
DIE PASSAGIERIN IST AUCH UNSERER ANSICHT NACH EINE DER BEDEUTENDSTEN OPERN UNSERER ZEIT. SIE MUSS GESPIELT WERDEN – INTERVIEW MIT DOROTHEA SPILGER, DER PHANTASTISCHEN LISA AUS DER BRAUNSCHWEIGER NEUPRODUKTION VON WEINBERGS PASSAGIERIN.
OF: Liebe Frau Spilger, ab der kommenden Spielzeit sind Sie festes Ensemblemitglied des Staatstheaters Braunschweig. Bereits jetzt haben Sie sich dem Braunschweiger Publikum das erste Mal vorgestellt, und zwar als Lisa in Weinbergs grandioser Oper Die Passagierin. Wie kam es zu diesem Debüt in Braunschweig?
S: Das ist dem Dirigenten der Produktion, Christopher Lichtenstein, zu verdanken. Er hat auch die Inszenierung der Passagierin an der Danish National Opera - dort sang ich die Lisa zum ersten Mal - geleitet, in deren Vorfeld wir uns bereits im Frühjahr 2018 zum Proben getroffen hatten. Bei dieser Gelegenheit erzählte er mir, dass die Oper auch auf dem Braunschweiger Spielplan stehe und hierfür noch keine Lisa gefunden sei. Ich habe also alles daran gesetzt, ein Vorsingen in Braunschweig absolvieren zu dürfen, da ich schon damals wusste, dass ich diese Rolle noch häufiger würde singen wollen. Dass aus einer Produktion dann ein Engagement für eine weitere Spielzeit werden würde, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
OF: Die Lisa haben Sie also bereits im vergangenen Jahr an der Danish National Opera gesungen. Hat sich dieser Fakt irgendwie positiv auf Ihre Braunschweiger Auftritte in dieser Partie ausgewirkt?
S: Zweifellos. Lisa ist eine sehr spannende, facettenreiche Persönlichkeit. Sie ganz zu erfassen würde bestimmt ein komplettes Sängerleben in Anspruch nehmen. Ich fühlte mich jedoch durch die Produktion an der Danish National Opera schon viel vertrauter mit dem Charakter, wusste auch schon grob, welche Stellen ich szenisch und musikalisch besonders herausarbeiten wollte. Ich persönlich glaube, dass jede Opernpartie mit der Zeit wächst und man sie besser verkörpern kann je öfter man sich mit ihr beschäftigt. Insofern war es für mich ein unbeschreiblicher Glücksfall, die Rolle zweimal innerhalb so kurzer Zeit verkörpern zu dürfen.

OF: In Weinbergs Passagierin geht es um das Thema Auschwitz. Es herrschte lange Zeit Uneinigkeit darüber, ob man dieses heikle Sujet auf die Bühne bringen dürfe. Denken Sie, dass diese Frage nach dem großen Erfolg, den die Passagierin in den vergangenen Jahren auf so manchen Bühnen des In- und Auslands hatte, ohne weiteres zu bejahen ist oder sind da immer noch Vorbehalte anzumelden?
S: Ich möchte noch weiter gehen als die Frage bloß zu bejahen. Diese Oper muss sogar gespielt werden! Sowohl die Autorin des Romans, Zofia Posmysz, als auch Weinberg hatten den Mut, die Geschichte der beiden Frauen Lisa und Marta aus der Täter-Perspektive zu erzählen. Damit stellt die Passagierin eine große Ausnahme in der Aufarbeitung der Auschwitz-Thematik dar. Die ehemalige Aufseherin wird als Mensch gezeichnet, der fühlt und denkt wie jeder von uns. Das zeigt uns auf besonders nachdrückliche Weise, dass die Täter von Auschwitz Menschen wie Sie und ich waren und dass dieses Grauen und die Fähigkeit, solch schreckliche Verbrechen zu begehen, in jedem von uns wohnen. Wenn wir verhindern wollen, dass dieses düstere Kapitel der Weltgeschichte sich jemals wiederholt, müssen wir mit uns selbst anfangen und uns fragen, wie wir unsere eigenen Dämonen bezwingen können. Hier kann Weinbergs Oper einen unschätzbaren Beitrag leisten. Selbstverständlich ist es unmöglich, Auschwitz auf einer Bühne adäquat darzustellen. Sehr wohl aber kann man die Menschen darstellen - sowohl die Täter als auch die Opfer - und so zum Nachdenken anregen.
OF: Worin liegt Ihrer Ansicht nach die Essenz der Passagierin?
S: Wir dürfen niemals vergessen, was geschehen ist, und müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um eine Wiederholung dessen zu verhindern.
OF: Stimmen Sie mir bei, wenn ich sage, dass es sich bei der Passagierin um die bedeutendste Oper der Jetztzeit handelt, die auf den Spielplänen sämtlicher Opernhäuser stehen sollte?
S: Teilweise ja. Die Passagierin ist auch meiner Meinung nach die bedeutendste Oper unserer Zeit. Allerdings schätze ich am Kulturbetrieb gerade die Diversität und die Individualität, die jedes Theater ausmachen. Daher freue ich mich darüber, dass eben nicht jedes Haus die gleichen Stücke spielt. Es gibt so viele großartige Werke, und nur ein Bruchteil davon wird auch aufgeführt. Das finde ich sehr schade. Bestimmt gibt es ebenso phantastische Opern wie die Passagierin, die nur noch nicht entdeckt oder komponiert sind.
OF: Wie haben Sie reagiert, als Ihnen die Danish National Opera damals anbot, zum ersten Mal die Lisa zu singen? Haben Sie da gleich Ja gesagt?
S: Das habe ich! Wann kommt es schon einmal vor, dass ein großes Opernhaus einer jungen, unbekannten Sängerin die Chance gibt, in einer Hauptrolle zu debütieren? Ich hatte mich bereits zuvor aus Neugierde mit der Oper beschäftigt, hätte mir aber niemals träumen lassen, dass ich selbst einmal die Lisa singen darf. Als ich dann anfing, tiefer in die Partie einzutauchen, gab es Momente, in denen ich meine Impulsivität bereut habe. Aber da war es natürlich schon zu spät. Rückblickend hat mich diese Rolle aber als Sängerin und Darstellerin reifen lassen wie ich es mir nie zu träumen gewagt hätte. Die Möglichkeit, Lisa an der Danish National Opera singen zu dürfen ist das größte Geschenk, das ich bislang erhalten habe, und ich bin dem dortigen Intendanten Philipp Kochheim zu ewigem Dank verpflichtet, dass er an mich geglaubt und mir diese Chance gegeben hat.

OF: Wie bereiteten Sie sich auf die Lisa vor? Haben Sie den gleichnamigen Roman von Zofia Posmysz gelesen?
S: Die Lektüre des Romans war tatsächlich mein erster Schritt, um mich Lisa zu nähern. Dadurch konnte ich die Scheu verlieren, mich der Figur zu öffnen und sie in mein Leben zu lassen. Anschließend versuchte ich, so viel über das Leben in Auschwitz zu erfahren wie ich nur konnte, habe Dokumentationen und Filme angeschaut und Berichte von Zeitzeugen gelesen. Die tatsächliche Beschäftigung mit der Musik kam für mich erst danach und ist mir sehr schwer gefallen, da sie für mich all das Grauen, über das ich mich abstrakt informiert hatte, erst plastisch erfahrbar gemacht hat. Anfangs konnte ich pro Tag nicht länger als zehn Minuten an der Partie arbeiten, bevor ich emotional erschöpft war. Ich habe die Rolle insgesamt ein Jahr vorbereitet und auch neben meinen anderen Partien täglich an ihr gearbeitet.
OF: Frau Posmysz war bei der Braunschweiger Premiere der Passagierin anwesend. Hatten Sie Gelegenheit sie näher kennen zu lernen? Wenn ja, welchen Eindruck haben Sie von ihr gewonnen?
S: Ich hatte die Möglichkeit, auf unserer Premierenfeier kurz mit ihr zu sprechen. Sie hat mir bei der Gelegenheit auch zwei Bücher geschenkt - unter anderem ihre Biographie. Zofia Posmysz ist ein Mensch, den ich sehr verehre. Sie hat solch schreckliche Dinge erleben müssen, und statt dieses Kapitel ihres Lebens abzuschließen hat sie sich ganz in den Dienst der Erinnerung gestellt und arbeitet bis heute unermüdlich daran, die Stimmen der Opfer nicht verstummen zu lassen. Sie ist zu einem meiner großen Vorbilder geworden.

OF: Wie war es für Sie, die Lisa einzustudieren? Einfacher oder schwieriger als eine traditionelle Opernrolle?
S: Die Musik Weinbergs ist natürlich nicht so leicht zu lernen wie die Mozarts, man kann sich aber mit genügend Fleiß auch diese zu Eigen machen. Im ersten Bild beispielsweise gibt es eine lange Passage, die im 5/8-Takt geschrieben ist und strophenförmig angelegt ist. Leider ist jede Strophe jedoch rhythmisch verschieden, was das Auswendiglernen schwieriger macht. Insgesamt habe ich das Einstudieren dieser großartigen Musik aber sehr genossen.
OF: Wo liegen die musikalischen Reize, wo die Schwierigkeiten der Lisa?
S: Zuerst einmal ist die Lisa eine sehr große Partie. Mit Ausnahme der Konzert-Szene und des Epilogs singe ich in jedem einzelnen Bild. Darüber hinaus wechselt die Musik und damit auch die Stimmgebung immer wieder zwischen dramatischen und lyrischen Passagen sowie zwischen Fortissimo und Piano. Man muss sich genau überlegen, wann man wie viel oder wie wenig geben kann, um noch genügend Kondition für die finale Ball-Szene und den großen Zusammenbruch zu haben. Außerdem erfordert die Rolle große rhythmische Präzision, um der Musik vollkommen gerecht zu werden. Wenn man alle diese Hürden genommen hat, macht es aber ungeheuren Spaß die Partie zu singen!
OF: Weinberg hat eine ungemein eindringliche Musik geschrieben, die einen tief berührt. Was macht seine Tonsprache Ihrer Ansicht nach so ungemein wirkungsvoll?
S: Wie sein Mentor Dimitri Schostakowitsch bedient sich Weinberg einer klaren und reduzierten Tonsprache, die sich auch in der Instrumentierung deutlich zeigt. Er arbeitet viel mit einfacher Motivsprache und setzt den Text und die Emotionen stets eins zu eins in Musik um. In der Passagierin arbeitet er zudem mit den Kontrasten zwischen ebenjener ihm eigenen Kompositionsart und bekannten Motiven aus der Musikgeschichte (z. B. Schubert-Lieder, Chansons und die Bach-Chaconne in der Konzert-Szene) sowie Elementen der Volksmusik (im Duett zwischen Marta und Tadeusz, Martas Arie oder Katjas a-capella-Lied).
OF: Sicher ist ein ganz essentielles Merkmal der Passagierin-Partitur die ausgeprägte Leitmotivtechnik. Darin knüpft Weinberg in genialer Art und Weise an Richard Wagner an. Wäre die Passagierin ohne das Vorbild Wagners überhaupt möglich gewesen?
S: Ich denke ja, denn die Art und Weise, Leitmotive einzusetzen ist bei Weinberg eine ganz andere als bei Wagner. Bei Wagner haben wir es mit abstrakten Erinnerungsmotiven zu tun, die bebildernd eingesetzt sind. Wenn beispielsweise im Text von einem Schwert die Rede ist, ertönt im Orchester das zugehörige Motiv. Bei Weinberg handelt es sich dagegen um charakterisierende und psychologische Motive, z. B. das der Angst oder der Verdrängung, die aber niemals explizit benannt werden. Die Leitmotive tragen dazu bei, die Geschichte episodisch und nicht episch zu erzählen. Als Beispiel möchte ich die Szene anführen, in der Katja in die Frauen-Baracke gebracht wird. Alle anderen Inhaftierten schreien nach Wasser für die geschundene Frau. Statt aber ein Motiv für Wasser zu unterlegen, ertönt im Orchester das Thema der Angst.

OF: Weinberg führt den Zuhörer bis in die tiefsten Seelenschichten der Beteiligten, insbesondere Lisas. Denken Sie, dass seine Musik psychologischer Natur ist?
S: Ganz bestimmt ist sie das. Weinberg versucht alle seine Figuren zu verstehen und sie musikalisch zu Wort kommen zu lassen. Besonders schön sehen wir das in der ersten Lagerszene, in der alle Frauen je nach ihrer Geschichte und Herkunft unterschiedlich charakterisiert werden. Besonders viel Raum räumt er über das ganze Stück hinweg Lisa ein. Sie bekommt mehr als alle anderen die Möglichkeit sich zu äußern und ist die einzige Figur, die sowohl in den Lager- als auch in den Schiffs-Szenen sängerisch in Erscheinung tritt.
OF: Die Braunschweiger Inszenierung der Passagierin ist hoch gelungen. Regisseur Dirk Schmeding stellt die Lisa als eine durch und durch böse Person dar. Ist sie wirklich so schlimm oder hat sie auch gute Seiten?
S: Lisa ist nicht durch und durch böse, das würde es den Zuhörern viel zu einfach machen. Das Furchtbare an ihr ist ja gerade, dass sie nicht einsieht, dass ihr Handeln falsch war. Ihrer eigenen Ansicht nach ist sie das Opfer. Lisa war 1945 gerade erst 22 Jahre alt; sie ist ein perfektes Beispiel dafür, wie das Aufwachsen in einem totalitären Staat den Charakter negativ formen kann. Selbstverständlich ist das keine Rechtfertigung oder Entschuldigung für ihre Verbrechen. Trotzdem müssen wir uns jedoch ihre spezielle Geschichte vor Augen führen, bevor wir über sie urteilen. Ich möchte so weit gehen, dass Lisa eine ganz normale Frau ist, die in einer anderen Zeit oder in einem anderen Land vielleicht ein durchschnittliches, unauffälliges Leben geführt hätte. Als solche hat sie bestimmt auch ihre guten Seiten.
OF: Lisa betont immer wieder mit Nachdruck, dass sie auch in Auschwitz immer ein guter Mensch gewesen ist und liefert dafür mannigfaltige Beispiele. Wie sind diese Rechtfertigungen zu werten?
S: Ich glaube Lisa jedes Wort, das sie sagt. Sie hat keinerlei Einsicht in ihre Verbrechen und bewertet ihre Rolle auch rückblickend noch vollkommen falsch. Sie sieht sich tatsächlich als Helferin und Retterin und fühlt sich von allen missverstanden.
OF: Welcher Natur ist Lisas Beziehung zu Marta?
S: Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten, gibt Weinberg uns hier doch nicht allzu viele musikalische Anhaltspunkte. Ich denke, dass Lisa Marta im Grunde ihres Herzens für ihre Entschlossenheit und Charakterstärke bewundert - Eigenschaften, an denen es ihr selbst mangelt. Selbst in der größten Not ist Marta gefasst. Mir kommt es stellenweise tatsächlich so vor, als wolle Lisa eine Art Freundschaft zu Marta aufbauen, muss jedoch zunehmend einsehen, dass sie sich diese durch Gefälligkeiten nicht erkaufen kann. Ihre Entscheidung, Marta in den Todesblock zu schicken ist meines Erachtens nach aus dieser tiefen Kränkung erwachsen.

OF: Könnte man sagen, dass der Fall Marta in Lisa eine Psychose ausgelöst hat, die sie auch auf dem Schiff noch nicht überwunden hat?
S: Zufällig hatte ich die Gelegenheit, mit einer Psychologin ins Gespräch zu kommen, die sich eine Vorstellung angesehen hat. Sie erzählte mir, dass es sich um eine typische Flashback-Situation handelt, ausgelöst durch das erlebte Trauma. Lisa konnte ihre Vergangenheit überhaupt nicht überwinden, da sie das Geschehene offenbar ab Kriegsende konsequent verdrängt hat. So ist es für mich auch nur logisch, dass sie am Ende diesen Zusammenbruch erleidet.
OF: Hier kommt Sigmund Freud mit ins Spiel. Wie stehen Sie zu Freud und seinen Lehren? Macht deren Integration in eine Opernaufführung diese spannender?
S: Was Freud gerade über die Verdrängung geschrieben hat, ist tatsächlich sehr spannend. Ich habe während der Vorbereitung auf mein Debüt als Lisa versucht, mich damit zu beschäftigen. Letzten Endes hat mir das - wie ich denke - geholfen, weitere Aspekte des Handelns Lisas zu begreifen.
OF: Zu guter Letzt rafft sich Lisa auf dem Schiff dazu auf, von Marta Dankbarkeit dafür einzufordern, dass sie überlebt hat. Mir erscheint dieses Verlangen recht pervers. Wie sehen Sie das?
S: Natürlich scheint es uns vollkommen abwegig oder - wie Sie sagen - pervers. Für Lisa hingegen ist es die logische Konsequenz, da sie ja, wie bereits erwähnt, keinerlei Einsicht in ihre Fehler hat. Deswegen glaube ich auch, dass Lisa der Überzeugung ist, diese Dankbarkeit zu verdienen.
OF: Wie ist Lisas Beziehung zu Walter? Glauben Sie, dass die Ehe der beiden am Ende halten wird?
S: Relativ zu Anfang der Oper singt Walter: Fünfzehn Jahr` sind wir schon verheiratet… . Die Handlung spielt 1960, das heißt, er und Lisa müssen sich unmittelbar nach Kriegsende kennengelernt haben. Das sagt für mich etwas ganz Entscheidendes über diese Frau aus: Die Führerfigur, der sie ihre ganze Jugend über blind gefolgt ist, gibt es nicht mehr, und das erste, was sie tut, ist, sich einen neuen Führer zu suchen, diesmal in Gestalt eines starken Ehemannes. In der allerersten Szene der beiden hören wir von ihr nur kurze, zustimmende Satzfetzen. Was Walter sagt, wird überhaupt nicht hinterfragt. Beide sind Meister der Verdrängung, und deshalb glaube ich, dass die Ehe Bestand haben wird. Walter erklärt im zweiten Akt: Es war halt Krieg, das ist schon lange her. Jeder hat das Recht, den Krieg zu vergessen. Das ist für mich der Schlüsselsatz, der mich zu meiner Annahme bringt. Dazu kommt, dass für Lisa und Walter die Fassade der heilen Welt, die sie sich aufgebaut haben, bequem und wertvoll ist. Sie werden alles tun, um diese zu erhalten. Eine Fortführung der Ehe gehört unbedingt dazu.
OF: Wie war die Zusammenarbeit mit Dirk Schmeding?
S: Dirk Schmeding ist ein Regisseur, wie jeder Sänger ihn sich wünscht. Er erschien perfekt vorbereitet zu den Proben und wusste genau, was er wollte, ohne uns Sängern den Raum zur eigenen Interpretation zu nehmen. Bei etwaigen Unstimmigkeiten zeigte er sich immer kompromissbereit. Nie wurde von uns irgendetwas verlangt, was das Singen oder Musizieren erschwert hätte. Er hat große Achtung vor dem Werk gezeigt und seine Inszenierung ganz in den Dienst der Musik gestellt. Zudem ist seine Arbeitsweise sehr ruhig und auf freundschaftlich-kollegialer Basis. Ich hoffe, dass ich noch öfter die Chance bekomme, mit ihm zu arbeiten.

OF: Schmeding lässt Sie im zweiten Akt längere Zeit in Unterwäsche singen. Haben Sie sich damit schwer getan? Hätten Sie sich auch ganz ausgezogen, wenn er es gewünscht hätte?
S: Nein, komplett ausgezogen hätte ich mich bestimmt nicht. Das wäre völlig unpassend gewesen, und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Dirk Schmeding es von mir verlangt hätte. In Unterwäsche zu singen erschien mir an dieser Stelle des Stückes jedoch passend. Lisa hat sich der SS-Uniform, die ihr Macht gegeben hat, entledigt, und wir begegnen einer völlig ungeschützten, verzweifelten Frau, die vor den Trümmern ihrer Existenz steht. Ich habe kein Problem damit, mich so auf der Bühne zu zeigen, solange es dem Werk dient. Und das tut es in diesem speziellen Fall eindeutig.
OF: Können Sie ein abschließendes Resümee zu den Braunschweiger Aufführungen der Passagierin ziehen?
S: Selten erlebt man es, dass bei einer Produktion alles zu stimmen scheint. Christopher Lichtenstein als Dirigent und Dirk Schmeding als Regisseur haben die idealen Rahmenbedingungen geschaffen, um eine - meiner Meinung nach - großartige Produktion auf die Beine zu stellen, die für immer einen Platz in meinem Herzen haben wird. Ich betrachte es als Privileg, Teil dieses großen Ganzen geworden zu sein und bin unendlich dankbar für die intensive Arbeit, die großen Emotionen und die bewegenden Momente, die ich im Kreise meiner Kollegen habe erleben dürfen.
OF: Herzlichen Dank für das Interview.
Ludwig Steinbach, 29.5.2019
Die Szenenbilder stammen aus der Braunschweiger Produktion der Passagierin, das Copyright liegt beim Fotografen Thomas M. Jauk
Besonderer Dank für das schöne Titelbild geht an (c) Mark Noormann.