„DIE BEIDEN FREIBURGER „RING-ZYKLEN“ 2012 WAREN FÜR MICH EIN GROSSES ERLEBNIS“
INTERVIEW MIT SIGRUN SCHELL
als Komtesse Stasi in Csardasfürstin
OF: Liebe Frau Schell, Sie singen derzeit an Ihrem Stammhaus, dem Theater Freiburg u. a. eine phänomenale Komtesse Stasi in Frank Hilbrichs Inszenierung von Kalmans „Csardasfürstin“. Nun sind Sie ein hochdramatischer Sopran, während es sich bei der Stasi um eine Soubrette handelt. Zwischen diesen beiden Fächern liegen Welten. Wie haben Sie reagiert, als Ihnen die Theaterleitung eröffnet hat, dass Sie diese Rolle übernehmen sollen? Haben Sie das für einen Scherz gehalten?
SCH: Also ehrlich gesagt kümmere ich mich nicht so sehr darum, welche Rolle von irgendwem irgendwann einem bestimmten Fach zugeordnet wurde. Mich interessiert nur: Kann ich die stimmlichen Anforderungen einer Partie im Wesentlichen erfüllen und wird es mir möglich sein, die Rolle glaubwürdig darzustellen. Und gerade letzteres ließ mich bei der „Csardasfürstin“-Stasi etwas zögern, aber Frank Hilbrich konnte mich schnell dazu anregen, alle Operettenklischees zu vergessen, und ich glaube, dass er mit dem richtigen Maß an Absurdität, Ironie und Ernsthaftigkeit der Musik zu einer Wahrhaftigkeit im Ausdruck verholfen hat, die ich so vorher nicht für möglich gehalten hätte.
OF: Herr Hilbrich hat sein Konzept ganz auf Sie zugeschnitten. Es ist schon ein Überraschungseffekt der besonderen Art, wenn zu Beginn des zweiten Aktes statt Kalmans Musik unvermittelt das Vorspiel zum zweiten Aufzug von Wagners „Walküre“ erklingt und Sie Brünnhildes „Hojotoho“-Rufe anstimmen. Später tragen Sie dann noch Elisabeths Hallenarie aus dem „Tannhäuser“ a capella vor und erscheinen auch mal als traditionell kostümierte Elsa. Was halten Sie von Hilbrichs Idee, aus Stasi eine Wagner-Heroine zu machen?
SCH: Nach siebenjähriger tiefschürfender Arbeit an Wagner hatten wir alle viel Spaß daran, uns über uns selbst lustig zu machen. Es sollte deutlich werden, dass da zwei Welten aufeinanderprallen und zum Glück amüsierten sich auch nicht so wagneraffine Zuschauer darüber.
OF: War es für Sie schwierig, unmittelbar hintereinander den Auftritt Brünnhildes, dann das Schwalbenduett und dann wieder „Dich, teure Halle“ zu singen? Mussten Sie sich gesangstechnisch dafür irgendwie umstellen?
SCH: Ein ungewöhnlicher Wechsel war es schon, aber die Wagner-Zitate waren nicht lang und ich versuche immer, eine gewisse Leichtigkeit in meiner Stimme zu behalten.
OF: Hatten Sie bei der Auswahl der Wagner-Ausschnitte ein Mitspracherecht oder wurden sie Ihnen von der Regie vorgegeben? Wollte das Freiburger Theater mit der Hallenarie vielleicht auf den neuen „Tannhäuser“ aufmerksam machen, der hier vor kurzem aus der Taufe gehoben wurde und in dem Sie zu meinem Erstaunen nicht besetzt sind?
SCH: Mitspracherecht gibt es bei Frank Hilbrich immer, die Hallenarie hat inhaltlich einfach gut gepasst, weitergehende Assoziationen sind möglich, vielleicht sogar erwünscht.

Sigrun Schell als Comtesse Stasi
OF: Die Stasi ist nicht die erste Rolle, die Hilbrich radikal gegen den Strich bürstete. Das hat er vor zwei Jahren in seiner grandiosen Freiburger Inszenierung des „Lohengrin“ mit den Hauptpersonen genauso gemacht. Sie sangen damals die Ortrud. Die Radbod-Tochter und Telramund hat er entgegen jeder Konvention ausgesprochen positiv gezeichnet und aus ihnen kurzerhand das „neue hohe Paar“ gemacht. Elsa und insbesondere der Titelheld kamen in seiner Deutung dagegen ausgesprochen schlecht weg. Mögen Sie es, wenn eine Partie derart umgekrempelt wird und demzufolge eine gänzlich neue Figur entsteht?
SCH: Ausschlaggebend für mich ist, dass eine gedankliche Logik zugrunde liegt, die ich in den Figuren erkennen und nachvollziehen kann. Wenn dabei eine Konvention hinterfragt wird, freue ich mich besonders.
OF: Ist Frank Hilbrich ein Regisseur, der die Sänger/innen in ein vorgefertigtes szenisches Korsett zwingt oder entwickelt er die Figur von einem bestimmten Grundgedanken ausgehend zusammen mit dem jeweiligen Solisten?
SCH: O Gott, schon bei dem Wort „szenisches Korsett“ bekomme ich Atemnot. In meinen Augen hat Frank Hilbrich eine absolut klare Vorstellung über die psychologischen Vorgänge und Motivlagen der Figuren, darüber sprechen wir auch viel. Bei der szenischen Umsetzung arbeitet er dann sehr partnerschaftlich und selbstkritisch.
OF: Wenn man sich Herrn Hilbrichs Inszenierungen ansieht, kann man sich des Eindrucks in der Tat nicht erwehren, dass er viel von Psychologie und Philosophie versteht. Hat er Ihnen seine Gedankengänge gut und nachvollziehbar zu erklären vermocht?
SCH: Ja.
OF: Um Freud’sche und Schopenhauer’sche Aspekte ging es beispielsweise in Hilbrichs im Mai 2013 am Freiburger Theater neu herausgekommener „Parsifal“-Produktion, in der Sie eine sehr überzeugende Kundry waren. Ich hatte damals das Gefühl, noch nie eine derart intensive, psychologisch ausgefeilte Zeichnung der Gralsbotin gesehen zu haben. Warum war sie in dieser Inszenierung schon von Anfang an so jung und schön?
SCH: Jung und schön kann ich nicht unbedingt bestätigen, eigentlich eher verwahrlost, verhaltensauffällig, unangepasst, hemmungslos, verwirrt etc.

als Kundry, mit Christian Voigt (Parsifal)
OF: Sehr aufgewertet hat Frank Hilbrich auch die Fricka im „Rheingold“, der Sie unter seiner Ägide nicht den Stempel der konventionellen Zicke aufdrückten, sondern vielmehr als schöne, sympathische und sexy wirkende junge Frau gaben. Wie ist ihr Verhältnis zu Wotan? Und wie kommt es, dass er seine bildhübsche Frau später so oft mit anderen Damen betrügt?
SCH: Unsere Version von „Rheingold“ zeigt die Götterfamilie, jedenfalls zu Beginn, als lebensfrohe Kommune. Fricka schwärmt für ihren Wotan, der die Tragweite seines Handelns allerdings in keinster Weise übersieht, und so kommen das Unheil und der Verlust der Naivität in die Welt.
OF: In der „Walküre“ haben Sie die Fricka dann nicht mehr übernommen. Stattdessen sangen Sie die Sieglinde. Kurz zuvor hatten Sie den Wechsel vom Mezzo- in das dramatische Sopranfach vollzogen. Wie kam es dazu?
SCH: Ganz einfach: Unser damaliger, inzwischen leider verstorbener künstlerischer Betriebsdirektor Jürgen Heene schlug mir dies vor, und ich sagte Ja.
OF: Für Ihre Sieglinde wie auch für Salome und Rezia erhielten Sie von der Fachzeitschrift Opernwelt schon Nominierungen zur Sängerin des Jahres. Was bedeuten Ihnen solche Auszeichnungen?
SCH: Das ist natürlich erfreulich, aber nicht wirklich von Bedeutung.
OF: Bei Hilbrich war Sieglinde alles andere als schön anzusehen. Aus welchem Grund hat er sie derart hässlich gemacht?
SCH: Na ja, ich würde eher sagen Modell „Hundings Hausmütterchen“, das durch Siegmunds Erkanntwerden aufblüht.
OF: Eine weitere Rolle von Ihnen im „Ring“ war die Gutrune, die Herr Hilbrich nachhaltig mit Julia Timoschenko identifizierte. Was war der Grund für diese Gleichsetzung?
SCH: Das war eine zufällige Ähnlichkeit, genaugenommen nur eine frisurtechnische, die nicht weiter thematisiert wurde.

als Gutrune
OF: Die „Ring“-Krone erhielten Sie dann im April 2012, als Sie im Rahmen der zweiten Freiburger Aufführung des gesamten Zyklus zum ersten Mal die Brünnhilde in der „Walküre“ und im „Siegfried“ übernahmen und eine wahre Glanzleistung erbrachten. Wie kam es zu diesen sensationellen Debüts?
SCH: Sabine Hogrefe, die ursprüngliche Brünnhilde, hatte bei den „Ring“-Zyklen Nr. 3 & 4 nur für die „Götterdämmerung“ Zeit, so dass ich für diese Rochade angefragt wurde.
OF: Werden Sie in absehbarer Zeit auch einmal die „Götterdämmerung“-Brünnhilde singen?
SCH: Nein.
OF: Als die Theaterleitung Ihnen Wotans Wunschmaid anvertraute, wurde aus der starken, wilden Walküre, wie sie Sabine Hogrefe gegeben hatte, ein etwas introvertiertes, nachdenkliches und verletzliches Mädchen. War diese Änderung von Brünnhildes Charakter in Herrn Hilbrichs Sinn?
SCH: Das müssen Sie ihn fragen, aber ich glaube, er war zufrieden.
OF: In den beiden Freiburger „Ring“-Zyklen von April und Mai 2012 waren Sie neben den beiden Brünnhilden erneut als Fricka im „Rheingold“ und als Gutrune besetzt. Mit dieser ungewöhnlichen, fächerübergreifenden Rollenkombination dürften Sie innerhalb der breit gestreuten Liga von Wagner-Sängerinnen ziemlich allein auf weiter Flur dastehen. Gleich zwei Rollendebüts als Brünnhilde und dann noch Gutrune und Fricka innerhalb nur weniger Tage. Würden Sie eine Kollegin zu einer derartigen Parforce-Tour ermutigen oder ihr eher davon abraten?
SCH: Das muss natürlich jeder selbst entscheiden, für mich war es aber ein großes Erlebnis.
OF: Wie haben Sie sich auf diesen Freiburger „Ring“-Marathon vorbereitet und dann vor allem durchgestanden? War das nicht sehr anstrengend und ermüdend für die Stimme?
SCH: Die größte Herausforderung für mich war es, den Zweifel zum richtigen Zeitpunkt abzustellen. Da ich recht wenige Orchesterproben für diese großen Partien hatte, war es vor allem mental anstrengend.
OF: Erstaunlich war, dass Sie in den „Ring“-Zyklen neben den drei Sopranrollen auch wieder die „Rheingold“-Fricka sangen. Wenn ein Mezzo ins Sopranfach wechselt, verabschiedet sie sich im Regelfall von ihren alten Partien und singt diese schon gar nicht nur einen Tag vor ihrem erstmaligen Auftreten in einer der anspruchsvollsten hochdramatischen Sopranpartien. Auch als Sie in der ersten zyklischen Präsentation des „Ring“ am Theater Freiburg noch die Sieglinde verkörperten, gaben Sie einen Tag vorher noch die Fricka. Warum haben Sie diese damals nicht zurückgegeben? Es dürfte in Freiburg doch genügend Mezzos geben, die für diese Rolle geeignet sind?
SCH: Die „Rheingold“-Fricka kann ebenso gut ein Sopran singen wie ein Mezzo die Sieglinde singen kann. Wen man wo haben möchte, ist eine Frage der Interpretation, welche Klangfarbe man eher einem bestimmten Charakter zuschreibt. Ich singe immer nur mit meiner Stimme, die Einteilung in Fächer halte ich für eine Hilfskonstruktion, die auch dem ökonomischen Druck nach schneller Austauschbarkeit geschuldet ist.

als Brünnhilde in der „Walküre“, mit Peteris Eglitis als Wotan und Walkürenensemble
OF: Auch nach Ihrem Wechsel zu Sopranrollen haben Sie außer der Fricka immer wieder auch noch andere Mezzo-Partien gesungen, so beispielsweise die Gertrud. Auch bei der Mutter in der Uraufführung von „Oscar und die Dame in Rosa“ neulich schien es sich von der Tessitura her eher um eine Mezzorolle zu handeln. Tut so eine Abwechslung Ihrer Stimme gut?
SCH: Dazu habe ich Ihnen meine Meinung ja schon gesagt. Bei „Oscar“ kann man erfreulicherweise noch den Komponisten fragen, und Fabrice Bollon hat für die Mutter einen Sopran vorgesehen.
OF: Stellt die Brünnhilde für Sie so etwas wie den Höhepunkt Ihrer Karriere dar? Wartet vielleicht noch irgendwann die Isolde auf Sie?
SCH: Da ich mich nicht so gerne auf Leitern begebe, sage ich, es war eine Wegstation mit schöner Aussicht, und ich bin immer offen für allerlei Abzweigungen, auch die nach Irland.
OF: Frank Hilbrich hat wie immer auch 2012 die Wiederaufnahmeproben seines „Rings“ selbst geleitet. Hätten Sie sich auch dann an Wotans Lieblingstochter gewagt, wenn Sie nur von einem Assistenten in die Inszenierung eingewiesen worden wären?
SCH: Mit dem sehr kompetenten Regieassistenten der Produktion, Wolfgang Berthold, habe ich viel vorgeprobt, dass Frank Hilbrich dann noch zum Schluss dazukam, war natürlich wunderbar.
OF: Kann man sagen, dass Frank Hilbrich der prägendste Regisseur Ihrer bisherigen Laufbahn gewesen ist?
SCH: Vielleicht ohne Superlativ, mit dem ich gerne sparsam umgehe, also ein sehr prägender Regisseur und vor allem menschlich eine Bereicherung.
OF: Auch mit Calixto Bieito haben Sie in Freiburg schon oft zusammengearbeitet. So gaben Sie unter ihm die Chrysothemis in „Elektra“, die Salud in „La vida breve“ sowie Dichterin, Mutter und Kammersängerin in „Aus Deutschland“. Was ist Ihrer Ansicht nach der Hauptunterschied in den Arbeitsweisen von Bieito und Hilbrich? Und wo liegen ihre Gemeinsamkeiten?
SCH: Da fallen mir zuerst die Gemeinsamkeiten ein: sie arbeiten beide hoch professionell, wissen genau, was sie wollen und versuchen, ihre Sicht auf die Werke künstlerisch auszudrücken. Die Ergebnisse sind natürlich sehr unterschiedlich.
OF: Wie sind Sie mit Bieito zurechtgekommen? Konnten Sie sich mit seinem oft recht außergewöhnlichen Regiestil anfreunden?
SCH: Ich finde, er kann sehr energiegeladene, starke Bilder erschaffen und ja, ich bin gut mit ihm zurechtgekommen.

als Brünnhilde im „Siegfried“
OF: Als Salud ließ er Sie einmal nur mit Unterwäsche bekleidet durch dieses heruntergekommene, dreckige und marode Puppenhaus wandeln. Hätten Sie sich auch ganz ausgezogen, wenn er es gewollt hätte?
SCH: Ach wissen Sie, als Sängerin fühle ich mich eigentlich immer nackt und bloß, da helfen auch keine Kleider.
OF: Bieitos Ideen sind sicher nicht jedermanns Sache. Es kam vor, dass Sänger/innen seinen oft sehr radikalen Regieanweisungen nicht gefolgt sind. Stehen Sie diesen im Prinzip aufgeschlossen gegenüber? Gibt es bei Ihnen eine Schmerzgrenze, an der Sie zu einem Wunsch des Regisseurs auch mal Nein sagen?
SCH: Mir ist wichtig, dass meine Stimme keinen Schaden erleidet und dass ich mir nicht den Hals breche.
OF: Insbesondere in den Inszenierungen von Bieito und Hilbrich vermochten Sie auch durch eine enorme Intensität der Darstellung zu begeistern. Verfügen Sie über eine Schauspielausbildung?
SCH: Im Rahmen meines Opernschulstudiums hatte ich auch Schauspielunterricht, aber die beste Schule für mich ist die Praxis, also learning by doing.
OF: Wie essentiell ist Ihnen die darstellerische Komponente einer Produktion? Brauchen Sie eine stark fordernde Personenregie oder würden Sie es vorziehen, pures Rampensingen zu pflegen?
SCH: Konzerntanten Opern kann ich absolut nichts abgewinnen. Darstellung und gesanglicher Ausdruck ist für mich eine Einheit und sollte sich meiner Meinung nach gegenseitig bedingen und befruchten.
OF: Wie würden Sie die Quintessenz Ihrer bisherigen Karriere formulieren?
SCH: Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.
OF: Vielen Dank für das Interview.
Ludwig Steinbach, 3. 4. 2014 Alle Fotos: Maurice Korbel