STAATSOPER PRAG
Státní opera Praha
„ERSTES FESTIVAL MUSICA NON GRATA“
(Alexander Zemlinsky)
Tschechische Staatsoper – 8-10. 10. 2021
Anfang einer neuen Ära in Prag mit „verbotener Musik“ und der Uraufführung des Opernfragments „Malva“ von Alexander Zemlinsky
Die Tschechische Staatsoper vor der Generalsanierung. Jetzt wird man in der zentralen Loggia begrüßt durch Goethe, Schiller und Mozart (mit Büsten, die man in anderen Fellner & Helmer-Theatern wiederfand). (© Narodny Divadlo)
Eine neue Ära beginnt in den drei Prager Opernhäusern. Nachdem diese in den schwierigen Jahren nach der Wende zu „Ausstattungstheatern“ verkommen waren, wo sich die Touristen hauptsächlich die wunderschönen Räumlichkeiten anguckten, wurde auf Regierungsebene eine große Reform eingeleitet. Als erstes wurden/werden die drei Häuser seit 2012 „generalsaniert“. Das alte kleine Barocktheater in der Stadtmitte, heute „Ständetheater“, in dem Mozarts „Don Giovanni“ und „La Clemenza di Tito“ 1787 und 1791 uraufgeführt wurden, erstrahlt jetzt innen in neuer Pracht und mit der Außenfassade wird man dieses Jahr wohl fertig werden. Das ehemalige Tschechische Nationaltheater, heute „Nationaltheater“, das Vier-Sparten-Haus am Ufer der Moldau (mit der Laterna Magika in der angebauten „Neuen Szene“), wurde nur von außen restauriert, da der Spielbetrieb nicht eingestellt werden konnte/sollte während der Sanierung der anderen beiden Bühnen. Und last but not least die Tschechische Staatsoper. Der wunderschöne Bau von Fellner & Helmer neben dem Bahnhof, 1888 als „Neues deutsches Theater“ eröffnet, wurde vorbildlich restauriert - worüber wir im Merkerheft 2/2020 schon berichtet haben. Doch leider musste kaum ein Monat nach der feierlichen Eröffnung der Vorhang Pandemiebedingt schon wieder geschlossen werden - bevor er nun erst richtig wiederaufgeht.
Erst jetzt kann man ermessen, was diese Generalsanierung der Prager Opern wirklich bedeutet. Denn die drei Häuser wurden inzwischen zusammengelegt und bekamen einen neuen künstlerischen Direktor, der ihnen eine erkennbare Identität (wieder)geben soll. Der erfahrene Per Boye Hansen besann sich auf die goldenen Jahre des Prager Opernlebens vor dem Zweiten Weltkrieg und möchte nun wieder anknüpfen mit dem, was damals in Prag alles geleistet wurde. Und das ist viel mehr als heute allgemein üblich bekannt. In Merker-Kreisen kennt man vor allem den Namen des ersten Direktors der Tschechischen Staatsoper, Angelo Neumann, der als Operndirektor in Leipzig 1878 den ersten externen „Ring des Nibelungen“ auf die Beine stellte und mit dem „Reisenden Richard Wagner-Theater“ durch Europa tourte, was er ab 1888 weiter mit seinen Wagner-Produktionen aus Prag tat (bis zu seinem Tode 1910). Sein Nachfolger an der Tschechischen Staatsoper von 1911 bis 1927, Alexander Zemlinsky (1871–1942), hat nicht weniger Interessantes geleistet - was jedoch viel weniger bekannt ist. So waren Zemlinskys Mozart-Dirigate legendär – sogar Igor Strawinsky hat rückblickend davon geschwärmt! Seine eigenen Opern hat er nicht in Prag dirigiert & uraufgeführt – dafür war er zu bescheiden. Aber er hat wohl die Türen seines Opernhauses weit für seine damaligen Kollegen geöffnet. So dirigierte Zemlinsky u. A. die Uraufführung von Arnold Schönbergs „Erwartung“ 1924 und viele Opern von Paul Hindemith, Erich
Wolfgang Korngold, Ernst Krenek und Franz Schreker.
Wiederentdeckung Zemlinskys an der Tschechischen Staatsoper zu seinem 150. Geburtstag. Das Wiener Wunderkind wurde viel weniger bekannt als seine Zeitgenossen und gab sich selbst die Schuld dafür: „Man ist an seinem Schicksal immer selbst schuld – letzten Endes; oder unschuldig schuldig wenigstens. Mir fehlt sicherlich das gewisse Etwas, das man haben muss – und heute mehr denn je – um ganz nach vorne zu kommen. In einem solchen Gedränge nützt es nichts, Ellbogen zu haben, man muss sie auch zu gebrauchen wissen.“
(© Narodny Divadlo)
Das erste Festival „Musica non grata“
Um bei diesem rühmlichen aber leider vergessenen Kapitel der Tschechischen Staatsoper anzusetzen, startet Per Boye Hansen mit dem Musikwochenende „Musica non grata“. Nicht als einmaliges „Eröffnungskonzert“, sondern als ein hoch ambitioniertes Festival, das auf vier Jahre geplant ist. Um ein so großes Projekt auf die Beine zu stemmen, bekam er die Unterstützung von Markus Klimmer, der als „österreichischer Politikberater“ des deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier offensichtlich dazu beitrug, dass die deutsche Botschaft in Prag dieses Festival nun mit 4 Millionen Euro unterstützt. Klimmer kommentierte dies diskret in einem Pausengespräch: „Mit Musik kann man etwas erreichen, was die Politik mit den Mitteln der Diplomatie oft nicht schafft.“ Wir gratulieren zu diesem Erfolg, von dem nun die ganze Oper profitiert! So konnte Per Boye Hansen ein internationales Team von Musik-Spezialisten nach Prag einladen für ein Festival, das er in seiner Eröffnungsrede so definierte: „Musica non grata widmet sich der Rekonstruktion des reichen Tschechisch-deutsch-jüdischen Musiklebens in Prag, das 1938/39 mit der Okkupation durch die Nazis zum Erliegen kam. Auch Zemlinsky ist hier einzuordnen. Er war gebürtiger Jude und eine Persona non grata in den Augen der Nazis. (…) Heute ist Zemlinsky vor allem für seine Opern bekannt. In den nächsten Tagen werden Sie ihn aber auch von einer anderen Seite erleben. Es erwarten Sie insgesamt 5 Konzerte: Kammermusik, Gesang, Experimentelles und Klassisches. Oper, Konzert und eine kleine Sensation. Denn es kommt nur selten vor, dass man bei einem so bekannten Komponisten wie Zemlinsky noch auf unbekannte Werke stoßen kann. Hier ist es aber der Fall: Es wird erstmals sein Opernfragment „Malva“ erklingen, das Antony Beaumont rekonstruiert hat – eine Weltpremiere! Insgesamt wollen wir Zemlinskys Musik im Kontext ihrer Zeit präsentieren. So werden wir seine Werke mit der Musik von Zeitgenossen konfrontieren, die ihn besonders prägten. Das sind zum Beispiel Johannes Brahms und Alban Berg. Aber auch Arnold Schönberg, der Schwager von Zemlinsky, und Wolfgang Amadeus Mozart.“
Dr. phil. Kai Hinrich Müller von der Hochschule für Musik und Tanz in Köln stellte ein musikalisch hochinteressantes Programm zusammen, das überraschender Weise mit dem Trio für Klarinette, Klavier und Violoncello a-Moll op. 114 von Johannes Brahms (1891) anfing. Denn Brahms – und nicht Gustav Mahler – war das erste Vorbild des damaligen Wiener Wunderkindes Zemlinsky, der 1884 schon mit 13 Jahren im „Konservatorium“ (damals im Wiener Musikverein) aufgenommen wurde. Zemlinsky galt zuerst als „Brahmine“ und gewann als solcher seine ersten Sporen: Musikwettbewerbe, Stipendien und auch Dank Brahms den Druck seines wohl populärsten Kammermusikwerks, das Klarinettentrio d-Moll op. 3 (1896), das nun passend gleich nach Brahms gespielt wurde. Im Januar 1900 – Zemlinsky war nur 19 Jahre alt! - folgte schon sein Debüt als Opernkomponist an der Wiener Staatsoper (damals Hofoper) mit „Es war einmal“, durch Gustav Mahler en personne dirigiert. Anscheinend spielte bei diesem Kometenaufstieg auch eine gewisse Alma Schindler eine Rolle, die sich leidenschaftlich bei Mahler für ihren Klavier- und Kompositionslehrer Zemlinsky einsetzte (der ebenfalls leidenschaftlich in sie verliebt war). - Bevor sie die Fronten wechselte und sich kurzentschlossen mit Mahler vermählte (wozu später mehr bei „Malva“). Zu den 14 Werken (8 von Zemlinsky, 5 von seinen Zeitgenossen Alban Berg & Arnold Schönberg und 1 von Mozart) sei gesagt, dass diese Gegenüberstellung in 5 Konzerten – von „Konfrontation“ kann hier keine Rede sein – unerwartete „Höreinblicke“ verschaffte. Denn wer hätte gedacht, dass Mozarts „progressivstes Quartett“ (so Kai H. Müller), das sogenannte „Dissonanzen-Quartett“ KV 465 (1785) ein ganz logischer Vorläufer sein könnte von Zemlinskys klassischem 3. Streichquartett op. 19 (1924), das während seiner Zeit in Prag entstand und zum Andenken an seine Schwester Mathilde geschrieben wurde (inzwischen die Frau seines nur 3 Jahre jüngeren Schülers Schönberg).
Die Sopranistin Štěpánka Pučálková in den „Sechs Gesängen“ nach Gedichten von Maurice Maeterlinck vor dem ursprünglichen Eisernen Vorhang aus 1888 (der nun nach alten Fotos wieder neu gemalt wurde). (© Serghei Gherciu)
Uraufführung des Opernfragmentes „Malva“
Diese ganzen familiären und emotionellen Verstrickungen erklären die Entstehung von „Malva“ und warum diese Oper nie zur Aufführung kam. Antony Beaumont, der unbestrittene Zemlinsky-Spezialist par excellence (seine 2005 bei Zsolnay in Wien erschienene Zemlinsky-Biografie gilt als das Standartwerk), konnte in zwei Vorträgen wunderbar darüber berichten. - Auch weil er eine vielbeachtete Neuauflage von Mahlers Briefen verlegt hat (mit 188 Briefen & Dokumenten die Alma zensiert oder ganz gestrichen hatte). Nur kurz dazu: Der sehr belesene und aufgeschlossene Zemlinsky hat die Novelle des damals kaum bekannten Maxim Gorki schon 1901 gelesen als er leidenschaftlich in seine Schülerin Alma verliebt war, die am 9. März 1902 den 19-Jahre älteren Gustav Mahler heiratete. In Gorkis Erzählung geht es um eine ähnliche Dreiecksbeziehung einer Frau zwischen einem jungen und einem älteren Mann – sei es in ärmlichsten Verhältnissen auf dem Lande, bzw bei armen Fischern. Dies sei der Grund, dass Mahler ein „non placet“ gab für eine Oper mit einem solchen Thema. Dafür aber wohl grünes Licht für Zemlinkys „Traumgörge“, der auch im Oktober 1907 beinahe an der Wiener Staatoper uraufgeführt wurde. – Bis Mahler seinen Posten in Wien aufgab und sein Nachfolger Felix Weingartner die schon geprobte Premiere kurzerhand annullierte. Erst im Sommer 1912 nahm Zemlinsky, inzwischen schon Operndirektor in Prag, die „Malva“-Partitur mit auf die Ferien, wo sich wieder ein Dreiecks-Drama abspielte, aber jetzt mit seiner Schwester Mathilde, die nach dem Tod ihrer Mutter einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte, und mit seinem Schwager Arnold Schönberg. Aus dem Ferienhaus „Concordia“ in Usedom wurde so Beaumont ein „Haus Discordia“, wo Zemlinsky seinen Emotionen auf dem Notenblatt freien Lauf lassen konnte. Doch danach war die Partitur emotionell für ihn doppelt belastet und hat er die Arbeit anscheinend nie wieder aufgenommen. Als Operndirektor in Prag hatte er sowieso mehr als genug zu tun und bald darauf brach der erste Weltkrieg aus. Erst 80 Jahre später, als Antony Beaumont 1993 Zemlinskys unvollendete Oper „Der König Kandaules“ fertigstellte, stieß er in den Zemlinsky-Archiven in Washington auf viele lose Blätter. Auf Bitten des Zemlinsky-Fonds in Wien kehrte er im Februar 2020 zurück in die Library of Congress, um diese „unidentified sketches“ näher zu betrachten und konnte 39 Notenseiten „Malva“ zuordnen, wovon 13 teilweise oder völlig durchgestrichen waren. Die ersten 26 Seiten formen quasi den ganzen 1. Akt, von der Orchestereinleitung bis zum Schlusstrio, mit nur einigen kleinen (musikalischen) Lücken, die durch zwei gesprochene Szenen überbrückt werden. Da Antony Beaumont wie kein Anderer mit Zemlinskys Tonsprache vertraut ist, konnte er aus diesem unvollendeten Particell eine Orchesterpartitur herstellen. Eine beachtenswerte Leistung!
Als Abschluss Zemlinskys „Lyrische Symphonie“: Es wirkte so, als ob Michael Nagy (rechts) Zemlinsky (Foto hinten) aus der Seele sang - auf der Bühne des Theaters, wo er sein heute meist gespieltes Werk komponiert hat. (© Serghei Gherciu)
Trotz dieser riesigen dramaturgischen Vorarbeit gab es leider (Pandemiebedingt?) kein Programmheft mit dem Libretto, nicht einmal einen vagen Handlungsablauf mit dem man sich orientieren konnte. (Nur einen kleinen Besetzungszettel mit zwei Artikeln von Kai Hinrich Müller und Antony Beaumont aus denen ich jetzt zum Teil zitiere). Aber zum Glück sangen alle drei tschechischen Sänger ein textverständliches Deutsch und sind wir mit der Ton-, Sprach- und Gedankenwelt Zemlinskys so vertraut, dass wir folgen konnten warum es ging. Jiří Hájek sang eindrucksvoll die Rolle des Vaters (Fischers) Wassili, der nicht ohne Sorge sieht wie Malva (Jana Sibera) mit seinem Sohn Jakob liebäugelt, der natürlich ein Tenor ist (Josef Moravec). Sie tut dies mit Wassermotiven, so wie in Zemlinskys ungefähr zeitgleicher Orchestersuite „Die Seejungfrau“ (1902/3). Karl-Heinz Steffens dirigierte entsprechend fließend das Orchester und den Chor der Tschechischen Staatsoper, die uns jedoch in zwei anderen Werken mehr überzeugten. Das waren zuerst die viel zu selten gespielten, wunderbaren „Sechs Gesänge“ (Opus 13, 1910 und danach 1913 orchestriert) nach Gedichten von Maurice Maeterlinck (auf deutsch übersetzt). In Konzertsälen hört man sie manchmal zusammen mit Liedern von Gustav Mahler (in der Fassung für großes Orchester aus 1924), in diesem Umfeld & Kontext wären die noch seltener gespielten Lieder von Alma Mahler vielleicht angebracht gewesen? (Ihr Lied „Licht in der Nacht“ hätte wunderbar dazu gepasst!) Die aus der Dresdener Semper-Opern eingeflogene Mezzo-Sopranistin Štěpánka Pučálková sang wunderbar. Erstaunlich leicht und ohne das große Vibrato, mit dem man öfters diese Lieder unnötig „einnebelt“. Als Abschluss und für uns auch als musikalischen Höhepunkt gab es Zemlinskys „Lyrische Symphonie“ (Op. 18, 1922/23), eine Lied-Symphonie nach indischen Gedichten von Rabindranath Tagore und durchaus vergleichbar – so Zemlinsky selbst - mit Mahlers „Lied von der Erde“ (nach chinesischen Gedichten). Nur viel persönlicher, denn hier geht es deutlich um Zemlinsky selbst: seine Träume, seine Sehnsüchte, seine nie gestillte Sehnsucht - bis hin zum ersehnten „Liebestod“. Der deutsche Bariton (mit ungarischen Wurzeln) Michael Nagy sang diese Texte mit großem Können und vor allem einer solchen Verinnerlichung, dass man das Gefühl hatte, er sänge Zemlinsky aus der Seele und dieser stünde nun vor uns auf der Bühne des Theaters, wo er sein heute meist gespieltes Werk komponiert hat. Ein wunderbarer Abschluss, ein Geschenk für das Publikum und natürlich für Zemlinsky, der am 14. Oktober 150 Jahre alt geworden wäre.
„Malva“, eine Uraufführung als Geschenk zu Zemlinskys 150. Geburtstag. (© Serghei Gherciu)
Zukunftspläne mit seltenen Werken und Komponistinnen
Im November geht es gleich schon weiter mit Arnold Schönbergs „Erwartung“ – Zemlinsky dirigierte 1924 die Uraufführung in Prag – zusammen mit „Die sieben Todsünden“ von Kurt Weill. Im März und Mai 2022 folgen Franz Schrekers „Der ferne Klang“ – seit Zemlinskys Dirigat in 1920 nicht mehr in Prag gespielt - und Erwin Schulhoffs Oper „Flammen“ in der ursprünglichen tschechischen Fassung der Uraufführung 1932 in Brno (Brünn) – auch seitdem nicht mehr in Tschechien gespielt. Und in der nächsten Spielzeit Zemlinskys wenig bekannte „Kleider machen Leute“, eine „Musikalische Komödie“, die anscheinend mit jungen tschechischen Modedesignern auf einem Catwalk inszeniert werden soll. Das nächste Festival „Musica non grata“ wird kommenden Herbst vergessenen Prager Komponistinnen aus den 1920/30er Jahren gewidmet werden. Kein Zweifel: eine neue Ära beginnt an der Prager Oper! Waldemar Kamer
Weitere Infos: www.musicanongrata.com
Homepage der Tschechischen Staatsoper: www.narodni-divadlo.cz
Partitur von „Malva“ auf der Homepage des Ricordi Verlags in Berlin
MEFISTOFELE
am 29.5.2015
Einer der wichtigsten Beiträge Arrigo Boitos zum Opernuniversum ist neben den genialen Libretti für Verdi zweifellos seine “Faust”-Oper, für die er natürlich auch das Libretto selbst verfasste. Er hat aus dem Goethe-Drama sowohl Szenen aus dem 1. wie aus dem 2. Teil verarbeitet und daraus ein kompaktes 3-stündiges Werk gemacht. Die Prager Aufführung hat einen Aspekt, der diese “Faust”-Version auszeichnet, besonders deutlich zur Geltung gebracht: Faust ist hier weniger der lebensmüde Denker als der Idealist, der die Welt verbessern will – mit Gottes Hilfe. Nicht umsonst besingt der Chor der Engel zu Beginn und am Ende der Oper im “spazio immenso” Gottes “supremo amor” – vom Chor der Staatsoper Prag (Leitung: Martin Buchta, Adolf Melichar) incl. Kinderchor (Zdena Součková) mit voller Überzeugunskraft dargeboten. Bis der Teufel sich zu Wort meldet…Der Idealismus des einen ebenso wie die Zerstörungssucht des anderen fesselten an diesem Abend dank hervorragender Sänger. Warum ich mit Kollegin Habermann gerade diese Aufführung besuchte? Die beiden männlichen Hauptrollen waren mit zwei Sängern besetzt, die wir auch schon im Merker-Kunstsalon zu Gast hatten und deren Karriere wir seither mit besonderem Interesse verfolgen.
Der großartige Mefistofele dieses Abends hat es seit seinem Auftritt bei uns im Jahre 2001 als Schüler von Jewgeni Nesterenko, die damals zusammen die Szene König Philipp-Großinquisitor gestalteten, bis an die Met, die Mailänder Scala und Wiener Staatsoper (Philipp, Komtur, Banco, Raimondo) grabracht. Und unser Tenor (demnächst wieder bei den Weikersdorfer Schlosskonzerten in Baden zu hören) singt ein breites Repertoire vom großen italienischen Fach bis zum Lohengrin und trat u.a. an der Deutschen Oper Berlin als Aeneas in den “Trojanern” auf. Der slowakische Bassist Štefan Kocán hat die Titelrollenehren mehr als gerechtfertigt. Groß, schlank und fesch, konnte er – ohne viel Maske –allein durch seine Erscheinung den Verführer glaubhaft machen. Wie er sich mit schwungvoller Eleganz den goldenen Mantel um die Schultern wirft, wie er den weißen Luftballon, der die Welt darstellen soll, mit einer langen Nadel ansticht – “Ecco il mondo!” – oder sein diabolisch-zufriedenes Grinsen, wenn er den verzweifelten Faust auf einem Seziertisch wie eine Leiche abserviert – das war echt teuflisch. Von aggressiver Härte bis zu verschlagenen, gehauchten Bosheiten brachte seine schwarze, aber auch geschmeidige Stimme alle Nuancen zum Ausdruck. Der aus Rumänien gebürtige Daniel Magdal mit seinem nicht nur kraftvollen und höhensicheren, sondern auch interessant timbrierten Tenor vermochte die weitgespannten Visionen und Intentionen des Faust ebenso Klang warden zu lassen wie Liebe und Verzweiflung. Sein vielsagender Gesichtsausdruck trägt zu einem überzeugenden Rollenporträt bei. Auch Alžbĕta Poláčková sang mit ihrem schönen lyrischen Sopran eine berührende Margherita. Traumhaft schön ihr Duett mit Faust “Lontano, lontano…” in einem bereits von der irdischen Welt abgehobenen Piano. Eine auffallend schöne Simme hörten wir vom jungen Tenor Martin Šrejma als Wagner und Nereo. Solide die Ensemblemitglieder Jana Sykorová als Marta, Jitka Svobodová Sylva Čmugrová als Panthalis.
Einen großartigen Dirigenten lernten wir in Marco Guidarini kennen. Mit derart klarer Zeichengebung kann nur ein optimales Resultat erzielt warden. Mit viel Energie und Feingefühl gibt der italienischehe Maestro nicht nur Einsätze, sondern deutliche Vorgaben, wie die Musik zu klingen hat bzw. was sie zum Ausdruck bringt. Die Übereinstimmung von Graben und Bühne versteht sich von selbst. Mit Totaleinsatz dankte ihm das Orchestr Státni opery. Über die Inszenierung wurde bereits im “Merker” 4/2015 berichtet.
Sieglinde Pabigan 1.6.15 (Merker-online)
Bilder: Staatsoper Prag
Opernfreund-CD-Tipp
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