Ich bin immer durstig auf Neues!
Der Amfortas im neuen Wiener „Parsifal“ heißt Gerald Finley. Er ist spät (vor sechs Jahren in Glyndebourne als Hans Sachs) auf den „Wagner-Zug aufgesprungen“, fühlt aber, dass er dort ein „gültiges Ticket“ besitzt. Dennoch zögert er vor den nächsten Schritten wie Holländer und Wotan. Mehr reizen ihn im Moment die klassischen italienischen Bösewichte wie Scarpia und Jago – und Reimanns „Lear“, den er diesen Sommer bei den Salzburger Festspielen erstmals verkörpern wird.
Das Gespräch führte Renate Wagner in englischer Sprache
Herr Finley, wie kommt es, dass man Sie an der Wiener Staatsoper so selten sieht, der Amfortas ist nach dem Figaro-Grafen 2012 und dem Förster im „Kleinen Füchslein“ 2014 erst ihre dritte Opernrolle hier – und so relativ spät, wenn man bedenkt, wie lange es Sie in der internationalen Opernszene schon gibt?
Nun, Wien ist mir ja nicht fremd, ich habe viele Konzerte hier gesungen, früher auch mit Nikolaus Harnoncourt, und ich werde am 30. Mai wieder einmal einen Liederabend im Konzerthaus geben, mit Schubert vor der Pause und Ravel, Benjamin Britten und Mark-Anthony Turnage, mit dem ich persönlich sehr verbunden bin, danach. Was Engagements in den Opernhäusern betrifft, so bin ich – mit Ausnahme von München, wo ich nach Wien dann wieder den „Tell“ singen werde – ganz selten im deutschen Sprachraum, irgendwie bewege ich mich meist zwischen London, New York und Paris.
Vor dem Sommer 2011 dachte man, wenn man „Gerald Finley“ sagte – großer Mozart-Sänger, bedeutender Lied-Interpret, und viel Modernes macht er auch. Dann kam Ihr Hans Sachs in Glyndebourne und hat alles verändert?
Ich hatte Wagner noch nicht so richtig erwogen, und wenn, dann wollte ich mich langsam herantasten, vielleicht einmal ein Kurwenal oder ein Wolfram, den ich mittlerweile im Dezember 2015 in Chicago gesungen habe. Aber keinesfalls war daran gedacht, mit dem Sachs für Wagner sofort in Medias Res zu gehen. Aber man hat es mir in Glyndebourne anvertraut, und ich war in einem Stadium meiner Karriere, wo ich mich quasi „verbreitern“ wollte. Ich bin den Sachs sehr vorsichtig angegangen, und ich muss sagen, es war eine wundervolle Erfahrung, ein wichtiger Punkt in meiner Sängerkarriere. Es ist auch eine so großartige Rolle, ein Mann, der von seiner Spiritualität, seiner Humanität und seiner Philosophie her zu erfassen ist. Seither „schwimme“ ich in Wagner, wenn man so sagen kann, ich bin hineingeköpfelt – und schwimme. Wann ich allerdings wieder den Sachs singen werde, kann ich nicht sagen, eine solche Rolle braucht einfach Raum im Leben.
Mittlerweile haben Sie in London auch schon den Amfortas gesungen, die Wiener Inszenierung mit Alvis Hermanis ist Ihr zweiter Versuch mit dieser Rolle.
Ich mag es, wie Alvis an einer Oper arbeitet, er kümmert sich gleichsam um den großen Fluß des Geschehens und erlaubt dem Interpreten, sehr viel selbst zu seiner Figur einzubringen. Amfortas ist krank, er bekommt eine bestimmte Behandlung – allerdings nicht Freudianisch, obwohl dessen Couch auch irgendwo herumsteht -, und er muss an Leib und Seele gesunden. Wenn seine Schuld in Liebe zu Kundry bestand, ist das jedenfalls lange vorbei. Ich liebe es, wenn ein Charakter eine Dimension der Entwicklung hat, wenn er am Ende nicht mehr derselbe ist wie am Anfang, und das ist ja bei Amfortas der Fall.
Sie haben in einem englischen Interview die wunderschöne Formulierung gefunden: „I feel I’ve joined the Wagner train and I have a valid ticket.“ Wohin wird dieses Ticket Sie nun führen?
Wenn man Wagner singt, tritt man in ein neues Stadium des Operngesangs an sich ein. Als Sänger denke ich mir manchmal nur: Oh! Wenn es nicht zu simpel klingt: Wagner muss man sehr gut singen, und das lernt man bei ihm auch – ganz lange lyrische Phrasen, dramatische Impulse, und immer mehr Kraft aufbauen. Kollegen sagen, wenn man Wagner singt, verlängert man seine Karriere, auch weil man notgedrungen lernt, mit seinen Kräften zu haushalten. Atme und sing und sorg dafür, dass es bestmöglich klingt. Was immer man gelernt hat, holt man zusammen, um sich dieser Aufgabe gewachsen zu zeigen. Es liegt ja eine unglaubliche Schönheit darinnen, Wagner zu singen. Und ich muss sagen, dass es außerdem ein Glücksfall ist, dass man als „Wagner-Sänger“ ja nicht allein ist. Da gibt es so viele Menschen, ob Korrepetitoren, Kollegen, Dirigenten, die so viel mehr wissen, als man selbst, und die das auch teilen, die sagen: Da pass auf, oder: Sieh Dir das mal an…, oder: Das macht man hier am besten so… Und ich merke, wenn ich in der „Parsifal“-Probe sitze und zuhöre, wie mir andauernd etwas auffällt, ein musikalischer Zusammenhang oder auch eine Wendung im Stück… wenn etwa der von Parsifal abgeschossene Schwan auf die Bühne gebracht wird, denke ich an den verwundeten Amfortas, den Klingsors Speer ebenso getroffen hat, und meine, das könnte man irgendwann als Analogie verwenden…
Das heißt, Sie wollen selbst einmal Regisseur werden?
Definitely not! Ich weiß, man soll niemals nie sagen, aber das käme mir nicht in den Sinn.

Sie spielen Ihren kranken Amfortas nun im wunderschönen Jugendstil-Ambiente der Hermanis-Aufführung. Nehmen wir an, man würde Sie für die Berliner Produktion von Dmitri Tcherniakov engagieren. Da fänden Sie sich plötzlich in Fetzen unter Underdogs, in einer Welt, die wie ein Obdachlosenasyl aussieht, hätten eine Riesenwunde am Bauch, aus der man Ihnen Blut abzapft – wie geht ein Sänger damit um, sein Verständnis einer Figur in so viele verschiedene Vorstellungswelten einzupassen?
Aber das ist ja unser Beruf, das zu können!
Denken Sie für die Zukunft an die nächsten „logischen“ Wagner-Rollen Ihres Fachs, an Holländer und die Wotans?
Ich zögere noch, und wenn ich zögere, bin ich noch nicht bereit. Ich weiß nur eines: Sollte ich den Holländer singen, dann möchte ich es gemeinsam mit meiner kanadischen Kollegin Adrianne Pieczonka als Partnerin tun. Ich weiß, dass sie jetzt schon eine wunderbare Senta ist – ich hoffe, sie hält mit dieser Partie durch, bis ich ihr Partner sein kann…
Heißt das, dass Sie sich noch immer als Kanadier fühlen, nach so vielen Jahren in England?
Oh ja, ich fühle mich sehr „kanadisch“, in Bezug auf meine kanadische Heimat bin ich richtiggehend sentimental. England war und ist sehr gut zu mir, hier habe ich Karriere gemacht, aber begonnen hat es eigentlich in Ottawa, wo ich als etwa 17jähriger in den Chor des dortigen Opernhauses kam. Damals hat Premierminister Pierre Trudeau starke kulturelle Ambitionen gezeigt und Opernaufführungen gefördert. Es gab jeden Sommer drei große Produktionen mit internationalen Stars, und ich durfte mit ihnen auf der Bühne stehen. Damals war der berühmte Louis Quilico, der übrigens auch Kanadier war, bereit, sich ein paar von uns jungen Sängern anzuhören. Da standen wir, ich und zwei Kollegen vom Chor, und sangen ihm etwas vor. Er schüttelte nur den Kopf: „Das ist nichts, Ihr könnte ja nicht einmal richtig atmen. Aus Euch wird nie etwas, gebt es gleich auf.“ Meine beiden Kollegen nickten, knickten ein und taten das ich. Ich hingegen dachte: Jetzt erst recht, und ich werde es Dir schon zeigen! Nichts hat mich so angespornt wie diese vernichtende Kritik. Und in England habe ich als Chorist in der dritten Reihe in Glyndebourne begonnen…
… und 30 Jahre später waren Sie auf dieser Bühne der Hans Sachs. Das ist der Stoff, aus dem die Opernträume sind. Wenn Sie nun zögern, bei Wagner weiterzugehen, so erstaunt ein wenig, welche Rollen auf Ihrem Wunschzettel stehen: Scarpia, Jago, Gerard, also durchwegs die „bad guys“, die sehr viel Stimmkraft und abgründige Charakterisierung verlangen.
Das stimmt, und es soll nicht heißen, das Orchester müsse leiser spielen, weil der Finley oben steht. Ich denke, man muss seine stimmlichen Ressourcen finden und aktivieren, cool bleiben und geradewegs darauf losgehen. Das Problem bei solchen Rollen – meine Mutter würde wohl kaum wollen, dass ich so „böse“ Menschen verkörpere – besteht für mich darin, ihre Motivationen zu verstehen, die Situation aus ihrer Sicht zu betrachten und folglich ihr Handeln in der Gesamtstruktur der Oper glaubhaft zu machen. Denn Scarpia, Jago, Gerard tun ja, was sie für richtig halten. Das interessiert mich, Licht in das Dunkel dieser Charaktere zu bringen. Und die Musik hilft ja ungeheuer – Puccini hat da schon sehr gute Vorarbeit geleistet! Und wenn ich jetzt wieder in München Rossinis Tell singen werde, dann ist ja dieser nicht in jedermanns Augen ein Held, für die auf der anderen Seite ist er schlicht ein gefährlicher Rebell.
Ich habe schon gesagt, bei Finley denkt man an Mozart, denkt man an Lieder – und an den Künstler, der extrem viel moderne Musik singt, etwas, wovor sich viele Kollegen drücken und ganz offen sagen, das wollen sie nicht, das ist zu schwer zu lernen, zu schlecht für die Stimme… Für Sie hingegen schreiben moderne Komponisten Rollen, und jede neue Aufgabe reizt Sie. Diesen Sommer wird es der „Lear“ von Aribert Reimann bei den Salzburger Festspielen sein.
Ja, und ich lerne heftig daran, das ist eine faszinierende Oper! Das Libretto von Claus H. Henneberg ist großartig, und wenn die Partie schwer zu lernen ist – das Werk war sicher für den Komponisten schwer zu schreiben, ist für das Orchester schwer zu spielen, warum soll es für die Sänger leicht sein? Und warum ich moderne Musik liebe? Ich verstehe mich als Bürger des 21. Jahrhunderts, ich bin mit dem, was heute geschieht, verbunden, und ich möchte das, was heute geschieht, vermitteln. Außerdem kann ich mit Richard Wagner nicht sprechen, aber mit Mark-Anthony Turnage, der so alt ist wie ich, bin ich seit seiner Oper „The Silver Tassie“ verbunden, und der schreibt dann auch den Lawyer Stern in „Anna Nicole“ für mich. Und mit John Adams habe ich bei der Entstehung von „Dr. Atomic“ so eng zusammen gearbeitet, dass er auch gesagt hat: „Gut, Jerry, das schreibe ich jetzt für Dich um, damit es Dir besser in der Kehle liegt.“ Die Komponisten wollen ja unsere Stimmen nicht ruinieren und sie wollen, dass ihre Werke über eine erste Aufführung hinauskommen. Ja, und so wie Wagner ein „Berg“ für mich war, den es zu bewältigen galt, ist der „Lear“ nun der nächste, zumal die Rolle darstellerisch so fordernd ist – dieser alte Mann, rund um den seine Welt zusammen bricht.
Einen echten Berg haben Sie 2014 bestiegen, nämlich den Kilimandjaro. Wie kommt ein Opernsänger auf eine solche Idee?
Meine Söhne waren damals 18 und 21, und ich wollte mit Ihnen etwas unternehmen, was ein wenig eine Zeremonie ist, vielleicht eine Art Initiationsritus fürs Erwachsenwerden. Sie haben sich bei dieser Trekking-Tour übrigens leichter getan als ich, mir sind die 6000 Meter am Gipfel schwer geworden. Die dortigen Führer sagen immer, am leichten packen es die Raucher, die sind gewohnt, ohne Sauerstoff auszukommen… Ich bin kein Raucher.
Aber offenbar jemand, der jede Herausforderung, die auf ihn zukommt, annimmt?
Ja, ich bin immer sehr durstig auf Neues.

Fotos: Barbara Zeininger