MARKO LETONJA
Die Wahrung der Gestalt
Im Rahmen der aktuellen Neuproduktion des „Parsifal“ an der Opéra National du Rhin Straßburg sprach unser Redakteur Dirk Schauß mit dem musikalischen Leiter, Marko Letonja, der zugleich Musikchef des Straßburger Orchesters ist.
Das Gespräch fand eine Stunde vor Beginn der „Parsifal“ Vorstellung statt und bietet spannende Einblicke in Letonjas künstlerische Arbeit.
DS:
Das ist Ihr erster „Parsifal“, das ist die dritte Vorstellung heute Abend.
Sie haben bereits Wagner-Erfahrung, haben u.a. den „Ring“ mehrfach dirigiert.
War der „Parsifal“ immer ein Wunsch von Ihnen?
ML:
Jein! Der Wunsch „Parsifal“ zu machen, den hatte ich schon, jedoch nicht in einer solchen Akustik, wie hier. Es ist das Werk, das für Bayreuth geschrieben wurde. Und es benötigt eine besondere Akustik.
Wir haben hier eine trockene Akustik, was nicht ideal ist und dazu noch ein viel zu kleiner Orchestergraben. Normalerweise würde das Stück mit acht Kontrabässen aufgeführt, bei uns sind es lediglich vier Bässe und nur 12 erste Geigen. Wir haben jeden Zentimeter ausgenutzt, damit wir so viele Musiker wie möglich unterbringen. Aber es hat einen Einfluss auf den Klang und die Balance.
So habe ich mir große Gedanken gemacht, wie ich das Orchester aufstelle. So sitzen alle Holzbläser und die Hörner an meiner rechten Seite. Und alle Streicher sitzen auf der linken Seite, wo normalerweise die Holzbläser sitzen würden.
Ich hatte große Angst, dass der Streicherklang nicht optimal klingt, aber das Ergebnis war dann doch besser als erwartet. Und zuvor hatte ich diese Aufstellung als wir hier „Walküre“ und „Götterdämmerung“ gespielt haben. Der Klang sollte etwas runder sein, weniger trocken. Und wir versuchen wirklich alles, auch die Technik, damit der Klang optimal ist. So singt der Kinderchor live im Chorsaal und wird dann direkt ins Opernhaus übertragen.
DS:
Sie wissen ja, bei kaum einen anderem Werk Wagners sind die Tempi des Dirigenten derart im Zentrum des Interesses. In Bayreuth werden alle Zeiten dokumentiert. Wir wissen beide, dass einer Ihrer Lehrer, Otmar Suitner, einer der schnellen Dirigenten beim „Parsifal“ war. Bei ihm dauerte die gesamte Oper ca. 3h 36Min.
Wie halten Sie es mit dem Tempo?
ML:
Bisher liege ich mit den Vorstellungen bei 3h 45Min. bis 3h 50Min. Es gab also keine gravierenden Tempounterschiede, worüber ich mich freue. Es zeigt mir, dass ich bereits jetzt eine Konstanz in mir trage, obwohl ich das Werk vorher nicht dirigiert habe. Es ist auch eine Frage des musikalischen Konzeptes und der Leitmotive. Daraus ergeben sich Relationen, die kaum zu verfehlen sind. Aber wenn ich als Gegenpole Toscanini und Suitner in den Tempi nehme, ich glaube, Toscanini war der langsamste Dirigent bei „Parsifal“......
DS:
Es gibt noch einen, der langsamer war!
ML:
Ach wirklich?
DS:
Ja. Christof Eschenbach, der für den ersten Aufzug fast 2h 05 Min. benötigte.
ML:
Oh, so deutlich viel mehr als bei uns! Nach meiner Überzeugung sind wir da bei unser auf der normal-schnellen Seite unterwegs. Ich hoffe nicht, zu schnell, denn ich will hier keine neuen Rekorde aufstellen.
Aber stellen wir uns vor, wir würden dieses Werk im Straßburger Münster aufführen, dort gibt es einen Nachhall von ca. 7 Sekunden(!), dann würde bei uns die Aufführung auch fünf Stunden dauern.
DS:
Insofern gibt es hier ein transparenteres Klangbild. Trotzdem stellt sich die Frage, was geschieht musikalisch bei den Verwandlungsmusiken? Nehmen sie diese zum Anlass besonders voluminös zu musizieren?
ML:
Ich kenne die Einstellung, dass man bei „Parsifal“ in Bezug auf Pathos nicht übertreiben kann. Das Stück verträgt sogar ziemlich viel Pathos.
Aber als Dirigent und Mensch neige ich zur Sachlichkeit. Ich habe großen Respekt vor diesem Werk. Ich will das Stück nicht mit meinen instinktiven Reaktionen belasten, die aus einem Moment entstehen, sondern ich orientiere mich an den Anweisungen, die in den Noten stehen. Und wenn da z. B. „sehr langsam“ steht, wie am Ende der Herzeleide-Erzählung, dann mache ich das auch so. Es ist ja mit dem Inhalt verbunden und daher muss es dann auch so sein.
Bei den Verwandlungsmusiken orientiere ich mich an den Anweisungen von Mottl, wenn es heißt „noch breiter werden“, dann mache ich das auch.
Das Orchester freut sich wahnsinnig, wenn diese Stelle mit der Verwandlung kommt. Dann sitzen die Musiker plötzlich anders und sind voller Erwartung auf das Kommende! Dieses Orchester freut sich so sehr, dieses Stück zu spielen!
DS:
Ihr Orchester ist ein sehr spielfreudiges Orchester! Das war mir auch bei Ihrem jüngsten Konzert-Gastspiel in der Frankfurter Alten Oper aufgefallen.
ML:
Das ist schön. Es liegt auch an dem wichtigen Generationswechsel im Orchester. In den letzten Jahren ist mindestens ein Drittel des Orchesters neu hinzu gekommen. Der langjährige frühere Chefdirigent Alain Lombard hat das Orchester seinerzeit auf über 100 Musiker erweitert. Und davon sind eine ganze Reihe von Musikern nun in der Rente angekommen. Jetzt haben wir sehr viele junge Musiker, die ihre Freude einbringen. Natürlich sind auch Musiker im Orchester, die bereits die beiden letzten „Parsifal“-Produktionen gespielt haben. Und es ist schon interessant, was in deren Noten steht.
DS:
Natürlich fragen sich viele Zuhörer beim „Parsifal“, was macht der Dirigent mit den Glocken?
ML:
Die Glocken haben wir in einer Kirche aufgenommen. Leider sind die Kirchenglocken hier in Straßburg in der falschen Tonart. Wir haben in unserer Einspielung tolle Glocken, eine davon kam aus Bremen. Ursprünglich hatten wir mit Metallplatten und Röhrengeläut experimentiert. Allerdings war dann das Ergebnis doch nicht befriedigend. Wenn ich vier Kirchenglocken hätte, klar, dann hätte ich das live auch so gespielt. Aber dem war nicht so und so haben wir die Glocken aufgenommen. Allein dieser Prozess hat drei Monate gedauert.
DS:
Seit 2012 sind Sie hier in Straßburg musikalischer Direktor. Wenn man so lange Zeit an einem Haus ist, wie hat sich dann das Orchester entwickelt? Was sind die Besonderheiten dieses Orchesters? Wie beurteilen Sie die Zusammenarbeit?
Mir ist aufgefallen, wie gut die Verbindung zwischen Orchester und Ihnen ist. Das sehe ich nicht alle Tage.
ML:
Das freut mich zu hören! Es ist genau der Kern, was Sie ansprechen. Es ist meine achte Saison. Jedoch kenne ich das Orchester bereits seit 14 Jahren.
2006 war ich das erste Mal hier und 2008 dirigierte ich dann erstmals hier „Walküre“. Deswegen bin ich sehr froh, dass ich hier noch eine weitere Spielzeit wirken werde. Wir musizieren mit großer Freude. Und entscheidend ist, warum sich ein Orchester für einen Dirigenten entscheidet, ob die Chemie zwischen ihm und dem Orchester stimmt. Bei uns hält das bereits über Jahre, was mich sehr freut. Es gibt einen sehr guten Kontakt. Natürlich kennt mich das Orchester nach acht Jahren genau. Sie kennen meine Körpersprache, meine Blicke etc.
Wir haben hier ein Geben und Nehmen. Es gab Proben, da waren wir eher fertig und manchmal Proben, an denen ich das Orchester bat, etwas die Probenzeit zu überziehen. Und es war nie ein Problem. Bei einer der finalen Orchesterproben beim „Parsifal“ waren wir nicht rechtzeitig mit dem zweiten Aufzug zu Ende gekommen. Und so bat ich das Orchester, ob wir nicht zu Ende spielen können, obwohl die Probe offiziell vorbei war. Und das Orchester war sehr bereitwillig, so dass wir noch die fehlenden zehn Minuten spielen konnten. Wir haben ein großes Vertrauen zueinander und natürlich kann sich das Orchester darauf immer verlassen, dass ich das nicht ausnutze. Es ist ein großes Kompliment an das Orchester, das so etwas nach acht Jahren Zusammenarbeit immer noch möglich ist. Ich freue mich sehr auf die letzte Saison und hoffe sehr, dass wir mit dieser positiven Grundatmosphäre die Zusammenarbeit beenden werden.
DS:
Im Moment verantworten Sie drei Positionen. Da sind Bremen, Straßburg und das Tasmanian Symphony Orchestra.
ML:
Ja, das ist aber schon vorbei, denn ich bin nicht mehr der künstlerische Leiter des Tasmanian Symphony Orchestras, aber nun noch der „Conductor Laureate“. Publikum und Orchester wünschten sich noch eine Fortsetzung. So werde ich also noch zwei weitere Jahre immer wieder dort dirigieren.
Wir haben jetzt gerade mit großem Erfolg ein Wagner-Konzert mit Nina Stemme und John Lundgren gemacht.
Ich versuche meine Opernerfahrungen aus Europa mit sehr guten Künstlern in Tasmanien einzubringen.
In Bremen ist es jetzt meine zweite Saison. Dort beginne ich in einer Woche mit „Falstaff“. Und das freut mich mehrfach: es sind die letzten Werke der beiden großen Opernkomponisten Verdi und Wagner. Und innerhalb von drei Monaten darf ich beide Stücke machen.
Wagner ist beeinflusst durch Sage und Religion, dabei schrieb er alles selbst.
Verdi macht eine kurze Fassung der Shakespeare Vorlage. Es ist die Rache der Frauen. Verdi macht daraus eine Hommage an einen alten Adligen, einen Frauenliebhaber, der am Ende erfährt, dass alles nur Spaß ist! Aber es ist auch sehr viel Tragik darin.
Mit größter Freude las ich die Texte beider Werke und habe immer wieder verglichen. Es ist so spannend!
DS:
In Bremen liegt Ihr Fokus primär auf dem symphonischen Sektor?
ML:
Ja. Ich bin dort der GMD der Bremer Philharmoniker für die Konzerte. In der dortigen Oper mache ich nur eine Produktion pro Jahr, aber das mache ich dann als Gast. Denn das Haus hat mit Yoel Gamzou einen eigenen GMD, der eine tolle Arbeit dort macht.
DS:
„Falstaff“ und „Parsifal“ sind Traumstücke für einen Dirigenten. Welche Werke stehen noch auf Ihrer Wunschliste?
ML:
Sehr viel Respekt hege ich für Bergs „Wozzeck“ und für „Fidelio“. Beide Werke würde ich sehr gerne machen. Aber „Fidelio“ ist voller Probleme, vor allem für den Regisseur und dann die Dialoge. Es sind so viele Herausforderungen, dass ich lieber noch warte.
DS:
Das ist eine klare Überzeugung. Haben Sie ein Credo?
ML:
Eigentlich nicht. Mein Lieblingsstück ist immer das, was ich gerade mache. Aber das ist auch ein wenig die Schuld meines Lehrers Otmar Suitner! Er gab uns Studenten sehr viele Anweisungen, die wir als Dirigenten zu beachten haben, gerade für „Parsifal“. All das schrieb ich damals genau auf. Und diese „Bibel“ habe ich mir jetzt zur Vorbereitung wieder angesehen.
Aber vielleicht ist das mein Credo: die Wahrung der Gestalt.
Der Dirigent ist dafür verantwortlich, dass die Gestalt des Werkes erklingt, wie es der Komponist formuliert hat. Zumindest müssen wir danach streben, dies zu erreichen. Dirigenten wie Clemens Kraus, Suitner und natürlich Hans Swarowsky vertraten diese Überzeugung.
DS:
Vielen Dank, lieber Herr Letonja für das Gespräch.
Dirk Schauß, 9.2.2020
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