Jeder hat ein Recht auf seine Meinung
Lise Lindstrom, Amerikanerin mit skandinavischen Vorfahren, hat laut lobender Kritiken in aller Welt „Silber Laser“ in der Stimme und wird an den berühmtesten Opernhäusern der Welt zu den weltbesten Interpretinnen der Turandot gezählt. Nur bei der Wiener Premiere gab es für sie (und das ganze Team) keinen Erfolg. Mit großer Offenheit ist sie bereit, auch darüber zu sprechen
Frau Lindstrom, es wäre eine dumme Frage, wie man sich nach einem Sturm von Buh-Rufen fühlt. Fragen wir also lieber: Wie geht man damit um?
Keine Frage, es tut weh, es schmerzt. Es war ein Schock, als ob mich jemand mit kaltem Wasser überschüttet hätte. Es ist doch klar, dass kein einziger von uns auf die Bühne geht, um eine schlechte Leistung abzuliefern. Das Publikum kann davon ausgehen, dass unsere Absicht darin besteht, das absolut Beste zu geben. Wenn das nun jemandem nicht gefällt – und jeder hat ein Recht auf seine Meinung -, dann kann er es sagen. Er kann es in Foren diskutieren, er kann mir auch gerne über die sozialen Medien schreiben. Aber die Brutalität dieses feindseligen Geschreis sollte in der Kunst keinen Platz haben. Es ist, nennen wir es doch beim Namen, eine Grausamkeit.
Zieht man irgendwelche Konsequenzen aus einem solchen Schock?
Ich habe mich nicht nur gefragt „Was ist das?“, als ich die Missfallenskundgebungen hörte, sondern auch: „Was mögen sie nicht?“ Dass ich nicht Nilsson oder Stemme oder Marton oder Ghena Dimitowa bin und auch nicht sein will? Die Leute hören zuhause CDs, bilden ihre Erwartungen und wünschen, dass man dann auf der Bühne so klingt, wie sie es im Ohr haben. Das ist nicht möglich. Ich habe mich wirklich selbst in Frage gestellt und überlegt, ob an meiner Turandot etwas nicht stimmt. Aber ich liebe meine Turandot, die ich schon durch so viele Inszenierungen getragen habe, und ich kann nur sagen, wenn jemand meine Stimme oder Interpretation nicht mag, tut es mir sehr leid, aber das kann ich leider nicht ändern. Aber mir selbst sage ich, dass mir jede Erfahrung etwas bringt – auch eine negative.
Frau Lindstrom, Sie singen die Turandot seit 13 Jahren, in mehr als 130 Aufführungen, das macht gut und gern über 20 verschiedene Inszenierungen. Haben Sie die eisige chinesische Prinzessin je als Blondine gespielt wie hier in Wien – denn natürlich ist auch die Optik Konzept?
Nein, tatsächlich – aber ich glaube, das kam einfach so, dass Herr Marelli meine echten Haare sah, und die sind einfach skandinavisch blond, und dass ihm das zu seinem Konzept gepasst hat, vor allem dazu, aus dieser Prinzessin eine ganz normale Frau zu machen, die dann am Ende von ihrem Prinzen ganz bürgerlich eine Rose überreicht bekommt… Ich muss übrigens sagen, dass ich noch in keiner Inszenierung einen so schönen Moment erlebt habe wie jenen, wo Calaf sieht, wie arm und hilflos Turandot ist und ihr seinen Mantel um die Schulter legt, um sie zu beschützen.
Das Internet hat auch sein Gutes, man kann von Ihnen Turandot-Fotos in allen möglichen Inszenierungen finden, und tatsächlich sehen Sie immer komplett anders aus – konventionell „chinesisch“ an der Met oder gänzlich ungewöhnlich in einem riesigen Mantel in Sydney…
Ja, und das macht es natürlich auch interessant, dass man jedes Mal in eine andere Inszenierungswelt eintritt, das hält die Figur für einen selbst frisch. Besonders schön und schwierig war es in London, mit schwarzem glatten Haar, weiß geschminktem Gesicht, wie eine Geisha, und der absoluten Unbeweglichkeit, die der Regisseur etwa bei „In questa reggia“ verlangte – und das bei mir, die ich ein Mensch bin, der sich immer bewegt und bewegen will, ob privat oder auf der Bühne! („I am a physical person.“)
Neulich gab es eine Diskussion darüber, dass man diese schweren Partien eigentlich erst relativ spät singen sollte, während Sie vermutlich noch keine 30 waren, als Sie Ihre erste „Turandot“ angingen. Und natürlich seither immer gerade nach dieser Rolle gefragt werden, weil es dafür relativ wenige Interpretinnen gibt. Besteht da nicht die Angst, sich die Stimme zu ruinieren?
Ich habe mich mit Lehrern und Agenten für dieses Fach entschlossen, und wenn man bedenkt, dass die meisten Sängerinnen die Turandot lieber am Ende ihrer Karriere singen und dann nur für ein paar Jahre, dann halte ich es ja doch schon weit über ein Jahrzehnt mit ihr aus. Ich singe ja nicht nur ebenso Salome, sondern neuerdings auch die Elektra und bereite mich auf meine erste Färberin vor. Und ich habe in Palermo die Walküren-Brünnhilde gesungen und werde im November / Dezember erstmals alle drei Brünnhilden im „Ring“ in der Opera Australia in Melbourne singen. Das liegt sowohl meiner Stimme und entspricht meinen Wünschen, das sind die Rollen, die mich interessieren. Und wenn ich sage, Turandot ist ein „Sprint“, dann ist Brünnhilde ein Marathon…
Das deutsche Fach, in das Sie jetzt verstärkt hineingehen, unterscheidet sich doch sehr von Puccini…
Selbstverständlich, ich würde sagen, Wagner und Strauss sind eine ganz andere musikalische Landschaft. Die Umstellung von Turandot muss man technisch und mental vollziehen. Puccinis Musik ist für Turandot so aggressiv, alles mindestens mezzaforte, wenn nicht forte, und die Stimme muss groß und laut sein, um das Orchester zu übertönen. Bei Strauss und Wagner wird man viel mehr vom Orchester getragen, man reitet in den Wogen, man geht in sie hinein… man gibt sich dem Komponisten hin. Da lässt man sich selbst ganz hintan und findet sich im Klang wieder. Es gibt beispielsweise viele Strauss-Rollen, die ich gerne singen würde und die kaum je am Repertoire stehen wie die Ägyptische Helena, ein verrücktes Stück…
Aber den, sagen wir, „konventionellen“ Strauss wie den „Rosenkavalier“ könnten Sie sich nicht vorstellen?
Ich beschäftige mich sehr mit Sängern von früher, darum bewundere ich auch Maria Callas so sehr. Aber wenn eine Elisabeth Schwarzkopf und, eine Generation danach, eine Renée Fleming eine solche Erfüllung für die Marschallin waren und sind, dann denke ich mir, dass ich nicht weiß, was ich noch dazu beitragen könnte. Wenn ich hingegen in Hamburg unter Nagano meine erste Färberin singen werde, glücklicherweise in einer Neuinszenierung, dann erhoffe ich mir etwas davon. Ich habe übrigens auch in Hamburg meine erste Elektra gesungen, damals bin ich ins Repertoire hineingesprungen, für diese Partie in nur sechs Tagen, und ich hätte es nie geschafft, wäre da nicht Simone Young gewesen, die mir ihre Kraft gegeben und immer wieder versichert hat: „Ich trage Dich…“
Wie lange lernen Sie etwa an einer Partie wie Brünnhilde und orientieren Sie sich da auch an Vorbildern?
Das Verrückteste, was ich je gemacht habe, war in Griechenland, da war ich als Venus engagiert, die Sängerin der Elisabeth fiel aus, es war absolut kein Ersatz zu finden, da habe ich die Rolle in vier Tagen gelernt. Aber das ist natürlich nicht wünschenswert. Die Brünnhilden, alle drei, lerne ich schon seit 2011, denn ich sollte schon 2013 in Palermo einen ganzen „Ring“ singen, aber dann ging ihnen das Geld aus, und so wurde es nur die „Walküre“. Als die weiteren Opern auf den Spielplan kamen, war ich terminlich nicht mehr frei. Aber wenn es nun 2016 alle Brünnhilden werden, dann lerne ich schon fünf Jahre daran mit Lehrern und Korrepetitoren, die auch dafür spezialisiert sind. Wagner ist etwas so Wunderbares, und wenn ich denke, damit werde ich mich jetzt den Rest meines Lebens beschäftigen, so ist das eine erfüllende und aufregende Erfahrung – und sie wird mich nie enttäuschen und nie zu Ende sein. Und was die Vorbilder betrifft – ja, ich höre Nilsson zu, Varnay, Jones, das sind so große Künstlerinnen, da kann man nur lernen.
Als Sie in Wien als Salome debutierten, hat Gwyneth Jones – die ich persönlich besonders geliebt habe, vor allem als Brünnhilde im Chereau-Ring – die Herodias gesungen, und das hat mich sehr geschmerzt und ich hatte das Gefühl, das sollte sie nicht tun…
Für mich war es eine große Ehre, mit Gwyneth Jones meine erste Salome in Wien zu singen. Und viele verstehen nicht: Auf der Bühne zu stehen, das ist wie eine Droge, davon kann man nicht so leicht lassen. Für mich ist es der Ort, wo ich mich am wohlsten fühle, wenn ich mich in eine Rolle verliere. Ich komme auch aus einer Welt, wo es einfach das Höchste war, Künstler sein zu dürfen, so dass man dafür ganz selbstverständlich jegliche Opfer bringt. Auch wenn das Privatleben darunter leidet. Aber man ist glücklich, denn jede Münze hat zwei Seiten. Ich habe mich einmal in meinen Twitter Account als „What a lucky diva“ bezeichnet. Da schrieb mir jemand, wieso sind Sie lucky, wenn Sie doch für diese Karriere so unendlich viel arbeiten mussten. Das stimmt, und trotzdem hätte ich in meinem Leben nicht glücklicher werden können als in diesem Beruf.
Sie sind unglaublich viel unterwegs, wenn man sich Ihren Kalender ansieht, wo leben Sie eigentlich?
In San Francisco, und das ist eine Stadt, wo man seine körperlichen Kräfte stählen kann. Ich wohne hoch auf einem Hügel, wenn ich ins Kaffeehaus gehe, wandere ich bergab – und nachher wieder die steilen Straßen hoch, da bleibt man schon in Übung. Und dort sind dann auch viele Menschen, ohne die ich nicht sein könnte und wollte, und dort komme ich dann auch dazu, viel zu lesen… immer wieder übrigens Bücher über Richard Wagner. Als ob man dem „Ring“ je auf den Grund kommen könnte!
Ich bedanke mich für dieses Gespräch, auch in der Hoffnung, dass Menschen, die Künstler einfach gedankenlos „niederbuhen“, sich vielleicht einmal überlegen, was sie da tun…
Renate Wagner im Gespräch mit der Künstlerin / 4.5.16
Fotos: Barbara Zeininger