Zugabe.

Im zweiten Teil dieses ganz den (gewichtigen) Russen gewidmeten Konzerts dann die grandiose Sinfonie Nr.5 von Sergej Prokofiew. Ja, die Russen konnten halt auch in der Mitte des 20. Jahrhunderts noch ohne atonalen Formalismus komponieren (wenn auch nicht ganz freiwillig, übte doch das stalinistische Regime einen nicht ganz unerheblichen Druck auf die Kulturschaffenden aus ...). Aber wie dem auch sei, das Ergebnis ist einfach tief beeindruckend. (Und immerhin war Prokofiew nach seinem Aufenthalt in den USA freiwillig in die Sowjetunion zurückgekehrt, er war sich wohl auch dessen bewusst, was ihn dort erwartete!) Es ist einfach begeisternd (auch gefährlich?) sich den Klangmassen zu ergeben (der Zwischenapplaus nach dem ersten Satz lässt grüssen), sich in den Strudel der Rhythmen im Scherzo fallen zu lassen, die Blechsalven, die aggressiven Pizzicati, die mitreissenden Attacken des Schlagwerks auf sich wirken zu lassen. Fantastisch baute Gimeno die extensiven Klangschichtungen auf, wobei er darauf bedacht war, den Klang nie bloss lärmig werden zu lassen. Obwohl dies sein Debüt am Opernhaus Zürich war (hoffentlich folgen weitere Auftritte!), schien er sich der nicht unproblematischen Akustik des Hauses voll bewusst zu sein.

Mit tänzerischen Rhythmen (manchmal auch etwas sperrigen) von Strawinsky hatte das Konzert begonnen, mit der furiosen, sprühenden Rhythmik Prokofiews fand es seinen umjubelten Abschluss.

Kaspar Sannemann 17.12.15

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